Ein Sammelband zerlegt den Mythos Clankriminalität

Im Herbst des vergangenen Jahres schlug Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor, Angehörige sogenannter Clanstrukturen künftig unabhängig von einer strafrechtlichen Verurteilung abschieben zu können. Der Vorstoß sorgte für Furore und kritische Stimmen wiesen darauf hin, dass völlig unschuldige Menschen ins Visier genommen würden, bloß weil sie mit mutmaßlich oder tatsächlich kriminell agierenden Personen in verwandtschaftlichen Beziehungen stünden. Das gesellschaftliche Umfeld für solche Forderungen ist derzeit jedoch günstig. Denn für die Mainstream-Medien und den Großteil der deutschen Kriminalistik scheint die Sache seit Jahren klar zu sein: „Clan“-Mitglieder schotten sich ab, leben demnach in sozialen Parallelstrukturen, verachten das staatliche Gewaltmonopol und erklären ganze Stadtteile zu No-Go-Areas. Kurz: „Islamisch-arabische Familienverbände“ bilden die Hauptgefahr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland und zersetzen den Rechtsstaat.

Einen völlig anderen Blick wirft ein im Oktober 2023 veröffentlichter Sammelband auf die Debatte – denn er präsentiert vor allem die Perspektive der Betroffenen. Die Prämisse des Buches ist, dass „Clankriminalität“ als Konzept zu begreifen ist, das von Politik, Justiz, Polizei und Medien konstruiert wurde, um die Betroffenen rassistisch kriminalisieren und stigmatisieren zu können. Werden ethnisch homogene und zugleich kriminell aktive „Clans“ herbeiphantasiert und Ängste geschürt, so ein Fazit des Buches, lassen sich staatliche Kontrolle, Überwachung und erweiterte Befugnisse für Polizei und Justiz leicht legitimieren. 

In 20 analytischen Beiträgen bietet der Band eine kritische Bestandsaufnahme der laufenden Diskussion und überprüft dabei die zentralen Annahmen, die dem Etikett „Clankriminalität“ zugrunde liegen. Daneben dokumentieren Erfahrungsberichte Betroffener die von ihnen erlebte Polizeipraxis (Großrazzien bei Gewerbetreibenden, Hausdurchsuchungen) oder diskriminierende Erfahrungen vor Gericht. 

Die Herausgeber:innen stellen einleitend fest, dass die Verknüpfung von Kriminalität mit ethnischen Zugehörigkeiten den titelgebenden „Generalverdacht“ gegen hunderttausende Menschen geschaffen habe, was empirisch falsch und zugleich „brandgefährlich“ sei. Denn auch die Anschläge der extremen Rechten (zum Beispiel in Hanau) folgen politisch-medialen Kampagnen, basieren auf völkischen Vorstellungen und haben „aus Menschen potenzielle Terrorist*innen, ‚Clanmitglieder‘, Islamist*innen und Staatsfeinde gemacht“. (Seite 137) 

Eines der fünf Kapitel des Sammelbandes beschreibt ausführlich die Geschichte der „Clan“-Kriminalisierung. Danach wurden vor allem Menschen, die dem Bürgerkrieg im Libanon entkamen, in den 1990er Jahren in Deutschland systematisch diskriminiert. Ein Mittel war die Praxis der Kettenduldungen, das heißt die wiederholte, befristete Aussetzung der Abschiebung. Den daraus folgenden engen Familienzusammenhalt erklärt der Mitherausgeber Mohammed Ali Chahrour so: „Wer ohne Schutz und Zugehörigkeit lebt, wem Identität und Daseinsberechtigung abgesprochen werden, dem bleibt nur die Familie. (…) Wenn Menschen keinen Schutz durch Institutionen erfahren, dann kann nur noch der engste Kreis der Nächsten jenes Gefüge von Verantwortung und Solidarität bieten, jene Umwelt, die es zum Überleben schlichtweg braucht.“ (Seite 43) 

Die These liegt nahe, dass „Clankriminalität“ vornehmlich als politischer Kampfbegriff zu werten ist – ein Aspekt, dem sich ein weiteres Kapitel widmet. Die Kriminologin und Juristin Laila Abdul-Rahman bestreitet dabei aus wissenschaftlicher Sicht die behauptete besondere Gefährlichkeit des Phänomens. Die amtlich registrierten Straftaten und Tatverdächtigen unterschieden sich kaum von der Allgemein- und insbesondere der Jugendkriminalität. Nur sieben Prozent der Verfahren wegen Organisierter Kriminalität richteten sich bundesweit gegen „Clan-Gruppierungen“. (Seite 117) Familien selbst würden zum Problem gemacht, die es zu bekämpfen gelte: „Somit kommt es am Ende kaum noch darauf an, wer tatsächlich Straftaten begeht, sondern eher darauf, ob man herkunftsbedingt einer Familie angehört, die dem Konstrukt der ‚Clankriminalität‘ zugeordnet wird.“ (Seite 118) Auch andere Beiträge des Bandes stellen sich der emotional aufgeladenen Debatte und dem Aufbau des Feindbildes „arabische Clans“ mit weiteren empirischen Daten entgegen. So kontrastiere der hohe Verfolgungsdruck mit den maximal 0,6 Prozent, die die „Clankriminalität“ an allen Straftatermittlungen ausmache. (Seite 14) 

Die Juristin Mitali Nagrecha zieht gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Anthony Obst die Verbindung zum sogenannten Sozialbetrug, das heißt dem gesetzeswidrigen Bezug von Sozialleistungen. Detailliert weisen die Autor:innen in ihrem Artikel die verbreitete Darstellung zurück, nicht-deutsche und nicht-weiße Täter würden mittels großflächiger Betrugsnetzwerke zu Reichtum gelangen, indem sie das Sozialleistungssystem missbrauchten. (Seite 231) Es handele sich dabei um ein Mediennarrativ, das nicht ohne politische Wirkung sei und nicht nur von der AfD für ihr rassistisches Programm ausgeschlachtet würde. Einmal mehr wird auch in diesem Beitrag deutlich, wie konstruierte Delikte empirisch nicht zu belegen sind. Denn der häufig skandalisierte „Sozialbetrug mit Clan-Bezug“ lässt sich anhand offizieller polizeilicher Statistiken schlicht nicht begründen. Das heißt: er kommt eher selten vor. (Seite 240) 

Das umfangreiche Buch setzt einen dringend notwendigen Kontrapunkt zum herrschenden – weitgehend rassistisch geprägten  – Diskurs über „Clankriminalität“ und versorgt die interessierte Leserschaft mit breit gefächertem und wissenschaftlich fundiertem Wissen, um sich dadurch gut gewappnet in die Auseinandersetzungen um die „Innere Sicherheit“ und die aktuelle deutsche Migrationspolitik einzumischen.

 

Mohammed Ali Chahrour/Levi Sauer/Lina Schmid/Jorinde Schulz/Michèle Winkler (Hrsg.):

Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird.
Hamburg, Nautilus Flugschrift, 320 Seiten, 2023, 22 Euro

 

 

 

 

 

Couragiert gegen Finanzkriminalität. Behördenversagen und staatlichen Blockaden zum Trotz

In einem Essay stimmte jüngst der Publizist Heribert Prantl ein Loblied auf diejenigen an, ohne deren Zivilcourage, Missstände aufzudecken, eine Gesellschaft nicht leben könne: „Und es gibt ja nicht nur die prominenten Whistleblower. Es gibt auch die vielen kleinen Helden des Alltags.“ Es gelte, den „Geist des kleinen großen Widerstands gegen das Unrecht“ zu achten und die betreffenden Aktivisten zu schützen.

Eine am 10. August 2023 auf ARTE ausgestrahlte TV-Doku über einen der größten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik beherzigt diesen Appell und würdigt das langjährige Engagement eines ehemaligen Kriminalhauptkommissars. Der hatte bereits in den frühen 1990er Jahren das betrügerische Handeln von Managern der damals weltweit agierenden Balsam AG mit Stammsitz im ostwestfälischen Steinhagen entlarvt. Die Parallelen zum Fall Wirecard seien frappierend, heißt es in der Reportage: „Hätte man daraus nicht Lehren ziehen können?“

So unterschiedlich auch die Produktpaletten von Wirecard und der Balsam AG waren – digitale Finanzdienstleistungen hier, Bau von Sportböden dort: Gemeinsam ist den beiden Konzernen, dass sie einst für grandiose Erfolgsgeschichten standen, dann aber ökonomisch kollabierten und zu Synonymen für die größten Wirtschaftsverbrechen im Nachkriegsdeutschland wurden. So wie der ehemalige Wirecard-Boss Markus Braun derzeit in Müchen wegen Bilanzfälschung und Bildung einer kriminellen Bande vor Gericht steht, musste sich damals auch Firmengründer Friedel Balsam strafrechtlich verantworten. Beide beteuern bzw. beteuerten ihre Unschuld. Wirecard-Finanzvorstand Jan Marsalek ist seit der Pleite des Konzerns im Jahr 2020 untergetaucht; der seinerzeit angeklagte Finanzchef der Balsam AG, der mit gefälschten Aufträgen 45 Banken um mehrere Milliarden DM betrogen hatte, wurde nach einjähriger Flucht im Jahr 2000 auf den Philippinen gefasst. Beide Konzerne erregten Aufsehen durch eine auffällig aggressive Wachstumsstrategie, die letztlich zwar auf Kosten der Rentabilität ging, zunächst aber Analysten, Investoren, Politik und Öffentlichkeit begeisterten. Das Image beider Unternehmen strahlte noch, als sie längst konkursreif waren. Weder die Aufsichtsräte noch externe Wirtschaftsprüfer hatten jemals unlautere Praktiken beanstandet. Und in beiden Fällen setzten erst einzelne Whistleblower die Aufklärung über kriminelle Machenschaften in Gang, während staatliche Behörden, wie etwa die zuständigen Staatsanwaltschaften, durch ausgeprägte Lethargie auffielen. Der Name Wirecard steht zudem für die aggressive Verfolgung einzelner Hinweisgeber, investigativer Journalisten und sogenannter Leerverkäufer, die auf den Absturz des Konzerns wetteten. Die spektakuläre Aufdeckung des Betrugsfalls Balsam ist vor allem einem hartnäckigen Polizisten zu verdanken, der im Zuge seiner Aufklärungsarbeit ebenfalls auf massive Widerstände stieß.

 

Balsam AG: ein Scheinriese

Ein Blick zurück: Anfang der 1990er Jahren galt die Balsam AG mit rund 1.500 Mitarbeitenden als Weltmarktführer im Sportbodenbau. Im November 1992 erstattete ein ehemaliger Angestellter des Unternehmens anonym eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld, unterlegt mit einem prall gefüllten Aktenordner voller Beweismittel. Die Anschuldigung: Die Balsam AG betrüge im großen Stil, denn sie besorge sich auf kriminelle Weise Kapital in unglaublicher Höhe. Die TV-Dokumentation erklärt die Vorgänge: Erhielt die Balsam AG Aufträge, wurden sie von zahlreichen Banken per Kreditvergabe vorfinanziert – nach Vorlage der Auftragsbestätigungen. Diese wurden aber mit simplen Mitteln gefälscht: So wurden nur Kopien der Originale eingereicht, nachdem diese zuvor manipuliert worden waren (mit Schere und Klebstoff!). Offensichtlich forderten die finanzierenden Banken keine Originalbelege. Den Banken wurden Phantasiebeträge mitgeteilt, die zum Teil ein Mehrfaches der jeweils korrekten Auftragssumme ausmachten, und auf dieser Basis überhöhte Kredite vergeben. Um diese zurückzahlen zu können, mussten dann im Rahmen eines Schneeballsystems immer neue Kredite erschwindelt werden. Mit Teilen des „schmutzigen“ Geldes wurde aber auch auf den Finanzmärkten im Rahmen ganz legaler Geschäfte spekuliert. Offenbar nicht ohne Erfolg, so dass dem Unternehmen kontinuierlich liquide Mittel zugeführt werden konnten. Welche auch bitter nötig waren, denn seit Mitte der 1980er Jahre fuhr es ständig Verluste ein.

Eigentlich ein höchst interessanter Fall für den Bielefelder Oberstaatsanwalt – der jedoch als Reaktion auf die fundierte anonyme Anzeige nichts unternahm. „Die Anzeige war so abenteuerlich, auch von den Summen her, dass sie kaum glaubhaft erschien“, so der Staatsbeamte. Andere Quellen behaupten, der Grund wäre wohl eher darin zu suchen, dass seine Frau im gleichen Tennisclub wie die Gattin des Balsam-Chefs aktiv gewesen war. Die nordrhein-westfälische Landesregierung deckte im Übrigen das passive Verhalten der Bielefelder Staatsanwaltschaft. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Landtagsfraktion der Grünen lautete seinerzeit lapidar, dass die Staatsanwaltschaft sich korrekt verhalten habe.

 

Ein Kriminalhauptkommissar lässt nicht locker

Der ebenfalls über die Vorgänge bei der Balsam AG informierte Gründer von Business Crime Control e.V., Hans See, hielt die Vorwürfe dagegen aufgrund der auch ihm zugespielten Unterlagen für glaubwürdig und reichte sie an ein Nachrichtenmagazin weiter. Nachdem auch die Redaktionen von Stern und Spiegel nicht reagiert hatten, wandte sich der Whistleblower schließlich an die Kriminalpolizei (vgl. Nicole Donath).

Karl-Heinz Wallmeier, als Polizeibeamter in Bielefeld für den Bereich Wirtschaftskriminalität zuständig, arbeitete sich akribisch in den Fall ein und ermittelte in den nächsten Jahren quasi im Alleingang und gegen den unkooperativen Staatsanwalt. Der, so Wallmeier, hätte seine Ermittlungsergebnisse blockiert und ihm mehrfach Akteneinsicht verweigert. Nachdem unerwartet das ZDF-Magazin „Frontal“ im Mai 1994, eineinhalb Jahre nach dem anonymen Hinweis an die Staatsanwaltschaft, einen Beitrag zu dem Wirtschaftsskandal sendete, legte wenige Tage später der Finanzvorstand Klaus Schlienkamp ein Geständnis ab. Er gab zu, knapp zwei Milliarden DM erschlichen zu haben, um die bereits marode Firma am Laufen halten zu können.

Nach der Insolvenz des Unternehmens und fünf Jahre, nachdem der Betrug öffentlich geworden war, erging dann im Jahr 1999 nach fast 200 Gerichtstagen vor dem Bielefelder Landgericht ein Gerichtsurteil  – in Abwesenheit Schlienkamps, der sich zwischenzeitlich auf die Philippinen abgesetzt hatte. Der Finanzchef wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er nach seiner späteren Festnahme, absaß.  Wallmeier hatte jahrelang seine Spur verfolgt und ihn dann in Asien aufgestöbert. Firmengründer Balsam, konsequent seine Verantwortung leugnend, bekam acht Jahre. Polizist Wallmeier erhielt übrigens im Jahr 1997 einen Preis von Business Crime Control – für „besondere Verdienste“ bzw. „vorbildliche Zivicourage“ bei der Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen.

 

Wirecard attackiert kritische Stimmen

Ob gegen den ehemaligen CEO von Wirecard Markus Braun, der im laufenden Münchener Gerichtsverfahren ebenfalls hartnäckig jegliche Verantwortung für das Unternehmensdesaster abstreitet, eine Haftstrafe verhängt wird, bleibt abzuwarten. Genauso, ob sich der Wunsch vieler – auch einfach  sensationsgieriger – Menschen hierzulande erfüllt, den flüchtigen Jan Marsalek als mutmaßlichen Mastermind des Wirecard-Skandal irgendwann in einem deutschen Gerichtssaal vorgeführt zu sehen bekommen.

Dass überhaupt gegen die beiden und andere Wirecard-Manager ermittelt und gerichtlich verhandelt wird, geschieht trotz des viel zitierten multiplen Versagens verschiedener Institutionen. Denn Aufsichtsbehörden wie die BaFin, die Bundesregierung, private Wirtschaftsprüfer, Börsenanalysten, Investoren und große Teilen der Wirtschaftspresse stützten das Betrugsgebilde. Dabei gab es schon früh Warnungen: Bereits 2008 zweifelten einzelne Analysten und Shortseller die Wirecard-Zahlen an, 2015 wiesen kritische Journalisten auf Unregelmäßigkeiten in der Bilanz, 2019 warnte die renommierte Zeitung Financial Times (FT) in einer Artikelserie: „Doch kaum einer hörte zu. Kritiker bedrohte der Konzern offen durch Klageorgien, Rufmord, Beschattung, Gewalt.“ (Holtermann, Seite 15)

Im Jahr 2008 erhoben Vertreter der Schutzgemeinschaft der Kleinanleger (SdK) gemeinsam mit dem Analysten und Shortseller Tobias Bosler schwere Vorwürfe gegen Wirecard (Ungereimtheiten in der Bilanz, verheimlichte Verbindungen in den Glücksspiel- und Pornosektor, Geldwäsche). Der Aktienkurs brach daraufhin ein, ein Viertel des Börsenwerts ging verloren. 2010 zeigte Bosler Wirecard bei der Staatsanwaltschaft München und der BaFin an. Wieder sackte der Aktienkurs ab. (Weiguny/Meck, Seite 200f.) Die Ermittlungen aber verliefen im Sande. Wirecard reagierte seinerseits mit einer Strafanzeige wegen Insiderhandel und Marktmanipulation – und schickte Bosler, um ihn einzuschüchtern, einige Schlägertypen aus der Halbweltszene ins Haus. Da Leerverkäufer, die auf fallende Aktienkurse wetten und daraus ihre Profite ziehen, nicht als moralisch integre Leitbilder taugen, hatte Wirecard letztlich leichtes Spiel und konnte sich als ehrenwertes Unternehmen inszenieren: „Wieder zieht die Firma in einen Krieg mit den Spekulanten. Das Droh-Szenario: Böse Shortseller greifen braven deutschen Konzern an.“ (Bergermann, Seite 84)

In Fraser Perring, einem britischen Shortseller, der im Februar 2016 einen kritischen Report über Wirecard herausgebracht hatte, erkannte der Konzern einen neuen Feind und zugleich „ein Geschenk des Himmels“ (Bergermann, Seite 141). Denn  durch die Jagd auch auf diesen„Spekulanten“ konnte Wirecard von seinen kriminellen Praktiken ablenken. Perring wurde nach eigenen Angaben permanent verfolgt, auch von der Finanzaufsicht verklagt, und erlitt in der Folge einen Schlaganfall.

Maßgeblich zur Aufdeckung trug vor allem der Whistleblower Pav Gill aus Singapur bei, der dort als Leiter der konzerninternen Rechtsabteilung darauf zu achten hatte, dass bei Wirecard alles mit rechten Dingen zuging. Schon kurz nach seinem Eintritt in das Unternehmen 2017 wurde ihm klar, dass zumindest Teile des Asiengeschäfts von Wirecard nur auf dem Papier existierten. Seine Erkenntnisse offenbarte er dem britischen Journalisten Dan McCrum von der FT. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard bestätigte Gill im Mai 2021, dass er von Wirecard „unerbittlich“ eingeschüchtert worden war: „Ich habe immer noch Screenshots von Telegram-Nachrichten, von Personen aus der Compliance-Abteilung von Wirecard, die mir sagten, ich solle ‚an meine Mutter ‚denken‘ und ‚wachsam sein‘, nachdem die ersten drei Artikel von der ‚Financial Times‘ veröffentlicht wurden.“ Auch ihn traf ein stressbedingter Schlaganfall.

Im November 2020 erklärte Dan McCrum gegenüber dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, Wirecard habe offenbar ab dem Jahr 2010 seine Gewinne gefälscht. Bereits Anfang 2019 hatte der Journalist mit einer Artikelserie für Aufsehen gesorgt, die letztlich entscheidend zum Einsturz des Lügengebäudes Wirecard beitrug. Die Recherchen, die zum Teil auf Informationen des Whistleblowers aus Singapur und Gesprächen mit Shortsellern basierten, führten zu Hackerangriffen auf die Redaktion, Beschattungen seitens Privatdetektiven sowie „aggressiven Briefen“ von Anwaltskanzleien. Der Vorwurf lautete, er habe mit Shortsellern „gemeinsame Sache“ gemacht oder sich von diesen „ausnutzen lassen“. (Deutscher Bundestag, Seite 145ff.) Unterstützt wurde Wirecard dabei einmal mehr durch die BaFin, die im April 2019 bei der Staatsanwaltschaft München wegen des Verdachts der Marktmanipulation Strafanzeige gegen McCrum und eine seiner Kolleginnen erstattete..

Im Wirecard-Untersuchungsausschuss wurde im Februar 2021 auch eine Sachbearbeiterin der Deutschen Bundesbank vernommen, die mit der laufenden Aufsicht über die Wirecard Bank AG befasst war. Fünf Jahre zuvor hatte sie eine schriftliche Zusammenfassung der Artikelserie des FT-Journalisten McCrum erstellt. (Deutscher Bundestag, Seite 873) Die Berliner Zeitung berichtete im Februar 2021 über ihren Auftritt vor den Parlamentariern: „Auf nur sieben Seiten, verfasst im Jahr 2016, hat eine junge Bankerin das gesamte Wirecard-Fiasko erkannt, niedergeschrieben und an ihre Vorgesetzten weitergeleitet. Geschehen ist nichts. Noch am 7. September 2017 zeigte sich Rainer Wexeler, Vorstand bei der Wirecard-Bank, in einer internen Email an die Wirecard-Vorstände Burkhard Ley und Alexander von Knoop selbstsicher: Er habe ein ‚tolles, ehrliches und offenes Gespräch‘ mit dem Bafin-Manager Jochem Damberg geführt, der ‚sehr auskunftsfreudig‘ gewesen sei. Für die Bundesbank dagegen gibt es in der Email nur Spott: ‚Die Deutsche Bundesbank zickt herum wegen der fachlichen Kompetenz im Kreditgeschäft.‘ Und: ‚Die Ausarbeitung hat Frau Folter gemacht, die kleine Maus.‘ Und weiter, offenkundig zufrieden: ‚Herr Damberg teilt das nicht…Herr Damberg sagte auch klar und deutlich, die Entscheidung hat die Bafin, nicht die Deutsche Bundesbank.‘“ [1]

Fazit: Um ein Mindestmaß an Aufklärung über kriminelle Praktiken von Unternehmen sicherstellen zu können, ist offiziellen Institutionen nicht zu trauen. Deshalb ist die Öffentlichkeit auf andere Quellen angewiesen – auch wenn Shortseller in erster Linie eigene monetäre Interessen verfolgen oder über interne Missstände informierte Angestellte betrügerischer Firmen sich vielleicht erst spät zum Widerstand entschließen. Whistleblower und andere kritische Stimmen verdienen Respekt und Schutz. Denn es bleibt gefährlich, Wirtschaftsverbrechen öffentlich zu machen.

Anmerkungen:

[1]  vgl. auch: Herbert Storn: Business Crime: Skandale mit System, Marburg 2021, Seite 53f.

Quellen:

Melanie Bergermann/Volker ter Haseborg: Die Wirecard-Story, München, 2020

„Das Milliarden-Ding – Wirtschaftsverbrechen mit Schere und Klebstoff“, ein Film von Simone Schillinger, im Auftrag des WDR und in Zusammenarbeit mit ARTE, 2022

Deutscher Bundestag: Schlussbericht des Wirecard-Untersuchungsausschusses, Drucksache 19/30900, 22. Juni 2021  

https://dserver.bundestag.de/btd/19/309/1930900.pdf

Nicole Donath: „Akte Balsam nun geschlossen“, NW Nachrichten (Internetseite der Neuen Westfälischen), 7. März 2014

https://www.nw.de/nachrichten/wirtschaft/10646076_Akte-Balsam-nun-geschlossen.html

Felix Holtermann: Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt, Frankfurt am Main, 2021

Michael Maier: „Wirecard: Junge Bankerin zeigt, wie einfach Betrug zu durchschauen gewesen wäre“, Berliner Zeitung (Online) vom 26. Februar 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/wirecard/wirecard-junge-bankerin-zeigt-wie-einfach-betrug-zu-durchschauen-gewesen-waere-li.142712

Bettina Pfluger: „Whistleblower Pav Gill: ‚Ich habe Wirecard zu Fall gebracht‘“, Der Standard (Online) vom 21. März 2021

https://www.derstandard.de/story/2000126818501/whistleblower-pav-gill-ich-habe-wirecard-zu-fall-gebracht

Heribert Prantl, „Der kleine große Widerstand“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 14. August 2023, S. 4-10

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/whistleblowing-2023/524075/der-kleine-grosse-widerstand-essay/

Bettina Weiguny/Georg Meck: Wirecard. Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals, München, 2021

 

 

 

 

 

Der Kampf um das fossile Geschäftsmodell. Eine Studie untersucht die Macht der Gaslobby

Die fossile Energiewirtschaft steht unter erheblichem Druck. Zum einen wird sie von denjenigen attackiert, die wirksamen Klimaschutz unter kapitalistischen Bedingungen nicht für möglich halten. Zum anderen drängen Stimmen in den Vordergrund, die den Kapitalismus eher als Lösung des Problems sehen denn als Zerstörer der planetarischen Lebensgrundlagen. Würden Investitionen in erneuerbare Energien gegenüber fossilen größere Profite versprechen, heißt es etwa im Wochenblatt Die Zeit, sei international ein Wettrennen um die Erneuerbaren zu erwarten – und damit eine rettende Klimaschutz-Dynamik auf Basis nachhaltiger Energieträger (vgl. Die Zeit vom 23. Februar 2023).

Es wundert also nicht, dass die Gaswirtschaft erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die eigene Existenz zu legitimieren. Mit Erfolg, denn ihr Lobbyismus zeigt offenbar durchschlagenden Erfolg, wie eine Mitte Februar veröffentlichte umfangreiche Studie des Vereins LobbyControl eindrücklich belegt. Auf Basis einer Auswertung der Daten des seit über einem Jahr bestehenden Lobbyregisters werden die Kanäle untersucht, über die die großen deutschen Gaskonzerne und ihre Lobbyverbände Einfluss auf die Politik nehmen. Dabei liegt ihr Fokus auf den einflussreichsten Schlüsselfiguren und deren Netzwerken. Insbesondere habe der massive Lobbyeinfluss dazu geführt, dass die „Erzählung“, fossiles Erdgas sei ein klimafreundlicher Energieträger und somit wichtiger Teil der Energiewende, von der Bundesregierung übernommen worden sei – auf Kosten des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Dieser Einfluss setze sich aktuell beim Aufbau der LNG-Infrastruktur fort.

LobbyControl beschreibt aber nicht nur bestehende Missstände, sondern beansprucht auch, die notwendigen politischen Veränderungen im Verhältnis von Politik und Gasindustrie in Form eines Forderungskatalogs aufzeigen zu können.

