„Wir werden Honig haben“ – Bee-Washing als Form von Greenwashing

Satirische Sendungen im Fernsehen sind ein Refugium für kritische Geister. Ein Lichtblick in der allabendlichen Fernsehwüste aus immer mehr Krimis ist das jede Woche nach der Heute-show kommende ZDF Magazin Royale mit Jan Böhmermann. Hier wird mit investigativen Mitteln gearbeitet, werden Schutzbehauptungen und Propagandaformeln enttarnt und wenig bekannte Tatsachen in einer lockeren und lustigen Form vermittelt, die sicherlich nicht nach jedermanns Geschmack ist, aber sich die Abneigung von Rechts redlich verdient hat.

Wer weiß denn schon, dass das in den Medien vielbeschworene Bienensterben eine Legende ist, beziehungsweise eine interessegeleitete Halbwahrheit? Nur zu gerne glauben wir sie, weil das in den letzten Jahrzehnten sich beschleunigende Insektensterben als Indikator für die Umweltzerstörung mittlerweile allseits bekannt ist. Die weltweit schwindende Biodiversität wird zu Recht als ebenso dramatisch und die Lebensgrundlagen der Menschheit bedrohend angesehen wie der Klimawandel.

In seiner Sendung vom 3. November 2023 stellte Böhmermann klar, dass die abnehmende Zahl von Bienenvölkern sich nur auf Wildbienen bezieht, während sich bei den Zuchtbienen eine gegenteilige Entwicklung zeigt. Hier ist sogar eine erhebliche Zunahme zu verzeichnen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Honig ein begehrtes Nahrungs- und Genussmittel ist, sondern auch damit, dass es immer beliebter wird, sich eine Bienenzucht als Mittel zur Verbesserung des eigenen Images zuzulegen. Hier hat sich ein ganz neues Geschäftsmodell aufgetan: Der Verkauf und die Vermietung von Bienenstöcken an Firmen, die damit einer Auflage der EU nachkommen wollen, ihre „Nachhaltigkeit“ zu demonstrieren.

Ein besonders bezeichnendes Beispiel dafür ist die Waffenschmiede Heckler und Koch. Böhmermann zitierte aus einem Artikel der Neuen Rottweiler Zeitung vom 27. August 2020, in dem unter dem Titel „Heckler und Koch: Von Waffen und Bienen“ über die jährliche Aktionärsversammlung des Unternehmens berichtet wird. Darin heißt es – etwas ausführlicher als in der Sendung gezeigt: „Bei der Produktion in Oberndorf achte man auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Dank sparsamerer Maschinen habe man den Energieverbrauch um 20 Prozent und den CO2 Ausstoß um 25 Prozent gesenkt. Geplant sei der Bau eines Blockheizkraftwerkes. Dienstwagen seien künftig nur noch Hybridfahrzeuge, Mitarbeiter könnten E-bikes leasen. Und weiter kündigte Koch einen ersten Schritt zur Konversion an: ‚Wir werden auf dem Betriebsgelände Bienenvölker ansiedeln‘, kündigte Koch an, ‚wir werden Honig haben.‘“

Gut gemeint oder objektiv zynisch? Jedenfalls könnten die Widersprüche und der Widersinn der herrschenden Produktionsweise kaum besser zusammengefasst werden: Auch bei der Herstellung von Menschenvernichtungsmitteln gilt es, nachhaltig zu sein und Ressourcen zu schonen. Dass die Gewinnerzielung dabei nicht zu kurz kommen soll, versteht sich von selbst. Und das alles wird mit dem sentimentalischen Versprechen garniert, dass man als ersten kleinen Schritt zur Rüstungskonversion Honig produzieren werde.

Ein zugegeben krasses Beispiel für das, was nach dem Vorbild des Begriffs Greenwashing „Bee-Washing“ genannt wird: Die Vorspiegelung eines menschen- und naturfreundlichen, also gebrauchswertorientierten Produzierens bei Aufrechterhaltung des Profitprinzips der Tauschwertproduktion. Die fleißigen Bienen eignen sich hervorragend dazu, einen „grünen Kapitalismus“ zu suggerieren.

Böhmermann stellte diesem „Nutztier“, das an dritter Stelle nach Schwein und Rind kommt, in seiner Sendung einen anerkannten Schädling gegenüber: den Borkenkäfer, der als „Feind Nummer eins“ unseren guten alten deutschen Wald durch rasante Vermehrung und übergroße Fresslust bedrohe. So die Legende. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Wälder in Deutschland sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit schnell wachsenden Fichten aufgeforstet worden, die nicht mehr so resistent sind wie der traditionelle Mischwald. Es ging um Profitabilität, nicht um nachhaltiges Wachstum. Die Folgen sind nun massenhaft in den immer wärmeren Sommern durch Wassermangel und Hitzestress absterbende und von den heftiger werdenden Stürmen umgelegte Nadelhölzer. Die sind ein bevorzugtes Fressen für den Borkenkäfer. Der aber bereitet durch sein Tun das Terrain für andere Insekten – und Wildbienen! Auf lange Sicht würde er sogar zum Wiedererstehen eines den neuen klimatischen Bedingungen angepassteren Mischwaldes beitragen.

An dieser Stelle brachte Böhmermann am Beispiel von Biene und Borkenkäfer eine Erkenntnis auf den Punkt, die auch zum Verständnis anderer Formen der falschen und manipulativen Feindbestimmung und der Ablenkung von den wahren Ursachen der Misere dienen könnte: „Wir lieben die Honigbiene, weil wir sie ausbeuten können und hassen den Borkenkäfer, weil er uns die Ausbeutung des Waldes versaut. Es geht gar nicht um Borkenkäfer gegen Biene. Der wahre Kampf ist Mensch gegen Natur. Und raten Sie mal, wer den gewinnt. Kleiner Tipp: Nicht wir, nicht wir.“

Mehr an Aufklärung ist von einer Satire-Sendung kaum zu erwarten.

Zum Gedenken an Erich Schöndorf (1947 – 2023)

„Gesellschaften haben offenbar nicht nur die Verbrecher, die
sie verdienen, sondern auch eine ihnen adäquate Justiz. So
wird sich eine Autogesellschaft auch keine Richter erlauben,
die ihr das Liebste nehmen.“ Erich Schöndorf

Erich Schöndorf war nach seinem Studium der Rechtswissenschaft, das er mit einer Promotion bei Spiros Simitis abschloss, von 1977 bis 1996 Staatsanwalt in Frankfurt am Main. Die letzten zehn Jahre war er im Umweltdezernat tätig und vor allem mit dem “Holzschutzmittel-Verfahren” befasst. Dabei ging es um die gesundheitlichen Folgen PCP- und lindanhaltiger Holzschutzmittel, die massenhaft vertrieben worden waren. Die Verurteilung zweier Manager des Herstellers Desowag, einer Tochterfirma des Bayer-Konzerns wegen Körperverletzung wurde im Nachhinein wieder aufgehoben. Das Unternehmen kam mit einer Geldspende für Forschungszwecke davon. Die Geschädigten gingen leer aus.

Nach dieser frustrierenden Erfahrung quittierte Schöndorf den Justizdienst. Unter dem Titel „Zermürbt und müde. Interne Querelen treiben einen Umweltstaatsanwalt aus dem Amt“ beschrieb Herbert Stelz in der ZEIT vom 6. September 1996 die Vorgänge um den Prozess und die Widerstände, mit denen sich Erich Schöndorf auseinandersetzen musste. Immerhin hatte er aber im Zusammenspiel mit Journalisten erreicht, dass der Fall bundesweit bekannt wurde und das Problembewusstsein für Umweltgifte gewachsen war. Desowag und andere Firmen mussten bei der Produktion von Holzschutzmitteln fortan auf gesundheitsschädliche Stoffe verzichten.

Das langwierige und nicht von Erfolg gekrönte Gerichtsverfahren arbeitete Schöndorf in seinem Buch “Von Menschen und Ratten. Über das Scheitern der Justiz im Holzschutzmittel-Skandal” auf. Es folgte „Strafjustiz auf Abwegen. Ein Staatsanwalt zieht Bilanz“. Dann wandte er sich als Autor eher literarischen Formen zu. Dem Thema Umweltverbrechen angemessen entstanden die Öko-Krimis „Feine Würze Dioxin“, „Das Projekt“ und „Terrorziel Wasser“, alle im Nomen-Verlag veröffentlicht. Zuletzt erschien das Hörbuch „Game over?“ im Verlag Libroletto.

