In den letzten 30 Jahren stellten Politik und privater Wohnungsmarkt wieder einmal ihre Unfähigkeit unter Beweis, der Mehrheitsbevölkerung eine Grundversorgung an Wohnraum zu garantieren. Dennoch überraschte es, dass die Berliner*innen am 26. September 2021 mit 56,4 Prozent Ja-Stimmen gegenüber 39 Prozent Nein-Stimmen deutlich für den Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer renditeorientierter Wohnungskonzerne votierten. Mehr als eine Millionen Wahlberechtigte der Stadt folgten damit der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Die Forderung zur Vergesellschaftung vereinte damit fast dreimal so viele Stimmen hinter sich wie die Wahlsiegerin SPD bei der parallel ablaufenden Abgeordnetenhauswahl. Jetzt ist der künftige Senat am Zug: Er ist gehalten ein Gesetz zu erarbeiten, um die Vergesellschaftung der Bestände aller privaten Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen umzusetzen – das heißt die Konzerne gegen Entschädigung zu enteignen und die Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts zu überführen. Insgesamt handelt es sich um mehr als 240.000 Wohneinheiten (etwa 15 Prozent der Berliner Mietwohnungen), die in Zukunft gemeinwohlorientiert bewirtschaftet werden sollen. Rund ein Dutzend Immobilienunternehmen wären betroffen.

Nicht nur in traditionell linken Kiezen wie Kreuzberg-Friedrichshain und Neukölln stimmte eine Mehrheit für das Vorhaben, auch in eher konservativen Bezirken unterstützen die Bürger*innen mehrheitlich „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. Selbst in vielen Außenbezirken, in denen die Initiative eher schwach organisiert war, unterstützten die Menschen die Forderung: in Marzahn-Hellersdorf mit 55,8 Prozent, in Spandau mit 51,9 Prozent, in Pankow mit 60,8 Prozent. Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl wurde allerdings die SPD stärkste Kraft, obwohl sie sich zuvor dezidiert als Gegnerin der Enteignungsidee positioniert hatte. So hatte Franziska Giffey (SPD), vermutlich die neue Regierende Bürgermeisterin Berlins, zuletzt mehrfach geäußert, auch einen erfolgreichen Volksentscheid nicht umsetzen zu wollen – obwohl sich Umfragen zufolge 61 Prozent der SPD-Anhänger*innen für die Vergesellschaftung ausgesprochen hatten. Auch nach der Entscheidung sagte Giffey zwar eine Prüfung des Vorhabens zu, betonte aber auch, die Enteignung bei fehlender Verfassungskonformität nicht zu vollziehen. Auch CDU, AfD und FDP sind – ebenso wie die Wirtschaftslobby – prinzipiell gegen Enteignungen. Während sich Die Linke klar für das Vorhaben ausspricht, weicht Bündnis 90/DieGrünen aus: Die Partei hält einen solchen Schritt allenfalls „als Ultima Ratio“ für möglich.

Was von manchen Leuten als letzte Möglichkeit gesehen wird, gegen die prekäre Wohnsituation in der Hauptstadt vorzugehen, weist in der Tat einige Problempunkte auf.