Wesentliche Ergebnisse der Studie sind im Folgenden zusammengefasst:

– Viele Treffen und privilegierte Zugänge

Nach weitgehender Stilllegung der „Russland-Netzwerke“ wirkt der Lobbyismus in der aktuellen Regierung fort. So trafen sich von Dezember 2021 bis September 2022 Vertreter:innen der großen Gaskonzerne im Schnitt einmal täglich mit Spitzenpolitiker:innen der Bundesregierung (mehr als 260 Mal). Wie es in der Studie heißt, sei das deutlich mehr als bei den Vorgängerregierungen. Mit Umweltverbänden oder anderen energiepolitischen Akteuren gab es dagegen nicht annähernd so viele Treffen. Die Lobbymacht der großen Konzerne wie Uniper, Wintershall DEA oder RWE wurde zudem durch energieintensive Unternehmen wie BASF unterstützt. Gemeinsam mit der Gasindustrie übten sie Druck auf die Politik aus, um auf genügend kostengünstiges Gas zugreifen zu können.
Die Gaskonzerne sind weiterhin äußerst aktiv, vor allem auch mit Blick auf das Projekt eines massiven Ausbaus der LNG-Infrastruktur, das große neue fossile Geschäftsfelder eröffnen soll.

Als besonders pikantes Detail sei auch genannt, dass die Deutsche Energie-Agentur (DENA) der Gasindustrie einen privilegierten Zugang in das Bundeswirtschaftsministerium anbietet. Bei der DENA handelt es sich um eine im Jahr 2000 von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder gegründete, von der Rechtsform her private, tatsächlich aber mehrheitlich bundeseigene GmbH. Ihre Aufgabe besteht darin, die Regierung in energiepolitischen Fragen zu beraten. Stattdessen aber, schreibt LobbyControl, fungiere sie als „Lobbykanal für Unternehmen“. Soll heißen: Die Regierung toleriert den Gaslobbyismus nicht nur, sondern fördert ihn sogar. Das Unternehmen sorgt dafür, dass im Rahmen verschiedener Austauschformate einseitig Wirtschaftsvertreter:innen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden, während Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände weitgehend außen vor bleiben. Die DENA wird folgerichtig nicht nur vom Bundeswirtschaftsministerium, sondern auch aus privaten Quellen finanziert (z.B. von den Energiefirmen Wintershall DEA, Eon oder Exxon Mobil).

Ein Zitat aus der Studie:
„Auf diese Weise entstand auch die Gasstrategie der Bundesregierung: Sie wurde weitgehend von der Industrie selbst formuliert und räumte Gas eine entsprechend große Rolle in der deutschen Energiepolitik ein. Auch unter Wirtschaftsminister Habeck wirken die gasfreundlichen Netzwerke und Strukturen rund um das Ministerium weiter – sei es durch gasfreundliches Personal im Ministerium, durch weiterhin aktive Lobbyverbände mit guten Zugängen ins Ministerium und weiterhin bestehende gasfreundliche Strukturen innerhalb der DENA. Gaskonzerne sind infolge der Energiekrise noch enger in die Arbeit des Wirtschaftsministeriums sowie des Bundeskanzleramts eingebunden als zuvor.“ (Seite 7)

– Hohe Ausgaben

74 Unternehmen und zwölf Lobbyverbände der Gaswirtschaft, die sich im Lobbyregister finden lassen, gaben im Jahr 2021 zusammen rund 40 Millionen Euro pro Jahr für Lobbyarbeit aus und beschäftigten dabei 426 Personen. Hinzuzurechnen sind weitere Millionensummen aus der gasverbrauchenden Industrie sowie die Lobbyausgaben von Gazprom und dessen Tochterkonzernen, die sich seinerzeit nicht ins Lobbyregister eingetragen hatten. Zum Vergleich: Die drei größten Umweltverbände, die sich für den Ausstieg aus dem fossilen Energieträger Gas engagieren, verfügten in dieser Zeit insgesamt nur über 1,5 Millionen Euro für ihre Lobbyarbeit (Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace und BUND). Laut Lobbyregister arbeiten lediglich zwischen 83 und 110 Lobbyisten für diese drei Organisationen.

– Enge personelle Verbindungen

LobbyControl spricht von mindestens 30 ehemaligen Politiker:innen, die als gut bezahlte Seitenwechsler für die Lobbyabteilungen der Gasindustrie arbeiten. Neben Gerhard Schröder, der dem „russischen Gas“ den Zugang zu wichtigen SPD-Minister:innen ebnete, handelt es sich zum Beispiel um Kerstin Andreae, die als ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen nun die mächtige Lobbyorganisationen BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) leitet und über einen guten Draht ins grün geführte Wirtschaftsministerium verfügt. Aus dem christdemokratischen Spektrum fungiert der ehemalige CDU-Abgeordneter und parlamentarische Staatssekretär Friedbert Pflüger als Aufsichtsratsvorsitzender des Lobbyverbands Zukunft Gas.

Auch zwischen Wirtschaftsministerium und Gasbranche gebe es enge Verflechtungen, schreibt LobbyControl. Minister Habeck (Die Grünen) habe zwar nach Amtseintritt die Führungskräfte seines Hauses ausgewechselt, die Abteilung „Wasserstoff und Gas, Energieeffizienz in Industrie und Gewerbe“ werde aber auf Ebene der Unterabteilungs- und Referatsleitung noch immer mit Personen besetzt, „die über Jahre enge Verbindungen mit der Gasindustrie gepflegt haben“ (Seite 80).

– Die Forderungen von LobbyControl

Die Gaskonzerne drängen nachdrücklich auf den Erhalt ihres fossilen Geschäftsmodells. Soll ein Ausstieg aus dem fossilen Energieträger Gas aber gelingen, so LobbyControl, müssten die Lobbynetzwerke zurückgedrängt werden. Zumindest sei „mehr Ausgewogenheit in der Beteiligung verschiedener Interessengruppen sowie mehr Transparenz über politische Entscheidungsprozesse“ (Seite 5) zu gewährleisten. Insbesondere, da sich seit Beginn des Ukraine-Krieges die Kontakte zwischen Gasindustrie und Politik intensiviert hätten. Zudem fordert LobbyControl eine sogenannte Lobby-Fußspur, „die Kontakte zwischen Spitzenpolitiker:innen und -beamten mit Lobbyakteuren offenlegt und sichtbar macht, welche Interessen von Unternehmen oder Verbänden in konkreten Gesetzgebungsprozessen Berücksichtigung gefunden haben und welche nicht“ (Seite 43). Weitere Forderungen lauten: Das Sponsoring sollte offengelegt und begrenzt, die bestehenden Regeln für Seitenwechsel aus der Politik in die Wirtschaft und in Lobbyjobs verschärft, Akteure mit Anliegen in den Bereichen Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz, Soziales und Menschenrechte in gleichem Maße angehört werden. Außerdem sollen Lobbynetzwerke und -arbeit autoritärer Staaten deutlich stärker kritisch in den Blick genommen sowie die Macht von Konzernen über das Kartellrecht und weitere Regulierungsmaßnahmen eingeschränkt werden.

– Fazit

Bei der Vorstellung der Studie in Berlin verwies Co-Autorin Nina Katzemich darauf, dass sich die Gaslobby als Partner der erneuerbaren Energien inszeniere. Dabei werde bewusst vernachlässigt, dass Gas ein fossiler und eben kein nachhaltiger Energieträger sei (vgl. Berliner Zeitung vom 15. Februar 2023). Das Narrativ von Erdgas als vermeintlich saubere und klimafreundliche „Brückentechnologie“ habe sich erfolgreich durchgesetzt. Völlig zu Unrecht: Die letzten Bundesregierungen, heißt es schon zu Beginn der Studie, hätten es verpasst, rechtzeitig den Umstieg auf erneuerbare Energien einzuleiten. Die Folgen für die Gesellschaft seien verheerend: „Es drohen weitere erhebliche Klimaschäden, milliardenschwere Fehlinvestitionen zulasten der Steuerzahler:innen, enorme Preissteigerungen sowie möglicherweise sogar Versorgungsengpässe.“ (Seite 5)

Die vorliegende 108-seitige Studie von LobbyControl weist nach: Die Erdgaslobby ist so einflussreich wie eh und je. Die akribische Untersuchung des Transparenz-Vereins leistet aber das, was sie verspricht: Sie wirft ein erhellendes Licht auf die „Schattenpolitik“ der Giganten des Gasmarkts.Quellen:

„Pipelines in die Politik. Die Macht der Gaslobby in Deutschland“, hrsg. von LobbyControl e.V. (Autorinnen: Dr. Christina Deckwirth und Nina Katzemich), Köln, Februar 2023

Jochen Bittner: „Der Weltuntergang fällt aus“, Die Zeit vom 16. Februar 2023

Christine Dankbar: „Neue Studie: LobbyControl warnt vor fortgesetztem Einfluss der Gasindustrie“, Berliner Zeitung (Online) vom 15. Februar 2023

Der Artikel ist der Beilage der Zeitschrift Stichwort Bayer, Ausgabe 2/2023 entnommen.

 

 

Anklageschrift gegen führenden Unternehmensberater

Bei Unternehmen und staatlichen Institutionen geht ohne Unternehmensberatung häufig gar nichts. Unternehmensberater wie McKinsey & Co. prägen deshalb sowohl Wirtschaftsprozesse als auch gesellschaftliche Lebensverhältnisse entscheidend mit – und verdienen damit Unsummen an Geld. In ihrem im Oktober 2022 zuerst in den USA veröffentlichten „Schwarzbuch McKinsey“ legen die beiden Investigativ-Journalisten der „New York Times“, Walt Bogdanich und Michael Forsythe, nun eine Skandalchronik der weltweit wichtigsten Unternehmensberatung vor. Es ist das bisher aktuellste einer ganzen Reihe von in den vergangenen Jahren erschienenen kritischen Büchern verschiedener Autor:innen über McKinsey – einem Unternehmen, das wohl stellvertretend für die gesamte Consulting-Branche angeprangert werden soll.

Nach eigenen Angaben arbeiten rund 35.000 Mitarbeiter:innen von McKinsey in mehr als 130 Städten und 65 Ländern. Die beiden Autoren gehen primär der Frage nach, mit welchen Methoden dieser riesige und mit über zehn Milliarden Dollar Jahresumsatz international führende Strategieberater vorgeht und welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen seiner Tätigkeit bisher beobachtet werden konnten. Geschieht etwas Skandalöses, stehen die Kunden von McKinsey in der Kritik, da sie für die Folgen ihres Handelns verantwortlich sind. Die Berater, die sie instruiert haben, bleiben dagegen weitgehend verborgen und damit aus der Schusslinie der öffentlichen Kritik. Der Anspruch der amerikanischen Journalisten ist es deshalb, die „fragwürdigen Praktiken“ (Untertitel des Buches) McKinseys aus den letzten Jahrzehnten auf Basis umfangreicher Recherchen ans Licht zu zerren (oder auch der Öffentlichkeit bereits bekannte Fälle der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung zu rufen). Die beiden Autoren haben (laut Schutzumschlag des Buches) Hunderte Gespräche mit Insidern geführt und „zehntausende vertrauliche Dokumente“ eingesehen mit dem Ziel, weiter am Lack von McKinsey zu kratzen.

Bogdanich und Forsythe listen in dem Buch detailliert auf, bei welchen strittigen oder kriminell anmutenden Aktivitäten von Unternehmen Mitarbeiter:innen von McKinsey ihre Finger mit im Spiel hatten. Angeführt wird eine Vielzahl von Fällen, hier nur einige Beispiele:
2014 engagierte der Konzern U.S. Steel McKinsey, um den Stahlkonzern wieder auf Gewinnkurs zu bringen. Die Berater implementierten einen „transformativen“ Businessplan, um unter anderem Wartungskosten zu senken. Dutzende Mechaniker wurden entlassen, Hunderte beruflich herabgestuft. Tödliche Arbeitsunfälle waren die voraussehbare Folge.
In den Freizeitparks von Disneyland wurde ebenfalls die „wirtschaftliche Effizienz“ durch einen Umbau der Wartungsarbeiten gesteigert. Ein Jahr lang hatten Consultants von McKinsey die Walt Disney Company analysiert; die wenig überraschenden Empfehlungen folgten 1997: die Instandhaltung von Fahrgeschäften sollte eingeschränkt, Arbeitsplätze gestrichen und Aufgaben an externe Dienstleister outgesourct werden. Auch hier führen die Autoren die nachfolgenden tödlichen Unfälle in einzelnen Vergnügungsparks (z. B. in einer Achterbahn) zurück auf das „eiskalte Kostensenkungskalkül, das die Firma zum Klassenbesten der Unternehmensberatungen gemacht hatte“. (Seite 31)
Seit der globalen Finanzkrise spielte McKinsey eine entscheidende Rolle bei der Umgestaltung des britischen Gesundheitsdienstes „National Health Service“ (NHS). Wegen dem gewaltigen Haushaltsdefizit sollten umfangreiche Kürzungen des NHS-Budgets vorgenommen werden. McKinsey schlug im März 2009 Einsparungen in Höhe von 20 Milliarden Pfund vor; diese sollten durch den Abbau von rund zehn Prozent der NHS-Belegschaft ermöglicht werden. Die beiden Autoren verdeutlichen, wie eng mittlerweile die Bindung der britischen Regierung mit dem privaten Consulting ist. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Regierung den nationalen Gesundheitsdienst noch ganz ohne die Hilfe von Beratern auf die Beine stellen. 313 Millionen Pfund gab der NHS jetzt allein im Jahr 2010 für Consultingfirmen aus.
Als schockierendster Fall des Buches gelten McKinseys Beratungsleistungen für die US-amerikanische Firma Purdue Pharma, einem Hersteller von Schmerzmitteln mit hohem Suchtpotenzial (Opioiden). Von 2004 bis 2019 erhielt McKinsey insgesamt 83,7 Millionen Dollar Beratungshonorar, um „das Verlangen der Nation nach dem Schmerzmittel OxyContin“ (Seite 198) zu schüren. Die Autoren sprechen von 750.000 Menschen, die infolge einer Epidemie starben, die damals durch den Verkauf des Schmerzmittels in Gang gesetzt wurde.

McKinsey, so heißt es in dem Buch weiter, habe auch die amerikanische Aufsichtsbehörde beraten, deren Aufgabe es war, die Auswirkungen des Skandals in den Griff zu bekommen: „Auch hier kam die Doppelrolle von McKinsey als Berater der Regulierten und der Regulierungsbehörde ins Spiel.“ (Seite 220) Gleiches geschah in China, wo McKinsey einen staatlichen Baukonzern beim Aufbau militärischer Infrastruktur beriet, zugleich aber auch für das US-Pentagon arbeitete, die die chinesischen Pläne als Bedrohung auffasste. Zur Geschäftspolitik von McKinsey gehört es offensichtlich, zur gleichen Zeit verschiedene Unternehmen zu beraten, die auf demselben Markt miteinander konkurrieren.
McKinsey arbeitete auch für die deutsche Spitzenpolitik: Insbesondere die Bundesregierung gehört zu ihren Dauerklienten, so auch das Bundesverteidigungsministerium. Zur Erinnerung: Nachdem Ursula von der Leyen im Jahr 2013 das Ministerium übernommen hatte, holte sie selbst Unternehmensberatungen ins Haus, um Probleme im Beschaffungswesen zu lösen. In der 2018 bekanntgewordenen „Berateraffäre“ wurde von einem eingesetzten Untersuchungsausschuss zwar kein strafbares Fehlverhalten der damaligen Verteidigungsministerin festgestellt. Deutlich wurde aber, dass unter ihrer Verantwortung McKinsey „mehrere auf unrechtmäßige Weise freihändig vergebene Aufträge erhalten hatte“ (Seite 386). Vergaberegeln seien schlicht missachtet worden. Süffisant gehen die Autoren in diesem Zusammenhang auf die besonderen Beziehungen von der Leyens – während ihrer Zeit als Bundesministerin und der Auftragsvergaben an McKinsey – zu der Beratungsfirma ein: „Während sie als Verteidigungsministerin fungierte, waren zwei ihrer Sprösslinge für McKinsey tätig“. (Seite 387)

Tatsächlich gilt McKinsey nach wie vor als attraktive Adresse für Neueinsteiger, da die Bewerberzahlen trotz hartem Auswahlverfahren gigantisch zu sein scheinen. Vielleicht wird sich das aber ändern, denn die Kritik an dem Branchenführer wird immer lauter. Die Diskrepanz zwischen Eigendarstellung und tatsächlicher Beratungspraxis sticht einfach zu sehr ins Auge. So hält die Skandalfirma an ihrem Image als „werteorientiert“ fest und stellt sich etwa auf ihrer Webseite als „values-driven organization“ vor, die „high ethical standards“ folgt. Die akribisch vorbereitete und umfangreiche „Anklageschrift“ der beiden Autoren dementiert diese Selbstinszenierung vehement.

Walt Bogdanich/Michael Forsythe: Schwarzbuch McKinsey. Die fragwürdigen Praktiken der weltweit führenden Unternehmensberatung, Econ, Berlin, 2022, 496 Seiten, 24,99 Euro

Landesbanken und Cum-Ex: Versagende Kontrolle und untätige Justiz

Im November 2020 wurde in Hamburg der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Komplex eingerichtet. Er soll klären, ob führende SPD-Politiker in den Jahren 2016 und 2017 Einfluss auf Steuerentscheidungen bei der Privatbank Warburg genommen hatten. Zwei Jahre später, am 17. November 2022, wurde beschlossen, dass der Arbeitsauftrag für den Ausschuss ausgeweitet wird. Nun sollen die Abgeordneten auch die Geschäfte der ehemaligen landeseigenen HSH Nordbank untersuchen.

Eine große internationale Wirtschaftskanzlei hatte bei der HSH bereits im Jahr 2013 insgesamt 29 Transaktionen festgestellt, bei denen etwa 112 Millionen Euro an Kapitalertragsteuern zu Unrecht erstattet worden waren. Im Jahr darauf zahlte die Bank das Geld inklusive Zinsen an das Finanzamt zurück – insgesamt 127 Millionen Euro. Der Fall war damit aber noch nicht abgeschlossen. So schaltete sich etwa im Jahr 2021 – im Zuge von Cum-Ex-Ermittlungen – die Kölner Staatsanwaltschaft ein und veranlasste eine Durchsuchung bei der HSH-Nachfolgerin Hamburg Commercial Bank. Durch den Untersuchungsausschuss steht die HSH jetzt erneut im öffentlichen Fokus – nachdem sie in ihrer Geschichte schon häufig für Aufsehen gesorgt hat:

„Zur Erinnerung: Die kleine Landesbank hatte sich zum größten Schiffsfinanzierer der Welt aufgeschwungen und dabei völlig übernommen, sie hatte in windige Immobiliendeals rund um den Globus investiert und Skandal an Skandal gereiht. Am Ende blieben für die beiden Bundesländer trotz des Verkaufs nichts als Ärger und Milliarden-Schulden. Und ausgerechnet diese HSH steigt nun wie ein Zombie aus ihrem Grab.“ [1]

Dass ausgerechnet Landesbanken kriminelle Geschäfte zu Lasten der öffentlichen Hand einfädelten, obwohl sie dem Staat selbst gehören und zugleich während der Finanzkrise staatliche Milliardenhilfen in Anspruch genommen hatten, empörte die kritische Öffentlichkeit in den letzten Jahren allerdings nur begrenzt. Dass die Vorgänge nicht vollends in Vergessenheit geraten – dafür sorgen zurzeit nicht nur die Oppositionsparteien im Hamburger Abgeordnetenhaus. Neben linken Kritiker*innen des Finanzsystems  befassen sich auch marktliberale Zeitungen wie das Düsseldorfer Handelsblatt mit dem „Skandal im Skandal“, wie das Blatt das Geschäftsgebaren der Landesbanken um Cum-Ex nennt. [2] Die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), die Hamburgisch-Schleswig-Holsteinische Nordbank AG (HSH Nordbank), die Landesbank Berlin, die Landesbank Hessen-Thüringen Girozentrale (Helaba), die Westdeutsche Landesbank AG (WestLB) – sie alle waren im Cum-Ex-Steuerskandal verstrickt.

Vor über sechs Jahren berichtete das Handelsblatt in einer Titelstory, dass 129 nationale und internationale Banken an den Geschäften auf Kosten der Steuerzahler beteiligt gewesen waren. Auf Nachfrage von Investigativjournalisten schlossen damals jedoch fast alle der beteiligten Geldinstitute aus, dass sie jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt hätten. [3]  Allein die ehemalige Landesbank WestLB hinterzog bei den kriminellen Geschäften mutmaßlich 600 Millionen Euro an Steuern, ein Mehrfaches dessen, was der weithin bekannten Hamburger Privatbank Warburg zur Last gelegt wurde. Die von anderen landeseigenen Banken verursachten Steuerschäden belaufen sich ebenfalls auf hohe Millionenbeträge: 166 Millionen bei der LBBW, 112 Millionen bei der HSH Nordbank, 22 Millionen bei der Helaba. „Ausgerechnet bei den Banken in öffentlicher Hand wird sehr nachlässig aufgeklärt“, zitiert das Handelsblatt den Mannheimer Finanzwirtschaftler Christoph Spengel, der sich dem milliardenschweren Steuerraub durch Aktiengeschäfte bestens auskennt. „Offensichtlich geht der Staat gegen Landesbanken weniger entschlossen vor als gegen Privatbanken“. [4] Der Professor formuliert recht zurückhaltend, denn bei der Verfolgung krimineller Landesbanker übt sich die Justiz tatsächlich weitgehend in Arbeitsverweigerung. Und das, obwohl nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) bereits bei Überschreiten der Schwelle von 50.000 Euro eine „Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen“ vorliegt – ab einer Millionen Euro muss mit Gefängnisstrafen gerechnet werden.

In den letzten beiden Jahren wurden vom BGH, vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Cum-Ex als strafbar sowie steuerrechtswidrig einzustufen ist und alle daraus erzielten Gewinne eingezogen werden können. Während aber bislang vier Täter im Warburg-Komplex verurteilt wurden und weitere beschuldigte Manager von Privatbanken aktuell vor Gericht stehen, erging im Fall der Landesbanken keine einzige Anklage.

Justiz ohne Verfolgungsinteresse

So ist spätestens seit 2013 bekannt, dass die gemeinsame Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein, die HSH Nordbank, von Cum-Ex profitierte. Es ging dabei um Aktiendeals in den Jahren von 2008 bis 2011. Obwohl die Bank die Beute zurückzahlte und damit ihre Schuld anerkannte, entschied sich die Staatsanwaltschaft Hamburg seinerzeit gegen die Einleitung eines Strafverfahrens. Es wurde lediglich ein sogenannter Beobachtungsvorgang angelegt. Mit dem Ergebnis, dass die vorliegenden Indizien als offenbar nicht ausreichend bewertet wurden, um den Geschehnissen weiter nachzugehen. Erst 2018 leitete die Staatsanwaltschaft Köln aufgrund von Hinweisen aus einem anderen Cum-Ex-Fall ein Verfahren ein, so dass zurzeit etwa zehn ehemalige und noch aktive Mitarbeitende auf der Beschuldigtenliste stehen. Fazit: Die HSH entging bislang einer Strafzahlung, musste lediglich den selbst verursachten finanziellen Schaden plus Zinsen begleichen. Die Täter wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen.

Im Fall der LBBW ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit neun Jahren, ohne dass jemand angeklagt worden wäre. Ein Ende der Ermittlungen gegen insgesamt sieben Beschuldigte, so das Handelsblatt, sei nach wie vor nicht abzusehen. Obwohl es sich um ein sehr aufwändiges Verfahren handele, gäbe es nur einen Ermittler. Eine erstaunliche Mitteilung, denn bei einem Steuerschaden von 166 Millionen Euro müssen letztlich viele hochkomplexe Aktiengeschäfte in einem Umfang von vielen Milliarden Euro abgewickelt worden sein. Gleiches gilt für die 2012 abgewickelte WestLB, Eigentum des Landes Nordrhein-Westfalen und der Sparkassen, für die ihre Rechtsnachfolgerin, die Portigon AG, Rückstellungen in Höhe von 600 Millionen Euro bilden musste, um die Steuerrückforderungen übernehmen zu können. Portigon hatte jedoch jahrelang vehement bestritten, die WestLB habe jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt. Im Jahr 2016 leitete die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft dann endlich Ermittlungen ein, die aber kaum vorwärtskamen. Auch dies verwundert, denn schon 2014 wurden die Telefone Hanno Bergers, Steueranwalt und Schlüsselfigur im Cum-Ex-Skandal, abgehört. Der hatte mehrmals erwähnt, davon gehört zu haben, dass auch die WestLB in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt gewesen sei. Im Jahr 2020 übernahm dann die Staatsanwaltschaft Köln das Verfahren, ermittelt aktuell gegen 18 Beschuldigte, darunter auch frühere Vorstandsmitglieder. Die Zeit zumindest zeigt sich mittlerweile verhalten optimistisch: „Wann die Ermittlungen abgeschlossen sein werden, sei noch nicht abzusehen, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Da der Raubzug in der Sache aufgeklärt ist, sollte es nicht mehr allzu lange dauern, bis die Ermittler die Verantwortlichkeiten festgestellt haben. Im Landgericht Bonn könnten schon bald erste Anklageschriften eingehen.“ [5] Der politische Auftrag jedenfalls ist mit dem Koalitionsvertrag von Grünen und CDU in NRW gegeben. Dort heißt es: „Bei dem Cum-Ex-Skandal werden wir die Rolle der früheren WestLB aufklären.“ Was aber weiter und in welchem Zeitrahmen konkret unternommen werden soll, bleibt nach wie vor unklar.

Dass auch die Landesbank Berlin an Cum-Ex beteiligt war, ging aus einer Antwort der damaligen Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke im September 2017 hervor. Danach sei die Landesbank Anfang 2016 als Rechtsnachfolgerin der Bankgesellschaft Berlin AG durch die Steuerbehörden „auf wenige mögliche Leerverkaufsgeschäfte aus dem Jahr 2007“ [6] aufmerksam gemacht worden. Eine interessante Bemerkung: Die Bank hat erst durch die Behörden erfahren, welche Deals sie selbst „möglicherweise“ abgeschlossen hat. Gemeinsam mit einem externen Wirtschaftsprüfer und in enger Kooperation mit den zuständigen Behörden würden alle in Frage kommenden Geschäftsvorgänge in dem Zeitraum untersucht. Nach der Ankündigung ist aber offenbar nichts passiert. „Bis heute ist nicht bekannt, um wie viel Geld sich die Landesbank bereichert haben könnte. (…) Die Ermittlungsbehörden in Berlin nahmen trotzdem vorab einen Freispruch an.“ [7] Denn laut Generalstaatsanwaltschaft Berlin wurde das Vorliegen einer Straftat verneint. Das objektive Handeln bei den Cum-Ex-Geschäften sei durchaus als strafrechtlich relevant angesehen worden, ein entsprechender individueller Vorsatz der Beschuldigten aber sei nicht nachzuweisen gewesen.