1996 wurde Erich Schöndorf als Professor für Umweltrecht und öffentliches Recht an die Fachhochschule Frankfurt am Main berufen. Viele Jahre war er aktiv im Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit dem Schwerpunkt Klimaschutz. Als Mitglied bei Business Crime Control (BCC) war er seit 1998 Mitherausgeber der Zeitschrift BIG Business Crime, seit 2002 Mitglied im Vorstand und von 2011 bis 2021 Vorsitzender des Vereins.

 

„Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“

Unter dem Titel „Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“ hat Schöndorf in BIG Nr. 4/2014 beschrieben, wie er Ende der 1990er Jahre an der Fachhochschule Frankfurt mit Hans See und dem von ihm zusammen mit anderen gegründeten Verein BCC in Kontakt kam und wie das seinen Blick auf Umweltdelikte veränderte: „Als reinrassiger ‚Öko‘ war ich ganz auf eine Verfolgung von Straftaten fixiert, die dem Schutz von Umweltgütern wie Wasser, Boden und Luft dienen sollte. Die wirtschaftliche Dimension dieser Verfahren hatte ich zunächst komplett ausgeblendet. Ich war in Umweltverbänden und Bürgerinitiativen zuhause und hatte mich im Kampf um die Startbahn West (des Frankfurter Flughafens) engagiert.“

Über den von ihm 12 Jahre lang als Staatsanwalt geführten Holzschutzmittel-Prozess schrieb er dementsprechend selbstkritisch: „Zahlreiche Häuslebauer und Heimwerker waren durch die Anwendung giftiger Lasuren krank geworden und ich hatte im Dschungel der Toxikologie mit ihren Grenzwertproblemen und biochemischen Wirkmechanismen den wirtschaftsrechtlichen und insbesondere den wirtschaftskriminellen Hintergrund des Verfahrens schlicht verkannt. Die Firma hatte nämlich ihre Giftchargen betrügerisch an den Mann gebracht, indem sie über die Gefährlichkeit ihrer Produkte nicht aufgeklärt hatte. Neben dem Umweltdelikt der Giftfreisetzung hatte ich es quasi unbemerkt auch noch mit einem Betrug zu tun.“

Dieser Betrug diente der Gewinnerzielung und Gewinnmaximierung, wie auch bei anderen derartigen Delikten. “Wer die Umwelt schädigt“, schrieb Schöndorf in seinem Artikel, „tut das in der Regel nicht aus Lust an der Zerstörung, am Kaputtmachen, sondern weil er damit Geld verdienen will. Der Unternehmer, der seine giftigen Abwässer in einen Fluss leitet, spart die Kosten für Aufbereitung und Reinigung. Der Entsorger, der den ihm anvertrauten Bauschutt in die Landschaft kippt, statt ihn ordnungsgemäß zu recyclen, spart ebenfalls die hohen Gebühren der Wiederverwertungsanlage. Und die Bäume am Amazonas fallen deswegen der Motorsäge zum Opfer, weil das Palisander- und Mahagoniholz in Amerika oder Europa reißenden Absatz findet und die gerodeten Flächen anschließend dem gewinnbringenden Sojaanbau dienstbar gemacht werden können.“

 

„Die Lügen der Experten“

Im Holzschutzmittel-Prozess hatte Erich Schöndorf als Staatsanwalt mit Sachverständigen zu tun, die ganz im Sinne des beklagten Unternehmens einen Zusammenhang zwischen den giftigen Inhaltsstoffen des Produkts und den Krankheitsbildern bei Anwendern nicht bestätigen konnten beziehungsweise leugneten. Diese Erfahrung hat er in seinem Essay „Die Lügen der Experten“ im SPIEGEL Nr. 23/1999 pointiert zur Sprache gebracht.

Auf die Ärzteschaft könnten die Betroffenen kaum hoffen, schrieb Schöndorf. In deren Studienplänen sei Toxikologie oder gar Umweltmedizin nicht vorgekommen. Den „alltäglichen Chemikalienwahnsinn“ und seine Folgen für die Gesundheit hätten sie daher nicht auf dem Schirm. Aber „was bisher als stille Katastrophe von den Verantwortlichen totgeschwiegen und mit allerlei Tricks unter der Decke der marktwirtschaftlichen Normalität gehalten werden konnte“ breche nun auf.

Nach bitteren Erfahrungen mit der Schulmedizin hofften viele Betroffene auf die Justiz. „Bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Kaum ein Kläger gewinnt, selten führt eine Strafanzeige zum Ziel.“ Es stelle sich die Frage, „warum die Justiz Ansprüche der Opfer des technischen Fortschritts meist vom Tisch wischt – und das, obwohl die Betroffenen nicht weniger als das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einklagen.“

Schöndorf referierte eine naheliegende Erklärung: „Obrigkeitsorientiert, wie er nun einmal ist, fühle der Justizapparat sich den Mächtigen verpflichtet, der Politik und der Wirtschaft und deren heiliger Kuh, der Marktwirtschaft. Die garantiere Massengewinn über Massenkonsum, der nur mittels kaufbarer Produkte funktioniere. Kaufbare – also billige – Produkte seien aber nicht unbedingt sichere Produkte. Schäden seien somit programmiert, im übergeordneten Interesse aber auch hinzunehmen. Und sowieso gebe es keinen Fortschritt ohne Risiko.

Ob die Justiz wirklich diese Logik – es ist die Logik der Konzerne, die nur die eigenen Gewinne sehen und die Kehrseite der Medaille ignorieren – übernommen hat? Es wäre grober Unfug, wenngleich die Justiz immer wieder für Überraschungen gut ist. Trotzdem, andere Interpretationen des justiziellen Mißstandes liegen näher.“

Richter und Staatsanwälte dürften und müssten sich fremden Sachverstands bedienen, um die Sache, die verhandelt wird, in allen Einzelheiten zu verstehen, das Für und Wider abwägen zu können und zu einem Urteil zu kommen. Sie könnten also nach Belieben Gutachter aus Wissenschaft und Praxis bestellen. Und da liege das Problem, so Schöndorf.

„Prominente Lehrstuhlinhaber, internationale Kapazitäten, doppelt und dreifach Promovierte bevölkern die Gerichtssäle. Und trotzdem gibt es keine Gerechtigkeit für Chemikalienkranke.

Oder gerade deswegen? Vor wenigen Jahren wurde das Problem noch unter dem Begriff der käuflichen Wissenschaft gehandelt. Mittlerweile ist man deutlicher geworden und spricht von Wissenschaftskriminalität.

Zahlreiche Sachverständige begutachten einfach falsch. Sie irren nicht, sie lügen. Und sie lügen mit Kalkül, immer zugunsten des am Verfahren beteiligten wirtschaftlich Mächtigen, des Unternehmens, des Konzerns, des Herstellers. Nie zum Vorteil der kranken Kläger. Sie bestreiten den Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schaden, setzen zumindest entsprechende Zweifel in die Welt. Und die genügen, um den Prozesserfolg des Opfers zu vereiteln.

Was die Sachverständigen da tun, ist kein Freundschaftsdienst, sondern Teil eines Geschäfts: Unwahrheit gegen Cash. Der Hintergrund dieses schlimmen Tatbestandes ist kein Geheimnis.

Längst können Universitätsinstitute, Forschungsgesellschaften oder andere Wissenschaftseinrichtungen ohne den ständigen Geldstrom aus der Wirtschaft nicht mehr existieren. Der Staat gibt nur noch Peanuts. Und weil auch die immer weniger werden, gewinnen die Drittmittel, wie die Zuwendungen wertneutral heißen, ständig an Bedeutung. Die Heimstätten unserer Sachverständigen hängen am Tropf der Konzerne.

Deren Unterhaltsleistungen erfolgen ganz und gar unspektakulär und unverfänglich in Form von Forschungs- und Gutachtenaufträgen und hin und wieder auch als Spende oder Doktorandenstipendium. Dafür dürfen die Unternehmen sich etwas wünschen: günstige Expertisen. Die bekommen sie auch, ansonsten wäre die geschäftliche Beziehung gefährdet.“

Um diesen Usancen ein Ende zu bereiten machte Erich Schöndorf einen Vorschlag: „Was wir brauchen ist der wenn nicht gläserne, so doch wirtschaftlich transparente Sachverständige. Der seine finanziellen Verflechtungen bekannt macht und seine wirtschaftlichen Abhängigkeiten offenlegt. Der sagt, woher er seine Aufträge und sein Geld bekommt und wer sein Institut finanziert, sein Labor ausrüstet oder seinen Betriebsausflug sponsert. Und der selbstverständlich auch seine Sachkenntnis belegen kann.“

Was die Transparenz bei Sachverständigen angeht, hat sich inzwischen dank des Drucks der Öffentlichkeit einiges getan. Dennoch bleibt der SPIEGEL-Essay Erich Schöndorfs in vielem aktuell.

