Seit 2006 veranstaltet Business Crime Control zusammen mit der KunstGesellschaft in Frankfurt am Main Matineen zu politischen und kulturellen Themen. Inzwischen sind es an die 200 Veranstaltungen geworden. Nach einigen Wechseln des Ortes finden sie seit vielen Jahren monatlich einmal im Club Voltaire statt. Hier eine exemplarische Auswahl: „Rechts macht auf links. Die national-soziale Gefahr“ mit Prof. Dr. Klaus Dörre, 2018; „Antisemitismus im Deutschland der Gegenwart“ mit Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, 2019; „Rechte Allianzen bedrohen die offene Gesellschaft“ mit Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, 2020; „Patente töten“ mit Anne Jung von medico international, 2021; „Wasser ist Leben“ mit Prof. Dr.-Ing. Franz-Bernd Frechen, 2022; „Kulturelle Prägungen und Politik“ mit Prof. Dr. Dieter Kramer, 2022.

Am 26. Februar dieses Jahres war Nicole Deitelhoff, Professorin an der Frankfurter Universität und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu Gast in der Matinee, mit dem Thema: „Putin und der Krieg. Kann es eine Verhandlungslösung im Ukrainekonflikt geben?“ Moderiert wurde die Matinee, wie viele vorher, von der Journalistin Ulrike Holler. Das zahlreich erschienene Publikum im Club Voltaire erwartete von der Referentin, die es von Fernsehinterviews und Auftritten in Talkshows her kannte, Antworten auf drängende und bedrängende Fragen: Wie hat sich der Konflikt entwickelt? Hätte es Alternativen gegeben? Welche Interessen sind im Spiel? Wie soll es weitergehen mit dem Krieg in der Ukraine? Welche Chancen für einen Waffenstillstand und anschließende Verhandlungen gibt es? Wie könnte eine neue Friedensordnung in Europa erreicht werden?

Nicole Deitelhoff skizzierte zunächst ihre Position: Putin sei eindeutig der Aggressor, die Ukraine habe ein Recht auf Selbstverteidigung, bei der ihr auch mit Lieferung von Rüstungsgütern geholfen werden solle, solange kein Waffenstillstand möglich ist. Auch was die Vorgeschichte des Krieges betrifft sah sie – zunächst – keine weitere Mitverantwortung des Westens. Der Beitritt osteuropäischer Länder zur NATO sei schließlich durch Abmachungen mit Russland abgefedert worden: Keine ständige Stationierung westlicher Truppen in diesen Ländern; NATO-Russland-Rat als vertrauensbildende Maßnahme; bisher keine Aufnahme der Ukraine in das nordatlantische Bündnis trotz entsprechender Bestrebungen. Eine Täter-Opfer-Umkehr, wie sie in Teilen der Protestbewegung gegen den Krieg beobachtet werden könne, sei deshalb falsch und nicht angebracht.

Nach Fragen aus dem Publikum differenzierte die Friedens- und Konfliktforscherin allerdings ihre Aussagen in diesem Punkt: So habe die USA Russlands Sicherheitsinteressen verletzt, beispielsweise durch ihre Präsenz im Schwarzen Meer und ihre treibende Rolle im Jugoslawienkrieg. Nach dem Ende der Sowjetunion sei nicht das von Gorbatschow vorgeschlagene „gemeinsame Haus Europa“ angestrebt und verwirklicht worden. Ansätze dazu wie die im Kalten Krieg geschaffene OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, seien nicht weiter verfolgt und ausgebaut worden. Stattdessen habe es einen Rückfall in alte Strukturen gegeben.

In einem im letzten Jahr erschienenen Beitrag für die Blätter für deutsche und internationale Politik hatte Deitelhoff ihre Haltung dazu wie folgt dargelegt: „Trotz aller Rede von der Zeitenwende … sollte Vorsicht walten, wegen dieser Entwicklungen alle Erfahrungen und bisherigen Grundlagen einer kooperativen Sicherheitsordnung zu verwerfen.“ Es zeige sich gerade in der gegenwärtigen Situation, „dass die ausschließliche Ausrichtung an Abschreckung keine belastbare Grundlage für Stabilität ist“.