Vorsitzender des Aufsichtsrats der Landesbank Berlin ist zurzeit Helmut Schleweis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Sein Stellvertreter Frank Wolf, Landesbezirksleiter von ver.di, war als gelernter Bankkaufmann zuvor Leiter des Fachbereichs Finanzdienstleistungen der Gewerkschaft. „Von beiden ist kein Versuch bekannt, auch nur die Schadenshöhe der Cum-Ex-Geschäfte der Landesbank Berlin zu bemessen. Eine Auskunft dazu gab es nicht“. [8]
Ebenfalls seit etwa 2016 ist der Cum-Ex-Handel bei der hessischen Landesbank Helaba öffentlich bekannt. Schon 2013 hatte sie 22 Millionen Euro zuvor illegal kassierte Kapitalertragssteuern an den Fiskus zurückgezahlt. Auffallend ist auch in diesem Fall, dass sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt in der Zwischenzeit trotz der erheblichen Straftaten passiv verhielt. Im Jahr 2016 galten dann zwei Personen, darunter ein Vorstand, als verdächtig. Heute, nach weiteren sechs Jahren, kann die Strafverfolgungsbehörde keinen neuen Sachstand vermelden. Aber auch für die Helaba gilt: Wer 22 Millionen Euro als Gewinn ergaunert, muss mit Milliardenbeträgen gehandelt haben, was mit lediglich zwei Akteuren definitiv nicht möglich ist. Zwar zeigt sich die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt bei Cum-Ex durchaus als umtriebig, schließlich laufen in Hessen mehrere Verfahren (u. a. gegen Hanno Berger). Der Helaba-Fall aber „steht weit hinten auf der Prioritätenliste“, wie es in dem Handelsblatt-Podcast von Ende August 2022 heißt. Die Journalisten der Zeitung kennen schlicht niemanden, der oder die versucht, die Ermittlungen in dem Fall voranzutreiben.

Aufsichtsräte wissen von nichts

Zu den auffallend zurückhaltend agierenden Personen gehören auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Landesbanken: „Vom Aufsichtsrat der Helaba, gespickt mit Landräten, Oberbürgermeistern und Sparkassenvorständen, sind keinerlei Versuche bekannt, die Aufklärung zu beschleunigen“ [9]. So bestritt Helmut Linssen (CDU), von 2005 bis 2010 Finanzminister von NRW und damit Aufsichtsratsmitglied bei der WestLB, noch bei seiner Befragung Anfang 2017 im Untersuchungsausschuss des Bundestages, dass es bei der Landesbank je Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe. [10] Zu dem Zeitpunkt bestanden aber keine Zweifel mehr an den kriminellen Geschäften, die in der Presse bereits detailliert dargestellt worden waren. Auch Linssens Nachfolger als NRW-Finanzminister und späterer Co-Vorsitzende des SPD, Norbert Walter-Borjans, saß im Aufsichtsrat der Landesbank. Er hatte sich zwar als Aufkäufer von Steuer-CDs profiliert, die auch umfassende Informationen über Cum-Ex-Geschäfte von Finanzinstituten enthielten. Im NRW-Landtag antwortete Walter-Borjans Ende 2015 jedoch auf eine diesbezügliche Anfrage, dass ihm als Finanzminister und zugleich Aufsichtsrat der WestLB keine Erkenntnisse über missbräuchliches Verhalten der Landesbank vorliegen würden. [11]
Auf Nachfrage des Handelsblatt vom Juli 2022 reagierte der ehemalige Chef der Deutschen Bahn, Heinz Dürr, ebenfalls recht dürftig: „Während meiner Zeit im Verwaltungsrat der LBBW wurde nicht über das Thema Cum-Ex gesprochen.“ [12] Der frühere Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, bis 2014 Mitglied des obersten Kontroll- und Beratungsgremium der LBBW, antwortete dem Wirtschaftsblatt knapp und trocken: Er habe sich nicht mit dem Thema Cum-Ex beschäftigt und deshalb auch nichts unternommen. Andere angefragte namhafte Politiker oder „Wirtschaftsgrößen“ antworteten den Journalisten erst gar nicht auf eine entsprechende Anfrage.
Das konsequente Bestreiten auf Seiten von Aufsichts- bzw. Verwaltungsräten landeseigener Unternehmen, dass es dort Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe oder die Kontrollorgane davon erfahren hätten, und das schleppende Vorgehen der Staatsanwaltschaften passen zu einer mittlerweile durchgesetzten Erkenntnis allerdings gar nicht: Dass, wie nachfolgendes Zitat eines ehemaligen Mitarbeiters der WestLB belegt, die Abwicklung der kriminellen Geschäfte eine systematisch organisierte Massenveranstaltung war.
„Natürlich haben wir Cum-Ex-Geschäfte gemacht. Haben doch fast alle Banken in Europa gemacht. (…) Die Cum-Ex-Geschäfte waren Top-Down-geplant. Die Anweisungen, wie viele Kapitalertragssteuern am Jahresende unter dem Strich stehen mussten, die kamen von oben. Sie können nicht alleine 15 Milliarden Euro durch die Bilanz ziehen. Das muss genau vorbereitet werden. Auf den Email-Verteilern, die es zu diesen Geschäften gab, waren 300 bis 400 Leute. Das Trade-Controlling, das Risiko-Management, der Vorstand. Der Ablauf der Trades stand doch in den Excel-Sheets im Anhang der Mails klar drin.“ [13]
Aussagen von Insidern wie diese räumen mit naiven Annahmen auf, der Staat würde bei der Aufsicht seiner eigenen Unternehmen eine besondere Sorgfalt walten und wirtschaftskriminelles Vorgehen verhindern. Denn Landesbanken, ob als Aktiengesellschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts (AöR) verfasst, bewegen sich auf den gleichen hart umkämpften Geschäftsfeldern wie die privaten Banken und müssen sich dort behaupten. Gelingt dies, kassieren die Führungskräfte auch in den öffentlichen Unternehmen hohe Gehälter und Boni.

Die bizarre Geschäftspolitik der Landesbanken

Schon mit Beginn der 1970er Jahren hatten sich die Landesbanken, deren ursprünglicher Zweck in der Förderung der regionalen Wirtschaft bestand, zu „normalen“ Geschäftsbanken gewandelt. So bauten sie zunehmend ihr Auslandsgeschäft aus und stießen damit in die angestammten Bereiche der privaten Großbanken vor, mit denen sie konkurrierten – von denen sie sich aber immer weniger unterschieden. [14]
In der Fachliteratur wird betont, dass öffentliche Unternehmen aus verfassungsrechtlichen Gründen per se dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Dieser Grundsatz befreie die Geschäftsführungen jedoch nicht von der Pflicht, sie nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und damit gewinnorientiert zu führen. Ein Widerspruch in sich, der aber klarstellt, dass der öffentliche Auftrag die Landesbanken in ihrer expansiven und international ausgerichteten Geschäftspolitik noch nie einschränken konnte. In den Jahren seit Beginn der Finanzkrise zeigte sich, dass wegen fehlender Regularien und Kontrollen viele hochriskante Geschäfte einzelne der staatlichen Banken an den Abgrund geführt hatten. Es wurden sogar kritische Stimmen laut, die vermuteten, die öffentlichen Landesbanken könnten ganz gezielt kaputtgewirtschaftet worden sein, „auch um zu zeigen, dass öffentlich eben nicht besser sei als privat“ [15].
Eine interessante Deutung, die sich gegen die These eines ungewollten Staatsversagens richtet. Auch die Weigerung der aktuellen und ehemaligen Aufsichts- und Verwaltungsräte, zur Aufklärung über die Verwicklung von Landesbanken im Cum-Ex-Skandal beizutragen, lässt auf ein bewusstes Handeln schließen. Wahrscheinlich sah und sieht man einfach wohlwollend darüber hinweg, dass die Manager der Landesbanken, die zum Teil nicht für das „marktübliche“ internationale Investmentgeschäft taugten, wenigstens auf kriminelle Weise zur Gewinnerzielung (wenn auch auf Kosten der eigenen Träger) fähig waren.

 

Anmerkungen

[1] Andreas Dey: „Plötzlich hält ein Zombie die Hamburger Politik in Atem“, Hamburger Abendblatt (Online) vom 27. August 2022
https://www.abendblatt.de/hamburg/article236264249/cum-ex-affaere-hsh-nordbank-ein-zombie-haelt-die-politik-in-hamburg-in-atem-pua.html
[2] vgl. auch: BIG-Nachricht vom 26. Juli 2022,
https://big.businesscrime.de/nachrichten/private-fluchtprogramme-der-superreichen/ 
[3] „Landesbanken im Cum-Ex-Skandal: Chefetagen als justizfreie Zonen, Handelsblatt Crime, Podcast vom 14. August 2022
https://www.youtube.com/watch?v=TngQ05Z6q_E
[4] Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Schäden in Milliardenhöhe: Landesbanken versinken in Cum-Ex-Affäre“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-schaeden-in-milliardenhoehe-landesbanken-versinken-in-cum-ex-affaere/28521106.html
[5] Karsten Polke-Majewski: „Wer zahlt?“, Die Zeit (Online) vom 16. November 2022
https://www.zeit.de/2022/47/westlb-cum-ex-skandal-landesbank-finanzbetrug-ermittlung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.bing.com%2F
[6] Abgeordnetenhaus Berlin: Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Steffen Zillich (Die Linke) vom 13. September 2016, Drucksache 17/19081
https://www.steffen-zillich.de/fileadmin/linksfraktion/ka/2016/S17-19081.pdf
[7] Iwersen/Votsmeier, Handelsblatt vom 20. Juli 2022
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] Deutscher Bundestag: „Beschlussempfehlung und Bericht des 4. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes“, 20. Juni 2017, Drucksache 18/12700, Seite 183
https://dserver.bundestag.de/btd/18/127/1812700.pdf
[11] „Tat ohne Täter – Wie sich Politik und Justiz im Cum-Ex-Skandal blamieren“, Handelsblatt Crime, Podcast vom 29. August 2022
https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-tat-ohne-taeter-wie-sich-politik-und-justiz-im-cum-ex-skandal-blamieren/28630066.html
[12] Handelsblatt-Podcast vom 14. August 2022
[13] Handelsblatt-Podcast vom 29. August 2022
[14] vgl. Benjamin Gubitz: Das Ende des Landesbankensektors. Der Einfluss vom Politik, Management und Sparkassen, Wiesbaden, 2013, Seite 64
[15] Torsten Loeser: „‚Der Abgesang kommt zu früh‘. Antwort auf Joachim Bischoff und Norbert Weber: ‚Landesbanken besser auflösen‘“, 24. November 2012
https://www.axel-troost.de/de/article/6624.der-abgesang-kommt-zu-frueh.html

Das Ende von Demokratie und Staat – Die visionäre Heilsbotschaft des Tech-Milliardärs Peter Thiel

Im Mai 2022 beschrieb Die Zeit ganzseitig den Persönlichkeitskult um Elon Musk, Chef von Tesla, Twitter und dem Raumfahrtunternehmen SpaceX. Für den TV-bekannten Start-up-Investor Frank Thelen ist er „der größte Architekt der Menschheitsgeschichte“. Die Kombination von zur Schau gestelltem Machertum und dem Versprechen einer leuchtenden technologischen Zukunft lässt seine Anhängerschaft offenbar stetig wachsen: „Mit Tesla will er den Klimawandel stoppen, mit Twitter die Meinungsfreiheit retten, seine Lieblings-Kryptowährung Dogecoin soll nicht die Finanzelite reich machen, sondern ‚the people‘s crypto‘ sein“. Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonao bezeichnete ihn nicht weniger euphorisch als „Mythos der Freiheit“. Dies nicht gerade zufällig: Seit Monaten wird berichtet, dass Musk politisch nach rechts driftet, sich für Verschwörungserzählungen anfällig zeigt, für die Republikanische Partei und für den Ex-Präsidenten Trump wirbt. Ob die Übernahme und somit absolute Kontrolle über den Kurznachrichtendienst Twitter, einer wichtigen globalen Informationsplattform, sein Image auch bei vielen seiner bisherigen Fans beschädigen wird, bleibt vorerst abzuwarten.

„Die Erziehung eines Libertären“

Ähnlich einflussreich wie die Kultfigur Musk, aber weitaus weniger im öffentlichen Rampenlicht stehend, ist der aus Frankfurt am Main stammende US-Milliardär Peter Thiel. Auch der Gründer des Online-Bezahldienstleisters PayPal und erste Großinvestor bei Facebook setzt auf die Republikaner: Im Jahr 2016 verhalf er mit gigantischen Summen Donald Trump zur Präsidentschaft. Seine provokanten politischen Überzeugungen legte der libertäre Vordenker der politischen Rechten in den USA in zahlreichen Vorträgen, Essays und Buchpublikationen dar. So zum Beispiel im Frühjahr 2009 in dem vielbeachteten Essay „The Education of a Libertarian“, den er auf Einladung der ultrakonservativen Denkfabrik Cato Institute vorlegte. Persönliche Freiheit sei das höchste Gut überhaupt, heißt es dort zu Beginn. Er stemme sich gegen Steuererhebungen, die „beschlagnahmenden“ Charakter hätten, lehne totalitäre Systeme ebenso ab wie die Ideologie von der Unausweichlichkeit des Todes jeden Einzelnen: „For all these reasons, I still call myself ‚libertarian‘“.

Auch glaube er nicht mehr daran, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar seien. Das seit 1920 zu beobachtende gewaltige Anwachsen des Wohlfahrtsstaates und die Ausweitung des Frauenwahlrechts seien verantwortlich dafür, dass die Idee einer „capitalist democracy“ ein Widerspruch in sich sei. Soll heißen: Selbst eine moderate staatliche Politik des sozialen Ausgleichs und der demokratischen Mitsprache passe nicht zum Konzept der Freiheit, die mit dem Kapitalismus identisch ist. Dieser von ihm geäußerte Gedanke führe seiner Meinung nach zur eigentlichen Aufgabe der Libertären, einen Ausstieg aus der Politik in all ihren Formen zu finden. Er lege seinen Fokus auf die Entwicklung neuer Technologien, die einen „neuen Raum für Freiheit“ schaffen könnten. Noch unentdeckte Gebiete müssten erschlossen werden, um neue Formen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens auszuprobieren. Als „technological frontiers“ nennt Thiel den Cyberspace, den Weltraum und die Besiedelung der Weltmeere.

Wie Thiel weiter meint, habe er als Unternehmer und Investor seine Anstrengungen auf das Internet konzentriert. So wolle er eine von jeder Regierungskontrolle freie Weltwährung schaffen, um die Währungssouveränität der Staaten zu beenden. Konzerne wie Facebook hätten in den 2000er Jahren den Raum für einen neuen Umgang mit konfligierenden Interessen oder abweichenden Meinungen („new modes of dissent“) und neue Wege zur Errichtung von nicht an Nationalstaaten gebundene Gemeinschaften geschaffen. Der Weltraum bietet nach Thiel „eine grenzenlose Möglichkeit zur Flucht vor der Weltpolitik“. Die Raketentechnologie habe aber seit den 1960er Jahren nur wenige Fortschritte gemacht. Notwendig sei eine „Verdoppelung der Anstrengungen für die kommerzielle Raumfahrt“. Eine „libertäre Zukunft“ im All, wie sie bekannte Science-Fiction-Autoren beschrieben hätten, könne in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts möglich werden. Zwischen Cyberspace und Weltall verortet Thiel als Ideologe uneingeschränkter technologischer Machbarkeit die Besiedelung der Ozeane. Diese solle einen dauerhaften Lebensraum ohne jeden Einfluss von Staaten schaffen.

Weltraum und Militär

Thiels Karriere ist eng mit diversen US-Techriesen und mit dem militärisch-industriellen Komplex verknüpft. Sein finanzielles Engagement bei Facebook führte zu einer jahrelangen Freundschaft mit dessen CEO Marc Zuckerberg. Der Bezahldienst Paypal entstand aus einem Zusammenschluss von Firmen Thiels und Elon Musks im Jahr 2000. Die 2004 gegründete Datenanalyse- und Softwarefirma Palantir brachte Thiel schließlich 2020 an die Börse. „Palantir (‚sehender Stein‘)“, schreibt Werner Rügemer, „ist einer der wichtigsten Softwarezulieferer für die US-Geheimdienste FBI, CIA und NSA, aber auch für das Department of Home Security, für (…) Air Force, Marines und die US-Katastrophenschutzbehörde.“ (Rügemer, Seite 145) Trotz seiner behaupteten staatskritischen Attitüde als Libertärer entwickelte Thiel das Unternehmen Palantir mit seinen weltweit knapp 3.000 Mitarbeiter*innen zu einem engen Partner von Regierungen, Behörden, dem Militär und der Großindustrie.

In das von seinem ehemaligen Paypal-Kollegen Elon Musk im Jahr 2002 gegründete Weltraumunternehmen SpaceX investierte Thiel die ersten 20 Millionen Dollar (vgl. Wagner, Seite 95). Selbstredend gilt Thiel als großer Fan von Musks Projekt, den Mars zu besiedeln – er ist an dessen Finanzierung beteiligt (vgl. n-tv). Im Oktober 2022 wurde bekannt, dass er nun auch in ein oberbayerisches Start-up investiert, das unbemannte Flugobjekte an die Ukraine liefert. Zusammen mit dem Berliner Risikokapitalgeber Project A steigt Thiel mit 17,5 Millionen Dollar bei der Drohnenfirma Quantum Systems ein. Bisher ist es bei deutschen Startups eher verpönt, offen im Rüstungssektor tätig zu werden – Investoren aus der Venture Capital-Branche schließen Investments in Rüstungsprojekten in der Regel aus. Quantum aber lieferte im Frühjahr die ersten Überwachungsdrohnen zur Ausspähung russischer Truppen an die Ukraine. Weitere sollen folgen. Da die Grenzen zwischen Aufklärungs- und Waffensystemen in Zeiten der vernetzten Kriegsführung immer mehr verschwimmen, fallen offensichtlich – mit kräftiger Unterstützung des Neuinvestors Peter Thiel – bei deutschen Startups zunehmend bisher vorhandene Hemmungen, sich militärisch zu engagieren (vgl. Handelsblatt vom 21. Oktober 2022 und Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2022).

Weltmeer und Seestädte

Wie stellt sich Thiel aber nun eine Gesellschaft der Zukunft vor, in der Freiheit im Sinne des Libertarismus handlungsleitend sein soll? In jedem Fall in Form „freier Räume“ jenseits staatlicher Regulation. Zum Beispiel auf hoher See, denn das Meer und ferne unbewohnte Inseln gehören scheinbar niemanden, sind also eine Welt, die nach Thiel und Co. nur darauf wartet, angeeignet zu werden.

„In der Geschichte des Kolonialismus“, heißt es in einem FAZ-Artikel von Theresia Enzensberger, „war das unbeschriebene Blatt schon immer eine nützliche Illusion. Das Niemandsland war für die kolonisierenden Seefahrer eine ganz selbstverständliche Erweiterung ihres geschichtslosen, unbeanspruchten Meeresraums.“ Deren Erben im heutigen Silicon Valley sähen sich als Pioniere, als Entdecker von neuen Möglichkeiten und Lebenswelten. „Wenn Elon Musk die indonesische Insel Biak gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung durch eine Startrampe in ein ‚Space Island‘ verwandeln will; wenn Peter Thiel in das Seasteading Institute investiert, das vorhat, künstliche Inseln zu errichten; wenn der Rohstoffhändler Titus Gebel in Honduras freie Privatstädte entwickelt, bei denen die Regierung durch einen ‚Staatsdienstleister‘ ersetzt wird, dann tun sie das alle im Namen der Aufklärung – wie schon die Seefahrer Jahrhunderte vor ihnen.“

Das genannte Seasteading Institute wurde 2008 von Patri Friedman gegründet – dem Enkel Milton Friedmans, des Begründers der Chicagoer Schule, und Sohn des Anarcho-Kapitalisten David Friedman. Sein Projekt, eine „radikal libertäre“ Seestadt zu entwickeln, wurde von Thiel durch eine Spende von einer halben Millionen Dollar ins Rollen gebracht (vgl. Kemper, Seite 62f.). Laut Wikipedia-Eintrag bezeichnet „Seasteading“ (engl. Sea [Meer] und homesteading [Besiedlung, Inbesitznahme]) das Konzept, Stätten dauerhaften Wohn- und Lebensraums auf dem Meer zu schaffen, außerhalb der von nationalen Regierungen beanpruchten Gebiete. Die Washington Post beschrieb im Jahr 2011 Thiels Ideen näher:

„Thiel believes these islands may be important in ‚experimenting with new ideas for government‘, such as no welfare, no minimum wage, fewer weapons restrictions, and looser building codes.“ („Thiel glaubt, dass diese Inseln wichtig sein könnten, um mit ‚neuen Ideen für Regierungen zu experimentieren‘, wie z.B. keine Sozialhilfe, kein Mindestlohn, weniger Waffenbeschränkungen und lockerere Bauvorschriften.“ Vgl. Hinweis und Übersetzung im „ZDF-Magazin Royale“ vom 11. Februar 2022)

Am Ende seines Essays „The Education of a Libertarian“ (2009) wünscht Thiel übrigens Patri Friedman für sein außergewöhnliches Experiment nur das Beste.

Kryptowährung

Thiel ist auch ein langjähriger Fan von Digitalwährungen wie etwa Bitcoin. Er wird nicht müde, gegen alle Barrieren anzukämpfen, die seinem Ziel im Wege stehen, eine von staatlichen Banken unabhängige Währung zu schaffen. Mit seiner Firma PayPal wollte er damit nichts weniger als das Weltfinanzsystem aus den Angeln heben. Zunächst profitierte er aber persönlich davon. Über seinen Founders Fund investierte er 2017 rund 20 Millionen Dollar in die Kryptowährung; schon Anfang 2018 soll sein Investment laut Manager Magazin hunderte Millionen Dollar wert gewesen sein.

Auf der Konferenz „Bitcoin 2022“ im April 2022 in Miami Beach griff Thiel dann die drei bekannten Größen der US-Finanzindustrie frontal an: Warren Buffett, den JP Morgan-Chef Jamie Dimon und Blackrock-Chef Larry Fink. Er machte sie für die aktuelle Kursschwäche der Kryptowährung verantwortlich und beschimpfte sie als „Finanz-Gerontokraten“, die sich gegen die „revolutionäre Jugendbewegung“ rund um die Digitalwährung Bitcoin verschworen hätten. Er warf ihnen vor, den Trend zu nachhaltigen Investitionsansätzen gegen Bitcoin-Anlagen zu stützen (wegen des hohen Stromverbrauchs beim Mining achten Investoren offensichtlich mittlerweile auf mehr Energieeffizienz). Das Handelsblatt kommentierte dies am 8. April 2022 wie folgt:

„Thiels Verbalattacke einfach als unschöne Stimmungsmache abzutun wäre (…) zu einfach. Denn seine Rhetorik ist gefährlich. Thiel spricht von ‚Feindeslisten‘, Buffett nennt er den ‚Feind Nummer eins‘, Nachhaltigkeitsansätze seien eine ‚Hassfabrik‘, die er mit der Kommunistischen Partei Chinas gleichsetzt. Sinngemäß drückt er damit aus: Bitcoin bedeutet Freiheit, alles andere ist Diktatur. (…) Um diesen Standpunkt zu legitimieren, inszeniert sich der 54-Jährige, ironischerweise je nach Betrachtung selbst schon ein alter weißer Mann, als Interessenvertreter einer Jugendbewegung. Doch erstens besteht gerade in der jungen Generation ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt. Während Thiel den Staat am liebsten abschaffen würde, befürworten gerade viele junge Menschen Einschränkungen zugunsten größerer Nachhaltigkeit.“

Thiels Jugendkult passt übrigens zu einzelnen von ihm geförderten Forschungsprojekten, die das Ziel verfolgen, den biologischen Alterungsprozess aufzuhalten. Beispielsweise steckt er Geld in die Kryonik, einer Technologie, die es ermöglichen soll, Menschen nach ihrem Ableben einzufrieren, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzutauen. Thiel erklärte bereits 2012, der Tod sei ein Problem, das sich lösen ließe. Laut Medienberichten wollte er an umstrittenen klinischen Tests teilnehmen, bei denen sich Erwachsene das Blut jüngerer Menschen spritzen lassen, um selbst wieder jugendlich frisch zu werden – in den USA als „Vampir-Therapie“ bekannt. Ende Oktober 2022 boten Internetportale dazu eine passende Meldung: Elon Musk hatte eine Reihe von Prominenten aus der globalen Tech-Szene und einzelne Hollywood-Stars zu einer Halloween-Party auf ein rumänisches „Dracula-Schloss“ eingeladen. Auch Peter Thiel stand auf der Gästeliste. Ein Sinn für skurrilen Humor ist den Tech-Milliardären kaum abzusprechen.

Königsmacher der neuen Rechten

Thiel hat allerdings bei öffentlichen Auftritten bestritten, ein Vampir zu sein. Das Manager Magazin hält in seiner Oktoberausgabe 2022 eine weitere Metapher für ihn bereit. Nach Auffassung des Blatts schürt Thiel schon lange Umsturzfantasien und greift als „Dark Lord“ nicht weniger als nach der politischen und gesellschaftlichen Macht in den USA. Sein Selbstverständnis zeigt eine mehrtägige Konferenz, zu der seine Capital-Venture-Firma Founders Fund Anfang 2022 in ein luxuriöses Hotel in Miami Beach einlud. Die „wichtigsten Unruhestifter unserer Kultur“ (unter anderem Elon Musk) versammelten sich dort unter dem Motto „A Conference for Thoughtcrime“. Die Teilnehmer*innen verstanden sich offenbar als Ketzer und Nonkonformisten, die „‚von anderen Konferenzen verbannt sind‘, wie es in der Einladung hieß. (…) Die Besucher sollten sich mit Widerspruch und unpopulären Ideen beschäftigen, wesentlich für den Fortschritt der menschlichen Zivilisation.“

Das Manager Magazin ernannte Peter Thiel als „Megaspender“ der Republikanischen Partei zum „Königsmacher der radikalen Rechten“. Denn mit seinen Millionen wolle er den Machtwechsel im US-Senat herbeiführen – und unterstützte bei den US-Zwischenwahlen im November zwei Trump-Anhänger und politische Newcomer, die selbst aus der Venture-Capitalist-Branche kommen: J.D. Vance (Ohio) und Blake Masters (Arizona). „Sie überbieten sich mit kruden Thesen von rassistischen Anspielungen, Verschwörungstheorien und Attacken auf die ‚woke culture‘, die Bewegung gegen Diskriminierung.“ Thiel selbst ist seit 2016 Großspender der Republikaner und gilt seitdem als Vertrauter und Berater von Ex-Präsident Trump. Dies ist ungewöhnlich, weil es auch in den USA offenbar eher selten ist, dass sich das „Wagniskapital“ direkt parteipolitisch einmischt. Anders bei Thiel: „‚Die Politik hat immer mehr Raum bei ihm eingenommen. Peter ist superpolitisch, und das schon seit fünf, sechs Jahren‘“. So zitierte das Handelsblatt jedenfalls am 8. Februar 2022 eine ihm nahestehende Person. Thiel, im gesellschaftspolitisch eher liberal geprägt Silicon Valley als Außenseiter geltend, versucht die Republikaner politisch weiter nach rechts zu verschieben, in dem er systematisch als Netzwerker agiert. Der amerikanische Universitätsprofessor Moira Weigel erklärte Mitte des Jahres gegenüber dem britischen Guardian, dass Thiel selbst aber gar nicht entscheidend sei: „What matters about him is whom he connects.“ Thiel stelle die Kontakte und Verbindungen her zwischen den „most rightwing politicians in recent US-history“.