 

„Die Mühen der Ebene“

Im Dezember 2015 wurde in Paris von 197 Staaten ein Klimavertrag abgeschlossen, um die Erderwärmung auf 1,5 bis maximal 2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen. „Nach dem Gipfel kommen die Mühen der Ebene“, waren die Anmerkungen von Erich Schöndorf zu diesem Vertrag betitelt, die in BIG Nr. 1/2016 erschienen sind. Schöndorf schrieb: „Das Wunder von Paris. Da war vielleicht die Prophezeiung von Friedrich Hölderlin wahrgeworden, der da, wo Gefahr war, auch das Rettende wachsen sah. Oder die Welt hatte tatsächlich begriffen, dass es in Sachen Klimaschutz so um die 12 Uhr war. Schon einmal hatte ja die Weltgesellschaft in einer ähnlich prekären Situation in letzter Sekunde das Ruder herumgerissen, als sie zur Rettung der lebensnotwendigen Ozonschicht im Montreal-Abkommen die FCKW verbot.“

In seinem Artikel stellte Schöndorf die Möglichkeiten zur Nutzung und Weiterentwicklung erneuerbarer Energien dar, um die CO2-Emissionen mittelfristig erheblich zu senken und so einen weiteren Temperaturanstieg zu verhindern. Da sei „vorsichtiger Optimismus“ angebracht. „In jedem Fall bedeutet Paris, dass die Staaten in der Falle ihrer Selbstverpflichtung sitzen. Auch wenn es keine völkerrechtlich verbindlichen Sanktionsregeln gibt: Wer sich jetzt drückt oder zu bluffen versucht, steht zu Recht am Pranger der vertragstreuen Staaten sowie der überall mächtiger werdenden NGOs und Umweltverbände.“

Schöndorf sah „in den Köpfen der Menschen eine Trendwende geschafft“. „Jetzt geht es in eine andere Richtung und dieser Richtungswechsel kann eine neue Zuversicht generieren, kann dem Engagement zur Klimarettung einen neuen Schub verleihen.“ Inzwischen wissen wir, dass die „Mühen der Ebene“ noch viel schwieriger zu bewältigen sind als gedacht.

Am Schluss seines Artikels proklamierte Schöndorf ein Widerstandsrecht, wenn beispielsweise der Ausstieg aus der Kohle torpediert werde: „Dann werden sich hoffentlich viele an Wackersdorf, Whyl und Brokdorf erinnern, wo die Umweltbewegung ihre großen Erfolge gefeiert hat, und werden Kohlekraftwerke besetzen und Tagebaue blockieren. Denn es gibt da ein Ziel, auf das sich alle Staaten der Welt am 12. Dezember 2015 geeinigt haben: Die Erde zu retten. Wenn der Zweck die Mittel heiligen kann, dann jetzt.“

Bei allem Ernst der Lage hat Erich Schöndorf sich immer einen Sinn für den künstlerischen „Gegenentwurf“ und für die Satire bewahrt. In seinem Westerwälder Heimatort Greifenstein, in dem Erwin Piscator geboren wurde, für dessen Denkmal dort er sich einsetzte, hat er mit Laiengruppen Theaterstücke aufgeführt. Und in BIG hat er hier und da satirische Texte veröffentlicht – „wo die Satire doch“, schrieb er, „wie alle Kabarettisten übereinstimmend sagen, die einzig richtige Antwort auf den Unfug der Welt darstellt“.

 

Weitere Infos:

DokZentrum ansTageslicht.de: Ein ehemaliger Staatsanwalt gegen einen großen Chemiekonzern namens BAYER AG. Auf dieser Webseite findet sich u.a. auch die Aufzeichnung eines Interviews mit Erich Schöndorf.

Udo Hörster: Der Staatsanwalt des Holzgifte-Prozesses zieht Bilanz. In: Stichwort BAYER Nr. 1/1999

Herbert Stelz: Zermürbt und müde, DIE ZEIT Nr. 37/1996

https://www.zeit.de/1996/37/Zermuerbt_und_muede

Herbert Stelz: Wie im Mittelalter, DIE ZEIT Nr. 47/1996

https://www.zeit.de/1996/47/Wie_im_Mittelalter

 

Erdoğans Wahlsieg

Der erneute Wahlsieg Recep Tayyip Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei trotz desolater wirtschaftlicher Lage und wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung lässt sich nur erklären, wenn man den Charakter seines Regimes ins Auge fasst. Der investigative Autor Jürgen Roth, seinerzeit Mitherausgeber von BIG Business Crime, hat in seinem 2017 erschienenen letzten Buch: „Die Neuen Paten – Trump, Putin, Erdoğan, Orbán & Co. Wie die autoritären Herrscher und ihre mafiosen Clans uns bedrohen“ einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis geleistet. Er wandte sich dagegen, bloß von einem „neuen Autoritarismus“ zu reden, wie es heute üblich ist. Es handele sich vielmehr bei den „Neuen Paten“ um eine „gelungene Fusion von politischer und krimineller Macht“, die alle Sphären der Gesellschaft mit Korruption durchdringt, demokratische Kontrollen außer Kraft setzt und Opposition kriminalisiert – auch wenn noch mehr oder weniger „freie“ Wahlen bestehen.

Jürgen Roths Thesen dazu: „Die Neuen Paten haben den Staatsapparat nicht nur übernommen, vielmehr sind sie die Capo dei Capi des Staatsapparates geworden. Damit ihre Politik von der Gesellschaft akzeptiert wird, bedienen sie sich einer rassistischen, nationalistischen und autoritären Ideologie. Daher sind auch die Neuen Paten, wie die italienischen Mafien, eng mit rechtsextremen Bewegungen und Parteien verbunden… Beide Systeme, das der klassischen Mafien und das der Neuen Paten, regieren mit der Angst ihrer Untertanen und sind zutiefst undemokratisch. Beide zeichnen sich durch ein ihrem Wesen nach elitäres, antidemokratisches und dem Gleichheitsgrundsatz widersprechendes Grundmuster aus.“

Erdoğan spielte meisterhaft auf dem Klavier der Ängste und der gesellschaftlichen Spaltungen: Angst vor dem „Terror“ der kurdischen Minderheit – selbst wenn diese nur Mit- und Selbstbestimmung in einem föderal aufgebauten Staat fordert. Angst vor „globalistischen“ Drahtziehern, die die Türkei mit Modernismen wie LBGTI überfremden wollen. Das Muster ist bekannt.

Dass sein Gegenkandidat Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP dann in der Stichwahl darauf auch mit ähnlichen Mittel zu antworten versuchte – er versprach, die unliebsamen syrischen Flüchtlinge schnell aus dem Land zu werfen und nahm eine weitere rechte Partei mit ins Boot – hat ihm nichts genützt.

Dennoch: Erdoğan erhielt nur wenig mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Das zeigt, dass Widerstand gegen sein Regime nach wie vor vorhanden ist.

Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen bekam das linksgrüne „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ immerhin 10 Prozent der Stimmen – vor allem von Kurdinnen und Kurden, weil deren unter einer Verbotsdrohung stehende Partei HDP dazu aufrief.

In seiner Wahlanalyse auf der Homepage der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt Murat Çakır auf, welche schweren Aufgaben vor der Opposition in der Türkei liegen: „Selbst wenn man die kemalistische CHP, die durchaus in ihren Reihen nationalistische Kreise beherbergt, herausrechnet, beweisen die Wahlergebnisse, dass über zweidrittel der türkischen Gesellschaft konservativ, reaktionär und nationalistisch eingestellt ist. Besonders traurig war es zu verfolgen, dass sogar in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten mehrheitlich die AKP (Erdoğans Partei) und die neofaschistische MHP gewählt wurden. In den 11 Städten, die vom Erdbeben betroffen waren, konnte die AKP, während Erdoğan die Mehrheit der Stimmen bekam, rund 47 Abgeordnete gewinnen – nur im völlig zerstörten Hatay konnte Kılıçdaroğlu die Mehrheit auf sich vereinen. Weder die desolate ökonomische Lage und die hohen Inflationsraten noch die öffentlich gewordenen Korruptionen des AKP-Palast-Regimes konnten einen großen Teil der konservativen Wähler*innen davon abhalten, die AKP und MHP zu wählen.“ („Die Türkei hat gewählt“, 15. Mai 2023)

Quelle:

https://www.rosalux.de/news/id/50409/die-tuerkei-hat-gewaehlt

Eine Matinee zu Krieg und Frieden

Seit 2006 veranstaltet Business Crime Control zusammen mit der KunstGesellschaft in Frankfurt am Main Matineen zu politischen und kulturellen Themen. Inzwischen sind es an die 200 Veranstaltungen geworden. Nach einigen Wechseln des Ortes finden sie seit vielen Jahren monatlich einmal im Club Voltaire statt. Hier eine exemplarische Auswahl: „Rechts macht auf links. Die national-soziale Gefahr“ mit Prof. Dr. Klaus Dörre, 2018; „Antisemitismus im Deutschland der Gegenwart“ mit Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, 2019; „Rechte Allianzen bedrohen die offene Gesellschaft“ mit Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, 2020; „Patente töten“ mit Anne Jung von medico international, 2021; „Wasser ist Leben“ mit Prof. Dr.-Ing. Franz-Bernd Frechen, 2022; „Kulturelle Prägungen und Politik“ mit Prof. Dr. Dieter Kramer, 2022.

