Das (west)deutsche Wirtschaftswunder der 1950er Jahre beruhte in weiten Teilen auf den während der Nazizeit geschaffenen ökonomischen Strukturen – diese Erkenntnis hat sich in der historischen Forschung schon seit langer Zeit durchgesetzt. Bekannt sind aus dieser Zeit auch die zahlreichen persönlichen Kontinuitäten in Wirtschaft und Politik – eine ernsthafte Verfolgung belasteter Nazis fand damals kaum statt. Erst nach 1968 wurde langsam begonnen, die unheilige Vergangenheit von Politikern und Wirtschaftskapitänen aufzugraben. Abgeschlossen ist diese Aufarbeitung noch immer nicht – ansonsten wäre das hier rezensierte Buch längst erschienen.
Der französische Historiker Johann Chapoutot verweist gleich im Vorwort seines kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen Werkes „Gehorsam macht frei“ auf den bekannten Fakt, dass die Führungselite des „Dritten Reiches“ keineswegs nur aus kriminellen Schlagetots und militärischen Eisenfressern bestand. Der Autor nennt als ein Beispiel für skrupellose Manager in den Reihen deutscher Nazis den Agrarwissenschaftler Herbert Backe (1896-1947) – einen Verantwortlichen für die Ausarbeitung des „Hungerplanes“, mit dem die Naziführung die Bevölkerung der besetzten Sowjetunion durch Nahrungsmittelentzug um 30 Millionen Menschen reduzieren wollte und dies teilweise auch tat. Ein weiteres „Monster in SS-Uniform“ ist für Chapoutot der Architekt Hans Kammler (1901-1945) – KZ-Baumeister und Verantwortlicher für die Entwicklung und Produktionen der V2-Rakete. Kammler verschuldete den Tod zehntausender KZ-Häftlinge, die der industriell betriebenen Menschenvernichtung oder aber der Produktionshetze und den mörderischen Arbeitsbedingungen in Arbeitslagern zum Opfer fielen.
Backe erhängte sich 1947 in einer alliierten Gefängniszelle. Kammler ist seit dem Kriegsende verschollen – wahrscheinlich endete er ebenfalls durch Suizid. Andere Täter hingegen, ebenfalls überzeugte Sozialdarwinisten, die während des 2. Weltkrieges „ganze Bevölkerungen umsiedelten, ganze Landstriche aushungerten, und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft bis zur völligen Erschöpfung befürworteten“, konnten in der Nachkriegszeit ihre Karriere in modifizierter Form fortsetzen. Wie Chapoutot schreibt, hätten die „nationalsozialistischen Vorstellungen von Management über das Jahr 1945 hinaus fortbestanden und (konnten) in den Jahren des Wirtschaftswunders fröhliche Urständ feiern“. Dabei fungierten „ehemalige hochrangige SS-Leute (…) nicht nur als Theoretiker (…), sondern als Praktiker“.
Der Autor liefert in den folgenden Kapiteln keine Entstehungsgeschichte des Faschismus und auch keine Analyse des faschistischen Systems als Ganzes – ihm geht es um die von den Nazis betriebene Form der Wirtschaftssteuerung und deren mörderische Folgen. Es finden sich aber interessante Fakten: In ihrer Selbstdarstellung präsentierte sich das Naziregime gern als „geschlossene Volksgemeinschaft“, als übergreifende Ordnungsmacht, organisiert nach dem Führerprinzip. Entsprechend ist auch das Bild, welches sich die meisten Menschen vom Dritten Reich machen. Tatsächlich aber betrachteten die Nazis, so der Autor, den Staatsapparat nur als Mittel zum Zweck. Der von ihnen als träge und ineffizient betrachtete Beamtenapparat wurde an den Rand gedrängt, durch ein Gewirr unterschiedlicher quasi-staatlicher Institutionen mit nicht selten überschneidenden Kompetenzen und Aufgabenstellungen ersetzt. Der Justizapparat blieb zwar bis zum Schluss bestehen – da aber die Reichsführung den permanenten Notstand dekretiert hatte, konnten deren Urteile ohne weiteres aufgehoben, freigesprochene Beschuldigte kurzerhand ermordet oder per Federstrich in Konzentrationslager eingewiesen werden.
Entscheidend sei für die Nazis das „Leistungsprinzip“ und das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit gewesen – diejenigen der untereinander konkurrierenden Apparate, die mit den gestellten Aufgaben tatsächlich fertig wurde, hatten jeweils die Oberhand und erhielten dann auch zusätzliche Befugnisse. In der Endphase des Krieges waren das diejenigen Organisationen, welche – wie zum Beispiel die SS – besonders brutal und ohne jede Spur von Rücksicht agierten. Die mörderischen Folgen dieser Logik sind bekannt.
Chapoutots Buch konzentriert sich im Wesentlichen auf den Werdegang des Staatsrechtlers Reinhard Höhn (1904-2000). Höhn kam ursprünglich aus dem rechtskonservativen „Deutschen Orden“, trat dann 1933 der Nazipartei und der SS bei. In der Folgezeit entwickelte er sich zu einem führenden Ideologen des Regimes, erhielt eine Professur und wurde hochrangiger SS-Führer. Nach 1945 blieb er in der Bundesrepublik weitgehend unbehelligt. Dank der Unterstützung rechter Netzwerke in Politik und Wirtschaft wurde er dann im Jahre 1953 Direktor der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“, einer Art Denkfabrik der Deutschen Industrie. Auch erhielt er eine Professur an der von ihm gegründeten „Harzburger Akademie für Führungskräfte“.
Wie Chapoutot schreibt, übertrug Höhn das unter seiner Mitwirkung im NS-Regime entwickelte administrative Modell nach 1945 auf die Privatwirtschaft – offenbar mit großem Erfolg. Obwohl Höhns braune Vergangenheit spätestens ab Mitte der 1960er Jahre öffentlich bekannt war, besuchten bis zum Jahre 2000 etwa 600.000 Manager bundesdeutscher Unternehmen die von ihm gegründete Akademie.
Chapoutots abschließend getroffener Feststellung: „Das Management und seine Welt sind nicht neutral“ kann man selbstverständlich beipflichten. Eine übergreifende Abrechnung mit sozialdarwinistischem Denken und Handeln findet sich in dem Buch allerdings nicht. Und erst recht keine Darstellung der gegenwärtigen Abgründe kapitalistischen Managements.
Johann Chapoutot: Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute. Aus dem Französischen von Clemens Klünemann, Propyläen Verlag, 173 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-549-10035-6