Thiel möchte aber offensichtlich auch seine Kontakte nach Europa intensivieren. So heuerte Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang 2022 bei der Investmentfirma Thiel Capital als „Global Strategist“ an. Vor allem die guten Kontakte des ehemaligen ÖVP-Politikers zu Autokraten im osteuropäischen Raum und zur EU könnten Thiel bei der Entwicklung seines rechten Netzwerks von Nutzen sein. Kurz war zuvor wegen Korruptionsvorwürfen als Kanzler zurückgetreten und hatte alle politischen Ämter niedergelegt.

Herrschaft der Monopole

Der vorgeblich staats- und politikferne Tech-Milliardär scheut also nicht vor einer engen Kooperation mit einflussreichen und die freie Marktwirtschaft verherrlichenden (Ex-)Politikern zurück. Die suchen umgekehrt seine Nähe – ungeachtet der von Thiel provokant vertretenen Auffassung, Kapitalismus und Wettbewerb seien für ihn unvereinbar. „Für weite Teile der Allgemeinheit“, schreibt sein Biograf Thomas Rappold, „gilt der Grundsatz, dass Kapitalismus und Wettbewerb Synonyme sind. Tatsächlich sind sie für Thiel aber Gegensätze.“ (Rappold, Seite 37) Aufsehen erregte Thiel immer dann, wenn er öffentlich feststellte, dass er das Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs für innovations- und profithemmend halte und deshalb die Herrschaft kapitalistischer Monopolunternehmen befürworte. Gründer sollten einen Monopolstatus anstreben, das heißt eine einzigartige Firma aufbauen und sich stark von Wettbewerbern differenzieren, um nicht in eine Wettbewerbssituation zu geraten. Marktführer der Digitalwirtschaft, wie Apple, Microsoft, Facebook und Amazon, seien als Garanten des technologischen Fortschritts ein Segen für die Entwicklung der Menschheit (vgl. auch Wagner, Seite 68). Zwischen Politik und Technologie bestehe deshalb ein Wettkampf auf Leben und Tod – so schrieb er es in seinem im Jahre 2009 erschienenen Essay.

Steuerparadies

Recht erfolgreich kämpft Thiel gegen den Staat aber auch in eigener Sache. Steuern sind die wichtigste Einnahmequelle für Staatsapparate. Auf große Teile seines Vermögens, das der Bloomberg Billionaires Index am 10. November 2022 auf 7,14 Milliarden US-Dollar taxiert, zahlt Thiel aber seit mehr als zwei Jahrzehnten keine Steuern. Eine Grauzone des US-Steuerrechts ermöglicht es ihm, in einem Rentenfonds Milliarden Dollar steuerfrei zur Seite zu schaffen. „Thiel verteidigt seine persönliche Steueroase inmitten der USA mit allem, was er hat. Dass sie unangetastet bleibt, ist unter republikanischer Regierung deutlich wahrscheinlicher.“ (Manager Magazin, Seite 116) Offenbar wird der großzügige Sponsor der amerikanischen Rechten von privaten Verlustängsten geplagt.

Ängstlicher Visionär

Seine technokratischen Allmachtsfantasien und erfolgreichen Investitionsentscheidungen sowie sein politisches „Networking“ haben den selbsternannten „Contrarian“ (Querdenker, Nonkonformist) für viele zu einer ähnlichen Lichtgestalt wie Elon Musk gemacht. So schreibt der Thiel-Biograf Rappold, selbst Internetunternehmer und Investor: „Die Gabe, Dinge in hellseherische Voraussicht zu sehen und dann unmittelbar und konsequent in konkrete Handlungen umszusetzen, ist nur wenigen gegeben. Thiel ist ohne Zweifel ein großer Denker mit einer starken Vision auf die Sicht der Welt.“ (Rappold, Seite 107)

Aber der Visionär trifft auch auf Gegner. Zum Beispiel in Neuseeland, das sich Thiel als Rückzugsort für apokalyptische Zeiten sozialen, politischen oder ökologischen Zerfalls ausgesucht hat (vgl. The Guardian vom 18. August 2022). Im Jahr 2011 sicherte sich der US-Amerikaner, der auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, einen neuseeländischen Pass, obwohl er sich gerade erst zwölf Tage im Land aufgehalten hatte. Um eine Staatsbürgerschaft zu erhalten, müssen Bewerber*innen üblicherweise mindestens 1.350 Tage in fünf Jahren in dem Staat gelebt haben. Aber für den erfolgreichen Unternehmer drückten die neuseeländischen Behörden offenbar beide Augen zu. Die wohlwollende Entscheidung wurde 2017 bekannt – erwies sich dann aber in der Öffentlichkeit als höchst umstritten.

„Thiel“, schreibt Rappold, „reiht sich damit ein in ein Silicon-Valley-Phänomen: Obschon die Vordenker für eine neue Welt gerne viel Optimismus in der Öffentlichkeit versprühen, wenn sie ihre Innovationen als gesellschaftliche Durchbrüche messiasartig ihrer weltweit treu ergebenen Fangemeinde präsentieren, sorgen sich immer mehr wohlhabende Silicon-Valley-Größen um ihre eigene Zukunft. Während Thiel sich einen Zufluchtsort im malerischen Neuseeland ausgesucht hat, kaufen sich andere in luxuriöse Bunkeranlagen ein, horten Treibstoff und Nahrungsmittel. (…) Vielen gemein ist eine geradezu dystopische Sicht auf die Welt. Wer viel hat, kann eben auch viel verlieren.“ (Rappold, Seite 293)

Quellen

Bücher:

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus, Münster, 2022

Thomas Rappold: Peter Thiel. Facebook, PayPal, Palantir. Wie Peter Thiel die Welt revolutioniert, München, 2017

Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, Köln, 2018

Thomas Wagner: Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell, Köln, 2015

Artikel:

Heike Buchter et al.: „Elon Musk sein“, Die Zeit vom 25. Mai 2022

Diana Dittmer: „Der Mann, der Trump wieder an die Macht bringen will“, n-tv, 12. Mai 2022
https://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Milliardaer-Peter-Thiel-Der-Mann-der-Trumps-Truppen-in-Stellung-bringt-article23116635.html

Theresia Enzenberger: „Die Möglichkeiten einer Insel“, FAZ (Online) vom 19. September 2022
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/privatstaaten-von-techmilliardaeren-die-moeglichkeiten-einer-insel-18385728.html

Elizabeth Flock: „Peter Thiel, founder of Paypal, invests $1.24 million to create floating micro-countries“, The Washington Post vom 17. August 2011
https://www.washingtonpost.com/blogs/blogpost/post/peter-thiel-founder-of-paypal-invests-124-million-to-create-floating-micro-countries/2011/08/17/gIQA88AhLJ_blog.html

Thomas Fromm: „Peter Thiel investiert in Quantum Systems aus Gilching “, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 18. Oktober 2022
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/peter-thiel-drohnen-ukraine-quantum-systems-1.5676733

Edward Helmore, „‚Don’ of a new era: the rise of Peter Thiel as a US rightwing power player“, The Guardian vom 30. Mai 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/may/30/peter-thiel-republican-midterms-trump-paypal-mafia

Felix Holtermann et al.: Peter Thiel im Wahlkampf: Die Wagniskapitalgeber greifen an“, Handelbslatt (Online) vom 8. Februar 2022
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/us-zwischenwahlen-peter-thiel-im-wahlkampf-die-wagniskapitalgeber-greifen-an/28049440.html

Larissa Holzki: „Quantum Systems aus München erhält Thiel-Invest“, Handelsblatt (Online) vom 21. Oktober 2022
https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/drohnen-hersteller-quantum-systems-aus-muenchen-erhaelt-thiel-invest/28748324.html

Christina Kyriasoglou: „Dark Lord“, Manager Magazin, Oktober 2022, Seite 110-116

Tess McClure: „Billionaire Peter Thiel refused consent for sprawling lodge in New Zealand“, The Guardian vom 18. August 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/aug/18/peter-thiel-refused-consent-for-sprawling-lodge-in-new-zealand-local-council

Mareike Müller: „Peter Thiel erzählt Unsinn über den Bitcoin – und rückt immer weiter nach rechts“, Handelsblatt (Online) vom 8. April 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-peter-thiel-erzaehlt-unsinn-ueber-den-bitcoin-und-rueckt-immer-weiter-nach-rechts/28239920.html

Peter Thiel: „The Education of a Libertarian“, Cato Unbound: A Journal of Debate, 13. April 2009
https://www.cato-unbound.org/2009/04/13/peter-thiel/education-libertarian/

 

Totaler Kapitalismus

Bereits im Jahr 2015 erschien in BIG Business Crime ein Artikel, der sich mit damals aktuellen Utopien libertärer Vordenker auseinandersetzte (BIG Nr. 2/2015). Im März 2021 berichtete BIG dann über Pläne des US-Bundesstaats Nevada, auf seinem Territorium sogenannte Innovationszonen einzurichten, in denen ohne demokratische Legitimation ganze Städte neu aufgebaut und investierenden Unternehmen die staatlichen Hoheitsrechte übertragen werden sollen (Justiz, Polizei, Schulen). Schon in den 2000er Jahren kursierte die Idee, in „Entwicklungsländern“ staatenlose Enklaven zu bilden, für deren Rechtssicherheit und Verwaltung westliche Partnerländer zu sorgen hätten („Charter Cities“). Solche von vollständiger unternehmerischer Freiheit geprägte Modellstädte gelten als Weiterentwicklung der seit den 1990er Jahren weltweit bekannten Sonderwirtschaftszonen.

In seinem neuen Buch „Privatstädte“ beschreibt der Soziologe und Publizist Andreas Kemper detailliert, wie sogenannte Libertarians oder Anarchokapitalisten nun den nächsten Schritt gehen und die ideologische Begründung für „freie Privatstädte“ und deren praktische Errichtung vorantreiben. Deren Vorhaben, so der Autor, werde mit dem Argument legitimiert, dass die Beschneidung des Eigentums an Produktionsmitteln durch Demokratie und Gerechtigkeitspostulate die gesellschaftliche Stabilität gefährden würde.

Da es aber letztlich auch hier darum gehe, in abgegrenzten räumlichen Gebieten, die nur der Marktlogik unterworfen sind, dem Schutz von Investoren bzw. Kapitaleignern höchste Priorität einzuräumen und zugleich jegliche sozialstaatlichen Leistungen abzuschaffen, spricht Kemper in Anlehnung an den französischen Ökonomen Thomas Piketty von einem „Enklaven-Proprietarismus“. Gemeint ist eine Ideologie, „die das Recht von Eigentümer*innen, ihre Produktionsmittel zu besitzen und möglichst uneingeschränkt zu nutzen, als wichtiger erachtet als alle anderen Rechte“ (Seite 141f.). Die Strategie, Privatstädte zu errichten, bezeichnet der Autor als „Privarismus“ (von lat. privare: rauben) (Seite 8). Denn das Ziel sei es, den Bewohner dieser Städte ihre Rechte wegzunehmen und so einen von demokratischen Verfahren losgelösten Kapitalismus durchzusetzen (ohne Gewerkschaften, allgemeine Wahlen usw.).

Der Autor gliedert seine Darstellung in zwei Teile: Im ersten erläutert er die Ideologie und die Netzwerke der Privatstadt-Bewegung, im zweiten geht er auf die Entwicklung einzelner konkreter Projekte ein. Dabei liegt der Fokus auf Honduras, einem der ärmsten Länder Lateinamerikas. Nach einem rechten Putsch im Jahr 2009 öffnete sich der Staat für die Einrichtung einer von seinem Rechtssystem abgekoppelten Charter City unter der Schirmherrschaft eines reichen westlichen Landes. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland vom 10. Mai 2022 erläuterte Kemper, die Vorstellung sei gewesen, dass die neue Stadt als eine Art Leuchtturm auf den Rest des Landes abstrahlen sollte. Unter dem Einfluss der globalen proprietaristischen Netzwerke hätte sich das Projekt jedoch radikalisiert, so dass bald die Gründung einer Stadt ohne jegliche staatliche Beteiligung und unter rein privatwirtschaftlicher Verwaltung ins Auge gefasst worden sei.

Diese erste Phase endete jedoch 2012, als der dortige Oberste Gerichtshof das Vorhaben als verfassungswidrig einstufte. Diese Niederlage, so Kemper, leitete jedoch eine erfolgreiche zweite Phase der Entwicklung von Privatstädten ein, die bis heute andauere. Im Jahr 2013 wurde die gesetzliche Grundlage für „Sonderzonen für Beschäftigung und Entwicklung“ (Zona de empleo y desarrollo económico – ZEDE) geschaffen, um die Modellstädte zu ermöglichen. Die honduranische Regierung ernannte im Jahr darauf einen international besetzten Aufsichtsrat für die ZEDEs, der klar von Mitgliedern proprietaristischer Netzwerke dominiert wurde. Im Jahr 2020 erfolgte der Startschuss für die Sonderzone Próspera auf der honduranischen Insel Roatán.

Kemper illustriert an diesem Beispiel die Demokratiefeindlichkeit der Privatstadt-Pläne. So sei in Próspera „eine Form von Ständedemokratie“ vorgesehen (Seite 100). Nur drei von neun Mitgliedern des für die Verwaltung zuständigen Gremiums sollen von den Bewohnern gewählt werden, die Mehrzahl der Stimmen soll den Land- und Grundbesitzern vorbehalten bleiben. In anderen ZEDEs scheint gar kein Wahlrecht geplant zu sein.*

Kemper geht auch auf die Verbindungen des Proprietarismus mit deutschen Akteuren und Institutionen ein. So trat der deutsche Unternehmer Titus Gebel, einer der Vordenker der Bewegung, im April 2019 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des Landes Hessen und des Verlags DIE ZEIT auf. Bei der „5. Jahrestagung Öffentliches Bauen“ durfte er den Eröffnungsvortrag halten und über seine Vorstellung von „Freien Privatstädten“ sprechen. Auch wird er mit den Worten zitiert: „Wenn Sie einen Sicherheitsdienstleister haben und sich sonst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern können – wozu brauchen Sie dann noch Demokratie?“ (Seite 86) Verschiedene Universitäten trugen ebenfalls zur Propagierung des Privatstädte-Konzepts bei. Die TUM international GmbH, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Technischen Universität München, organisierte zum Beispiel im Jahr 2019 eine Investorenkonferenz zur Finanzierung des demokratiefreien Privatstadtprojekts auf der Insel Roatán.

Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass das international renommierte britische Architekturbüro Zaha Hadid Architects für das Próspera-Projekt Wohngebäude entwarf. Nicht ganz zufällig, denn der deutsche Architekt und Hochschullehrer Patrik Schumacher, Teilhaber des Büros in London, setzt sich konsequent für eine Radikalisierung des Neoliberalismus ein und hält Sozialwohnungen und Maßnahmen für billiges Wohnen „für schädliches Teufelszeug“, wie es in einem von Kemper wiedergegebenen Zitat heißt (Seite 95). Selbstredend hält er Datenschutz für völlig übertrieben, spricht sich gegen Arbeitsrechte aus und bezeichnet sich selbst als Sympathisant des Anarcho-Kapitalismus. Da aus dessen Sicht der Ausgleich von sozialen Unterschieden einen unzulässigen Eingriff ins Marktgeschehen darstellt, benötigt der Proprietarismus die Rassen- und Klassenbiologie zu seiner eigenen Rechtfertigung, wie Kemper schon zu Beginn seines Buches auf mehreren Seiten ausführt. Ein wichtiger Hinweis, weil der Autor damit auch die in Deutschland fortwirkende Relevanz der sogenannten Sarrazin-Debatte von vor über zehn Jahren unterstreicht.

Die von den Privatstädte-Propagandisten vorgetragene radikal individualistische Konzeption von Freiheit versteht der Autor letztlich als Ausdruck der Verachtung der Superreichen gegenüber den Armen der Welt. Sie wendet sich gegen jede Idee von Gemeinwohl und sozialen Grundrechten, setzt dagegen auf die langfristige Abschaffung aller bekannten demokratischen Standards. Bislang beziehen sich die Ideen für Privatstädte zwar auf Länder des globalen Südens, die Investitionen mit weitreichenden Konzessionen anlocken wollen. Aber aus diesen Enklaven könnte perspektivisch ein weltweites Netz aus Privatstädten entstehen. „Im Kleinen“ wird quasi unter Laborbedingungen erprobt, was zukünftig auch in Europa Raum greifen soll.

Andreas Kemper hat mit seinen akribisch zusammengetragenen Informationen ein deutliches Signal gesetzt, das eindrücklich vor dem bislang noch zu wenig beachteten „a-sozialen“ Treiben der selbsternannten Anarchokapitalisten warnt.

* Im April 2022 hat das Parlament von Honduras die Gesetze zur Schaffung von Investorenstädten jedoch rückgängig gemacht. Damit können nun keine neuen ZEDEs mehr errichtet werden. Allerdings scheinen die an den bereits existierenden Projekten beteiligten Investoren ihre Rechte umfassend durch Abkommen mit der honduranischen Regierung abgesichert zu haben. Bereits getätigte Investitionen im Próspera-Projekt beispielsweise sollen von der Entscheidung des Nationalkongresses über die Abschaffung der ZEDEs unberührt bleiben (vgl. Armin Rothemann: „Gegen rechtsfreie Ministaaten“, taz am 22. April 2022).

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus, Unrast-Verlag, Münster 2022, ISBN 978-3-897771-175-4, 184 Seiten, 14 Euro

 

Gute und schlechte Gewinne? Übergewinnsteuer und die Frage der Moral

Laut Bertelsmann-Stiftung empfinden fast drei Viertel der Menschen in Deutschland die sozialen Unterschiede als ungerecht, noch mehr zweifeln an der gerechten Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne im Land (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9. September 2022). Zudem ergab eine im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemachte repräsentative Umfrage, dass ein Energiepreisdeckel und eine Übergewinnsteuer derzeit hohe Zustimmungswerte erzielen – über alle Parteipräferenzen hinweg. Etwa 72 Prozent der Befragten hierzulande befürworten eine stärkere Besteuerung von Unternehmen, die von der Marktentwicklung in der gegenwärtigen Krise stark profitieren und satte Gewinne einfahren.

Die sogenannte Übergewinnsteuer scheint in weiten Teilen der Bevölkerung in gleichem Maße populär zu sein, wie die moralische Empörung über die „Krisen- und Kriegsgewinnler“ spürbar ist. Wohl auch um möglichen „Wutprotesten“ ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, kündigte deshalb die Bundesregierung Anfang September im dritten Entlastungspaket eine Reihe von Maßnahmen an. So will sie hohe Krisengewinne von Energieunternehmen abschöpfen, um mit den Einnahmen eine Begrenzung der Strompreise, das heißt einen günstigen „Basistarif“ für Privathaushalte sowie kleine und mittelständische Unternehmen finanzieren zu können.

Damit liegt die Ampelkoalition auf einer Linie mit der EU-Kommission, die bereits im März den Mitgliedsstaaten eine Leitlinie an die Hand gegeben hatte, wie sie solche „Zufallsgewinne“ abschöpfen und die Erlöse umverteilen könnte. Am 7. September schlug sie erneut vor, die Gewinne von Unternehmen ab einer gewissen Grenze mit einer Abgabe zu belegen. Die Initiativen von EU und Bundesregierung zielen dabei auf die Produzenten von Wind-, Sonnen- , aber auch Atomstrom, denen zurzeit Traumrenditen beschert werden, da der Strompreis am teuersten Energieträger Gas gekoppelt ist, ohne dass für sie die Kosten gestiegen wären. Nicht mehr im Fokus der Diskussion stehen dagegen die großen internationalen Energiekonzerne, die ihre Geschäfte mit fossilen Brennstoffen machen und wegen der drastisch gestiegenen Gas- und Ölpreise ebenfalls hohe Gewinne verzeichnen können. Die Idee, auch von ihnen einen „Solidaritätsbeitrag“ in Form einer Steuer einzufordern, ist bislang am Widerstand von Finanzminister Christian Lindner und der FDP gescheitert.

Politisch kontroverse Initiativen dieser Art erscheinen einem ökonomischen Laien kompliziert und unübersichtlich. Sie werden zusätzlich seit vielen Wochen von einer nicht minder vielseitigen öffentlichen Debatte begleitet – bei der die Frage nach der rechtlichen Machbarkeit der Abschöpfung von „ungerechten“ Gewinnen überprüft, markttheoretische sowie verteilungspolitische Überlegungen angestellt und nicht zuletzt moralische Bewertungen vorgenommen werden. Fundierte Antworten dazu bietet eine im Sommer 2022 veröffentlichte Studie vom „Netzwerk Steuergerechtigkeit“, nach der in Deutschland bei Einführung einer Übergewinnsteuer für Unternehmen der Gas-, Öl- und Strombranche Einnahmen in Höhe von 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr möglich sind. Dem Zweifel, ob die Politik die Mittel dazu hat, die Abschöpfung der Übergewinne rechtssicher umzusetzen, entgegnet die Studie mit Verweis auf Veröffentlichungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestag, der eine solche Maßnahme für juristisch umsetzbar hält.

Auch dem besonders in der wirtschaftsliberalen Presse vorgebrachten Vorwurf, eine Übergewinnsteuer würde die marktwirtschaftliche Ordnung und das Vertrauen in das Steuersystem gefährden, parieren die Autoren der Studie: „Das Argument ist vor allem eine ideologische Verteidigung des Status Quo. In Zeiten eines Wirtschaftskrieges ist die Übergewinnsteuer möglicherweise sogar nötig, um das Vertrauen der Bürger in das Steuersystem und das politische System aufrecht zu erhalten.“ (Seite 18) Der Journalist und Jurist Heribert Prantl hält eine Abschöpfung der Krisengewinne ebenfalls für verfassungskonform, ihre Nichtabschöpfung dagegen für „obszön“ (Süddeutsche Zeitung vom 3./4.September 2022).

Einer seiner Kollegen von der Süddeutschen Zeitung, Nikolaus Pieper, hält dagegen die Absicht der Regierung, zwischen guten und schlechten Gewinnen unterscheiden zu wollen, für „anmaßend“ (Süddeutsche Zeitung vom 6. September 2022). Damit assistiert er Clemens Fuest vom Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo), der den Befürwortern einer Übergewinnsteuer entgegenhält, es sei nicht sinnvoll, Sondersteuern zu erheben, da die Meinungen darüber, welche Geschäfte moralisch mehr oder weniger wertvoll seien, voneinander abwichen. Das aktuelle Gerechtigkeitsempfinden oder die besonderen Interessen einzelner Politiker, Parteien oder öffentliche Stimmungen dürften für die Besteuerung nicht maßgeblich sein. Nur die Gleichbehandlung aller Steuerzahler schütze vor ungerechter Belastung und Willkür (vgl. Handelsblatt vom 9. Juni 2022).

Die gesamte FDP-Riege sperrt sich gegen die Übergewinnsteuer. Im ZDF-Talk „Markus Lanz“ beharrte das Mitglied des Bundesvorstands der Partei, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, darauf, dass es in Krisen immer Unternehmen geben werde, die plötzlich viel verdienten. Es gäbe schlicht keinen Übergewinn, so die Wirtschaftsliberale, sondern nur einen Gewinn. Damit zeigt sie Kante und kontert der allgemeinen Stimmungslage im Lande – und wundert sich nicht ganz zu Unrecht über die kritischen Stimmen, denn sie bekennt sich lediglich zu einer Grundregel des kapitalistischen Marktsystems. Denn wer Marktgewinne von Unternehmen, die zu wirtschaftlichen Nachteilen oder Notsituationen bei anderen Marktteilnehmern führen – ob Firmen oder Einzelpersonen – als unmoralisch oder ungerecht bewertet, muss zwingend das dem Missstand zugrundeliegende ökonomische System abschaffen wollen. Das System beruht schließlich auf Mechanismen, die Ungleichheiten voraussetzen und zugleich permanent erzeugen.

„Das wird ganz besonders deutlich im Zusammenhang mit der so genannten Globalisierung,“ so der Jurist Thomas Fischer im Rechtsmagazin Legal Tribune Online, „weil aufgrund der gravierenden Ungleichzeitigkeiten der Entwicklungen sich Gewinne erzielen lassen, die innerhalb entwickelter nationaler oder beschränkter Märkte nicht möglich wären. Karl Marx würde sagen: Der ‚Surplus-Profit‘ ist das Alpha und das Omega des rational handelnden Kapitalisten.“ Um dessen wirtschaftliches Handeln mit seinen unsozialen Folgen zumindest einzuschränken, sollte vor allem auf Instrumente zurückgegriffen werden, die verfassungsgemäß sind und für die die schwierige Unterscheidung von „schlechten übermäßigen“ und „guten normalen“ Gewinnen überflüssig ist.

Nichts spricht gegen die Einführung von Übergewinnsteuern, wie sie andere Länder bereits eingeführt oder beschlossen haben. Die weitgehend fehlende gesellschaftliche Legitimation von sogenannten Krisengewinnen sollte aber genutzt werden, Forderungen und Überlegungen aufzugreifen, die über die aktuelle Debatte hinausgehen. Dazu gehört es zum Beispiel, die Preissetzungsmacht monopolistisch auftretender Energiekonzerne in den Fokus zu nehmen (Forderung nach Entflechtung und Vergesellschaftung), das Steuersystem mit Blick auf die extremen sozialen Ungleichheiten umfassend zu überprüfen (inklusive der wirtschaftskriminellen Machenschaften) und die historisch immer wieder aufflammende Diskussion über die Demokratisierung der Wirtschaft zu fördern.

Quellen:

Mario Candeias/Eva Völpel/Uwe Witt: „Mehrheit für Energiepreisdeckel und Übergewinnsteuer. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung“. Hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, September 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46961/mehrheit-fuer-energiepreisdeckel-und-uebergewinnsteuer

Thomas Fischer: „Sollte der Staat ‚Über‘- und ‚Zufallsgewinne‘ abschöpfen?“, 5. September 2022, LTO – Legal Tribune Online
https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/fragen-an-fischer-uebergewinn-steuer-zufallsgewinn-abschoepfung-wucher/

Christoph Trautvetter/David Kern-Fehrenbach: „Kriegsgewinne besteuern: Ein Beitrag zur Debatte um Übergewinnsteuern“. Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Sriftung, Berlin, August 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46854/uebergewinnsteuer

Literaturtipp:

Christoph Trautvetter/Yannick Schwarz: Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2021. Hrsg. vom Netzwerk Steuergerechtigkeit, Berlin, August 2021
https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/jahrbuch2021/

Neues zum Kampf gegen Geldwäsche

Zwei Jahre hatte die Financial Action Task Force (FATF) die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in Deutschland geprüft. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: In einem umfangreichen Bericht vom August 2022 stellt das wichtigste internationale Gremium gegen Geldwäsche fest, dass es trotz einzelner Fortschritte auch große Defizite beim Aufspüren und der Verfolgung vieler Fälle gibt. Schon vor Veröffentlichung der Studie ging deshalb Bundesfinanzminister Lindner in die Offensive und propagierte einen „Paradigmenwechsel“ beim Kampf gegen Finanzkriminalität. Vor allem soll laut „Eckpunktepapier“ des Ministeriums vom 23. August eine neue zentrale Bundesbehörde aufgebaut werden, um die bislang zersplitterten Kompetenzen zu bündeln – noch sind rund 300 Aufsichtsbehörden, vom Bund bis in die Kommunen, mit der Ermittlungsarbeit gegen die Finanzkriminalität betraut.

