In einem Essay stimmte jüngst der Publizist Heribert Prantl ein Loblied auf diejenigen an, ohne deren Zivilcourage, Missstände aufzudecken, eine Gesellschaft nicht leben könne: „Und es gibt ja nicht nur die prominenten Whistleblower. Es gibt auch die vielen kleinen Helden des Alltags.“ Es gelte, den „Geist des kleinen großen Widerstands gegen das Unrecht“ zu achten und die betreffenden Aktivisten zu schützen.

Eine am 10. August 2023 auf ARTE ausgestrahlte TV-Doku über einen der größten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik beherzigt diesen Appell und würdigt das langjährige Engagement eines ehemaligen Kriminalhauptkommissars. Der hatte bereits in den frühen 1990er Jahren das betrügerische Handeln von Managern der damals weltweit agierenden Balsam AG mit Stammsitz im ostwestfälischen Steinhagen entlarvt. Die Parallelen zum Fall Wirecard seien frappierend, heißt es in der Reportage: „Hätte man daraus nicht Lehren ziehen können?“

So unterschiedlich auch die Produktpaletten von Wirecard und der Balsam AG waren – digitale Finanzdienstleistungen hier, Bau von Sportböden dort: Gemeinsam ist den beiden Konzernen, dass sie einst für grandiose Erfolgsgeschichten standen, dann aber ökonomisch kollabierten und zu Synonymen für die größten Wirtschaftsverbrechen im Nachkriegsdeutschland wurden. So wie der ehemalige Wirecard-Boss Markus Braun derzeit in Müchen wegen Bilanzfälschung und Bildung einer kriminellen Bande vor Gericht steht, musste sich damals auch Firmengründer Friedel Balsam strafrechtlich verantworten. Beide beteuern bzw. beteuerten ihre Unschuld. Wirecard-Finanzvorstand Jan Marsalek ist seit der Pleite des Konzerns im Jahr 2020 untergetaucht; der seinerzeit angeklagte Finanzchef der Balsam AG, der mit gefälschten Aufträgen 45 Banken um mehrere Milliarden DM betrogen hatte, wurde nach einjähriger Flucht im Jahr 2000 auf den Philippinen gefasst. Beide Konzerne erregten Aufsehen durch eine auffällig aggressive Wachstumsstrategie, die letztlich zwar auf Kosten der Rentabilität ging, zunächst aber Analysten, Investoren, Politik und Öffentlichkeit begeisterten. Das Image beider Unternehmen strahlte noch, als sie längst konkursreif waren. Weder die Aufsichtsräte noch externe Wirtschaftsprüfer hatten jemals unlautere Praktiken beanstandet. Und in beiden Fällen setzten erst einzelne Whistleblower die Aufklärung über kriminelle Machenschaften in Gang, während staatliche Behörden, wie etwa die zuständigen Staatsanwaltschaften, durch ausgeprägte Lethargie auffielen. Der Name Wirecard steht zudem für die aggressive Verfolgung einzelner Hinweisgeber, investigativer Journalisten und sogenannter Leerverkäufer, die auf den Absturz des Konzerns wetteten. Die spektakuläre Aufdeckung des Betrugsfalls Balsam ist vor allem einem hartnäckigen Polizisten zu verdanken, der im Zuge seiner Aufklärungsarbeit ebenfalls auf massive Widerstände stieß.

 

Balsam AG: ein Scheinriese

Ein Blick zurück: Anfang der 1990er Jahren galt die Balsam AG mit rund 1.500 Mitarbeitenden als Weltmarktführer im Sportbodenbau. Im November 1992 erstattete ein ehemaliger Angestellter des Unternehmens anonym eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld, unterlegt mit einem prall gefüllten Aktenordner voller Beweismittel. Die Anschuldigung: Die Balsam AG betrüge im großen Stil, denn sie besorge sich auf kriminelle Weise Kapital in unglaublicher Höhe. Die TV-Dokumentation erklärt die Vorgänge: Erhielt die Balsam AG Aufträge, wurden sie von zahlreichen Banken per Kreditvergabe vorfinanziert – nach Vorlage der Auftragsbestätigungen. Diese wurden aber mit simplen Mitteln gefälscht: So wurden nur Kopien der Originale eingereicht, nachdem diese zuvor manipuliert worden waren (mit Schere und Klebstoff!). Offensichtlich forderten die finanzierenden Banken keine Originalbelege. Den Banken wurden Phantasiebeträge mitgeteilt, die zum Teil ein Mehrfaches der jeweils korrekten Auftragssumme ausmachten, und auf dieser Basis überhöhte Kredite vergeben. Um diese zurückzahlen zu können, mussten dann im Rahmen eines Schneeballsystems immer neue Kredite erschwindelt werden. Mit Teilen des „schmutzigen“ Geldes wurde aber auch auf den Finanzmärkten im Rahmen ganz legaler Geschäfte spekuliert. Offenbar nicht ohne Erfolg, so dass dem Unternehmen kontinuierlich liquide Mittel zugeführt werden konnten. Welche auch bitter nötig waren, denn seit Mitte der 1980er Jahre fuhr es ständig Verluste ein.