Am 26. Februar dieses Jahres war Nicole Deitelhoff, Professorin an der Frankfurter Universität und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu Gast in der Matinee, mit dem Thema: „Putin und der Krieg. Kann es eine Verhandlungslösung im Ukrainekonflikt geben?“ Moderiert wurde die Matinee, wie viele vorher, von der Journalistin Ulrike Holler. Das zahlreich erschienene Publikum im Club Voltaire erwartete von der Referentin, die es von Fernsehinterviews und Auftritten in Talkshows her kannte, Antworten auf drängende und bedrängende Fragen: Wie hat sich der Konflikt entwickelt? Hätte es Alternativen gegeben? Welche Interessen sind im Spiel? Wie soll es weitergehen mit dem Krieg in der Ukraine? Welche Chancen für einen Waffenstillstand und anschließende Verhandlungen gibt es? Wie könnte eine neue Friedensordnung in Europa erreicht werden?

Nicole Deitelhoff skizzierte zunächst ihre Position: Putin sei eindeutig der Aggressor, die Ukraine habe ein Recht auf Selbstverteidigung, bei der ihr auch mit Lieferung von Rüstungsgütern geholfen werden solle, solange kein Waffenstillstand möglich ist. Auch was die Vorgeschichte des Krieges betrifft sah sie – zunächst – keine weitere Mitverantwortung des Westens. Der Beitritt osteuropäischer Länder zur NATO sei schließlich durch Abmachungen mit Russland abgefedert worden: Keine ständige Stationierung westlicher Truppen in diesen Ländern; NATO-Russland-Rat als vertrauensbildende Maßnahme; bisher keine Aufnahme der Ukraine in das nordatlantische Bündnis trotz entsprechender Bestrebungen. Eine Täter-Opfer-Umkehr, wie sie in Teilen der Protestbewegung gegen den Krieg beobachtet werden könne, sei deshalb falsch und nicht angebracht.

Nach Fragen aus dem Publikum differenzierte die Friedens- und Konfliktforscherin allerdings ihre Aussagen in diesem Punkt: So habe die USA Russlands Sicherheitsinteressen verletzt, beispielsweise durch ihre Präsenz im Schwarzen Meer und ihre treibende Rolle im Jugoslawienkrieg. Nach dem Ende der Sowjetunion sei nicht das von Gorbatschow vorgeschlagene „gemeinsame Haus Europa“ angestrebt und verwirklicht worden. Ansätze dazu wie die im Kalten Krieg geschaffene OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, seien nicht weiter verfolgt und ausgebaut worden. Stattdessen habe es einen Rückfall in alte Strukturen gegeben.

In einem im letzten Jahr erschienenen Beitrag für die Blätter für deutsche und internationale Politik hatte Deitelhoff ihre Haltung dazu wie folgt dargelegt: „Trotz aller Rede von der Zeitenwende … sollte Vorsicht walten, wegen dieser Entwicklungen alle Erfahrungen und bisherigen Grundlagen einer kooperativen Sicherheitsordnung zu verwerfen.“ Es zeige sich gerade in der gegenwärtigen Situation, „dass die ausschließliche Ausrichtung an Abschreckung keine belastbare Grundlage für Stabilität ist“.

Auf die Frage, wie es denn im Ukrainekrieg weitergehe, antwortete Nicole Deitelhoff, dass gegenwärtig noch beide Seiten fest davon überzeugt seien, die andere militärisch in die Knie zwingen zu können. Sie glaube persönlich nicht daran, dass dies möglich ist. Die Siegespropaganda auf beiden Seiten sei ein Mittel der psychologischen Kriegsführung nach innen und außen. Gewaltkonflikte hätten eine hohe Eigendynamik, bei der auch Unwägbarkeiten, Unerwartetes und das Glück mitspielten.

Wie aber solle man unter diesen Umständen aus der destruktiven Gewaltspirale mit ihren grausamen Folgen und der Gefahr einer Ausweitung des Krieges bis hin zum Einsatz von Atomwaffen herauskommen? Es gehe darum, so Deitelhoff, „aus einem unteilbaren Konflikt eine Teilbarkeit zu machen“. Das bedeute, die bereits ständig laufenden Verhandlungen zu Einzelfragen wie dem Getreideexport aus der Ukraine oder dem Austausch von Gefangenen fortzusetzen und auszuweiten. International müsste sich unter Beteiligung der UNO eine Gruppe von Staaten zusammenfinden, die sich, wie Indien und China, bisher eher oder teilweise neutral zum Konflikt verhalten haben, um eine Vermittlungsebene zu schaffen als Basis für künftige Verhandlungen.

Nicole Deitelhoff gebrauchte in diesem Zusammenhang das Bild von einem Zitronenbaum, um den heftig gestritten wird. Die unproduktivste Lösung sei es, ihn in Stücke zu zerschneiden. Davon hat niemand wirklich etwas, denn dann wäre er tot. Die Teilung seiner Früchte sei sinnvoller, aber dazu brauche es Zeit und Geduld, um sie wachsen zu lassen.

Entsprechend Zeit werde eine Lösung im Ukrainekonflikt benötigen. Die Umrisse dazu beschrieb Deitelhoff ganz ähnlich so, wie sie sich schon einmal bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022 abgezeichnet hatten, die dann abgebrochen wurden: Verzicht der Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der NATO, mit Sicherheitsgarantien durch andere Länder. Sicherheitsgarantien müsse es auch für Russland geben. Rückzug der russischen Truppen und Aufhebung der Sanktionen. Zurückstellen aller territorialen Fragen und zivile UN-Verwaltung in den umstrittenen Gebieten für die nächsten 15 Jahre. Danach international organisierte und überwachte Referenden im Donbass und auf der Krim, um deren Status zu klären.

Bis dahin werde es eine andere Generation von Entscheidern in Russland und in der Ukraine geben, die zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts fähiger und bereiter sein würde als die jetzige. Was an dieser Stelle noch einmal besonders auffiel, war das Fehlen einer politisch-ökonomischen Analyse der Kriegsursachen und der Interessen am und im Krieg. Damit befand sich die Referentin aber im Einklang mit der Mehrheit ihrer wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen. Näheres dazu kann man dem sehr lesenswerten Dossier „Quo vadis Friedensforschung?“ entnehmen, das als Beilage zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden Nr. 1/2023 erschienen ist.

Für die Protestbewegungen gegen Krieg und Militarisierung zeigte Nicole Deitelhoff Sympathien. Sie teile durchaus deren Ziele. Die gegenwärtige Friedensbewegung befinde sich aber in dem Dilemma, dass die Forderung nach einem sofortigen Stopp der militärischen Hilfe für die Ukraine bedeuten würde, dass Russland siegt und gar kein Interesse mehr an Verhandlungen hat. Die unkonditionierte Lieferung von immer weiteren Waffen wiederum verlängere den Krieg und widerspräche somit erst einmal dem Ziel, Frieden zu schließen.

Die unterschiedlichen Auffassungen zu dieser und anderen Fragen, die den Krieg in der Ukraine und seine Folgen betreffen, führten in der Matinee nicht, wie so oft, zu gegenseitigen Vorwürfen mit negativen Etikettierungen. Die Diskussion blieb, mit wenigen Ausnahmen, weitgehend sachlich und solidarisch. Damit war, zumindest im Kleinen, für zwei Stunden schon einmal etwas an Friedensfähigkeit gewonnen.