Laut FATF hätte es vor allem Erfolge bei den kleinen Fällen gegeben, Vollzugsbedarf dagegen beim Aufspüren der großen, international verzweigten Finanzkriminalität. Einen von mehreren Strängen der neuen Oberbehörde soll deshalb ein neues Bundesfinanzkriminalamt bilden, „das gezielt komplexe Fälle von illegalen Finanzflüssen aufklärt, sich auf den ‚follow-the-money‘-Ansatz fokussiert und bei der Sanktionsdurchsetzung den Hut aufhat“, wie es im Eckpunktepapier heißt.

Der Vorstoß des FDP-Ministers stieß überwiegend auf positive Resonanz. Der rechtspolitische Sprecher der oppositionellen Union, Günter Krings, bezeichnete die Vorschläge als „richtig und überfällig“. Zustimmung kam ebenfalls von den Grünen: Marcel Emmerich, Obmann im Innenausschuss, hält allerdings auch die Einrichtung eines Immobilienregisters für nötig, da viele Kriminelle mit ihrem „schmutzigen Geld“ Häuser, Wohnungen oder auch Grundstücke bar und ohne Nachweis bezahlen würden und deshalb nicht nur eine Bundesbehörde erforderlich sei. Ähnlich argumentierte der Bundestagsabgeordnete der Linken, Pascal Meiser, der eine Pflicht zur Offenlegung der tatsächlichen Eigentümer von Immobilien und Unternehmensanteilen sowie der Herkunft größerer Vermögen fordert (vgl. Stern vom 23. August 2022).

Der SPD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, begrüßte den politischen Vorstoß zwar generell, zeigte sich aber skeptisch gegenüber der Einrichtung einer weiteren zusätzlichen Behörde. Er forderte, die bereits bestehenden polizeilichen Teile des Zolls besser zu organisieren. Entscheidend seien eine gute organisatorische Einbindung der neuen Behörde in die deutsche Sicherheitsarchitektur und zusätzliche Befugnisse, um verdächtiges Vermögen aufzuspüren und zu konfiszieren (vgl. junge Welt vom 26. August 2022 und Handelsblatt Online vom 23. August 2022).

Frank Buckenhofer, bei der Gewerkschaft der Polizei für den Zoll zuständig, fand es zwar gut, dass sich die Regierungskoalition verstärkt für die Bekämpfung der Geldwäsche interessiert. Er zeigte sich aber skeptisch gegenüber der Einrichtung eines Bundesfinanzkriminalamtes, das zunächst „nur eine sperrige Worthülse“ sei. Die Behörde könnte ihren Zweck verfehlen, sollte sie sich nur durch einen zentralen Charakter auszeichnen. „Neben einer koordinierenden Zentralstelle“, so Buckenhofer, „brauchen wir auch Fahnder vor Ort, quasi an der Front, die mit ausreichenden polizeilichen Kompetenzen ausgestattet werden.“ So wie es bei der Guardia di Finanza in Italien der Fall sei. Buckenhofer sprach sich auch für eine Darlegungspflicht aus: Besitzer großer Vermögen sollten im Zweifelsfall erklären können, woher diese stammten. Doch genau davor scheine das FDP-geführte Finanzministerium zurückzuschrecken. Diese Art der Beweislastumkehr sei offensichtlich nicht vorgesehen (vgl. Wirtschaftswoche Online vom 24. August 2022).

Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende begrüßte die Pläne Lindners für eine stärker zentralisierte Geldwäscheaufsicht, hielt sie jedoch auch nicht für weitreichend genug. Schwere Steuerkriminalität à la Cum-Ex würde offensichtlich ausgeklammert. Zudem müssten den Behörden auch die richtigen Werkzeuge in die Hand gegeben werden. Er plädierte für mehr Möglichkeiten bei der Abschöpfung von Vermögenswerten. In Zukunft sollte der Grundsatz gelten, dass diese beschlagnahmt werden, wenn deren wirtschaftlich Berechtigte nicht transparent gemacht werden könnten (rp-online.de vom 23. August 2022).

Für Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit kann eine neue Behörde durchaus ein Beitrag zur Lösung des Problems darstellen. Bislang ermittele das Bundeskriminalamt im Fall einer der Geldwäsche vorausgehenden Straftat und würde so nur „die kleinen Fische“ fangen. Es reiche aber nicht, den Drogendealer zu verfolgen, nicht aber den Anwalt, den Notar oder den Mitarbeiter einer Bank, der das Geld wasche. Das Finanzministerium habe richtig erkannt, dass es einen Paradigmenwechsel geben müsse – es sei vom verdächtigen Geldfluss ausgehend zu ermitteln, damit die professionellen Geldwäscher, die organisiert Kriminalität betrieben, von den Behörden nicht unerkannt bleiben (vgl. junge Welt vom 1. September 2022).

Im Interview mit der jungen Welt antwortete Trautvetter auf die Frage, woher plötzlich der Wille der Bundesregierung komme, Finanzkriminalität zu verfolgen, die sonst Unternehmen willfährig Geld hinterherwerfen würde:

„Der politische Wille, den Schattenfinanzmarkt auszutrocknen, ist erst vorhanden, seit die Financial Action Taskforce droht, Deutschland vom internationalen Finanzmarkt abzukoppeln. Die bisherige Untätigkeit ist auch darauf zurückzuführen, dass das Geld im Fall von Geldwäsche meist nicht dem deutschen Staat direkt entgeht, sondern oft aus Straftaten aus anderen Ländern stammt. Man sagt einfach: Geld stinkt nicht; die dahinterstehende Kriminalität ist nicht unser Problem! Ich bin aber optimistisch, dass der Druck etwas bewirkt.“

 

Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und „Sozialbetrug“ im Vergleich

Anfang 2022 erschien im Berlin-Verlag das Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ von Ronen Steinke. Mit der offenbar für viele Menschen provokanten Feststellung, dass in deutschen Gerichtssälen von der vielbeschworenen Gleichheit vor dem Gesetz nicht die Rede sein könne, avancierte es schnell zum Bestseller. Verfahren wegen wirtschaftskrimineller Delikte in Millionenhöhe würden oftmals eingestellt oder endeten mit minimalen Strafen. Arme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, müssten sich hingegen auf harte Strafen einstellen. Wenn sie dann die auferlegten Geldstrafen nicht bezahlen können, erwarten sie Ersatzfreiheitsstrafen. [1]

Besonders die Ersatzfreiheitsstrafe wird seit einigen Jahren verschärft kritisiert – selbst im Unterhaltungssektor, wie eine Ausgabe der satirischen TV-Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom Dezember des letzten Jahres belegt. [2] Aber auch im kritischen Rechtsdiskurs wird diese Form der Bestrafung von Armutskriminalität zunehmend hinterfragt. Besonders die Kombination der Ersatzfreiheitsstrafe mit dem Strafbefehlsverfahren gilt vielen als brisant oder schlicht „obszön“ (Ronen Steinke). Gerichte entscheiden dabei ohne Hauptverhandlung im Rahmen eines vereinfachten, rein schriftlichen Verfahrens, das vor allem die Staatsanwaltschaften und Gerichte entlasten soll. [3]

In einem taz-Gespräch erläuterte Autor Ronen Steinke an einem weiteren Beispiel, warum er die deutsche Justiz als „neue Klassenjustiz“ auffasst. So kämen Steuerhinterzieher bei derselben Schadenssumme im Vergleich zu Hartz-4-Betrügern deutlich milder davon. Sowohl bei Steuerbetrug als auch bei Hartz-4-Betrug sei zwar der Staat als Opfer betroffen, denn die Allgemeinheit würde in beiden Fällen geschädigt. Aber die Diskrepanz bei der Strafzumessung sei auffällig. [4]

Wissenschaftlich unterfüttert wird diese – nicht unbedingt überraschende Erkenntnis – von dem Hamburger Rechtsprofessor Guy Beaucamp. In einer vergleichenden Analyse kommt auch er zum Ergebnis, dass die Rechtsordnung Steuerhinterziehung deutlich nachsichtiger behandelt als sogenannten Sozialbetrug. [5] Die Straftat Steuerhinterziehung wird in § 370 AO (Abgabenordnung) geregelt, das betrügerische Erschleichen von Sozialleistungen vom allgemeinen Betrugstatbestand des § 263 StGB erfasst. Der Strafrahmen für beide Delikte ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe identisch.

Es bestehen allerdings gravierende Unterschiede bei der rechtlichen Behandlung der Steuerhinterziehung und dem Sozialbetrug. Das Steuerstraf- und ordnungswidrigkeitenrecht bietet laut Beaucamp ein „raffiniertes System von Vergünstigungen“ (Seite 449), das keine Entsprechung im Bereich des Sozialbetruges findet. Zeigen sich beispielsweise Steuerhinterziehende nach § 371 AO selbst an, werden sie als reuige Steuerpflichtige nicht mehr strafrechtlich verfolgt, sofern sie die „unrichtigen Angaben berichtigen“ und die hinterzogenen Beträge nachzahlen. § 263 StBG sieht dagegen keine Möglichkeit für eine derartige entlastende Selbstanzeige vor.

Daneben wird der für beide Delikte gleiche Strafrahmen unterschiedlich genutzt:
„Für die Steuerhinterziehung hat das BGH im Jahr 2008 eine grobe (…) Marschroute in drei Schritten vorgegeben. Geldstrafen sollen in der Regel nur bis zu einer Schadenshöhe von 100.000 € verhängt werden; bei höheren Hinterziehungsbeträgen soll es dann zu Bewährungsfreiheitsstrafen kommen, wenn die Schadenshöhe 1.000.000 € übersteigt, sollten regelmäßig Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt werden. Für den Sozialbetrug gelten solche Leitlinien nicht.“ (Seite 451)

In diesem Bereich werden Taten mit viel geringeren Schadensbeträgen mit wesentlich härteren Strafen geahndet. Beaucamp führt anhand typischer Entscheidungen mehrere Beispiele an: Bereits ein Schaden von etwa 3.000 Euro kann zu einer dreimonatigen Freiheitstrafe auf Bewährung führen, bei einem Schaden von etwa 3.200 Euro kam es in einem Fall zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Landgericht Osnabrück verurteilte im November 2020 zwei Angeklagte zu jeweils drei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe, weil sie die Sozialbehörde innerhalb von mehr als vier Jahren um 84.000 Euro betrogen hatten (vgl. Seite 451f.).

Die Unterschiede bei der Bemessung der Strafen in den beiden Bereichen lassen sich kontrastieren mit den Schadenssummen, die Sozialbetrug und Steuerhinterziehung jeweils bewirken. „Pro Jahr“, heißt es bei Beaucamp, „verursacht der Sozialbetrug im Bereich des SGB II geschätzte Schäden von durchschnittlich 57 Millionen €. Dieser Schaden verteilt sich auf rund 130.000 Einzelfälle, so dass pro Schadensfall ein durchschnittlicher Betrag von rund 440 € zu viel ausgezahlt wird. Steuerhinterziehung verursacht für den deutschen Staat nach Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft einen jährlichen Schaden von 50 Milliarden €.“ (Seite 451)

Dass Steuerhinterziehung im Vergleich zum Sozialbetrug um ein vielfaches höhere Schadenssummen verursacht, liegt laut Autor zum einen daran, dass es wesentlich mehr Steuerzahler gibt als Sozialleistungsempfänger. Viele Menschen mit Leistungsansprüchen stellten zudem aus Unkenntnis oder Scham keine Anträge. Zum anderen sei der Betrag, um den man den Staat betrügen könne, bei Leistungsbeziehenden von vornherein beschränkt. In Fällen der Steuerhinterziehung sei das anders. Dort gäbe es keine „natürliche“ Schadensobergrenze (Beispiel Cum-Ex-Deals). Zudem entwickelten viele Steuerberater, Anwälte und Banken für ihre wohlhabenden Kunden kreative Steuergestaltungen, die bisweilen auch die Grenzen des Erlaubten überschreiten würden. Für Steuerhinterziehung im größeren Stil gebe es auch international Angebote, „oder anders ausgedrückt, zwar gibt es Steuer- aber keine Sozialbetrugsoasen“. (Seite 451)

Anmerkungen:

[1] Vgl. auch Anne Seeck: „Wer nicht zahlen kann, muss in Haft“, 19. April 2022
http://big.businesscrime.de/category/rezensionen/ 

[2] „Ja, wer ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn fährt, begeht eine Straftat und wird mit aller Härte des Gesetzes bestraft. Denn kein Ticket bedeutet Geldstrafe, kein Geld für Geldstrafe bedeutet noch mehr Geldstrafe und immer noch kein Geld für mehr Geldstrafe bedeutet KNAST! Und da sitzt man dann im Jahr 2021 wegen eines Scheißgesetzes der Nazis von 1935.“ (Ankündigung der Sendung in der ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html) 

[3] Vgl. Elena Blessing/Natalia Loyola Daiqui: „Ohne Anhörung ins Gefängnis“, 24. Januar 2022
https://verfassungsblog.de/ohne-anhorung-ins-gefangnis/ 

Vorschläge für eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe, die eine Reform des Verfahrens der Geldstrafe voraussetzt, finden sich hier:
Frank Wilde: „Mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht wagen“, 29. Juni 2022
https://verfassungsblog.de/soziale-gerechtigkeit-wagen/ 

[4] „Gleich, gleicher, Rechtsstaat?“ taz-Talk vom 17. März 2022 mit Ronen Steinke, moderiert von Ulrike Winkelmann.
https://taz.de/Ronen-Steinke-ueber-Klassenjustiz/!5824272/# 

[5] Guy Beaucamp: „Sozialbetrug und Steuerhinterziehung – zwei Welten?“, in: JuristenZeitung (JZ) 9/2022, Seite 446-454

Aggressiver Lobbyismus des Fahrtenvermittlers Uber

Die am 10. Juli 2022 veröffentlichten Uber-Files zeigen, wie der global agierende US-Fahrdienstleister versuchte, Politik und Öffentlichkeit mit dubiosen Methoden zu beeinflussen. Das Ziel bestand darin, sich Zugang zu den europäischen Märkten zu verschaffen und etwa in Deutschland das Personenbeförderungsgesetz zu ändern. Unterstützt wurde der Konzern dabei von Politik, Wissenschaft und Medien.

Die Informationen basieren auf internen Dokumenten des Unternehmens, die dem britischen Guardian zugespielt und von rund 40 Medien weltweit ausgewertet wurden. In Deutschland beteiligten sich daran WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung (SZ). Laut SZ vom 11. Juli 2022 stammt das Material (rund 124.000 E-Mails, Textnachrichten und Analysen) von einem ehemaligen Uber-Manager, der von 2014 bis 2016 für das Unternehmen als Cheflobbyist in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika gearbeitet hatte. Belegt werden vor allem die Lobbypraktiken des US-Konzerns in der Zeit von 2013 bis 2017, als Uber weltweit aggressiv expandierte. Ab 2014 wollte sich Uber auch in Deutschland verstärkt etablieren. Allerdings wehrte sich die Taxibranche massiv gegen die Pläne des Konzerns. Es kam zu mehreren Gerichtsurteilen, die Uber-Dienste verboten: „Das Dumme nur: Deutsche Gerichte sehen in Uber nicht nur ein digitales Start-up, das lediglich eine App zur Verfügung stellt, sondern vielmehr einen Fahrdienst, der deshalb, ebenso wie Taxis, eine Lizenz benötige und dafür auch örtliche Niederlassungen gründen müsste. Infolge wäre der US-Konzern in Deutschland damit voll steuerpflichtig.“ (Tagesschau.de vom 10. Juli 2022)

Das Geschäftsmodell von Uber besteht darin, über eine App und gegen satte Provisionen Fahrdienste zu vermitteln, das heißt ohne einen eigenen Fuhrpark Mitfahrgelegenheiten via Smartphone zu ermöglichen – und damit das Taximonopol zu brechen. Der Konzern, der 2009 in San Francisco gegründet wurde und im letzten Jahr 17 Milliarden US-Dollar umsetzen konnte, steht damit in direkter Konkurrenz zum regulierten deutschen Taxi-Markt. Deshalb tat sich bislang auch die öffentliche Meinung mit der Dienstleistung des US-Unternehmens eher schwer.

Einen Eindruck vom rabiaten Auftreten des Unternehmensgründers Travis Kalanick vermittelte die SZ am 11. Juli 2022:

„Dass dieser Expansion bisweilen nationale Arbeitsschutzgesetze oder Beförderungsbestimmungen entgegenstanden, störte Kalanick offenbar nicht. Gespräche mit Politikern bezeichnete er als ‚Zeitverschwendung‘, demonstrierenden Taxifahrern hielt er entgegen, Roboter würden bald ihren Platz einnehmen. Kaum hatte das Unternehmen einen Markt betreten, sollten die Behörden dort die Regeln im Sinne Ubers ändern. Das Manager Magazin verglich Kalanick einmal mit einem Cowboy, der die Schwingtüren zum Saloon eintritt, sich den Weg zum Tresen freischießt – und dort zuvorkommend bedient werden will.“

Wie aber konnte Uber über Jahre hinweg Politiker, Wissenschaftler und Medien für sich einspannen, um die öffentliche Meinung und die Gesetze in seinem Sinne zu beeinflussen?

Die Politik:

Laut SZ setzte sich der damalige französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron direkt für Uber ein. Zwischen 2014 und 2017 traf er sich mindestens vier Mal mit Kalanick, drei der Zusammenkünfte waren bisher nicht öffentlich bekannt. „Dabei soll es auch zu einer geheimen Absprache gekommen sein, die Uber das Geschäft erleichtert haben soll“, schreibt das Handelsblatt am 10. Juli 2022. „Als Finanzminister habe Macron sich ‚selbstverständlich mit zahlreichen Unternehmen ausgetauscht‘, erklärte ein Sprecher des Präsidenten. Dabei sei es auch darum gegangen, bestimmte administrative oder regulatorische Sperren aufzuheben.“ Auf EU-Ebene war die Niederländerin Neelie Kroes, bis Ende 2014 als EU-Kommissarin für die digitale Agenda verantwortlich, behilflich. Sie soll sich bei Politikern ihres Landes für Uber stark gemacht haben. Nach ihrem Ausscheiden in Brüssel und nach Ablauf einer Karenzzeit übernahm sie einen gut bezahlten Job als Beraterin bei dem US-Unternehmen (vgl. Spiegel vom 10. Juli 2022).

FDP-Politiker Otto Fricke stellte den Kontakt zu deutschen Politikern her, zum Beispiel zum damaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und zur Staatssekretärin Dorothee Bär (beide CSU). Laut SZ sei es das Ziel gewesen, das Personenbeförderungsgesetz zu ändern. In dieser Zeit, zwischen 2014 und 2016, war Fricke für eine Beratungsfirma als Lobbyist tätig. Bereits von 2002 bis 2013 gewählter Bundestagsabgeordneter, stieg er dann ab 2017 wieder in die Politik ein und kam erneut in den Bundestag.

Die Wissenschaft:

Laut Uber-Files fand der Konzern über Fricke auch Kontakt zu Justus Haucap, Professor für Wirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf – einem „Überzeugungstäter, der im Taximonopol ohnehin ein Problem sah“ (SZ vom 11. Juli 2022). Dieser verfasste 2015 für 44.000 Euro eine Studie zu den angeblich positiven Wirkungen der Marktöffnung für die Verbraucher und platzierte laut SZ einen „flankierenden“ Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für weitere 4.000 Euro. Die Studie wurde vor Erscheinen offensichtlich von Uber noch einmal gegengelesen und in Absprache mit Haucap abgeändert.

Die Medien:

Die Uber-Files enthüllen, dass „die Berater des Unternehmens von Beginn an auch einige der mächtigsten Medienkonzerne Deutschlands auf dem Zettel hatten: Axel Springer, Hubert Burda Media, Pro Sieben Sat 1“. (SZ vom 12. Juli 2022) Tagesschau.de beschrieb am 11. Juli das strategische Vorgehen Ubers:

„Um in Deutschland besser angenommen zu werden, hoffte Uber auch auf Unterstützung von Medienunternehmen. Der Springer-Konzern bot Hilfe an und investierte in das Start-up. Vor allem für den damaligen ‚Bild‘-Chef Diekmann interessierte sich Uber. (…) Man wollte sich am liebsten mit der größten deutschen Boulevardzeitung zusammentun, um den Zutritt zum deutschen Markt zu erleichtern. ‚Wir brauchen jemanden wie Kai Diekmann, der Türen für uns öffnet‘, schrieben die Uber-Manager damals. Und in einer anderen E-Mail: ‚Kai Diekmann ist der beste Weg, auch um zu Merkel zu kommen.‘ Diekmann galt bei Uber als einer der mächtigsten Medienmacher. (…) Offen für Unterstützungsleistungen zeigte sich laut den Uber Files Axel Springer. Der Konzern beteiligte sich Anfang 2016 mit einem kleinen Investment am US-Unternehmen. ‚Für uns ist der Wert die Unterstützung und der Einfluss des Verlags in Berlin und Brüssel‘, hielten Uber-Manager dazu intern fest. (…) E-Mails zeigen auch, wie hilfsbereit Springer-Manager für Uber waren. Sie wollten zum Beispiel dabei helfen, den Uber-Chef Travis Kalanick mit hochrangigen Politikern zusammenzubringen. ‚Bitte teilen Sie uns mit, welche Politiker Travis in dem Zusammenhang treffen möchte (…)‘. (…) Über Springers Uber-Beteiligung erfuhr die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls lange nichts, erst im April 2017 wurde sie bekannt, als Diekmann ‚Bild‘ verließ und in ein Beratergremium von Uber wechselte – das ‚Policy Advisory Board‘, wie Uber es nennt.

Diekmann ließ mitteilen, er habe dabei geholfen, für Axel Springer bei den relevanten Technologieunternehmen Türen zu öffnen und wichtige Kontakte herzustellen. ‚Es ging darum, den ‚Spirit‘ zu verstehen‘. Einen Interessenkonflikt zwischen seinen Gesprächen und Treffen mit Tech-Unternehmen wie Uber und seinen Aufgaben bei ‚Bild‘ habe es nie gegeben.“

 

Quellen:

Nina Bovensiepen u.a.: „Über Uber“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Jan Diesteldorf u.a.: „Wer schreibt, der bleibt“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum/Jan Diesteldorf: „Bitte recht Uber-freundlich“, SZ vom 12. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum u.a.: „Deutsche Lobbyisten im Dienste eines US-Konzerns“, Tagesschau.de vom 10. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-105.html

Petra Blum u.a.: „Wie Uber deutsche Medien umwarb“, Tagesschau.de vom 11. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-107.html

„Datenlecks decken schmutzige Lobbyarbeit des Fahrdienstleisters Uber auf“, Der Spiegel (Online) vom 10. Juli 2022

https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/uber-datenlecks-decken-schmutzige-lobbyarbeit-des-fahrdienstleisters-auf-a-c1cae170-ce5c-44a0-90b4-58b0d66416ad

 

Adler Group: derzeit Skandalunternehmen Nummer eins in der deutschen Immobilienbranche

Über Jahre hinweg informierte fast nur die Fachpresse über die undurchsichtigen Geschäfte der Adler Group, ehemals einer der größten Wohnungskonzerne Europas. Ende Juni wurde dann von NDR und rbb eine TV-Dokumentation über die „dubiosen“ Praktiken des Unternehmens ausgestrahlt – bleibt zu hoffen, dass damit eine öffentlichkeitswirksame Berichterstattung Fahrt aufnimmt und die Adler Group weiter unter Druck gerät. Der Aktienkurs der rechtlich in Luxemburg ansässigen und von Berlin aus operierenden Unternehmensgruppe ist bereits innerhalb eines Jahres um nicht weniger als 80 Prozent eingebrochen und liegt aktuell (Ende Juni 2022) nur noch bei knapp über vier Euro.

Für Aufsehen in Fachkreisen sorgte Adler zuletzt Ende März 2022, als die Wirtschaftsprüfer von KPMG etwas taten, was in der Branche extrem ungewöhnlich ist – sie verweigerten dem Unternehmen das Testat für den Jahresabschluss 2021. Seitdem ist für Adler der Zugang zu frischen Geldern am Kapitalmarkt blockiert. Wegen fehlender Unterlagen konnten die Prüfer verschiedene Transaktionen der Firma nicht nachvollziehen. So wurden ihnen etwa 800.000 Dokumente vorenthalten, vornehmlich E-Mails zwischen der Gesellschaft und ihren Rechtsberatern. Auch deshalb blieb unklar, in welchem Ausmaß Geschäfte mit „nahestehenden Personen“ abgeschlossen werden konnten und gegen geltende Vorschriften verstoßen wurde. Nun kommen Berichte über unseriöse Geschäftspraktiken hinzu: Vor allem geht es um unbezahlte Rechnungen von Handwerksbetrieben und Baustopps bei Großprojekten trotz vorliegender Baugenehmigungen. Auch deshalb spricht der Journalist Christoph Twickel in der Zeit davon, dass sich der Konzern, dem zwischenzeitlich rund 70.000 Wohnungen gehörten, sogar „zu einer Art Wirecard der Immobilienbranche“ auswachsen würde (Die Zeit vom 27. Juni 2022).

Den Stein ins Rollen brachte aber wieder einmal der britische Leerverkäufer Fraser Perring, der bereits zur Aufklärung des Wirecard-Skandals entscheidend beigetragen und im vergangenen Oktober in einem Bericht seiner Analysefirma Viceroy ein vernichtendes Urteil über die Adler Group gefällt hatte („eine Brutstätte für Betrug, Täuschung und finanzielle Falschdarstellung“). [1] Eine Gruppe von „nahestehenden“ Personen plündere das Unternehmen zulasten der Aktionäre aus, heißt es dort. In der ARD-Doku vom 27. Juni 2022 beschrieb Perring das Geschäftsmodell der Adler-Gruppe: Es gehe vor allem darum, Bewertungen von Immobilien zu fälschen, um den Strippenziehern hinter den Kulissen Geld zuzuschanzen. Das funktioniere wie ein Schneeballsystem, das dazu diene, Gelder abzuziehen, zugleich aber immer neue Anleihen auszugeben. Deshalb habe Viceroy die Adler-Profiteure in ihrem Report „bond-villains“ („Anleihe-Schurken“) genannt. Mit dem Begriff „ausplündern“ („looting“) meine er, dass Adler Immobilienwerte künstlich aufblähe, sich dann günstige Kredite besorge, um davon Geld an die eigenen Leute ausschütten zu können.