Eigentlich ein höchst interessanter Fall für den Bielefelder Oberstaatsanwalt – der jedoch als Reaktion auf die fundierte anonyme Anzeige nichts unternahm. „Die Anzeige war so abenteuerlich, auch von den Summen her, dass sie kaum glaubhaft erschien“, so der Staatsbeamte. Andere Quellen behaupten, der Grund wäre wohl eher darin zu suchen, dass seine Frau im gleichen Tennisclub wie die Gattin des Balsam-Chefs aktiv gewesen war. Die nordrhein-westfälische Landesregierung deckte im Übrigen das passive Verhalten der Bielefelder Staatsanwaltschaft. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Landtagsfraktion der Grünen lautete seinerzeit lapidar, dass die Staatsanwaltschaft sich korrekt verhalten habe.

 

Ein Kriminalhauptkommissar lässt nicht locker

Der ebenfalls über die Vorgänge bei der Balsam AG informierte Gründer von Business Crime Control e.V., Hans See, hielt die Vorwürfe dagegen aufgrund der auch ihm zugespielten Unterlagen für glaubwürdig und reichte sie an ein Nachrichtenmagazin weiter. Nachdem auch die Redaktionen von Stern und Spiegel nicht reagiert hatten, wandte sich der Whistleblower schließlich an die Kriminalpolizei (vgl. Nicole Donath).

Karl-Heinz Wallmeier, als Polizeibeamter in Bielefeld für den Bereich Wirtschaftskriminalität zuständig, arbeitete sich akribisch in den Fall ein und ermittelte in den nächsten Jahren quasi im Alleingang und gegen den unkooperativen Staatsanwalt. Der, so Wallmeier, hätte seine Ermittlungsergebnisse blockiert und ihm mehrfach Akteneinsicht verweigert. Nachdem unerwartet das ZDF-Magazin „Frontal“ im Mai 1994, eineinhalb Jahre nach dem anonymen Hinweis an die Staatsanwaltschaft, einen Beitrag zu dem Wirtschaftsskandal sendete, legte wenige Tage später der Finanzvorstand Klaus Schlienkamp ein Geständnis ab. Er gab zu, knapp zwei Milliarden DM erschlichen zu haben, um die bereits marode Firma am Laufen halten zu können.

Nach der Insolvenz des Unternehmens und fünf Jahre, nachdem der Betrug öffentlich geworden war, erging dann im Jahr 1999 nach fast 200 Gerichtstagen vor dem Bielefelder Landgericht ein Gerichtsurteil  – in Abwesenheit Schlienkamps, der sich zwischenzeitlich auf die Philippinen abgesetzt hatte. Der Finanzchef wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er nach seiner späteren Festnahme, absaß.  Wallmeier hatte jahrelang seine Spur verfolgt und ihn dann in Asien aufgestöbert. Firmengründer Balsam, konsequent seine Verantwortung leugnend, bekam acht Jahre. Polizist Wallmeier erhielt übrigens im Jahr 1997 einen Preis von Business Crime Control – für „besondere Verdienste“ bzw. „vorbildliche Zivicourage“ bei der Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen.

 

Wirecard attackiert kritische Stimmen

Ob gegen den ehemaligen CEO von Wirecard Markus Braun, der im laufenden Münchener Gerichtsverfahren ebenfalls hartnäckig jegliche Verantwortung für das Unternehmensdesaster abstreitet, eine Haftstrafe verhängt wird, bleibt abzuwarten. Genauso, ob sich der Wunsch vieler – auch einfach  sensationsgieriger – Menschen hierzulande erfüllt, den flüchtigen Jan Marsalek als mutmaßlichen Mastermind des Wirecard-Skandal irgendwann in einem deutschen Gerichtssaal vorgeführt zu sehen bekommen.