Als Fazit und Aufforderung sei hier zitiert, was Nicole Deitelhoff an anderer Stelle geschrieben hat: „Ja, wir sind wieder zurück auf Null. Doch angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht – die drängendste ist zweifellos die Abwendung der Klimakatastrophe –, können wir es uns schlicht nicht leisten, lange an diesem Nullpunkt stehen zu bleiben.“

 

“Bürger, schützt Eure Banken!“

Im Caricatura Museum in Frankfurt am Main ist bis 19. März eine Ausstellung zur Geschichte der satirischen Zeitschrift „Pardon“ zu sehen, die von 1962 bis 1982 erschien. Einer der beiden Kuratoren der Ausstellung ist Gerhard Kromschröder, der als „Pardon“-Redakteur zusammen mit Nikolaus Jungwirth 1971 die satirische Initiative „Bürger, schützt Eure Banken!“ gründete. Prominente, die gebeten wurden, die Initiative zu unterstützen, fielen prompt auf sie herein, wie Alfred Dregger, der stramm rechte damalige Vorsitzende der CDU Hessen, sowie der damalige Chef des Bundeskriminalamts Horst Herold. Wir haben Gerhard Kromschröder im Rückblick auf diese Aktion ein paar Fragen gestellt.

Mit Ihrer vermeintlichen Bürgerinitiative war damals der Schutz vor Bankräubern gemeint, die man angeblich an verdächtigem Verhalten vor Banken erkennen sollte. Erscheint heute angesichts von Cum-Ex-Betrügereien und Geldwäsche auch mit Hilfe von Banken eine derartige satirische Aktion überhaupt noch denkbar, und wenn ja, wie könnte sie aussehen?

Kromschröder: Aber immer! Die Leute sind ja viel leichtgläubiger als wir wahrhaben wollen. Und die Banken umgibt in der allgemeinen Wahrnehmung immer noch, trotz aller Skandale, eine Aura der Seriosität. Was sich im Moment abspielt, könnte man durchaus mit einer Satire verdeutlichen, die unserer damaligen Aktion ähnelt: Die Banken werden geschützt, diesmal von oben, trotz aller Betrügereien; sie werden gepampert, und ihre Schulden übernimmt die Allgemeinheit.

Am Schluss des damaligen Artikels in „Pardon“ zu Ihrer Aktion wurde der Brecht-Spruch zitiert: “Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?” Sind die Banken inzwischen nicht längst in gewisser Weise selber zu Räubern geworden?

Kromschröder: Natürlich, denn sie sind das, was sie schon immer waren: eher mafiöse Vereinigungen als selbstlose, dem Allgemeinwohl verpflichtete Verwahr- und Vermehrungsanstalten von ihnen anvertrautem Geld.

Könnte oder sollte man „Bürger, schützt Eure Banken!“ heute nicht zeitgemäß neu interpretieren, zum Beispiel als präventive Aufforderung, die Geldinstitute unter öffentliche, demokratische Kontrolle zu nehmen?

Kromschröder: Das ist längst überfällig. Es wird endlich Zeit, dass sich die Bankkunden nicht länger an der Nase herumführen und abmelken lassen, zum Beispiel durch hohe Gebühren und wenig Zinsen; es geht nicht an, dass die Banken weiter die Politik vor sich hertreiben und es so immer wieder schaffen, die Schäden, die sie verursachen, auf die Gesamtbevölkerung abzuwälzen. Statt „Bürger, schützt Eure Banken!“, wie bei uns vor 50 Jahren, könnte der Slogan heute dann vielleicht lauten: „Bürger, übernehmt Eure Banken!“

 

Gerhard Kromschröder hat als investigativer Journalist unter anderem Reportagen über Neonazis, Giftmüll-Skandale und zur Flick-Spendenaffäre gemacht. Mit Günter Wallraff zusammen entwickelte er die Methode der Undercover-Recherche. Berichte darüber veröffentlichte er unter dem Titel „Ich war einer von ihnen“ 1987 im Eichborn Verlag. Ab 1989 war Kromschröder dann Nahost-Korrespondent des Stern. Während des ersten Irak-Kriegs arbeitete er als einziger deutscher Journalist und Fotoreporter im bombardierten Bagdad. Zum zweiten Irak-Krieg erschien sein Buch „Bilder aus Bagdad – Mein Tagebuch“, in dem er seine Erfahrungen als Kriegsreporter beschrieb. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit dem Schriftsteller Gerhard Henschel mehrere Fotobände, bei denen sie sich auf die Lebensspuren verschiedener Dichter begaben, von Wilhelm Busch bis Arno Schmidt.

Verlorener Krieg

Ein Jahr nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan erschienen in der Presse Artikel, die die Ursachen des Debakels der westlichen Interventionsstreitkräfte nicht mehr beschönigen. So unter dem Titel „Der verlorene Krieg“ ein Beitrag von Peter Carstens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. August 2022. Sein bitteres Fazit: „Nach zwei Jahrzehnten am Hindukusch kannte der Westen weder seine Kriegsgegner noch seine afghanischen Verbündeten“. Wie konnte dies auch anders sein, wenn von vornherein mit dem Geldkoffer gearbeitet wurde, um sich Bündnispartner und Vasallen unter den afghanischen Stammesfürsten und Warlords des seit Jahrzehnten laufenden Bürgerkriegs  einzukaufen.

Der andere, noch gravierendere Irrtum: Dass es gelingen könnte, eine Modernisierung nach westlichem Muster mit gewaltsamen Mitteln in diesem Land zu erzwingen. Als sich 1978 die kommunistische Partei Afghanistans, die vor allem in der städtischen Elite und im Militär verankert war, an die Macht geputscht hatte, führte die ZEIT ein Interview mit dem neuen Ministerpräsidenten Nur Muhammad Taraki. Auf die Frage, was seine Regierung zu unternehmen gedenke, wenn sich die Mullahs auf dem Land dagegen wehren würden, dass für Mädchen eine Schulbildung eingeführt werden soll, antwortete er: „Dann muss eben Blut fließen“. Da war eigentlich schon klar, dass es so kaum etwas werden konnte mit dem sozialen Fortschritt in Afghanistan. 

Das Blutvergießen begann und ging weiter, mit der Assistenz äußerer Mächte. Zunächst scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, ihren Bündnispartnern in Kabul den Machterhalt in der Auseinandersetzung mit widerstrebenden Kräften zu sichern. Der  US-Oberstratege Brzezinski freute sich darüber, dass sie in die Falle gegangen war und nun ihr „Vietnam“ erlebte. Aber die USA und ihre Verbündeten wurden nicht schlauer daraus und handelten nicht klüger. Im „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 war Afghanistan das erste Ziel. Viel Kenntnis über das Land und eine konsistente Strategie, wie mit ihm umgegangen werden sollte, gab es nicht.

Der kolonialistische Blick der westlichen Interventen war quasi auf das Bakschisch als universelles Schmiermittel fixiert. So blühten der Opportunismus und die Korruption in Afghanistan wie die Mohnpflanzen auf den Feldern. Dazu kamen dann Luftangriffe von US-Kampfflugzeugen auf friedliche Hochzeitsgesellschaften, die aus der Höhe mit Ansammlungen von Taliban-Kämpfern verwechselt wurden. Und Kriegsverbrechen anderer Art, wie man von Afghan:innen im bundesrepublikanischen Exil hören kann. Sie werden nie einen Richter finden. Nur die Bundeswehr habe sich da nichts vorzuwerfen – sieht man einmal von Oberst Klein ab.

Zum Schluss kulminierten die Fehleinschätzungen. Auch den westlichen Geheimdiensten entging, dass die afghanische Armee und die Regierung in Kabul keineswegs bereit waren, gegen die Taliban weiterzukämpfen, nachdem feststand, dass die Truppen der USA und ihrer Verbündeten sich zurückziehen würden. Die Generäle und führenden Politiker Afghanistans hatten längst im Ausland ihr Schäfchen ins Trockene gebracht. Peter Carstens resümierte in seinem  Artikel:

„Die Korruption in der Armee war lange bekannt, unternommen wurde dagegen wenig. Das viele Geld, das der Westen in Afghanistan seit 2002 investiert hat, sei ‘nicht immer da angekommen, wo es ankommen sollte’, so der Diplomat Markus Potzel (bisher Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan – R.D.) überaus diplomatisch… Allein Amerika hatte 850 Milliarden Dollar für den Militäreinsatz ausgegeben und weitere 145 Milliarden für den zivilen Aufbau. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in den Jahren 2010/2011 steckte Washington jährlich um die 100 Milliarden Dollar in den Krieg. Und auch Deutschland gab insgesamt etwa 20 Milliarden Euro aus, den Großteil davon für das Militär und seine Helfer, die Ortskräfte. Diplomat Potzel meint: ‘Da hatten sich die afghanischen Eliten sehr gut eingerichtet und wir letzten Endes auch. Das war so eine Art Stillhalteabkommen.’ So blieb Afghanistan eines der korruptesten Länder der Erde und eines der größten Drogenanbaugebiete der Welt.“

Die vorgebrachte Begründung für den militärischen Einsatz in Afghanistan, es gehe darum, den Terror zu bekämpfen, Entwicklung zu ermöglichen, Brunnen zu bohren und Schulen zu bauen, enthüllt sich im Licht dieser Zahlen als schönfärberische Behauptung. Profitiert haben in erster Linie die westliche Rüstungsindustrie und einige Exportunternehmen, in zweiter Linie die korrupten afghanischen Politiker und Warlords, erst in dritter Linie Angehörige einer dünnen Mittelschicht in den afghanischen Städten sowie Frauen und Mädchen, die zur Schule und Universität gehen und Berufe ergreifen konnten, die ihnen vorher verschlossen waren. Besonders Letztgenannte sind nach dem Sieg der Taliban gefährdet und müssen um Leib und Leben fürchten, wenn sie in irgendeiner Form mit den westlichen Interventen zusammengearbeitet haben.

