„Die Aufklärung des größten deutschen Steuerskandals Cum-Ex wird von einem beispiellosen Justizeklat erschüttert“, schreibt das Handelsblatt am 10. März 2022. Danach hat der ehemalige nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach (CDU) eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft und dessen Stellvertreter eingereicht. Nach Auffassung des Ex-Ministers werde das Verfahren von der zuständigen Strafverfolgungsbehörde ausgebremst. Denn die Verantwortlichen hätten die Cum-Ex-Abteilung mit zu wenig Personal und Ressourcen ausgestattet. Biesenbach sehe deshalb die Gefahr einer „Strafvereitelung im Amt“. Einzelne Ermittlungen würden so lange dauern, dass Beschuldigte wegen der langen Verfahren mit niedrigeren Strafen davonkommen könnten. Zudem kritisiere Biesenbach, dass er in seiner Amtszeit der Staatsanwaltschaft zusätzliche Ermittler geradezu hätte aufdrängen müssen.*

Wie das Handelsblatt weiter schreibt, weist sein Nachfolger, der jetzige NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne), die Vorwürfe zurück. Aus dessen Sicht bestünden auch mit Blick auf die zeitlichen Abläufe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft Köln in zu geringem Umfang Anklagen erheben würde. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Köln würde sich hingegen zu den Vorwürfen nicht äußern wollen.

Zum aktuellen Stand und zur Genese der juristischen Aufarbeitung schreibt das Handelsblatt:

„Die Staatsanwaltschaft Köln gilt als mit Abstand wichtigste Aufklärungsbehörde in dem Fall: 117 der bundesweit etwa 130 bekannten Cum-Ex-Verfahren werden in der Domstadt geführt. 1592 der mehr als 1700 Beschuldigten stehen in Akten mit einem Stempel aus Köln. Als Peter Biesenbach Mitte 2017 Justizminister einer schwarz-gelben Koalition in Düsseldorf wurde, fragte er nach, wer die Ermittlungen in Sachen Cum-Ex vorantreibe. Als Antwort fiel nur ein Name: Anne Brorhilker. Die Oberstaatsanwältin und ihr Team klagten rund ein Dutzend Personen an. Es gibt vier Strafurteile. Der Bundesgerichtshof hat alle Urteile bestätigt, die ihm zur Überprüfung vorlagen. (…)

Im Herbst 2019 waren für 56 Verfahrenskomplexe mit mehr als 400 Beschuldigten 4,7 Stellen im Kölner Personalplan reserviert. (…) Es sei schon ganz richtig gewesen, den größten Steuerskandal Deutschlands mit einer minimalen Personalstärke anzugehen, erklärte Oberstaatsanwalt Torsten Elschenbroich. Die Fälle seien komplex. Es hätte daher ‚nichts gebracht, wenn zehn Staatsanwälte Akten gewälzt hätten, ohne zu wissen, wonach sie suchen sollten‘. (…) Nicht jeder verstand diese Logik. Biesenbach jedenfalls verkündete eine Verdoppelung der Cum-Ex-Ermittlertruppe und versprach ‚Anklagen im Akkord‘. Das zuständige Landgericht Bonn war gewappnet. Gerichtspräsident Stefan Weismann sagte: ‚Wir sind in der Lage, in der Spitze bis zu zehn Strafkammern für Cum-Ex-Verfahren zu eröffnen und mehrere Hauptverhandlungen parallel zu führen.‘“

Biesenbach, so das Handelsblatt, steigerte die Zahl der Cum-Ex-Planstellen auf 36, beförderte Brorhilker zur Hauptabteilungsleiterin und unterstellte ihr im Frühjahr 2021 eine eigene Einheit, die Hauptabteilung H. Die arbeite laut Biesenbach aber offensichtlich nicht so wie gedacht. Längst nicht alle Planstellen seien besetzt, viele der Ermittler hätten kaum Berufserfahrung. Nach Anweisung des Behördenleiters Roth sollte die Cum-Ex-Hauptabteilung statt ausschließlich den Steuerskandal zusätzlich noch Corona-Betrugsfälle bearbeiten: „So können sich die Cum-Ex-Beschuldigten zurücklehnen, auch in nächster Nachbarschaft zu den Ermittlern.“ (Handelsblatt)

Nach Angaben der Zeitung hätten die Ermittelnden in der Cum-Ex-Abteilung in Köln im Durchschnitt je zwei bis drei große Fälle auf dem Tisch, oft internationale Komplexe mit Dutzenden von Verdächtigen. Bei der WestLB sei eine Anklage frühestens 2024 zu erwarten. Dann würden deren Taten bis zu 19 Jahre zurückliegen. Ex-Justizminister Biesenbach initiiere deshalb einen „fast einmaligen Vorgang“ (Handelsblatt):  Eine Dienstaufsichtsbeschwerde eines (Ex-)Justizministers gegen einen Oberstaatsanwalt einzuleiten mit dem Ziel, insbesondere die personellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in den komplexen und umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren angemessen ermittelt werden kann.

Justizminister Limbach rechnet derweil damit, dass die Cum-Ex-Ermittlungen noch 15 Jahre in Anspruch nehmen werden. „Als das Landgericht Bonn im Dezember 2022 den Steueranwalt Hanno Berger verurteilte, rechnete der Richter Roland Zickler ihm vor: ‚Ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung beginnt bei 50.000 Euro. Sie haben die Schwelle um mehr als das 5.000-Fache überschritten.‘ Berger erhielt aber nicht die Höchststrafe von fünfzehn Jahren Haft, sondern acht. Einer der Gründe für Strafmilderung: die vielen Jahre, die zwischen Tat und Urteil lagen.“ (Handelsblatt)

Der Journalist Volker Votsmeier kommentiert für das Handelsblatt:

„Wir schreiben das Jahr 2038. Die Staatsanwaltschaft Köln schließt ihre letzte Cum-Ex-Akte. 25 Jahre sind seit dem Beginn der Ermittlungen im größten Steuerskandal der Republik vergangen. Die Taten liegen teils 33 Jahre zurück. Dieses Szenario ist kein Fiebertraum eines Angeklagten, sondern offizielle Erwartungshaltung der Justiz. Nordrhein-Westfalens Justizminister Benjamin Limbach hat gerade mitgeteilt, dass die Staatsanwaltschaft für ihre 117 Verfahren noch 15 Jahre veranschlagt. 90 Prozent der Cum-Ex-Verfahren liegen in Köln. Die große Zeitspanne ist ein Armutszeugnis. (…)

Cum-Ex war organisierte Kriminalität auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe. Daran gibt es keine juristischen Zweifel. Der Bundesgerichtshof, der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht haben Cum-Ex-Geschäfte allesamt als illegal verurteilt. Alle Strafverfahren endeten in Schuldsprüchen. Alle überprüften Urteile wurden vom Bundesgerichtshof bestätigt. (…)

Es ist eine Schande, dass der Staat nicht alles dafür tut, in dem Milliardenskandal schneller zu ermitteln. Ein Scheitern der Aufklärung hilft nicht nur den Beschuldigten. Es untergräbt auch das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat. Das ist schon brüchig genug.“

* Vgl. auch BIG-Nachricht vom 27. Januar 2023 und BIG-Artikel vom 19. Dezember 2022

Quellen:

Julia Leonhardt/Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Chef der Kölner Staatsanwaltschaft“, Handelsblatt (Online), 10. März 2023

Volker Votsmeier: „Die Cum-Ex-Aufarbeitung ist ein Armutszeugnis für den Rechtsstaat“, Handelsblatt (Online) vom 10. März 2023