Dass überhaupt gegen die beiden und andere Wirecard-Manager ermittelt und gerichtlich verhandelt wird, geschieht trotz des viel zitierten multiplen Versagens verschiedener Institutionen. Denn Aufsichtsbehörden wie die BaFin, die Bundesregierung, private Wirtschaftsprüfer, Börsenanalysten, Investoren und große Teilen der Wirtschaftspresse stützten das Betrugsgebilde. Dabei gab es schon früh Warnungen: Bereits 2008 zweifelten einzelne Analysten und Shortseller die Wirecard-Zahlen an, 2015 wiesen kritische Journalisten auf Unregelmäßigkeiten in der Bilanz, 2019 warnte die renommierte Zeitung Financial Times (FT) in einer Artikelserie: „Doch kaum einer hörte zu. Kritiker bedrohte der Konzern offen durch Klageorgien, Rufmord, Beschattung, Gewalt.“ (Holtermann, Seite 15)

Im Jahr 2008 erhoben Vertreter der Schutzgemeinschaft der Kleinanleger (SdK) gemeinsam mit dem Analysten und Shortseller Tobias Bosler schwere Vorwürfe gegen Wirecard (Ungereimtheiten in der Bilanz, verheimlichte Verbindungen in den Glücksspiel- und Pornosektor, Geldwäsche). Der Aktienkurs brach daraufhin ein, ein Viertel des Börsenwerts ging verloren. 2010 zeigte Bosler Wirecard bei der Staatsanwaltschaft München und der BaFin an. Wieder sackte der Aktienkurs ab. (Weiguny/Meck, Seite 200f.) Die Ermittlungen aber verliefen im Sande. Wirecard reagierte seinerseits mit einer Strafanzeige wegen Insiderhandel und Marktmanipulation – und schickte Bosler, um ihn einzuschüchtern, einige Schlägertypen aus der Halbweltszene ins Haus. Da Leerverkäufer, die auf fallende Aktienkurse wetten und daraus ihre Profite ziehen, nicht als moralisch integre Leitbilder taugen, hatte Wirecard letztlich leichtes Spiel und konnte sich als ehrenwertes Unternehmen inszenieren: „Wieder zieht die Firma in einen Krieg mit den Spekulanten. Das Droh-Szenario: Böse Shortseller greifen braven deutschen Konzern an.“ (Bergermann, Seite 84)

In Fraser Perring, einem britischen Shortseller, der im Februar 2016 einen kritischen Report über Wirecard herausgebracht hatte, erkannte der Konzern einen neuen Feind und zugleich „ein Geschenk des Himmels“ (Bergermann, Seite 141). Denn  durch die Jagd auch auf diesen„Spekulanten“ konnte Wirecard von seinen kriminellen Praktiken ablenken. Perring wurde nach eigenen Angaben permanent verfolgt, auch von der Finanzaufsicht verklagt, und erlitt in der Folge einen Schlaganfall.

Maßgeblich zur Aufdeckung trug vor allem der Whistleblower Pav Gill aus Singapur bei, der dort als Leiter der konzerninternen Rechtsabteilung darauf zu achten hatte, dass bei Wirecard alles mit rechten Dingen zuging. Schon kurz nach seinem Eintritt in das Unternehmen 2017 wurde ihm klar, dass zumindest Teile des Asiengeschäfts von Wirecard nur auf dem Papier existierten. Seine Erkenntnisse offenbarte er dem britischen Journalisten Dan McCrum von der FT. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard bestätigte Gill im Mai 2021, dass er von Wirecard „unerbittlich“ eingeschüchtert worden war: „Ich habe immer noch Screenshots von Telegram-Nachrichten, von Personen aus der Compliance-Abteilung von Wirecard, die mir sagten, ich solle ‚an meine Mutter ‚denken‘ und ‚wachsam sein‘, nachdem die ersten drei Artikel von der ‚Financial Times‘ veröffentlicht wurden.“ Auch ihn traf ein stressbedingter Schlaganfall.

Im November 2020 erklärte Dan McCrum gegenüber dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, Wirecard habe offenbar ab dem Jahr 2010 seine Gewinne gefälscht. Bereits Anfang 2019 hatte der Journalist mit einer Artikelserie für Aufsehen gesorgt, die letztlich entscheidend zum Einsturz des Lügengebäudes Wirecard beitrug. Die Recherchen, die zum Teil auf Informationen des Whistleblowers aus Singapur und Gesprächen mit Shortsellern basierten, führten zu Hackerangriffen auf die Redaktion, Beschattungen seitens Privatdetektiven sowie „aggressiven Briefen“ von Anwaltskanzleien. Der Vorwurf lautete, er habe mit Shortsellern „gemeinsame Sache“ gemacht oder sich von diesen „ausnutzen lassen“. (Deutscher Bundestag, Seite 145ff.) Unterstützt wurde Wirecard dabei einmal mehr durch die BaFin, die im April 2019 bei der Staatsanwaltschaft München wegen des Verdachts der Marktmanipulation Strafanzeige gegen McCrum und eine seiner Kolleginnen erstattete..