 

Bewertungstricks

Wirklich neu ist das Problem der Bewertung von Immobilien allerdings nicht. Die Bilanzexpertin Carola Rinker unterstrich jüngst in einem Video der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), dass Wertsteigerungen von Immobilien von Wohnungskonzernen bilanziell gewinnerhöhend erfasst werden können. Soll heißen: Auch die Adler Group hat ihren Gewinn nicht in erster Linie durch Vermietung von Wohnungen oder den Bau und Verkauf von Immobilien gemacht, sondern durch Wertzuwächse ihrer „assets“. Besonders Geschäfte der Adler Group mit nahestehenden Personen halfen also Buchwerte zu begründen, aus denen Gewinne – ohne Liquiditätszuflüsse – abgeleitet werden konnten.

Mit Blick auf den Jahresabschluss von 2020 stellt Rinker nüchtern fest, dass das Unternehmen ohne Wertsteigerungen der Immobilien keine schwarzen Zahlen hätte vorweisen können. Die Adler Group stelle mit ihrer Praxis aber keinen Einzelfall dar. Tatsächlich belegte der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup schon vor einigen Jahren in verschiedenen Gutachten für die Partei Die Linke, dass börsennotierte Immobilienkonzerne wie Vonovia und die Deutsche Wohnen (DW) außerordentlich hohe Renditen auf ihr Eigenkapital erzielten – für DW in den Jahren 2012 bis 2015 durchschnittlich 18,7 Prozent. Normal seien damals fünf bis sechs Prozent gewesen. Ungewöhnlich hohe Dividenden für die Aktionäre seien die Folge gewesen. Die reale Wertschöpfung durch die Bewirtschaftung der Immobilien hätte die Höhe der Ausschüttungen jedoch nicht gedeckt. Dieser gemäß der internationalen Bilanzregeln legale Praxis, Bewertungsgewinne zu erzielen, würde es zum einen ermöglichten, leichter an günstige Bankkredite zu kommen, zum anderen Teile der Buchgewinne an die Shareholder auszuschütten. [2] Für die Mieter:innen eine beängstigende Praxis: Denn eine Höherbewertung der Immobilien basiert letztlich auf erwarteten üppigen zukünftige Mieteinnahmen bei möglichst moderaten Instandhaltungskosten.

Bontrups wissenschaftliche Analyse bestätigt auch die Aussagen des Shortsellers Perring über die Geschäftsstrategie der Adler-Gruppe. Bemerkenswert ist, dass die Aufklärung im Fall der dubiosen Adler-Deals vornehmlich von einem Insider betrieben wird, der selbst vom fallenden Aktienkurs der Adler-Gruppe profitiert. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) dagegen läuft hinterher und stützt sich auf die Expertise des selbst am Markt agierenden Leerverkäufers. Aber immerhin – die viel gescholtene Bundesbehörde wird nun endlich aktiv. Aktuell führt sie ein Bilanzkontrollverfahren bei Adler durch, da „konkrete Anhaltspunkte für Rechnungslegungsverstöße vorliegen“.

 

Staatliche Aufsicht

„Bilanzkontrollverfahren gelten als scharfes Schwert der Behörde“, schrieb das Handelsblatt am 22. Juni 2022. „Die Bafin kann direkt und auch vor Ort bei Unternehmen eingreifen, beispielsweise mit forensischen Mitteln. Die Aufsicht ist zudem befugt, Organvertreter und Beschäftigte zur Vernehmung vorzuladen. Bei erheblichen Verstößen kann sie Geschäfts- und Wohnräume durchsuchen und Gegenstände beschlagnahmen. (…) Vor einigen Wochen stellte die Bafin dann Strafanzeige, nachdem sie den Verdacht einer womöglich unrichtigen Bilanzierung hegt. Der Blick der Aufseher richtete sich vor allem auf eine Immobilientransaktion aus dem Jahr 2019.“

Diese betraf ein Entwicklungsareal in Düsseldorf-Gerresheim. Laut ARD-Doku wollte die Adler-Group damals den Berliner Konzern ADO Properties für 350 Millionen Euro übernehmen. Deshalb verkaufte Adler das Düsseldorfer Grundstück für 375 Millionen Euro an einen anderen Investor, dessen Geschäftsführer ein Schwager des Adler-Beraters Cevded Caner ist. Caner wiederum lenkt nach Meinung von Branchenkennern im Hintergrund maßgeblich die Geschicke der Adler-Gruppe. Caners Schwager bezahlte offensichtlich aber nur einen kleinen Teil des Kaufpreises. Auf dem Papier jedoch hatte Adler nun genügend Kapital, um die ADO zu übernehmen. Nach nur einem Jahr wurde der Kauf wieder rückgängig gemacht. „Der Verdacht: Es war ein Scheinverkauf, um die Bilanz nach oben zu treiben“, so Christoph Twickel in der Zeit vom 27. Juni.

Die Bilanz des Konzerns sollte mutmaßlich aufpoliert werden, um das Ausmaß seiner hohen Verbindlichkeiten zu verschleiern. Denn Adler hat in der Vergangenheit viele Anleihen ausgegeben und ist hoch verschuldet. Für Anleihen garantiert die Adler Group aber einen maximalen Verschuldungsgrad von 60 Prozent (Loan-to-value)*. „Ein Bruch mit den Bedingungen“, so das Handelsblatt am 24. Mai, „hätte das Unternehmen ins Verderben führen können. Rückzahlungen von bis zu 1,8 Milliarden Euro hätten gedroht“.

Nachdem der Konzern einen großen Teil seines Wohnungsbestandes verkaufen musste, um fällige Anleihen zurückzahlen zu können, schwindet die Bedeutung des angeschlagenen Konzerns zunehmend. Branchenkenner verweisen jedoch auch wegen der verbliebenen Milliardenschulden auf seine „Systemrelevanz“. Grund genug für den Konzern, weiter alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe abzustreiten – als wäre nichts geschehen. Mit Blick auf die Jahreshauptversammlung am 29. Juni 2022 zeigte sich das Handelsblatt deshalb stark verwundert über die unkritische Haltung der Anteilseigner und titelte: „Hauptversammlung nach nur 20 Minuten beendet: Adler-Aktionäre bestätigen Verwaltungsratschef und CEO. Trotz Ermittlungen der Behörden, verweigertem Testat und Milliardenverlust darf selbst der aktuelle Chef weitermachen.“

* Der Loan to Value ist eine wichtige immobilienwirtschaftliche Kennzahl, definiert das Verhältnis von Kredit zum Verkehrswert einer Immobilie und wird zur Bonitätsprüfung genutzt. 

 

Anmerkungen:

[1] vgl. auch „Betrugsvorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler“, BIG-Nachricht vom 22. Oktober 2021

http://big.businesscrime.de/category/nachrichten/page/2/

[2] vgl. Joachim Maiworm: „Giganten auf dem Wohnungsmarkt“, in: BIG Business Crime 3-2017, Seite 27f.

Tipps:

„Immobilienpoker – Die dubiosen Geschäfte eines Wohnungskonzerns“. Ein Film der ARD von Miichael Richter und Christoph Twickel, 27. Juni 2022

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/immobilienpoker-dubiose-geschaefte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzA2NzYwNTQ0LWFkNDYtNDcyZC1hMTk1LTRhODJmNzliMDFlZg

„Immobilienpoker“, Ein Feature von Christoph Twickel, NDR Feature Box, 28. Juni 2022

https://www.ardaudiothek.de/episode/ndr-feature-box/immobilienpoker/ndr-info/10616065/

 

Ein erhellender Blick hinter die Werkstore

Zur Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt von Migrant:innen liegt bereits eine breite Forschungsliteratur vor. Untersuchungen zu deren konkreten Arbeitsverhältnissen gibt es dagegen nur wenige. „Grenzen aus Glas“ dokumentiert deshalb die Ergebnisse einer breit angelegten empirischen Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen über die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsprozesse und die Arbeitskämpfe im Online-Versandhandel und in der Fleischindustrie. Der Autor Peter Birke und seine Mitarbeiter:innen führten in der Zeit von 2017 bis Mitte 2021 bei Amazon, Tönnies und anderen Unternehmen fast 220 qualitative Interviews durch – vor allem mit Beschäftigen, aber auch mit Manager:innen, Betriebsrät:innen und weiteren Expert:innen. Dabei wurde ein breites Spektrum der Migration abgedeckt (geflüchtete Menschen aus Drittstaaten und EU-Migrant:innen). Wichtige Erkenntnisse konnten die Wissenschaftler:innen auch durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen und Beratungsgesprächen sammeln.

Während der Hochzeit der Corona-Pandemie mit ihren Masseninfektionen standen beide Branchen (als Fallbeispiele für den Dienstleistungssektor und die „klassische“ Industrie) kurzzeitig massiv in der öffentlichen Kritik. Deutlich wurde dabei, dass in deren Niedriglohnbereichen fast ausschließlich Menschen ohne deutschen Pass arbeiten. Die Untersuchung setzt aber bereits einige Jahre zuvor an, nimmt das Anwerben und Ankommen der Betroffenen in den Blick und offenbart eindrücklich die Härten des Arbeitsalltags mit ihren vielfältigen Diskriminierungen.

Online-Handel und Fleischindustrie weisen dabei trotz aller Unterschiede große Ähnlichkeiten auf. Beide Branchen expandieren seit zwanzig Jahren außerordentlich schnell und produzieren auf dem neuesten Stand der Technik. Sie rationalisieren kontinuierlich ihre Arbeitsprozesse, beuten zeitgleich immer neue Arbeitskräfte zu Niedriglöhnen und unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen aus. Von einem Verschwinden der „Einfacharbeit“ in Zeiten durchdigitalisierter Arbeitsprozesse kann deshalb nicht die Rede sein. Denn in beiden Bereichen muss schwere körperliche und psychische Arbeit geleistet werden. Der Gesundheitsschutz wird hier wie dort oft vernachlässigt; die Arbeitszeiten sind lang (mitunter bis zu zwölf Stunden am Tag bei einer 7-Tage-Woche). In der Fleischindustrie wurden in der Vergangenheit sogar körperliche Übergriffe von Vorgesetzten bekannt; im Versandhandel stehen die Arbeitenden unter einer permanenten computergestützten Echtzeit-Kontrolle. Auf Seite 64 des Buches heißt es: „So gilt insbesondere das, was man über die Arbeitsbedingungen bei Amazon weiß, als Musterbeispiel für ein System rigider Zergliederung und Kontrolle der Arbeit in Anwendung digitaler Technologien“.

Der Autor wendet sich jedoch gegen die Verwendung der Bezeichnung „moderne Sklaven“ für die Beschäftigten, selbst wenn sich manche der gefragten Arbeiter:innen selbst so bezeichnen – insbesondere solche in der Fleischindustrie. Denn diese sind keineswegs nur wehrlose Opfer ausbeuterischer Unternehmer. Reflektiert werden in dem Buch deshalb auch die Möglichkeiten der Gegenwehr gegen die „Vernutzung von Arbeitskräften“, wie es der Autor formuliert. Viele der Betroffenen entwickeln durchaus vielfältige Formen von Alltagswiderstand. Auch fanden in den Jahren 2020 bis 2022 kollektive Protestaktionen statt, ohne dass die breite Öffentlichkeit diese wahrgenommen hätte. Es gab Tarifstreiks der Gewerkschaft NGG und vor allem im Jahr 2020 etliche „wilde Streiks“ ohne gewerkschaftliche Rückendeckung, stattdessen begleitet von engagierten Beratungsstellen. Dies blieb nicht ohne Erfolg: Das seit Anfang 2021 geltende Arbeitsschutzkontrollgesetz verbietet beispielsweise den Einsatz von Werkverträgen in der Fleischindustrie. In den Bereichen Schlachtung und Zerlegung darf nur noch eigenes Stammpersonal der Unternehmen arbeiten. Im vergangenen Jahr konnte durch die Gewerkschaft NGG eine Erhöhung des Mindestlohnes durchgesetzt werden.

Die geführten Interviews belegen auch, dass vor allem in der Fleischwirtschaft wirtschaftskriminelle Praktiken üblich sind. Befragte berichten davon, dass sie für einige Wochen ununterbrochen an sieben Tagen die Woche arbeiten mussten. Die Industriereinigung (Reinigung der Maschineneparks) stellt dabei die „Nachtseite“ der Fleischindustrie dar. Sie wird öffentlich wenig beachtet, umfasst aber einige der gefährlichsten Tätigkeiten in der Branche. Da das Arbeitsschutzkontrollgesetz diesen Bereich nicht umfasst, wird diese Tätigkeit auch nach Beginn der Pandemie weiterhin von Serviceunternehmen auf Werkvertragsbasis durchgeführt. Interviewte klagten beispielsweise durchgehend darüber, schlecht eingearbeitet worden zu sein:

„Da (gibt es) so eine Art Sicherheitsknopf oder so einen Alarmknopf, wo man (…) drei Mal draufdrücken muss. (…) Und, ja, (ein Kollege) war neu und wusste auch wohl nichts, hat wohl einmal gedrückt. Das war schon eher verwunderlich , dass der am Stück wieder rausgekommen ist. (…) Arbeitsunfälle passieren (auch), weil tendenziell hohe Fluktuation. Also jemand, der zwei, drei Jahre dabei ist, ist schon eigentlich ein ganz alter Hase. Sind viele dabei, die zwei, drei Monate und (dann) wieder wechseln.“ (Seite 216)

Mangelnde Einarbeitung stellt einen wesentlichen Grund für Unfälle und Verletzungen dar. Der Druck auf das Reinigungspersonal nimmt zudem dann stark zu, wenn in Schlachtung und Zerlegung Überstunden anfallen. Letztlich führe dies, so der Autor, zu deutlichen Verzögerungen beim Arbeitsbeginn der Reinigungskolonne und einem entsprechend verdichteten Pensum. Dabei komme es dann auch zur illegalen Streichung der arbeitsrechtlich vorgeschriebenen halbstündigen Pause – die daraus resultierende Arbeitsverdichtung führe im Effekt zu Unfällen. Auch berichten Arbeitskräfte davon, dass sie für den Abschluss eines Arbeitsvertrages – selbstredend illegale – Schmiergelder, oft auch „Gebühren“ genannt, an Vermittler oder Vorgesetzte bezahlen mussten (eine Betroffene nennt den Betrag von 1.200 Euro).

Dennoch hält Birke, wie schon erwähnt, wenig davon, von „modernen Sklaven“ zu reden. Die typische öffentliche Verwendung dieses Begriffs spiegele zudem nicht die „multiple Prekarität“ der Betroffenen wider. Dies sei ein wichtiger Aspekt – der Begriff beziehe sich nämlich nicht nur auf den Arbeitsprozess selbst, sondern schließe die Lebensverhältnisse insgesamt ein (eingeschränkte Aufenthalts- und Sozialrechte, miserable Wohnbedingungen).

Dass sich die Beschäftigten von Amazon, Tönnies und Co. mit wenigen Ausnahmen nicht vorstellen können, unter den gegebenen Bedingungen lange in den jeweiligen Unternehmen zu arbeiten, wundert deshalb nicht. Mitte 2021 waren rund drei Viertel der Gesprächspartner:innen nicht mehr in dem Betrieb beschäftigt, in dem sie zum Zeitpunkt der Interviews einen Arbeitsvertrag hatten. Der weitgehend bestehende gesellschaftliche Konsens darüber, dass „Arbeit“ auf jeden Fall gut für die gesellschaftliche Integration von geflüchteten Menschen sei – unabhängig von den jeweiligen Arbeitsbedingungen – darf deshalb als zynisch anmutender Unsinn bewertet werden. Die vorliegende Studie zeigt, dass diese Form der Erwerbsarbeit  vielmehr einen sozialen Ausschluss zementiert.

Die ankommenden Migrant:innen werden immer wieder mit „gläsernen Wänden“ konfrontiert, die von außen kaum sichtbar, aber für die Betroffenen doch spürbar sind. „Grenzen aus Glas“ werden erlebt als Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, durch die Tatsache, dass in der Fleischwirtschaft „Eintrittsgelder“ bezahlt werden müssen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten, durch das Tragen markierter Kleidung für die Mitarbeiter:innen von Subunternehmen oder das Verbot, Pausenräume benutzen zu dürfen, die Festangestellten vorbehalten sind. Migrantische Arbeitskräfte laufen gegen Wände, weil sie geltende Rechtsansprüche kaum durchsetzen können, denn unter den gegebenen Machtverhältnissen lässt sich erfahrenes Unrecht nur selten korrigieren. „Aber die Frage, wie das Unrecht von vornherein vermieden werden könnte, ruft bei uns allen, den Arbeitenden selbst und den sie begleitenden Angehörigen, Berater*innen, Gewerkschafter*innen, Forschenden – Ratlosigkeit hervor.“ (Seite 221)

Dieser pessimistischen Feststellung hält der Autor im Resümee allerdings eine kämpferische Ansage entgegen: „Es stellt sich also erstens die Frage, warum man für einen Zugang von Migrant*innen zu Arbeitsmärkten kämpfen sollte, auf denen praktisch nur derartige und vergleichbare Tätigkeiten angeboten werden. Und zweitens, ob man mit Blick auf die konkrete Ausformung von Produktion und Dienstleistungen nicht sogar für eine Abschaffung dieser Art von Arbeit eintreten sollte.“ (Seite 337) Bei einer Buchvorstellung im Rahmen der „Linke Buchtage Berlin“ Mitte Mai 2022 wurde Peter Birke im Hinblick auf die Fleischindustrie noch deutlicher: Die Arbeit dort sei nicht humanisierbar, die Fabriken müssten geschlossen werden.

Peter Birke: „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“, Mandelbaum Verlag, Wien und Berlin 2022, 400 Seiten, 27 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Cum-Ex als Form der Elitenkriminalität – und der Staat schaut zu

Das Buch erschien zum richtigen Zeitpunkt: nur wenige Wochen vor Beginn des lang erwarteten Strafprozesses gegen Steueranwalt Hanno Berger. Dieser – eine zentrale Figur im Cum-Ex-Skandal – steht nach neun Jahren Flucht seit Anfang April 2022 in Bonn vor Gericht.

Allerdings waren die Machenschaften um Cum-Ex schon vor etwa 30 Jahren bekannt. Insider der Finanzszene wussten bereits damals, dass sich Banken und Anleger am Fiskus bereichern, indem sie sich Steuern rückerstatten ließen, die sie zuvor überhaupt nicht bezahlt hatten. Vor nunmehr 20 Jahren befasste sich das Bundesfinanzministerium mit dem Komplex, unternahm aber (wohl unter dem Einfluss der Bankenlobby) trotz vorliegender Hinweise vorerst nichts. Erst weitere zehn Jahre später, im Herbst letzten Jahres, veröffentlichte der Investigativjournalist Oliver Schröm eine erste umfangreiche und spannend geschriebene Monografie („Die Cum-Ex-Files“, erschienen im Ch. Links Verlag) über den Megabetrug.

Massimo Bognanni, der vor zwei Jahren bereits an einer preisgekrönten TV-Dokumentation zu Cum-Ex mitgearbeitet hatte, legte jetzt nach. Bognanni weist in dem neuen Buch ebenfalls nach, um was es bei dem Steuerbetrug in Milliardenhöhe letztlich geht: um organisierte Kriminalität zu Lasten des Gemeinwohls. Es ist zu hoffen, dass die beiden Bücher dazu beitragen, den bislang ausgebliebenen öffentlichen Proteststurm gegen diese Form der Wirtschaftskriminalität zu entfachen.

Bognanni versucht erst gar nicht, die Cum-Ex-Praxis in ihrer Komplexität zu beschreiben. Er belässt es bei der leicht nachvollziehbaren Einsicht, dass Geschäfte nicht legal oder moralisch vertretbar sein können, bei denen der Staat Steuern erstattet, die nie gezahlt wurden. Der Autor konzentriert sich auf zwei Erzählstränge. Zum einen dokumentiert er das „jahrzehntelange Versagen des Staates und seiner Institutionen“ (Seite 5), zum anderen folgt er Schritt für Schritt der Aufklärung des Skandals und damit der Arbeit der eigentlichen „Heldin“ des Buches – der Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker. Diese hat durch ihre unermüdliche Arbeit und auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen eine Reihe von Tätern vor Gericht gebracht.

Die Verstrickungen des Staatsapparates in die „Steuerbetrugsindustrie“ (Seite 9) belegt der Autor anhand mehrerer Beispiele. So begann erst im Oktober 2014 eine ernstzunehmende Ermittlung gegen Cum-Ex. In elf Ländern und mit mehr als tausend Beamten wurde damals eine Großrazzia veranstaltet – mit Brorhilker als leitender Staatsanwältin. Der Staat hätte jedoch schon 1992 tätig werden können. Ein hessischer Börsenaufseher hatte in einem Artikel für den vielbeachteten Frankfurter Finanzmarktbericht festgestellt, dass es bei Banken offenbar gängige Praxis war, mehrere Steuerbescheinigungen für ein und dieselbe Aktie auszustellen. Der Börsenaufseher durchschaute damit „ein perfides System“, so Bognanni. „Denn wer Steuerbescheinigungen ausstellen kann, der kann quasi Geld drucken.“ (Seite 23)

Das Bundesfinanzministerium unter Leitung von Theo Waigel (CSU) sah jedoch keinen Anlass, etwas zu unternehmen. Eine grundsätzliche Lösung des Problems, so das Ministerium damals, hätte in „gewissen Zeiträumen“ zu einem Verbot des Handels sowohl von Aktien als auch im Rahmen von Termingeschäften führen müssen. Angeblich wären eine weitgehende Verlagerung der Geschäfte ins Ausland und damit ein „gravierender Schaden für den Finanzplatz Deutschland“ die Folgen gewesen (Seite 25). Im gleichen Zusammenhang sah die Frankfurter Finanzbehörde nach Absprache mit dem Oberstaatsanwalt von Ermittlungsverfahren gegen mehrere Makler ab, die unter dem Verdacht standen, doppelte Steuerbescheinigungen produziert zu haben – mit dem schlichten Verweis auf fehlendes Personal bei der Steuerfahndungsstelle (Seite 28f.).

Neben Ex-Bundesfinanzminister Theo Waigel zeigten sich auch seine Amtsnachfolger Steinbrück (SPD), Schäuble (CDU) und Scholz (SPD) wenig geneigt, den Cum-Ex-Geschäften einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Unter der Ägide von Peer Steinbrück etwa wurde im Jahr 2009 zwar eine Meldepflicht eingeführt, die jede Bank verpflichtete, „dem Bundeszentralamt für Steuern zu melden, wenn die technischen Voraussetzungen für Cum-Ex-Deals gegeben waren“. (Seite 240) Offensichtlich wurde eine dann akribisch erstellte Liste mit über fünfhundert Einträgen von der Behörde aber nicht überprüft, auch nicht in Stichproben. Die Aufstellung der Verdachtsfälle wurde an das Finanzministerium weitergereicht. Was dort damit geschah, blieb jedoch völlig unklar. Bei Staatsanwältin Brorhilker, die die Liste dringend gebraucht hätte, landeten die Informationen jedenfalls erst im Juni 2020.

Ein weiterer Fall für das dubiose Verhalten der Behörden waren die Cum-Ex-Geschäfte der einst mächtigen landeseigenen WestLB, die bestens mit der NRW-Politik vernetzt war. Im Mai 2007 meldete sich ein Whistleblower aus dem Innern der Finanzindustrie bei der BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht), um auf Praktiken der Landesbank aufmerksam zu machen, die auf Cum-Ex-Geschäfte hinwiesen. Die BaFin recherchierte selbst – jedoch ausgerechnet bei der WestLB. „Der Bauer fragt den Fuchs“, kommentiert Bognanni (Seite 79). Im Frühjahr 2021 enthüllten Journalisten schließlich, dass die BaFin ihre im Jahr 2007 erhaltenen Informationen wegen ihrer Verschwiegenheitspflicht nach dem Kreditwesengesetz, so die Darstellung der BaFin, nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben hatte. Die jedoch bestreitet ausdrücklich, dass es je eine Verschwiegenheitspflicht für mutmaßliche Steuerhinterzieher gegeben habe (Seite 82).

Nach all den unglaublichen Vorgängen im Umkreis des Cum-Ex-Komplexes stellt Bognanni in seinem Epilog nüchtern fest, dass der Skandal noch lange nicht vorbei sei. Auch würde Staatsanwältin Brorhilker, die sich seit 2013 mit superreichen Investoren und abgebrühten Wirtschaftsanwälten herumschlagen muss, noch Jahrzehnte brauchen, ihre Ermittlungen abzuschließen. Nach Meinung des Rezensenten kann das als Beleg dafür gewertet werden, dass die staatlichen politischen Entscheider das Entstehen einer Betrugsindustrie erst ermöglicht haben.

Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Staatsanwaltschaften, wie Anne Brorhilker dem Buchautor anvertraute, auf Insiderwissen angewiesen sind, um die immer neuen Steuerbetrugsmodelle verstehen und damit den mafiösen Netzwerken auf die Spur kommen zu können. Ohne Whistleblowing erscheint eine Aufklärung nämlich kaum möglich. Dem Optimismus Bognannis, der Staat könne selbst gegenüber einer global agierenden Steuermafia wehrhaft sein, denn es brauche nur „die richtigen Menschen an der richtigen Stelle“ (Seite 6), ist trotz des beeindruckenden Engagements einzelner Staatsanwält*innen, Journalisten und anderer Aktivist*innen nicht zuzustimmen.

Was Bognanni nicht leistet, ist eine Analyse des politischen und ökonomischen Systems, welches Geschäfte wie Cum-Ex immer wieder hervorbringt beziehungsweise sie ermöglicht. Eine solche Analyse zu liefern war aber auch nicht Anliegen des Autors. Er liefert lediglich die detaillierte und lebendige Beschreibung des Cum-Ex-Komplexes als Form organisierter Kriminalität und der korrupten Rolle staatlicher Institutionen und Repräsentanten. Und dies ist ihm bestens gelungen.

Massimo Bognanni: Unter den Augen des Staates. Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2022, dtv, 285 Seiten, 20 Euro

 

 

 

 

 

Eigentumsfrage auf der Agenda. Volksentscheid der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ erfolgreich

In den letzten 30 Jahren stellten Politik und privater Wohnungsmarkt wieder einmal ihre Unfähigkeit unter Beweis, der Mehrheitsbevölkerung eine Grundversorgung an Wohnraum zu garantieren. Dennoch überraschte es, dass die Berliner*innen am 26. September 2021 mit 56,4 Prozent Ja-Stimmen gegenüber 39 Prozent Nein-Stimmen deutlich für den Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer renditeorientierter Wohnungskonzerne votierten. Mehr als eine Millionen Wahlberechtigte der Stadt folgten damit der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Die Forderung zur Vergesellschaftung vereinte damit fast dreimal so viele Stimmen hinter sich wie die Wahlsiegerin SPD bei der parallel ablaufenden Abgeordnetenhauswahl. Jetzt ist der künftige Senat am Zug: Er ist gehalten ein Gesetz zu erarbeiten, um die Vergesellschaftung der Bestände aller privaten Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen umzusetzen – das heißt die Konzerne gegen Entschädigung zu enteignen und die Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts zu überführen. Insgesamt handelt es sich um mehr als 240.000 Wohneinheiten (etwa 15 Prozent der Berliner Mietwohnungen), die in Zukunft gemeinwohlorientiert bewirtschaftet werden sollen. Rund ein Dutzend Immobilienunternehmen wären betroffen.