  • Es wurde nicht über einen konkreten Gesetzentwurf abgestimmt, der nun vom Berliner Senat umgesetzt werden müsste. Insofern, so kritische Stimmen, sei das Ergebnis für die zukünftige Landesregierung rechtlich nicht bindend. Das Votum bedeute lediglich eine Aufforderung an den Senat, ein entsprechendes Gesetz zur Überführung der Bestände großer privater Wohnungsunternehmen zu erarbeiten und vom Abgeordnetenhaus verabschieden zu lassen.
  • Gutachten säen generell Zweifel an der rechtlichen Zulässigkeit einer Enteignung. Nach Einschätzung von Juristen stelle diese einen „unverhältnismäßiger Eingriff in privates Eigentum“ dar. Laut Enteignungs-Initiative bejahen dagegen sieben Gutachten die Möglichkeit einer verfassungsgemäßen Umsetzung; drei vertreten eine gegenteilige Auffassung. Alle drei negativen Voten, so berichtet das Neue Deutschland, seien vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) in Auftrag gegeben worden. In jedem Fall dürfte ein erarbeitetes Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht landen und die juristische Auseinandersetzung die Stadt über Jahre beschäftigen.
  • Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage, ob sich die Höhe der Entschädigung am Marktwert der Immobilien orientieren muss oder auch darunter bleiben kann. Die Entschädigungskosten würden sich laut Prognosen des Senats auf bis zu 36 Milliarden Euro belaufen, während die Enteignungsinitiative mit allenfalls 7,3 bis 13,7 Milliarden Euro rechnet. Laut Initiative sollen die zu diesem Zwecke aufzunehmenden Kredite aus den Mieteinnahmen der enteigneten Wohnungsbestände getilgt werden – die Stadt müsse keine neuen Schulden anhäufen. Sollte der vom Senat errechnete Höchstwert von 36 Milliarden Euro veranschlagt werden, könnte die Entschädigung mit einer durchschnittlichen Miete von etwa 8,87 Euro/qm refinanziert werden. Dies ist allerdings eine deutliche Erhöhung gegenüber der gegenwärtigen Durchschnittsmiete von Deutsche Wohnen & Co von 6,71 Euro/qm.
  • Befürworter*innen des Volksentscheids argumentieren, dass nur die Ablösung von profitorientierten durch gemeinwohlorientierte Träger durch die Decke schießende Mieten verhindern könnte und deshalb enteignet werden müsse – weil eben kein anderes Mittel mehr helfe. Dieser Blick blendet aber tatsächlich vorhandene Möglichkeiten aus: Vor allem die Schaffung von neuem, dauerhaft im öffentlichem Eigentum verbleibenden und bezahlbaren Wohnraum für alle Bevölkerungsschichten – eine Voraussetzung für einen anzustrebenden entspannten Wohnungsmarkt. Auch beim Wohnungsbau ist deshalb die Eigentumsfrage zu stellen. Letztlich sollte der Ausbau der sozialen Infrastruktur in allen Bereichen angesteuert werden: Wohnen, Gesundheit, Bildung, Verkehr.

Als vorläufiges Fazit folgt ein längeres Zitat aus dem Berliner MieterEcho:

„Bestehende Eigentumsverhältnisse werden von großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr als unveränderlich oder gar als ‚gerecht‘ empfunden. Und das weit in die Klientele von SPD, CDU und auch der AfD hinein. Es ist zweifellos ein Verdienst dieser Initiative, eine im besten Sinne ‚linkspopulistische‘, antikapitalistische Kampagne erfolgreich initiiert und verbreitert zu haben. (…) Materiell ist von dem Volksentscheid (…) allerdings kaum etwas zu erwarten. Zum einen soll es sich nicht um eine ‚Enteignung‘ im klassischen Sinne handeln. Vielmehr geht es um eine Art gesetzlich angeordneten Zwangsverkauf an kommunale Träger. Wobei der zu entrichtende Preis voraussichtlich erst durch langwierige Gerichtsverfahren ermittelt werden würde. Und zum anderen hat der Volksentscheid kein entsprechendes Gesetz zum Inhalt, sondern nur die Aufforderung an den kommenden Senat, ein solches zu erlassen. Was dieser wohl (…) kaum tun wird, da außer den Linken keine Partei die Enteignungsforderung unterstützt. (…) Außerdem ignoriert das Volksbegehren geflissentlich das Hauptproblem des Berliner Wohnungsmarktes: Den Mangel an dauerhaft bezahlbaren Wohnungen und den Mangel an Wohnungen überhaupt. Und dieses Defizit ist in erster Linie nur durch den massiven Neubau kommunaler Wohnungen zu überwinden. Den politischen Verdienst der Initiative, das Thema Enteignung in den Fokus der stadtpolitischen Auseinandersetzung gerückt zu haben, schmälert das aber nicht.

 

Quellen:

Nicolas Šustr: „Sozialisierung ist Regierungsauftrag“, Neues Deutschland vom 27. September 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157025.deutsche-wohnen-co-enteignen-sozialisierung-ist-regierungsauftrag.html

Rainer Balcerowiak: „Volksentscheid als Appell an die Politik“, MieterEcho 420/September 2021

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2021/me-single/article/volksentscheid-als-appell-an-die-politik/

Initiative Deutsche Wohnen & Co. Enteignen: Was Vergesellschaftung kostet. Zahlen und Mythen, 1. Dezember 2020

https://www.dwenteignen.de/was-vergesellschaftung-kostet/