Seit dem Abzug westlicher Truppen und der Flucht der von ihnen gestützten Regierung gilt Afghanistan nicht zu Unrecht als „gescheiterter Staat“. Doch wie konnte es soweit kommen? Matin Baraki, gewesener afghanischer Lehrer, später in der Bundesrepublik promovierter Politologe, hat kürzlich eine gründlich recherchierte und dokumentierte historische Abhandlung zur jüngeren Geschichte seines Landes vorgelegt. Er schlägt dabei einen Bogen von der Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg bis hin zur Gegenwart – seine Recherchen enden im März 2023.
Baraki schildert die gesellschaftlichen Strukturen Afghanistans noch in der Mitte des 20. Jahrhundert als feudal geprägt. 90 Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Land, 70 Prozent des nutzbaren Bodens und ein Großteil der Wasservorräte befanden sich im Besitz von Großgrundbesitzern. In den 1930er Jahren zaghaft begonnene Ansätze einer Industrialisierung wurden durch den 2. Weltkrieg unterbrochen (an diesem Krieg war Afghanistan zwar nicht direkt beteiligt, wurde durch ihn aber wirtschaftlich geschädigt). Da die königlich-afghanische Regierung in der Nachkriegszeit an dem neutralen Status des Landes festhielt und einen Beitritt zu gegen die Sowjetunion gerichteten Bündnissystemen ablehnte, hielt sich westliche Entwicklungshilfe in engen Grenzen. Die das Land wirtschaftlich dominierende traditionell gesonnene Oberschicht von Großgrundbesitzen und Händlern war hingegen an der Finanzierung eines Industrialisierungsprogramms nicht interessiert.
Erst mit dem Regierungswechsel des Jahres 1963 setzte die anstehende bürgerlich-demokratische Umgestaltung langsam ein, 1973 stürzte dann ein Militärputsch die herrschende Dynastie – Afghanistan wurde Republik. Da die nun herrschende bürgerliche Regierung nichts gegen die in der Bevölkerung grassierende Armut unternahm, wurde auch sie 1978 durch einen Putsch gestürzt – eine sozialistisch orientierte Fraktion der Demokratischen Volkspartei riss die Macht an sich und begann mit dem Aufbau eines dringend erforderlichen und bisher kaum vorhandenen Gesundheits- und Bildungssystems. Die Hauptursache des Scheiterns dieser „Aprilrevolution“ sieht der Autor in der massiv zunehmenden Korruption und Günstlingswirtschaft innerhalb der Regierungspartei.
Eines der Hauptthemen des Buches ist die (unter Bezug auf verschiedene Marx-Zitate) immer wieder gestellte Frage des Autors, ob sein Land unter Umgehung des Kapitalismus den Weg hin zu einer von Ausbeutung freien Gesellschaft hätte einschlagen können. Diese Frage muss allerdings offen bleiben.
Den Großteil des Buches nimmt die Schilderung der Jahrzehnte von Krieg und Bürgerkrieg ein. Die schwere Krise der afghanischen Gesellschaft meinte damals die Führung der Sowjetunion mittels Truppeneinmarsch unter Kontrolle zu bekommen. Was nicht gelang und auch nicht gelingen konnte. Westliche Staaten und arabische Ölmonarchien unterstützen hingegen die vom Norden Pakistans aus operierenden afghanischen Stammesmilizen. Nach Rückzug der sowjetischen Einheiten begann nahtlos ein Bürgerkrieg zwischen den bewaffneten Milizen. Und dieser endete schließlich mit einer Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban. Die dann zwischenzeitlich dank westlicher Militärhilfe installierte sogenannte demokratische Regierung brach nach Jahren des Bürgerkrieges wieder zusammen und machte im Jahre 2021 erneut den Taliban Platz.
Der Autor dokumentiert an nicht wenigen Stellen des Buches die ungeheuerliche Korruption der jahrzehntelang von westlichen Truppen gestützten afghanischen Regierung. Minister veruntreuten Millionenbeträge, die eigentlich für den Aufbau eines modernen Schulsystems vorgesehen waren. Auch gab es einen umfänglichen Schwarzhandel mit gelieferten Waffen. Ein Großteil der regulären afghanischen Armee existierte überhaupt nicht, da die Generäle, Minister und Offiziere den Sold für nicht vorhandene Soldaten in die eigenen Taschen platzierten und das so ergaunerte Geld dann ins Ausland schmuggelten. Ist die Existenz solcher „Geisterarmeen“ in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten üblich? Zumindest nicht unüblich. Man muss nur genau hinsehen.
Matin Baraki: Afghanistan – Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg PapyRossa Verlag, Köln 2023, 287 Seiten, 19,90 Euro