Im Wirecard-Untersuchungsausschuss wurde im Februar 2021 auch eine Sachbearbeiterin der Deutschen Bundesbank vernommen, die mit der laufenden Aufsicht über die Wirecard Bank AG befasst war. Fünf Jahre zuvor hatte sie eine schriftliche Zusammenfassung der Artikelserie des FT-Journalisten McCrum erstellt. (Deutscher Bundestag, Seite 873) Die Berliner Zeitung berichtete im Februar 2021 über ihren Auftritt vor den Parlamentariern: „Auf nur sieben Seiten, verfasst im Jahr 2016, hat eine junge Bankerin das gesamte Wirecard-Fiasko erkannt, niedergeschrieben und an ihre Vorgesetzten weitergeleitet. Geschehen ist nichts. Noch am 7. September 2017 zeigte sich Rainer Wexeler, Vorstand bei der Wirecard-Bank, in einer internen Email an die Wirecard-Vorstände Burkhard Ley und Alexander von Knoop selbstsicher: Er habe ein ‚tolles, ehrliches und offenes Gespräch‘ mit dem Bafin-Manager Jochem Damberg geführt, der ‚sehr auskunftsfreudig‘ gewesen sei. Für die Bundesbank dagegen gibt es in der Email nur Spott: ‚Die Deutsche Bundesbank zickt herum wegen der fachlichen Kompetenz im Kreditgeschäft.‘ Und: ‚Die Ausarbeitung hat Frau Folter gemacht, die kleine Maus.‘ Und weiter, offenkundig zufrieden: ‚Herr Damberg teilt das nicht…Herr Damberg sagte auch klar und deutlich, die Entscheidung hat die Bafin, nicht die Deutsche Bundesbank.‘“ [1]

Fazit: Um ein Mindestmaß an Aufklärung über kriminelle Praktiken von Unternehmen sicherstellen zu können, ist offiziellen Institutionen nicht zu trauen. Deshalb ist die Öffentlichkeit auf andere Quellen angewiesen – auch wenn Shortseller in erster Linie eigene monetäre Interessen verfolgen oder über interne Missstände informierte Angestellte betrügerischer Firmen sich vielleicht erst spät zum Widerstand entschließen. Whistleblower und andere kritische Stimmen verdienen Respekt und Schutz. Denn es bleibt gefährlich, Wirtschaftsverbrechen öffentlich zu machen.

Anmerkungen:

[1]  vgl. auch: Herbert Storn: Business Crime: Skandale mit System, Marburg 2021, Seite 53f.

Quellen:

Melanie Bergermann/Volker ter Haseborg: Die Wirecard-Story, München, 2020

„Das Milliarden-Ding – Wirtschaftsverbrechen mit Schere und Klebstoff“, ein Film von Simone Schillinger, im Auftrag des WDR und in Zusammenarbeit mit ARTE, 2022

Deutscher Bundestag: Schlussbericht des Wirecard-Untersuchungsausschusses, Drucksache 19/30900, 22. Juni 2021  

https://dserver.bundestag.de/btd/19/309/1930900.pdf

Nicole Donath: „Akte Balsam nun geschlossen“, NW Nachrichten (Internetseite der Neuen Westfälischen), 7. März 2014

https://www.nw.de/nachrichten/wirtschaft/10646076_Akte-Balsam-nun-geschlossen.html

Felix Holtermann: Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt, Frankfurt am Main, 2021

Michael Maier: „Wirecard: Junge Bankerin zeigt, wie einfach Betrug zu durchschauen gewesen wäre“, Berliner Zeitung (Online) vom 26. Februar 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/wirecard/wirecard-junge-bankerin-zeigt-wie-einfach-betrug-zu-durchschauen-gewesen-waere-li.142712

Bettina Pfluger: „Whistleblower Pav Gill: ‚Ich habe Wirecard zu Fall gebracht‘“, Der Standard (Online) vom 21. März 2021

https://www.derstandard.de/story/2000126818501/whistleblower-pav-gill-ich-habe-wirecard-zu-fall-gebracht

Heribert Prantl, „Der kleine große Widerstand“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 14. August 2023, S. 4-10

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/whistleblowing-2023/524075/der-kleine-grosse-widerstand-essay/

Bettina Weiguny/Georg Meck: Wirecard. Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals, München, 2021