Nicht nur in traditionell linken Kiezen wie Kreuzberg-Friedrichshain und Neukölln stimmte eine Mehrheit für das Vorhaben, auch in eher konservativen Bezirken unterstützen die Bürger*innen mehrheitlich „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. Selbst in vielen Außenbezirken, in denen die Initiative eher schwach organisiert war, unterstützten die Menschen die Forderung: in Marzahn-Hellersdorf mit 55,8 Prozent, in Spandau mit 51,9 Prozent, in Pankow mit 60,8 Prozent. Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl wurde allerdings die SPD stärkste Kraft, obwohl sie sich zuvor dezidiert als Gegnerin der Enteignungsidee positioniert hatte. So hatte Franziska Giffey (SPD), vermutlich die neue Regierende Bürgermeisterin Berlins, zuletzt mehrfach geäußert, auch einen erfolgreichen Volksentscheid nicht umsetzen zu wollen – obwohl sich Umfragen zufolge 61 Prozent der SPD-Anhänger*innen für die Vergesellschaftung ausgesprochen hatten. Auch nach der Entscheidung sagte Giffey zwar eine Prüfung des Vorhabens zu, betonte aber auch, die Enteignung bei fehlender Verfassungskonformität nicht zu vollziehen. Auch CDU, AfD und FDP sind – ebenso wie die Wirtschaftslobby – prinzipiell gegen Enteignungen. Während sich Die Linke klar für das Vorhaben ausspricht, weicht Bündnis 90/DieGrünen aus: Die Partei hält einen solchen Schritt allenfalls „als Ultima Ratio“ für möglich.

Was von manchen Leuten als letzte Möglichkeit gesehen wird, gegen die prekäre Wohnsituation in der Hauptstadt vorzugehen, weist in der Tat einige Problempunkte auf.

  • Es wurde nicht über einen konkreten Gesetzentwurf abgestimmt, der nun vom Berliner Senat umgesetzt werden müsste. Insofern, so kritische Stimmen, sei das Ergebnis für die zukünftige Landesregierung rechtlich nicht bindend. Das Votum bedeute lediglich eine Aufforderung an den Senat, ein entsprechendes Gesetz zur Überführung der Bestände großer privater Wohnungsunternehmen zu erarbeiten und vom Abgeordnetenhaus verabschieden zu lassen.
  • Gutachten säen generell Zweifel an der rechtlichen Zulässigkeit einer Enteignung. Nach Einschätzung von Juristen stelle diese einen „unverhältnismäßiger Eingriff in privates Eigentum“ dar. Laut Enteignungs-Initiative bejahen dagegen sieben Gutachten die Möglichkeit einer verfassungsgemäßen Umsetzung; drei vertreten eine gegenteilige Auffassung. Alle drei negativen Voten, so berichtet das Neue Deutschland, seien vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) in Auftrag gegeben worden. In jedem Fall dürfte ein erarbeitetes Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht landen und die juristische Auseinandersetzung die Stadt über Jahre beschäftigen.
  • Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage, ob sich die Höhe der Entschädigung am Marktwert der Immobilien orientieren muss oder auch darunter bleiben kann. Die Entschädigungskosten würden sich laut Prognosen des Senats auf bis zu 36 Milliarden Euro belaufen, während die Enteignungsinitiative mit allenfalls 7,3 bis 13,7 Milliarden Euro rechnet. Laut Initiative sollen die zu diesem Zwecke aufzunehmenden Kredite aus den Mieteinnahmen der enteigneten Wohnungsbestände getilgt werden – die Stadt müsse keine neuen Schulden anhäufen. Sollte der vom Senat errechnete Höchstwert von 36 Milliarden Euro veranschlagt werden, könnte die Entschädigung mit einer durchschnittlichen Miete von etwa 8,87 Euro/qm refinanziert werden. Dies ist allerdings eine deutliche Erhöhung gegenüber der gegenwärtigen Durchschnittsmiete von Deutsche Wohnen & Co von 6,71 Euro/qm.
  • Befürworter*innen des Volksentscheids argumentieren, dass nur die Ablösung von profitorientierten durch gemeinwohlorientierte Träger durch die Decke schießende Mieten verhindern könnte und deshalb enteignet werden müsse – weil eben kein anderes Mittel mehr helfe. Dieser Blick blendet aber tatsächlich vorhandene Möglichkeiten aus: Vor allem die Schaffung von neuem, dauerhaft im öffentlichem Eigentum verbleibenden und bezahlbaren Wohnraum für alle Bevölkerungsschichten – eine Voraussetzung für einen anzustrebenden entspannten Wohnungsmarkt. Auch beim Wohnungsbau ist deshalb die Eigentumsfrage zu stellen. Letztlich sollte der Ausbau der sozialen Infrastruktur in allen Bereichen angesteuert werden: Wohnen, Gesundheit, Bildung, Verkehr.

Als vorläufiges Fazit folgt ein längeres Zitat aus dem Berliner MieterEcho:

„Bestehende Eigentumsverhältnisse werden von großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr als unveränderlich oder gar als ‚gerecht‘ empfunden. Und das weit in die Klientele von SPD, CDU und auch der AfD hinein. Es ist zweifellos ein Verdienst dieser Initiative, eine im besten Sinne ‚linkspopulistische‘, antikapitalistische Kampagne erfolgreich initiiert und verbreitert zu haben. (…) Materiell ist von dem Volksentscheid (…) allerdings kaum etwas zu erwarten. Zum einen soll es sich nicht um eine ‚Enteignung‘ im klassischen Sinne handeln. Vielmehr geht es um eine Art gesetzlich angeordneten Zwangsverkauf an kommunale Träger. Wobei der zu entrichtende Preis voraussichtlich erst durch langwierige Gerichtsverfahren ermittelt werden würde. Und zum anderen hat der Volksentscheid kein entsprechendes Gesetz zum Inhalt, sondern nur die Aufforderung an den kommenden Senat, ein solches zu erlassen. Was dieser wohl (…) kaum tun wird, da außer den Linken keine Partei die Enteignungsforderung unterstützt. (…) Außerdem ignoriert das Volksbegehren geflissentlich das Hauptproblem des Berliner Wohnungsmarktes: Den Mangel an dauerhaft bezahlbaren Wohnungen und den Mangel an Wohnungen überhaupt. Und dieses Defizit ist in erster Linie nur durch den massiven Neubau kommunaler Wohnungen zu überwinden. Den politischen Verdienst der Initiative, das Thema Enteignung in den Fokus der stadtpolitischen Auseinandersetzung gerückt zu haben, schmälert das aber nicht.

 

Quellen:

Nicolas Šustr: „Sozialisierung ist Regierungsauftrag“, Neues Deutschland vom 27. September 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157025.deutsche-wohnen-co-enteignen-sozialisierung-ist-regierungsauftrag.html

Rainer Balcerowiak: „Volksentscheid als Appell an die Politik“, MieterEcho 420/September 2021

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2021/me-single/article/volksentscheid-als-appell-an-die-politik/

Initiative Deutsche Wohnen & Co. Enteignen: Was Vergesellschaftung kostet. Zahlen und Mythen, 1. Dezember 2020

https://www.dwenteignen.de/was-vergesellschaftung-kostet/

Megafusion auf dem Immobilienmarkt: Vonovia übernimmt die Deutsche Wohnen

Vor fünf Jahren gab es einen erfolglosen Versuch zur Übernahme des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen durch den Branchenersten Vonovia. Jetzt aber stehen die beiden doch vor dem Zusammenschluss. Vonovia hat jüngst dem Konkurrenten Deutsche Wohnen, der etwa 158.000 Wohnungen in seinem Bestand hat, ein Übernahmeangebot in Höhe von rund 18 Milliarden Euro gemacht. Damit wird Vonovia auch in Europa zum mit Abstand führenden Wohnungskonzern.

Insgesamt wächst der Bestand von Vonovia auf künftig rund 570.000 Wohneinheiten und kommt damit auf einen Anteil von etwa 2,5 Prozent am deutschen Mietwohnungsmarkt. Beide Unternehmen sind im größten Aktienindex Dax gelistet und besitzen aktuell allein in Berlin zusammen über 150.000 Wohnungen (von insgesamt etwa 1,6 Millionen Mietwohnungen in der Stadt). Am deutschen Gesamtmarkt haben die Immobilienkonzerne zwar nur einen relativ geringen Marktanteil, in Berlin aber wird der politische Einfluss der „neuen“ Vonovia mit zukünftig fast 10 Prozent der Mietwohnungen weiter steigen. Dass der Deal der beiden Konzerne politisch erwünscht ist, dokumentierten Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) durch ihre Teilnahme an einer gemeinsamen Pressekonferenz mit den Vorstandsvorsitzenden der beiden Konzerne. Dort wurde mitgeteilt, dass das Land Berlin im Rahmen des geplanten Zusammenschlusses 20.000 Wohnungen von den beiden Gesellschaften übernehmen kann, um den kommunalen Wohnungsbestand ausbauen zu können.

Was aber ist von der Fusion zu halten? Seit deren Ankündigung am 24. Mai 2021 melden sich zunehmend kritische Stimmen zu Wort, die belegen, dass es sich bei der Übernahme mitnichten um die behauptete Win-Win-Win-Konstellation (Konzerne, Staat, Mieter*innen) handelt, sondern um ein durchschaubares politisches Täuschungsmanöver ohne erkennbare Vorteile für die betroffene Mieterschaft.

 

„Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“

Die Konzernvorstände von Vonovia und Deutsche Wohnen bemühen sich, ihren Deal als positiv für Mieter*innen und öffentliche Hand darzustellen. In ihrem parallel zur Fusion angekündigten „Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“ kündigen sie deshalb vier Maßnahmen an, die angeblich für eine „soziale und nachhaltige Wohnungspolitik“ stehen sollen (vgl. Pressemitteilung der Deutsche Wohnen vom 24. Mai sowie die Pressekonferenz am 25. Mai 2021). Danach werden in den nächsten drei Jahren reguläre Mieterhöhungen in Berlin insgesamt auf ein Prozent jährlich begrenzt; in den beiden danach folgenden Jahren bis 2026 sollen sie sich im Rahmen der Inflationsrate bewegen. Bei Modernisierungen verpflichten sich die Unternehmen, die Modernisierungsumlage auf maximal zwei Euro pro Quadratmeter zu kappen. Der Neubau soll forciert und der Stadt Berlin sollen 20.000 Wohnungen angeboten werden.

Bürgermeister Müller sprach auf der Pressekonferenz mit Blick auf die angekündigte Begrenzung von Mieterhöhungen von einer „ganz wichtigen sozialpolitischen Aussage“, die für Berlin „von herausragender Bedeutung“ sei. Damit werde deutlich, dass sowohl Politik und Immobilienkonzerne leistbare Mieten wollen. Vonovia-Chef Rolf Buch gefiel sich sogar in der Pose eines Mieterschützers und behauptete, dass „mit privatrechtlichen Erklärungen ein Mietendeckel umgesetzt worden“ sei.

Bürgermeister Müller verschwieg, dass Vonovia dann ab 2027 ohne jede Einschränkung durch diese Vereinbarung Mieten erhöhen darf und dass die Selbstverpflichtung von Vonovia und Deutsche Wohnen nur für Berlin gilt. Der Wohnungsbestand von Vonovia verteilt sich aber vor allem im restlichen Bundesgebiet mit dem Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen. Auch fallen die Mietnebenkosten nicht unter die Beschränkungen. Dabei weisen Mieterinitiativen immer wieder darauf hin, dass das Geschäftsmodell der Vonovia unter anderem darauf gründet, überhöhte und undurchsichtige Betriebskostenabrechnungen zu verschicken.

Der Berliner Tagesspiegel schrieb dazu. „Dass darin ein ‚System‘ liege, mutmaßten 28 regionale Mietervereine, Landesverbände des Mieterbundes sowie ‚kritische Aktionäre‘ in einem offenen Brief an den Vorstand der Aktiengesellschaft Ende Februar“. Denn Vonovia setzt verstärkt auf „Insourcing“, also auf die Erledigung von Dienstleistungen durch eigene Tochterunternehmen. Diese, so wurde schon vor Jahren vermutet, stellten ihrer Muttergesellschaft überhöhte Rechnungen, die im Rahmen der Betriebskostenabrechnung von Mieter*innen bezahlt werden müssten. Über Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge landeten die Gewinne dann bei der Vonovia.

„Die Vonovia verdiene daran gut“, heißt es im Tagesspiegel weiter. „Die operativen Gewinne aus konzerninternen Kostenumlagen hätten bei ‚weit über 100 Millionen Euro im Jahr‘ gelegen.“ Während Vonovia illegale Machenschaften dieser Art zurückweist, bleiben die Zweifel an der Korrektheit der Abrechnungen, die das Unternehmen ausstellt. Sollte tatsächlich „ein System aufgeblähter Betriebskosten“ existieren, so Ralf Hoffrogge, Aktivist der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, wäre das ein Fall für den Staatsanwalt. Er resümiert: „Steht hier wie im Fall Wirecard ein Dax-Konzern über dem Gesetz? Oder ist das ‚System Vonovia‘ ganz legale Ausbeutung? So oder so: der Vonovia-Deal würde dazu führen, dass bald 150.000 Haushalte mehr ihre Betriebskosten an die Vonovia zahlen.“

Dass der versprochene „Zukunfts- und Sozialpakt“ weitgehend heiße Luft sei, kommentierte auch der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild. Die versprochene Kappung von Mieterhöhungen sei nicht auf das einzelne Mietverhältnis bezogen, sondern betreffe die durchschnittlichen Mieterhöhungen des gesamten Wohnungsbestandes der Vonovia. Die jährlich vorgenommenen Mietsteigerungen nach § 558 BGB („Anpassungen“ an die ortsübliche Vergleichsmieten) lagen laut Vonovia-Geschäftsbericht sogar unter einem Prozent. Ein Hinweis darauf, so Wild, dass die ortsüblichen Vergleichsmieten vielerorts schon erreicht oder überschritten waren.

Auch die Beschränkung der Mieterhöhung nach Modernisierungen auf zwei Euro pro Quadratmeter im Monat sei – anders als Deutsche Wohnen und Vonovia glauben machen wollten – überwiegend keine über das Gesetz hinausgehende Schutzregelung. Denn bei Ausgangsmieten unterhalb von sieben Euro pro Quadratmeter ist die Steigerung nach BGB bereits auf zwei Euro begrenzt. Und die Durchschnittsmiete bei der Deutschen Wohnen liege sowieso unter sieben Euro pro Quadratmeter. Da außerdem die Neuvertragsmieten als ein wesentlicher Mietentreiber von Vonovia generell ausgespart werden, bleibt zu ergänzen, schreiben die „Zusagen“ des Unternehmens also allenfalls den Status quo fest.

Der Ankauf von 20.000 Wohnungen durch das Land Berlin sei ebenfalls kein Geschenk, so Wild. Berlin werde pro Wohnung deutlich mehr zahlen müssen als Vonovia jetzt für die Wohnungen der Deutsche Wohnen finanziere. Der Verkauf an Berlin refinanziere damit zum Teil die Fusion.

 

Rekommunalisierung als teures Geschäft

Von den Wohnungen, die den landeseigenen Wohnungsunternehmen angeboten werden sollen, stammen offenbar 12.000 aus dem Bestand der Deutsche Wohnen. Diese gehören zum „nichtstrategischen Portfolio“ des Konzerns, sollten also langfristig sowieso verkauft werden. „So machte das Wort von der ‚Resterampe‘ die Runde. Ein Teil der Wohnungen ist zudem wohl asbestverseucht. Für die jahrelange Praxis, die Bestände verwahrlosen zu lassen, wird die Deutsche Wohnen nun sogar noch belohnt“, kommentierte die taz diesen Vorgang in der Ausgabe vom 4. Juni 2021.

Aus offensichtlich politischen Gründen will Bürgermeister Müller in Großsiedlungen und Quartieren mit sozialen Problemen Wohnungen kaufen. Die liegen zum Teil wohl nicht zufällig in Bezirken mit SPD-Bürgermeistern, die dadurch Rückenwind bekommen sollen. Nach Angaben des Manager Magazins werden die Kosten für den Ankauf vermutlich zwischen satten drei und fünf Milliarden Euro liegen, wie das Blatt „aus den laufenden Verhandlungen“ erfahren haben will. (Manager Magazin vom 25. Mai 2021)

Ralf Hoffrogge schreibt dazu: „Von Großsiedlungen ist die Rede – es sind wahrscheinlich jene Bestände des Sozialen Wohnungsbaus gemeint, die der Senat vor kaum 15 Jahren zu Niedrigpreisen verschleuderte. Seitdem wurde in diese Betonburgen der 1976er und 1970er Jahre wenig bis gar nichts investiert und jetzt soll Berlin sie für ein Vielfaches der einstigen Verkaufssumme zurücknehmen. (…) Jedoch ist die Existenz börsennotierter Immobilienkonzerne kein Naturgesetz. Vor 15 Jahren gab es sie noch nicht, und die Mieten waren erschwinglich. Immobilien-AGs sind ein Produkt der Privatisierung öffentlichen Eigentums und der De-regulierung der Finanzmärkte – zwei tragische Fehlentwicklungen, für die die Sozialdemokratie in Bund und Ländern die Weichen stellte. Statt ihre Fehler zu korrigieren, werden die Sünden von einst mit dem Vonovia-Deal verewigt.“

Besonders pikant an dem Wohnungsdeal ist also, dass die Privatisierungswelle von Wohnungsbeständen aus Bundes- und Landeseigentum in den 2000er Jahren erst den Wachstumskurs von Vonovia und Deutsche Wohnen ermöglichte. Viele der Wohnungen des Vorgängerunternehmens von Vonovia, der Deutschen Annington, waren einst Eisenbahner-, Werks- oder Genossenschaftswohnungen, die aufgekauft wurden. Die Privatisierung von zwei Berliner Wohnungsunternehmen, der GEHAG* und der GSW**, bildete dagegen den Grundstein für das heutige Portfolio der Deutsche Wohnen. Die rot-rote Koalitionsregierung in Berlin hatte die GSW mit ihren 66.000 Wohnungen schon im Jahr 2004 für lächerlich geringe 400 Millionen Euro an ein Konsortium von internationalen Fondsgesellschaften verkauft.*** Im Jahr 2013 erfolgte dann die Übernahme der ehemals landeseigenen GSW durch die Deutsche Wohnen.

Hinzu kommt, dass die landeseigenen Wohnungsgesellschaften den Kauf der Wohnungsbestände von Vonovia und Deutsche Wohnen durch Kreditaufnahme stemmen sollen, denn der Einsatz von Steuergeldern ist nach Angaben des Senats tabu. Im Ergebnis hätten die Gesellschaften damit ihre schon vorhandene Überschuldung massiv ausgeweitet – damit würden alle Planungen für eine Ausweitung des öffentlichen Wohnungsbaus Makulatur (vgl. Gerhardt). „Ein düsteres Szenario: der öffentliche Wohnungsbau gelähmt, der Neubau in Händen eines Dax-Konzerns, der Hochpreisiges nach Marktlage errichtet.“ (Hoffrogge)

 

Konzentrationsprozess auf dem deutschen Wohnungsmarkt

Knut Unger, Mieteraktivist und Kenner der Geschäftspraktiken von Vonovia, illustriert, wie sich der Expansionkurs des Konzerns regional auswirkt. Es wäre nicht nur dessen starker Einfluss auf lokale Wohnungsmärkte spürbar – wie etwa in Dresden oder Dortmund. Das Geschäftsmodell basiert auch auf dem Angebot wohnungsnaher Dienstleistungen. „Wettbewerbshüter können sich aber auch über die Rolle des neuen Großkonzerns auf den Beschaffungs- und Dienstleistungsmärkten sorgen. Die Vonovia kontrolliert jetzt schon die größte Bauhandwerkerorganisation Deutschlands und schickt sich an, der größte Wohnungsbaudeveloper zu werden. Sie kontrolliert ein gigantisches Datennetz, baut sich als Energieversorger auf und versucht, eine führende Rolle bei der Entwicklung klimaneutraler Wohnquartiere zu spielen. Nach dieser Fusion, so viel ist sicher, wird Wohnungspolitik endgültig nicht mehr ohne Einflussnahme von Rolf Buch stattfinden.“

Das Handelsblatt erkennt einen allgemeinen Fusionstrend und eine wachsende konfrontative Haltung der Wohnungswirtschaft gegen staatliche Maßnahmen. Laut Finanzkreisen müssten die Wettbewerber überlegen, ob sie nicht wegen der extremen Zunahme der Kostenführerschaft von Vonovia ebenfalls fusionieren sollten. Noch mehr Unternehmen würden sich zukünftig zusammenschließen, um robuster gegenüber Mietpreisregulierungen und anderen Eingriffen zu werden, wie ein Vertreter des Instituts der deutschen Wirtschaft zitiert wird.

Vor diesem Hintergrund scheint die öffentliche Hand zu akzeptieren, dass ihr Einfluss auf die Entwicklung der Mieten im privaten Bereich schwindet. Der im Rahmen der Pressekonferenz im Mai zelebrierte Schulterschluss zwischen (sozialdemokratischer) Politik und Kapital soll als Beginn einer neuen Ära verstanden werden, die entgegen Enteignungsforderungen für Kooperation statt Konfrontation steht. Müller und Kollatz, so Hoffrogge, würden Vonovia mit ihrem Deal staatliche Ordnungsmacht zugestehen und Wohnungspolitik nur noch im Konsens mit den Konzernen gestalten wollen – was in eine „Privatisierung der Mietenpolitik“ münde.

 

Umgehung der Grunderwerbssteuer

Die Kapitalkonzentration wird auch durch die sogenannten Share Deals beim Aufkauf von Unternehmen gefördert. Immobilientransaktionen unterliegen zwar grundsätzlich der Grunderwerbssteuer. Bislang wurde ein Eigentümerwechsel bei Grundstücken nur von der Steuer erfasst, wenn mindestens 95 Prozent der Anteile innerhalb von fünf Jahren in eine andere Hand übergingen. Der Rest wurde in einer zwischengeschalteten Gesellschaft geparkt – nach fünf Jahren konnten dann die Anteile steuerfrei vereinigt werden. Deshalb wurden bei Käufen oftmals nur 94,9 Prozent an den neuen Eigentümer direkt übertragen. Eine vom Bundestag und Bundesrat beschlossene Neuregelung tritt am 1. Juli 2021 in Kraft.

Eigentlich soll diese Neuregelung die Umgehung der Grunderwerbsteuer beim Immobilienkauf, also den „Missbrauch“ der Share Deals, erschweren. Deshalb wurde die Beteiligungsschwelle auf 90 Prozent gesenkt und die Frist auf zehn Jahre verlängert. Allerdings sind börsennotierte Unternehmen wie Vonovia ab Juli von der Grunderwerbssteuer ausgenommen, das heißt die Regelung greift nicht, wenn die Anteile an der Börse verkauft werden: „So könnte Vonovia mit der geplanten Übernahme der Deutsche Wohnen einer beispiellosen Serie die Krone aufsetzen. Das Unternehmen kaufte allein zwischen 2016 und 2018 durch Share Deals rund 47.000 Wohnungen in Deutschland.“ (junge Welt vom 14. Juni 2021). Auch die FAZ kritisiert, dass das Finanzamt bei dem Megadeal das Nachsehen haben dürfte:

„Ein Immobilienkonzern übernimmt einen anderen, aber die Grunderwerbssteuer spielt dabei offenbar keine Rolle. (…) Zwar ist gerade die Grunderwerbsteuer verschärft worden, aber in diesem Fall dürfte der Fiskus gleichwohl leer ausgehen. ‚Union und SPD haben den Aktionären von Vonovia, Deutsche Wohnen und Blackrock mit ihrer verkorksten Reform der Share Deals ein Millionen-Geschenk auf Kosten der Steuerzahler gemacht‘, kritisierte die Grünen-Finanzpolitikerin Lisa Paus kurz nach Bekanntwerden der Pläne. Nach ihrer überschlägigen Rechnung geht es um eine Steuerzahlung oder besser Nichtsteuerzahlung in der Größenordnung von einer Milliarde Euro. Dahinter stehen folgende Zahlen: eine Übernahme von 18 Milliarden Euro und eine Grunderwerbsteuer von zumeist 5 bis zu 6,5 Prozent. Das Aufkommen steht den Ländern zu (…) Die Abgeordnete Paus vermutet, dass der angekündigte Zeitpunkt der Fusion der Immobilienriesen im August kein Zufall ist, da dann das neue Gesetz in Kraft ist.“

Selbstverständlich, so die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen, müssten die landeseigenen Immobilienunternehmen als Käufer der 20.000 Wohnungen die Grunderwerbssteuer bezahlen (vgl. junge Welt vom 14. Juni 2021). Fazit: Die Share Deals sind ein weiteres Beispiel dafür, wie der Staat Konzerne wie Vonovia und Co auf ihrem Wachstumskurs nach Kräften unterstützt, während das eigene Potential geschwächt wird, dem absoluten Mangel an Wohnungen als wesentliche Ursache für die Missstände an den angespannten Wohnungsmärkten beizukommen.