Die Armut und Verelendung im Land, die vorher schon endemisch war, wächst nun von Tag zu Tag. Dazu tragen verschärfte Sanktionen und das bisherige Einfrieren des afghanischen Staatsvermögens durch die USA bei.

Es ist ein Skandal, dass es keine grundsätzliche Debatte über den Afghanistaneinsatz gegeben hat und geben wird, in der geklärt werden könnte, welche Alternativen möglich gewesen wären und wieviel Sinnvolleres mit dem vielen aufgewandten Geld für eine nicht bevormundende Förderung der Zivilgesellschaft und für Projekte der Entwicklungshilfe in Afghanistan hätte getan werden können. Auch der Artikel von Peter Carstens enthielt dazu keinerlei Hinweise. Er beschränkte sich darauf, die schlechte Performance der Bundesregierung im Fall Afghanistan und die fehlende Ehrung der Veteranen des Afghanistankrieges zu kritisieren. Aber etwas anderes wäre ja von der FAZ auch nicht zu erwarten.

Krieg und Geschäft

„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ – dies hatte der französische Sozialist Jean Jaurès zur Warnung vor dem Ersten Weltkrieg gesagt. Gemeint war, dass die Mechanismen der Kapitalverwertung – Konkurrenz um Rohstoffe, Arbeitskräfte, Marktanteile, Absatzmärkte und Gewinnmargen – früher oder später zwangsläufig zu Kämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen um Einflusssphären, territoriale Ausdehnung von Staaten und koloniale Landnahme führen. Der Kapitalismus trete dann in sein imperialistisches Stadium ein. In dem befinden wir uns noch.

Vorbereitet und begleitet würden diese Auseinandersetzungen durch nationalistische und rassistische Ideologien und die Produktion entsprechender Selbstidealisierungen und Feindbilder: „Wir“ sind dann die Guten mit den besten Absichten und den höheren Werten. „Die“ sind die Bösen, Kulturlosen, im Zweifel die Unmenschen. Und dies jeweils wechselseitig.

Ohne den völkerrechtlichen Unterschied zwischen Angreifer und Angegriffenem verwischen zu wollen, das Recht auf Selbstverteidigung zu bestreiten, die russischen Kriegsverbrechen zu relativieren oder das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung zu missachten: Auch der Krieg in der Ukraine trägt, besonders wenn man seine Vorgeschichte einbezieht, Züge eines imperialen Ringens um Einflusszonen und Ressourcen – mit all den ideologischen Überhöhungen, die dazugehören. Nicht nur auf Seiten Russlands, sondern ebenso auf Seiten der USA, die 2014 den prowestlichen Umsturz in der Ukraine förderte und sie gegen den Rat ihrer eigenen außenpolitischen „Realisten“ in die Nato zu integrieren beabsichtigte, um Russland zu schwächen.

Auch im Ukrainekrieg haben, wie bei Kriegen unter kapitalistischen Bedingungen immer, die Rüstungsindustrie und ihre Zulieferer etwas zu gewinnen. Der Aktienkurs von Rheinmetall, einer der größten deutschen Rüstungsschmieden, schoss seit Kriegsbeginn so in die Höhe, dass man den Konzern in Rheingold umbenennen könnte. Als Folge der gegen Russland verhängten Sanktionen und der Reaktionen darauf stiegen die Preise für Öl und Benzin so stark an, dass der Profit der Mineralölkonzerne explodierte. Bei den anschließenden Preiserhöhungen für Güter des täglichen Bedarfs ist nicht sicher, ob die Situation nicht für spekulative „Mitnahmeeffekte“ ausgenutzt wurde und wird. Eine geplante „Gasumlage“, um die horrend wachsenden Energiekosten den Verbraucherinnen und Verbraucher in Rechnung zu stellen, entpuppte sich als ausgesprochen unsozial. Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Kompensation der Belastungen für Lohnabhängige und kleine Selbständige sind äußerst unzureichend.

So wächst die Kluft zwischen Armut und Reichtum weiter und schneller – nicht nur in unserem Land, sondern, als Folge des Krieges und des ihn begleitenden Wirtschaftskrieges, auch international.

Das in der von der Regierung proklamierten „Zeitenwende“ abrupt aufgelegte 100 Milliarden Euro teure Programm für die Aufrüstung der Bundeswehr verschiebt die Gewichte staatlicher Investitionen zugunsten des Militärischen. Schon lange notwendige Investitionen in die zum Teil marode zivile Infrastruktur müssen zurückstehen. Zu erwarten und befürchten ist, dass die Kosten für die Hochrüstung in den nächsten Jahren durch Einsparungen im Sozial- und Kulturbereich gedeckt werden sollen. Aufgrund der anhaltenden Blockade der FDP wird die Ampelkoalition wohl weder eine durchgreifende Steuer auf krisenbedingte Extraprofite noch einen Lastenausgleich mit höherer Besteuerung der Besserverdienenden, der Vermögenden und reichen Erben zustande bringen. Obwohl mehr als Dreiviertel der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Verteilung von Einkommen und Vermögen für ungerecht halten.

Krieg ist nichts, was der Kapitalverwertung entgegensteht. Der Nationalökonom Joseph Schumpeter hat als Wesen des Kapitalismus die „schöpferische Zerstörung“ benannt. Altes zerstören und Neues wieder aufbauen, das generiert Gewinne, schafft und sichert Arbeitsplätze – durch alle kriegsbedingten Krisen hindurch. Auch die Hochrüstung wirkt in gewisser Weise wie ein Konjunkturprogramm, selbst wenn die produzierten Güter der Vernichtung dienen. 

Es ist sicherlich kein Zufall, dass man sich jetzt wieder an eine Geschichte aus der europäischen Vergangenheit erinnert, die den Zusammenhang von Krieg und Geschäft in krassester Weise beleuchtet. Unter dem Titel „Gefallen, zermalmt und aufgelöst“ wurde in der F.A.Z. vom 18. August 2022 über sie berichtet.

Bis vor kurzem galt als Rätsel, was aus den sterblichen Überresten der mindestens 20 000 Gefallenen der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 geworden ist. Nur ganze zwei Skelette wurden bei Ausgrabungen gefunden. An Erklärungen dafür mangelte es nicht. „So hieß es, die sterblichen Überreste seien in den 1820er-Jahren ausgegraben, nach England exportiert und dort zu Knochenmehl verarbeitet worden, bevor sie als Düngemittel auf den Feldern gelandet seien.“ Neueste Forschungsergebnisse zeigen nun, dass die Verwertung der Kriegstoten auf noch makabrere Weise geschah.

Der Aufstieg der Zuckerindustrie in Belgien nach 1833 erforderte einen ganz besonderen Stoff: Knochenkohle. „Preis und Nachfrage nach Knochen explodierten förmlich, weil die Fabriken die Knochen zu Knochenkohle verarbeiteten. Die wurde für die Filter benötigt, die zum Einsatz kamen, um den Zucker zu entfärben – nicht nur in Belgien, sondern auch in anderen Teilen Europas. Der Aufwand war gigantisch. Ein Politiker jener Tage bezifferte den Knochenbedarf auf ein Drittel des produzierten Zuckers.“ Die Beschaffung von genügend Nachschub war schwierig, weshalb alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. In einem zeitgenössischen Zeitungsartikel heißt es, eine Gruppe von Industriellen habe die Erlaubnis erhalten, das Schlachtfeld von Waterloo auszuheben, um die Gebeine der Gefallenen für die Zuckerproduktion zu nutzen. Wenn es ums Geschäft geht, muss die Pietät eben zurückstehen.