Auf die Frage, wie es denn im Ukrainekrieg weitergehe, antwortete Nicole Deitelhoff, dass gegenwärtig noch beide Seiten fest davon überzeugt seien, die andere militärisch in die Knie zwingen zu können. Sie glaube persönlich nicht daran, dass dies möglich ist. Die Siegespropaganda auf beiden Seiten sei ein Mittel der psychologischen Kriegsführung nach innen und außen. Gewaltkonflikte hätten eine hohe Eigendynamik, bei der auch Unwägbarkeiten, Unerwartetes und das Glück mitspielten.

Wie aber solle man unter diesen Umständen aus der destruktiven Gewaltspirale mit ihren grausamen Folgen und der Gefahr einer Ausweitung des Krieges bis hin zum Einsatz von Atomwaffen herauskommen? Es gehe darum, so Deitelhoff, „aus einem unteilbaren Konflikt eine Teilbarkeit zu machen“. Das bedeute, die bereits ständig laufenden Verhandlungen zu Einzelfragen wie dem Getreideexport aus der Ukraine oder dem Austausch von Gefangenen fortzusetzen und auszuweiten. International müsste sich unter Beteiligung der UNO eine Gruppe von Staaten zusammenfinden, die sich, wie Indien und China, bisher eher oder teilweise neutral zum Konflikt verhalten haben, um eine Vermittlungsebene zu schaffen als Basis für künftige Verhandlungen.

Nicole Deitelhoff gebrauchte in diesem Zusammenhang das Bild von einem Zitronenbaum, um den heftig gestritten wird. Die unproduktivste Lösung sei es, ihn in Stücke zu zerschneiden. Davon hat niemand wirklich etwas, denn dann wäre er tot. Die Teilung seiner Früchte sei sinnvoller, aber dazu brauche es Zeit und Geduld, um sie wachsen zu lassen.

Entsprechend Zeit werde eine Lösung im Ukrainekonflikt benötigen. Die Umrisse dazu beschrieb Deitelhoff ganz ähnlich so, wie sie sich schon einmal bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022 abgezeichnet hatten, die dann abgebrochen wurden: Verzicht der Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der NATO, mit Sicherheitsgarantien durch andere Länder. Sicherheitsgarantien müsse es auch für Russland geben. Rückzug der russischen Truppen und Aufhebung der Sanktionen. Zurückstellen aller territorialen Fragen und zivile UN-Verwaltung in den umstrittenen Gebieten für die nächsten 15 Jahre. Danach international organisierte und überwachte Referenden im Donbass und auf der Krim, um deren Status zu klären.

Bis dahin werde es eine andere Generation von Entscheidern in Russland und in der Ukraine geben, die zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts fähiger und bereiter sein würde als die jetzige. Was an dieser Stelle noch einmal besonders auffiel, war das Fehlen einer politisch-ökonomischen Analyse der Kriegsursachen und der Interessen am und im Krieg. Damit befand sich die Referentin aber im Einklang mit der Mehrheit ihrer wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen. Näheres dazu kann man dem sehr lesenswerten Dossier „Quo vadis Friedensforschung?“ entnehmen, das als Beilage zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden Nr. 1/2023 erschienen ist.

Für die Protestbewegungen gegen Krieg und Militarisierung zeigte Nicole Deitelhoff Sympathien. Sie teile durchaus deren Ziele. Die gegenwärtige Friedensbewegung befinde sich aber in dem Dilemma, dass die Forderung nach einem sofortigen Stopp der militärischen Hilfe für die Ukraine bedeuten würde, dass Russland siegt und gar kein Interesse mehr an Verhandlungen hat. Die unkonditionierte Lieferung von immer weiteren Waffen wiederum verlängere den Krieg und widerspräche somit erst einmal dem Ziel, Frieden zu schließen.

Die unterschiedlichen Auffassungen zu dieser und anderen Fragen, die den Krieg in der Ukraine und seine Folgen betreffen, führten in der Matinee nicht, wie so oft, zu gegenseitigen Vorwürfen mit negativen Etikettierungen. Die Diskussion blieb, mit wenigen Ausnahmen, weitgehend sachlich und solidarisch. Damit war, zumindest im Kleinen, für zwei Stunden schon einmal etwas an Friedensfähigkeit gewonnen.

Als Fazit und Aufforderung sei hier zitiert, was Nicole Deitelhoff an anderer Stelle geschrieben hat: „Ja, wir sind wieder zurück auf Null. Doch angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht – die drängendste ist zweifellos die Abwendung der Klimakatastrophe –, können wir es uns schlicht nicht leisten, lange an diesem Nullpunkt stehen zu bleiben.“