* GEHAG („Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft“)

** GSW („Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin“)

***Carl Waßmuth weist darauf hin, dass die bei den Verkäufen seinerzeit erzielten Preise deutlich unter dem damaligen Marktwert lagen und ganz offiziell von Notverkäufen zur Haushaltssanierung gesprochen wurde. Seit 2000 wurden in ganz Deutschland rund 900.000 Wohnungen privatisiert, die zuvor dem Bund, den Ländern oder den Kommunen gehört hatten – und später den Kern von Konzernen wie Vonovia und Deutsche Wohnen bildeten. (Wasmuth)

 

Quellen:

„Deutschlands geschliffenster Betonkopf“, Manager Magazin (Online) vom 25. Mai 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/vonovia-uebernimmt-deutsche-wohnen-rolf-buch-deutschlands-geschliffenster-betonkopf-a-e4efdb84-256e-4275-9911-d8f1de5c9591

„Fusion Vonovia/Deutsche Wohnen – Neuer Druck auf Miethöhen durch 18 Mrd. Euro Kaufpreis.
Zukunfts- und Sozialpakt ist mehr Blendwerk als Mieterschutz“, Pressemitteilung des Berliner Mietervereins Nr. 30/21 vom 25. Mai 2021

https://www.berliner-mieterverein.de/presse/pressearchiv/fusion-vonovia-deutsche-wohnen-neuer-druck-auf-miethoehen-durch-18-mrd-euro-kaufpreis-zukunfts-und-sozialpakt-ist-mehr-blendwerk-als-mieterschutz-pm2130.htm?hilite=%27vonovia%27

Sebastian Gerhardt: „Ein wohlkalkulierter Coup“, Rosa Luxemburg Stiftung, 26. Mai 2021

https://www.rosalux.de/news/id/44371/ein-wohlkalkulierter-coup?cHash=83a5053f775af62b200ca93e9ed2936c

Carsten Herz: „Wie die Großfusion von Vonovia und Deutscher Wohnen den Wohnungsmarkt verändert“, Handelsblatt (Online) vom 26. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/immobilienmarkt-wie-die-grossfusion-von-vonovia-und-deutscher-wohnen-den-wohnungsmarkt-veraendert/27223480.html&nlayer=Newsticker_1985586?ticket=ST-4113886-pwz2gzM2gAw2n6Aq0hEu-ap6

Ralf Hoffrogge: „Die falsche Richtung: Warum der Vonovia-Deal den Konzernen mehr nützt als den Mieterinnen und Mietern“, Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen, 4. Mai 2021

https://www.dwenteignen.de/2021/06/die-falsche-richtung/

Johannes Hub: „Staat wird geplündert“, junge Welt vom 14. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404300.fusionen-auf-wohnungsmarkt-staat-wird-gepl%C3%BCndert.html

Pressekonferenz des Regierenden Bürgermeisters von Berlin mit Vonovia und Deutsche Wohnen vom 25. Mai 2021

https://www.youtube.com/watch?v=fVCBFziuKSs

Uwe Rada: „Land will 20.000 Wohnungen kaufen: Grobes Foul der SPD im Wahlkampf“, taz vom 4. Juni 2021

https://taz.de/Land-will-20000-Wohnungen-kaufen/!5772780/

Manfred Schäfers: „Warum Vonovia wohl keine Grunderwerbssteuer zahlt“, FAZ (Online) vom 26. Mai 2021

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vonovia-und-die-grunderwerbsteuer-geschaeft-am-fiskus-vorbei-17359417.html

Ralf Schönball: „Nach Verkündung von Milliarden-Deal: Mieter protestieren gegen Vonovia“, Tagesspiegel (Online) vom 28. Mai 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-verkuendung-von-milliarden-deal-mieter-protestieren-gegen-vonovia/27229094.html

Knut Unger: „Die Fusion (der Täuscher): Vonovias «Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen» im Faktencheck, Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2. Juni 2021

https://www.rosalux.de/news/id/44404/die-fusion-der-taeuscher?cHash=cce80b690eab78cf093cd6a08c55e102

Carl Waßmuth: „Öffentlicher Geldsegen für Immobilienhaie“, MieterEcho 414, Februar 2021, Seite 18

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2020/me-single/article/oeffentlicher-geldsegen-fuer-immobilienhaie/

Einen satirischen Blick auf die angekündigte Fusion bietet ein Beitrag des ZDF-Magazins „Frontal 21“ vom 1. Juni 2021:

https://www.zdf.de/politik/frontal-21/satire-toll-vonovia-deutsche-wohnen-spd-mietendeckel-100.html

 

 

“Das hässliche Gesicht des Kapitalismus“. Zwei neue Bücher über den Konzern Amazon

In der Ausgabe des Handelsblatts vom 22. Mai 2021 rezensierte Florian Kolf zwei neu erschienene Bücher über den weltweit größten Online-Versandhändler Amazon.

Nach Meinung des Wirtschaftsjournalisten hätte das vergangene Jahr für Amazon eine Zeit der „Heiligsprechung“ werden können. Denn ein großer Teil des öffentlichen Lebens war pandemiebedingt stillgelegt und der US-Konzern verfügte über die erforderlichen Warenlager und Logistik, um die Bevölkerung ausreichend versorgen zu können. Das Gegenteil sei aber eingetreten: „Mitarbeiter rebellierten gegen die Arbeitsbedingungen, Politiker forderten die Begrenzung der Macht des Konzerns, Händler auf dem Amazon Marketplace wetterten gegen die Geschäftspraktiken des Plattformbetreibers. Was war geschehen?“

Auf die Frage, warum das Unternehmen „plötzlich als hässliches Gesicht des Kapitalismus“ galt, gibt nach Auffassung des Handelsblatt-Autors das Buch „Amazon unaufhaltsam“ des amerikanischen Journalisten Brad Stone, der für das US-Wirtschaftsmagazin Bloomberg Businessweek arbeitet, die richtigen Antworten.

Kolf schreibt: „Stone liefert eine faszinierende Innenansicht des amerikanischen Tech-Konzerns, gespickt mit Details, Szenen und Anekdoten, die dem Leser ein Gefühl dafür geben, welche Kräfte dieses Erfolgsunternehmen antreiben. Er zeichnet zugleich aber auch ein schonungsloses Bild des brutalen Führungsstils von Bezos und seinen Top-Managern, die mit künstlichen Deadlines und massivem Druck Mitarbeiter regelmäßig in 80-Stunden-Wochen und häufig fast in den Wahnsinn treiben.“

Brad Stone sieht demnach den Kern des Unternehmenserfolgs im Streben nach permanenter Innovation. Konzernchef Bezos trieb offenbar in den vergangenen zehn Jahren neue Projekte mit unermüdlichem Einsatz voran – so etwa die digitale Spracherkennung Alexa.

Der zweite Teil des Buches von Stone führe aus, wie in kurzer Zeit aus einem innovativen Unternehmen einer der mächtigsten Konzerne der Welt werden konnte: „Und hier zeigt Stone, dass Konzernchef Bezos nicht nur eine kreative und technikverliebte Seite hat, sondern auch eine skrupellose, wenn es dem Erfolg dient.“ Ein Hebel für den rasanten Wachstumskurs sei das Heer von Lagerarbeitern und unterbezahlten Subunternehmern, die unter Bedingungen arbeiten, die einer an sich notwendigen Qualität kaum förderlich seien.

Das Buch des amerikanischen Autors fokussiert nach Meinung des Handelsblatt-Journalisten auf die Schattenseiten der rücksichtslosen Unternehmensexpansion. Im Verlauf der Corona-Pandemie etwa wurde Amazon vorgeworfen, Profiteur der Krise zu sein. Zugleich aber hätten sich Meldungen über unzureichende Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 – insbesondere in den Auslieferungslagern – gehäuft. Auch wenn Amazon jetzt wirtschaftlich so gut wie nie zuvor dastehe, sei das Image des Unternehmens deutlich ramponiert.

Als perfekte Ergänzung zu „Amazon unaufhaltsam“ bezeichnet Florian Kolf das jüngst auf Deutsch erschienene Buch „Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon“ von Alec MacGillis. Das Werk lege den Schwerpunkt darauf, die regionale Ungleichheit und den zunehmenden Konzentrationsprozess der US-Wirtschaft am Beispiel der Entwicklung Amazons zu analysieren.

Kolf schreibt über MacGillis‘ Buch: „Der preisgekrönte Journalist ist dafür durchs Land gereist, hat mit Bandarbeitern, Kleinunternehmern, Künstlern, Aktivisten, Politikern und Lobbyisten gesprochen. Das Buch ist in einem packenden Reportage-Stil geschrieben und zeigt an vielen Beispielen, wie sich die Gesellschaft immer stärker verändert, wie sich das Land spaltet – und welchen Anteil Amazon daran hat. Für Amazon sind die Ergebnisse seiner Recherchen wenig schmeichelhaft: Er listet genau auf, welche Steuererleichterungen der Konzern mit den Milliardengewinnen hinter verschlossenen Türen aushandeln konnte, wie er Kommunen gegeneinander ausspielte, unter welchen Bedingungen die Arbeiter in den Auslieferungszentren arbeiten, wie Einzelhändler unter dem Druck des Riesen aufgeben mussten.“

In einer Buchkritik des DeutschlandfunkKultur legt die Rezensentin Vera Linß den Schwerpunkt auf die These von MacGillis, dass der Erfolg von Amazon den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den USA bedrohe. Die Spaltung des Landes, die Trump viele Wähler gebracht habe, gehe weiter. Bis 2030 würden laut einer Analyse des McKinsey Global Institute 25 Metropolen weiter boomen, 54 US-Städte und mehr als 2.000 Landkreise hingegen wirtschaftlich abgehängt. Schuld an dieser Ungleichheit, so zitiert der DeutschlandfunkKultur den US-Investigativ-Journalisten, sei die ungebremste Konzentration von Marktmacht des Konzern Amazon. Das Fazit von MacGillis lautet: Amerika steht im Schatten des Onlineriesen. Denn dessen Dienstleistung krempelt die amerikanische Wirtschaft radikal um. 76.000 Arbeitsplätze vernichtet Amazon jährlich im Einzelhandel, doppelt so viele, wie es selbst geschaffen habe.

In der Süddeutsche Zeitung schreibt Felix Ekardt, dass in „Ausgeliefert“ von MacGillis Amazon auch als Metapher für die großen IT-Konzerne und die globalisierte Wirtschaft steht, die in der Corona-Lockdown-Gesellschaft noch mächtiger geworden sind. Das Buch reihe Beispiel an Beispiel, man erfahre von kleinen Buchhändlern, die – von Amazon Marketplace bedrängt – zwar mehr Kunden erreichen würden, während zugleich aber ihre Gewinnspannen schrumpfen.

In einer Besprechung des eingangs genannten Buches „Amazon unaufhaltsam“ von Brad Stone im MDR wird betont, dass Stone die vergangenen Jahre des Konzerns detailliert nachzeichne: „Wie entstand Amazons Sprachassistent Alexa, warum sind Amazons Smartphones ein Flop gewesen, wie geht es mit dem Konzern weiter, wenn der Chef im Juli abtritt?“ Stone wird zitiert: „Amazon reagiert allergisch auf organisierte Arbeiterschaft. Das war schon immer so. Es beginnt mit Jeff Bezos. Er will nicht, dass eine eingefahrene und verärgerte Belegschaft seine Flexibilität einschränkt. Sie versuchen darum herumzutanzen, aber sie sind gewerkschaftsfeindlich. Eine Sache, die sie tun, wenn Arbeiter sich organisieren – sie verlangsamen das Wachstum in einem Land und liefern Produkte aus anderen Ländern. Das haben wir in Deutschland schon gesehen, wo sie einige Fulfillment Centers vorübergehend geschlossen und Produkte aus Polen eingeführt haben. Sie spielen also mit harten Bandagen.“

„Und das wird sich wohl auch nicht ändern“, wie der Redakteur der Sendung abschließend bemerkt, „wenn der Amazon-Chef nicht mehr Jeff Bezos heißt.“

Quellen:

Florian Kolf: „Kreativ und rücksichtslos: Die Geheimnisse des Erfolgs von Amazon – und die Schattenseiten“, Handelsblatt (Online) vom 22. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/analyse-kreativ-und-ruecksichtslos-die-geheimnisse-des-erfolgs-von-amazon-und-die-schattenseiten/27208618.html

Vera Linß: „Wie Amazon die USA spaltet“, DeutschlandfunkKultur, Buchkritik vom 7. Mai 2021

https://www.deutschlandfunkkultur.de/alec-macgillis-ausgeliefert-wie-amazon-die-usa-spaltet.950.de.html?dram:article_id=496687

Felix Ekardt: „Supermarkt für Ungleichheit“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 13. April 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/amazon-macgillis-1.5260717

MDR aktuell: Buchkritik zu „Amazon unaufhaltsam“ von Brad Stone vom 29. Mai 2020

https://www.mdr.de/mdr-aktuell-nachrichtenradio/audio/audio-1750114.html

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam. Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft.
Ariston, München 2021, 544 Seiten, 26 Euro

Alec MacGillis: Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon.
S. Fischer, Frankfurt 2021, 448 Seiten, 26 Euro

 

Wie die Europäische Union extreme Ausbeutung organisiert

Politische Vertreter*innen in der EU pochen offiziell gerne und mit Nachdruck auf die Einhaltung der Menschenrechte für erwerbsarbeitende Menschen in anderen Regionen der Welt. Ausgeblendet wird dabei, dass Arbeitnehmer*innen auch innerhalb der EU millionenfach und weitgehend unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle in extremer Form ausgebeutet und gedemütigt werden.

Dieses „große Tabu“ bildet den Ausgangspunkt des bereits im Herbst 2020 erschienenen Buches „Imperium EU“ des Kölner Publizisten Werner Rügemer. Seine These lautet: Die Ausbeutung, Entrechtung, Verunsicherung und Verarmung abhängig Beschäftigter wird von den dominierenden Institutionen der EU zielgerichtet organisiert, zugleich von den herrschenden Medien „komplizenhaft“ verschwiegen und damit auch der politischen Rechtsentwicklung in Europa entscheidend Vorschub geleistet (Seite 31ff.). Genau dieser Zusammenhang, so der Autor, bleibt in der verbreiteten Kritik an der EU zumeist unberücksichtigt.

Im ersten Teil des Buches beschreibt Rügemer, wie rechtlich fixierte Arbeitsbedingungen und menschenrechtlich geforderte Normen nicht nur für Millionen von Wanderarbeiter*innen massenhaft straflos verletzt werden können – sowohl von den westeuropäischen Gründungsmitgliedern der EU als auch in den neuen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans. Der Autor verfolgt die Ursprünge des Arbeitsunrechts bis in die Vorstufen der EU in den 1950er Jahren (Montanunion, EG, EWG) zurück. So wurden etwa nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der von den USA initiierten Montanunion grenzüberschreitend europäische Kohle- und Stahlkonzerne mit billigen Arbeitskräften versorgt. Die EU trieb dann auch in der Folgezeit die Prekarisierung der Erwerbsarbeit und deren Verrechtlichung Zug um Zug voran.

Rügemer analysiert weiter die wichtigsten verantwortlichen Institutionen, die „heutige Kapital-Bürokratie“ (Seite 111). Vor allem die Europäische Kommission mit ihren 32.000 Beamten steht im Zentrum seiner Kritik. Denn hier, und nicht im weitgehend ohnmächtigen EU-Parlament, laufen die politischen Fäden zusammen. Nicht umsonst lieben die „professionellen Heuchler der Unternehmerlobby, (…) die ansonsten überall gegen ‚zu viel Bürokratie‘ polemisieren und für ‚Bürokratieabbau‘ kämpfen“, (…) die größte Bürokratie in Europa herzinnigst!“ – wie Rügemer süffisant feststellt. (Seite 114)

Er geht im Folgenden auf die Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen ein, die direkt und indirekt in die Arbeitsverhältnisse eingreifen, um sie im Sinne der Unternehmer zu gestalten. Als Instrumente führt Rügemer Privatisierungen und Subventionen (ohne jede Auflage für Arbeitsrechte) an, aber auch die EU-Richtlinien zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und des Arbeitsrechts. Vor allem der „führende ArbeitsUnrechts-Staat in der EU“ (Seite 137), die Bundesrepublik Deutschland, sei führend darin, Richtlinien zu ignorieren. Wenn sich der Europäische Gerichtshof EuGH mit arbeitsrechtlichen Konflikten befasst, fallen die Urteile nur in seltenen Fällen zugunsten der abhängig Beschäftigten aus – und auch diese werden zumeist nicht umgesetzt. (Seite 154) Einen zentralen Grund dafür nennt der Autor: „Die EU übt keine Kontrolle auf dem Gebiet der Arbeitsrechte aus. Sie überlässt die Kontrolle den nationalen Arbeits- und Gewerbeaufsichten, wohl wissend und duldend, dass diese wie Zoll, Gewerbe- und Gesundheitsaufsicht in Deutschland personell unterbesetzt sind.“ (Seite 140)

Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Autor in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Kämpfe von Betroffenen in den einzelnen Mitglieds-, Anwärter- und assoziierten Staaten der EU (unter anderem in Großbritannien, Deutschland, den Benelux-Staaten, dem Baltikum, Kroatien, Ungarn, Skandinavien, der Schweiz und Nordmazedonien). Estland, Lettland und Litauen gelten zum Beispiel als die im neoliberalen Sinne am meisten umgekrempelte Region in der EU (Seite 275ff.). Alle drei Länder befinden sich, so Rügemer, im Griff der USA und der NATO. Sie dienen als digitale Zulieferer für ausländische Investoren, zugleich florieren dort Geldwäsche und Schattenwirtschaft. Litauen bezeichnet der Autor als eine steuerbefreite Sonderwirtschaftszone, in der Unternehmer willkürlich herrschen können, da es dort praktisch keine Branchentarifverträge gibt. Als positiven Lichtblick verweist Rügemer auf Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst der drei baltischen Staaten, insbesondere bei Lehrer*innen, Ärzt*innen und Beschäftigten der Kindergärten.

In einer Besprechung des Buches in der sozialistischen Wochenzeitung UZ (Unsere Zeit) vom Dezember 2020 kritisiert der Jurist und Autor Rolf Geffken, dass Rügemers zentraler Begriff des Arbeitsunrechts „merkwürdig unklar und wenig erhellend“ sei und die Leserschaft am Ende ratlos zurückließe. [1] Er bezieht sich dabei auf verschnörkelt wirkende Formulierungen wie etwa: „EU – das bedeutet weltweit verrechtlichtes und auch außerrechtliches ArbeitsUnrecht“ (Seite 132). In seinem Buch misst Rügemer das von ihm so bezeichnete „ArbeitsUnrecht“ aber tatsächlich an der Umsetzung der universellen Menschenrechte der UNO sowie der Kriterien, die von der International Labor Organisation (ILO) vorgegeben werden. In einem früheren Text bezieht der Autor allerdings als Maßstab für Recht und Unrecht auch das geltende materielle Arbeitsrecht mit ein. [2] Insofern ist die Kritik nachvollziehbar.

Die von Geffken bemängelte fehlende scharfe Kontur des Begriffs liegt aber offensichtlich darin begründet, dass die Unterscheidung von legalen, kriminellen und lediglich moralisch zu verurteilenden Handlungen in der Arbeitswirklichkeit in der Praxis oftmals nur schwer möglich ist. Dazu ein weiteres Zitat von Rügemer:

„Kein Bereich des Rechts in der EU kennt ein solches verrechtliches Unrecht und ein solches Vollzugsdefizit und eine solche Grau- und Dunkelzone der systemischen Illegalität – außer vielleicht beim sexuellen Missbrauch in der für ein solches Unrechtssystem systemrelevanten katholischen Kirche.“ (Seite 32)

Diese von den Instanzen der EU absichtsvoll komplex und unübersichtlich konstruierte rechtliche Regulierung der abhängigen Arbeit ermöglicht es letztlich Politik und Kapital, menschenunwürdige Niedriglohnarbeit weitgehend reibungslos zu organisieren.

Rügemer hat mit seinem „Imperium EU“ ein beeindruckendes, detailliert recherchiertes Handbuch zum Klassencharakter der EU vorgelegt. Dabei handelt es sich ausdrücklich nicht um ein nüchtern verfasstes juristisches Lehrbuch – vielmehr beschreibt der Autor kämpferisch und oft polemisch zugespitzt die „Lage der arbeitenden Klasse in der EU“ und motiviert damit nicht zuletzt zum widerständigen Handeln gegen die vielfältigen Mechanismen des „ArbeitsUnrechts“ mitten in Europa.

 

Anmerkungen:

[1] Rolf Geffken: „Zerstörung des Normalen. Der Kampf ums Arbeitsrecht ist Klassenkampf“, UZ vom 24. Dezember 2020

https://www.unsere-zeit.de/trashed-6-139756/

[2] Werner Rügemer: „Unternehmer als straflose Rechtsbrecher“, BIG Business Crime Nr. 4/2017, Seite 28

Werner Rügemer: Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, Neue Gegenwehr. Köln 2020, PapyRossa, 319 Seiten, 19,90 Euro

 

 

 

Verfassungsgericht kippt Versuch sozialer Mietenpolitik

Im Mai 2020 hatten über 280 Bundestagsabgeordnete von CDU/CSU und FDP beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gegen das Berliner Mietendeckel-Gesetz eingereicht. Das BVerfG hat deshalb am 15. April 2021 den Mietendeckel für unvereinbar mit dem Grundgesetz und damit für nichtig erklärt, weil das Mietpreisrecht nur auf Bundesebene geregelt werden könne. Das „Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin“ (MietenWoG Bln) war am 23. Februar 2020 in Kraft getreten. Rückwirkend zum Juni 2019 waren damit Mieterhöhungen untersagt worden, bei Wiedervermietungen griffen Höchstwerte einer Mietentabelle. Ab November des vergangenen Jahres mussten deshalb überhöhte Mieten für etwa 340.000 Wohnungen abgesenkt werden. Unter anderem wird in dem Beschluss des Zweiten Senats des Gerichts darauf verwiesen, dass der Bund bereits im Jahr 2015 die sogenannte Mietpreisbremse beschlossen und damit „eine umfassende Abwägung aller berührten Belange“ mit dem Ziel „eines abschließenden Interessenausgleichs zwischen den Mietvertragsparteien“ vorgenommen habe. (Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2021)

Nach der Mietpreisbremse darf in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt bei einer Wiedervermietung die Miete höchstens zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Es gelten jedoch zahlreiche Ausnahmen. Tatsächlich stiegen in Berlin die Angebotsmieten zwischen 2015 und 2020 um nicht weniger als 44 Prozent – wie im Fünfjahreszeitraum davor. „Die Wirkung der Mietpreisbremse: null“, schlussfolgerte der Berliner Mieterverein. Das höchste deutsche Gericht ignorierte also völlig, dass die bundesweite Mietpreisbremse im Ergebnis den Mieter*innen keinerlei Schutz bietet. Sie „gehört aufgrund vieler Ausnahmen und mangelnder Kontrolle zu den wirkungslosesten Gesetzen dieses Landes. Geradezu zynisch mutet es da an, wenn das Gericht nun mit Hinweis auf diese Fehlleistung von einer abschließenden Regelung durch den Bund spricht“, kommentiert etwa die taz (Erik Peter in der taz vom 16. April 2021).

Die Berliner Zeitung stößt ins gleiche Horn:

„Die Mietpreisbremse (..) bleibt trotz mehrfacher Nachbesserungen noch immer eine Stotter-Bremse. Das liegt auch an fehlenden Sanktionen. Die größte Strafe, die Vermietern bei einem Gesetzesverstoß droht, ist, dass sie die zu Unrecht kassierten Mieten zurückzahlen müssen. Ein Witz. Jeder Schwarzfahrer in Bus und Bahn wird stärker bestraft, wenn er ohne Fahrschein angetroffen wird. Im schlimmsten Fall droht eine Freiheitsstrafe von einem Jahr. Hier stimmen die Verhältnisse nicht. Verstöße im Mietrecht müssen endlich strenger bestraft werden.“ (Berliner Zeitung vom 17. April 2021)

Unverantwortlich erscheint manchen kritischen Stimmen zudem, dass die Richter*innen das Gesetz nicht ab sofort, sondern auch rückwirkend für ungültig erklärt haben. Auf die betroffenen Mieter*innen warten deshalb zum Teil erhebliche Nachzahlungsforderungen der Vermieter. Jeder zehnte von ihnen, schätzt die Berliner Verwaltung, könnte nun bei der Rückzahlung auf einen Schlag in eine wirtschaftliche Notsituation oder Schuldenfalle geraten.

Die Immobilienkonzerne dagegen ließen die Sektkorken knallen. Die Aktienkurse der im Dax notierten Unternehmen Vonovia und Deutsche Wohnen (42.000 bzw. 114.000 Wohnungen in Berlin) konnten nach Bekanntwerden der Entscheidung des BVerfG deutlich anziehen. Am 16. April kündigte Vonovia-Chef Rolf Buch den Aktionären auf der Hauptversammlung eine Steigerung der Dividende um acht Prozent an. „Karlsruhe garantiert die Profite“, merkte die Tageszeitung junge Welt sarkastisch an (junge Welt vom 17. April 2021).

Der Triumph der reinen Marktwirtschaft spiegelt sich auch in einem Kommentar des Spitzenverbands der Immobilienwirtschaft, des Zentralen Immobilien Ausschusses (ZIA), wider. Der konnte seinen Spott über die von überhöhten Mieten drangsalierten Menschen kaum verbergen. In einer Pressemitteilung des Lobbyverbands wird Stefanie Frensch, ehemals Chefin der landeseigenen Berliner Wohnungsbaugesellschaft Howoge (!) und Vorsitzende der Region Ost des ZIA, wie folgt zitiert:

„Die Bilanz des Mietendeckels ist negativ: Das Angebot an Mietwohnungen ist stark eingebrochen und es war selten so schwer, in Berlin eine Wohnung zu finden. Investoren sind verunsichert worden und Sanierungen wurden zulasten des Klimaschutzes und des Berliner Handwerks ausgesetzt. Besonders schlimm: Der Deckel hat nicht für günstige Mieten für einkommensschwache Mieterinnen und Mieter gesorgt. Gerade vermögende Mieter in guten Berliner Lagen mussten weniger zahlen. Für die anderen Fälle bedarf es jetzt einer Härtefallregelung. Auch wenn der Berliner Senat sehenden Auges dieses Problem geschaffen hat, bittet der ZIA seine Mitglieder soziale Lösungen zu finden und hat daher mit dem Deutschen Mieterbund eine Erweiterung des gemeinsamen Wohnungskodex vereinbart. Die Mieterinnen und Mieter dürfen nicht die Leidtragenden dieses verfassungswidrigen Gesetzes werden.“

 

Quellen:

„Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (‚Berliner Mietendeckel‘) nichtig“, Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 28/2021 vom 15. April 2021

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-028.html

Gareth Joswig: „Deckel-Kater in Berlin“, taz vom 16. April 2021

https://taz.de/Die-Abwicklung-des-Mietendeckels/!5763089/

Stephan Kaufmann: „Die Börse feiert“, Neues Deutschland vom 17. April 2021

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150886.mietendeckel-die-boerse-feiert.html

Ulrich Paul/Marcus Pfeil: „Der Berliner Mietmarkt blutet wieder am offenen Herzen“, Berliner Zeitung vom 17. April 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/der-berliner-mietmarkt-blutet-wieder-am-offenen-herzen-li.153096

Erik Peter: „Der Deckel ist weg“, taz vom 15. April 2021

https://taz.de/Mietendeckel-Gesetz-in-Berlin/!5766576/

ders.: „Klassenkampf von oben“, taz vom 16. April 2021

https://taz.de/Berliner-Mietendeckel-gekippt/!5763152&s=mietendeckel/

Jens Sethmann: „Null Wirkung“, MieterMagazin, September/2020, Seite 9

https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0920/bilanz-nach-fuenf-jahren-mietpreisbremse-zeigt-null-wirkung-092009b.htm

„Mietendeckel gekippt – Mieter dürfen nicht die Leidtragenden sein“, Pressemitteilung des Zentralen Immobilien Ausschuss e.V. (ZIA) vom 15. April 2021

https://www.zia-deutschland.de/presse-aktuelles/presse-detail/news-single-pfad/mietendeckel-gekippt-mieter-duerfen-nicht-die-leidtragenden-sein/