Jean Jaurès sagte zu der vor und in Kriegen angefachten bellizistischen Stimmung und den patriotischen Illusionen auf allen Seiten: „Das Vaterland gehört denen, die nichts anderes haben.“

Eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat, bei aller Empörung über den Aggressor, bei allem Mitgefühl und aller Hilfsbereitschaft für die Opfer, einen eher nüchternen Blick auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Sie spricht sich für einen möglichst baldigen Waffenstillstand aus, mit anschließenden Verhandlungen über eine diplomatische Lösung des Konflikts, so schwierig diese auch immer sein mag. Zu hoffen ist, dass die Bewegung für Frieden an Stärke und Einfluss gewinnt – nicht nur in Deutschland.

„Pandemisches Systemversagen“

Unter dem Titel „Pandemisches Systemversagen“ ist im Newsletter von medico international vom 29. November 2021 ein Artikel von Anne Jung erschienen. Die Politikwissenschaftlerin leitet die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation. Sie ist außerdem zuständig für die Themen globale Gesundheit und internationale Handelsbeziehungen.

Am 21. März 2021 war Anne Jung in einer von Business Crime Control e.V. und der KunstGesellschaft e.V. im Club Voltaire in Frankfurt am Main organisierten Matinee zu Gast, bei der es um die Kampagne „Patente töten“ ging, zu der sich Nichtregierungsorganisationen aus über 30 Ländern zusammengeschlossen haben. Sie fordern eine Aufhebung des Patentschutzes nicht nur für die neuen Corona-Impfstoffe, sondern für alle unentbehrlichen, lebensrettenden Medikamente. Arzneimittel müssten als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmakonzernen begrenzt werden. An der Aktion beteiligt ist auch medico international.

In ihrem Artikel stellt Anne Jung die Corona-Pandemie in den Zusammenhang weltweiter Krisen und struktureller Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten: „Das Virus traf auf Weltverhältnisse, die aus einer Pandemie eine Polypandemie machten… Die Polypandemie hat wirtschaftliche Insolvenzen ausgelöst, die Ernährungsunsicherheit wurde durch die Verbindung von Corona und Klimakatastrophe vergrößert und bestehende Hungersnöte verschärften sich… Im Gepäck internationaler Reisetätigkeiten und durch die konsequente Weigerung Europas und der USA, rasche Gegenmaßnahmen zu ergreifen konnte sich das Virus in rasanter Geschwindigkeit ausbreiten. Die maroden Gesundheitssysteme vieler Länder und nationalistische Politiken trugen ihr Übriges zur Ausbreitung bei.“

Um dem Virus Einhalt zu gebieten habe die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai 2020 – kurz nach dem ersten Lockdown in vielen Ländern Europas und anderen Teilen der Welt – einen weitreichenden und von der Idee globaler Solidarität getragenen Vorschlag gemacht: „Sie rief den Covid-19 Technologie-Zugangspool (C-TAP) ins Leben, um den rechtzeitigen, gerechten und erschwinglichen Zugang zu Covid-19-Gesundheitsprodukten zu erleichtern. Der C-TAP könnte ein Fokuspunkt sein für die Entwickler:innen von Covid-19-Therapeutika, -Diagnostika, -Impfstoffen und anderen Gesundheitsprodukten, die ihr geistiges Eigentum, ihr Wissen und ihre Daten mit qualitätsgesicherten Herstellern durch freiwillige und transparente Lizenzen teilen.“

Impfstoff-Nationalismus statt Solidarität

Dieser Vorschlag, für den sich außer der WHO auch mehr als 40 Länder des globalen Südens einsetzten, wurde von den Industrienationen, in denen die großen Pharmaunternehmen ansässig sind, ignoriert. An vorderster Stelle von der Bundeskanzlerin Angela Merkel und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie zogen es wie ihre Kolleginnen und Kollegen aus den anderen europäischen Ländern vor, mit der Pharmabranche Exklusivverträge zu schließen und im Interesse von deren Gewinnmaximierung die Patentierung der zu entwickelnden Medikamente gegen Corona unangetastet zu lassen.

Der WHO blieb nun nichts anderes übrig, als die reichen Länder um finanzielle Unterstützung für den Ankauf von Impfdosen für die ärmeren Ländern zu bitten und Verteilungsgerechtigkeit anzumahnen, zumal das Virus nur weltweit besiegt werden kann.

„Organisiert wird die Verteilung der Impfstoffe über die an die WHO angedockte Initiative Covax, die einen weltweit gleichmäßigen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen gewährleisten soll. Sie basiert auf freiwilligen Zuwendungen von Staaten, der Pharmaindustrie (lächerliche 1% der Summe hat sie bisher beigesteuert!) sowie von Stiftungen, allen voran der Bill & Melinda Gates-Stiftung, die ihrerseits auf die Aufrechterhaltung des Patentsystems pocht. Covax ist ein klassisches Projekt privat-öffentlicher Zusammenarbeit, mit der die globale Governance einer massiv fragmentierten Gesundheitsarchitektur fortgesetzt wird.“

Damit wird die Abhängigkeit der armen Länder von den Industrienationen fortgeschrieben und eine künstliche Verknappung des Impfstoffs bewirkt, die den Pharmakonzernen ihre Gewinne garantiert. Dabei haben sie bereits von der jahrzehntelang öffentlich geförderten Forschung beispielsweise zu der neuartigen mRNA-Technologie profitiert und für die schnelle Entwicklung von Impfstoffen in der Corona-Krise staatliche Unterstützungsgelder in Milliardenhöhe erhalten. Aber auch hier gilt das alte Motto: Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste.

Dem entsprechend wurde der Antrag von Indien und Südafrika zur Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Medizinprodukte für den Zeitraum der Pandemie im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) unter anderem von der Bundesregierung unter Merkel und Scholz und von der EU abgelehnt, obwohl ihn sogar die US-Regierung unter Biden so wie viele anderen Regierungen befürwortete.

Verlängerung der Pandemie

Anne Jungs bitteres Fazit: „Warum halten Länder wie Deutschland auch angesichts 250 Millionen Infizierter und mehr als fünf Millionen Toter weltweit weiter an dem Patentsystem fest und versuchen nicht alles, um die Pandemie einzudämmen? Es ist unübersehbar: In der Pandemie zeigen sich die systemischen Rahmenbedingungen des globalen politischen Arrangements neoliberaler Globalisierung auf unerträgliche und unannehmbare Weise. Um den Kapitalismus unangetastet zu lassen, wird die Verlängerung der Pandemie mit Millionen Toten durch die direkten und indirekten Folgen der Pandemie billigend in Kauf genommen.“

Der Protest gegen diese Verhältnisse sei in den letzten Jahren aber weltweit stärker geworden. Auch weil die Argumentation der Pharmakonzerne, der globale Süden sei nicht in der Lage, die Impfstoffe gegen Corona qualifiziert genug herzustellen, durchaus rassistische Untertöne enthält. Ein Großteil der hierzulande benötigten Medikamente wird beispielsweise längst – wegen des „komparativen Kostenvorteils“ – in Indien hergestellt. Andere Länder könnten binnen weniger Monate in die Produktion von Impfstoffen einsteigen. Ein Land wie Kuba hat gezeigt, dass auch bei begrenzten Ressourcen ein funktionierendes Gesundheitswesen aufgebaut und eigenständig ein Impfstoff gegen Corona entwickelt werden kann.

Der Artikel von Anne Jung schließt mit den Forderungen:

„Zugleich müssen die über die Pandemie hinausweisenden Fragen der globalen Gesundheitspolitik im Interesse der Menschen und nicht des Kapitals beantwortet werden: Die Abschaffung der Patente auf alle essentiellen Arzneimittel über die Pandemie hinaus; der Kampf um das Ende globaler Naturausbeutung, die eine der strukturellen Ursachen für Krankheitserreger ist, die immer neue Pandemien hervorruft. Eine konsequente Dekolonisierung der globalen Gesundheitspolitik, in der die dominanten Staaten Macht und Kontrolle abgeben, Wissen und Fähigkeiten teilen; der Aufbau von öffentlichen und allen zugänglichen Gesundheitssystemen als bestes Mittel zur Verhinderung weiterer Pandemien.“                                                                                                                                           

Quelle: www.medico.de

Aus der Beilage von BIG Business Crime zu Nr. 1/2022 von STICHWORT BAYER.

Kapital und Verbrechen

Man kann heute kaum mehr eine Tageszeitung aufschlagen, ohne nicht wenigstens im Wirtschaftsteil einen Artikel oder eine Nachricht über einen Fall von Wirtschaftskriminalität zu finden. Ab einer gewissen Skandalgröße schaffen sie es auf die vorderen Seiten, und wenn es um Verstrickungen mit politischen oder staatlichen Sphären geht, auch schon mal auf die Titelseite. Woran liegt es, dass die Zahl und Schwere der Fälle von Wirtschaftskriminalität – national wie international gesehen – zuzunehmen scheint? Oder ist das nur ein Ergebnis der wachsenden Berichtsdichte in Zeiten von Internet und globaler Vernetzung?

Psychologische Erklärungen wie etwa die in der „Finanzkrise“ 2008 ff. beliebt gewordene These, die unersättliche Gier der Unternehmer und Banker sei schuld an allem – neuerdings zum Beispiel an den betrügerischen Cum/Ex-Geschäften – tragen nicht sehr weit. Denn was ist mit der Psyche der Betreffenden passiert, dass sie jetzt plötzlich mehr hinter dem Geld her sein sollen als früher, und dabei zu unlauteren Praktiken greifen? Realistischer erscheint da schon die alte Spruchweisheit: Gelegenheit macht Diebe.

Um welche Gelegenheiten geht es dabei? Da ist einmal die seit der Dominanz des Neoliberalismus schwächer gewordene staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens samt ihren juristischen Normen. Wenn der Markt es richten soll, wird nicht nur, meist vergeblich, auf dessen vielbeschworene „Selbstheilungskräfte“ vertraut, sondern es kann auch veritabler Wildwuchs entstehen. Im Dschungel der härter werdenden Konkurrenz aller gegen alle gedeiht dann das, was „Raubtierkapitalismus“ genannt wird, um vom Kapitalismus als System nicht sprechen zu müssen. Das Darwinsche Prinzip des „survival of the fittest“ wird nun als Überleben des Brutalsten verstanden, der sich an möglichst wenig Regeln hält, um siegen zu können.

Eine andere Bedingung für das Aufblühen krimineller Ökonomie ist die immer größere Rolle, welche die Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft spielt. Mit Begriffen wie „Finanzialisierung“ oder „finanzmarktgetriebener Kapitalismus“ wird diese Entwicklung zu erfassen versucht. Scheinbar ist die Finanzsphäre inzwischen von der Produktionssphäre abgekoppelt. In ihr wird Kapital nicht mehr in erster Linie durch die Ausbeutung von Arbeitskraft und das Herstellen realer Produkte verwertet, sondern durch Geldverleih gegen Zinsen, Aktienkäufe, bestimmte Dienstleistungen und spekulative Geschäfte aller Art. Von jeher ist damit ein Odium des unehrlich bloß „Raffenden“ gegenüber dem ehrlich „Schaffenden“ verbunden. Hier setzt die Lehre von „zweierlei Kapital“ an, die Unterscheidung des guten Produktivkapitals vom bösen Finanzkapital, auf die sich auch Verschwörungslegenden wie die antisemitische beziehen.

Es ist dies die Sphäre, in der nach Marx die „Kapitalmystifikation in ihrer grellsten Form“ erscheint, weil Geld sich hier scheinbar aus sich selbst bzw. wie von selbst generiert und vermehrt. Eine gute Gelegenheit also für das Vorspiegeln falscher Tatsachen, für das Täuschen und Zocken, das Übervorteilen und Betrügen. Marx beschreibt das wie folgt: Es entstehe „eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektemachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel“ 1).

Wie ausgedehnt und mächtig die Finanzwirtschaft inzwischen geworden ist, hätte sich Marx allerdings nicht denken können oder träumen lassen. Eine Voraussetzung dafür ist die Überakkumulation von Kapital, das keine produktiven Anlagemöglichkeiten mehr findet und auch nicht mittels höherer Besteuerung einer sinnvollen Verwendung für das Gemeinwohl zugeführt wird.

Warum geschieht letzteres nicht oder warum wäre das so schwer zu machen? Dazu hat der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer 1996 vor Staatsmännern aus aller Welt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt: „Ich habe bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden.“ 2)

Inzwischen kommt im Finanzbereich noch die Digitalisierung hinzu, die alle Prozesse beschleunigt, zum Beispiel die Spekulation im „Sekundentrading“. Sie erleichtert auch den Betrug –  siehe den Fall Wirecard. Die mit der Digitalisierung verbundene weitergehende Abstraktion vom Konkreten bringt es mit sich, dass ein fingiertes Milliarden-Guthaben auf einem philippinischen Konto bei laxer Überprüfung jahrelang als existent durchzugehen vermag.

Auch wenn es immer um das reale Handeln realer Menschen geht, die dafür verantwortlich gemacht werden können und müssen: Stark bestimmt wird ihr Handeln durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Erwartungen ihres Umfelds, den Verwertungsdrang und Wachstumszwang des Kapitals, dem sie als Unternehmer gerecht werden müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Statt den „absoluten Bereicherungstrieb“ von Unternehmern zur Erklärung von Normverstößen heranzuziehen, den er einfach voraussetzt, spricht Marx lieber vom „Trieb der kapitalistischen Produktion“, alle Grenzen zu überschreiten, wenn sie ihr nicht mit genügend Macht und Nachdruck aufgeherrscht werden. Im „Kapital“ bringt er dazu – in griffiger Übersetzung – eine Passage aus einem Buch des englischen Gewerkschaftsfunktionärs J.T. Dunning von 1860, der sich seinerseits auf eine Zeitschrift bezieht, in der die noch heute gern angeführte These vertreten wird, das Kapital sei ein scheues Reh, das man nicht verschrecken solle: „Kapital, sagt der Quarterly Reviewer, flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“ 3)

Diese oft zitierte Stelle bedeutet einerseits, dass die Kapitalverwertung, die Profitmacherei zunächst nicht per se kriminell ist. Sie folgt dem Prinzip des gleichen und zugleich ungleichen Tauschs Arbeitskraft gegen Lohn, aus dem sich der Mehrwert als Differenz zwischen dem Wert der Arbeitsleistung und dem Wert der Arbeitskraft (= Lohn) ergibt. Bei der Aneignung des Mehrwerts oder Gewinns durch Unternehmer und Aktionäre handelt es sich also nicht um einen Betrug, sondern um eine Folge der strukturellen Ungleichheit von Kapital und Arbeit und des Widerspruchs zwischen beiden.

Die weiteren Mechanismen der Kapitalverwertung, das Streben nach Höchstprofit „bei Strafe des Untergangs“ 4), das Verdrängen anderer aus dem Markt und ihre feindliche Übernahme, bringen eine heftigere Versuchung mit sich, sich dabei auch illegaler Methoden zu bedienen, wenn nicht hingeschaut wird. Die Abgasmanipulationen der deutschen Automobilindustrie sind dafür das beste Beispiel. Von Machenschaften, die im ethischen oder moralischen Sinn illegitim, also verwerflich sind, aber (noch) nicht gesetzlich verboten, ganz zu schweigen.

Wirtschaftskriminalität als gesondertes Delikt zu skandalisieren und zu verfolgen ist deshalb möglich und notwendig. Wenn dabei jedoch nicht über ihre systemischen Hintergründe aufgeklärt wird, bleibt es beim nicht sehr nachhaltigen Personalisieren und Moralisieren von Schuld oder bei der Suche nach Sündenböcken und Bauernopfern. Der Fall Wirecard und seine Verarbeitung in den Medien als spannende Kriminalstory und „größter Bilanzskandal in der Geschichte der Bundesrepublik“ bietet dafür wieder einmal Anschauungsmaterial. Aber eins sollte klar sein: Wer „bandenmäßigen Betrug“ begangen hat, wie laut Staatsanwaltschaft die Chefs von Wirecard, wer damit „eine moderne Version der Mafia“ begründet hat, wie der „Spiegel“ 5) titelte, hat das Gefängnis verdient.

 

Anmerkungen:

1) Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 4

2) Zit. nach Heinz-J. Bontrup: „Wirtschafts-Macht“, in Ossietzky Nr. 3/2021, Seite 80

3) Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, Seite 788

4) Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 255

5) „Inside Wirecard – ‚Eine moderne Version der Mafia‘“. Titelblatt des „Spiegel“ Nr. 6/2021

Reiner Diederich
war bis 2006 Professor für Soziologie und Politische Ökonomie an der FH Frankfurt am Main. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2021 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

 

Wissenschaft für wen?

 Eine Meldung aus der Frankfurter Rundschau vom 22./23. August 2020: „Weltbank rechnet mit steigender Armutsquote: Durch die Corona-Pandemie könnten laut Schätzung der Weltbank 100 Millionen Menschen weltweit in extreme Armut abrutschen. Die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen werde laut neuester Schätzung der auf Entwicklungsförderung spezialisierten Organisation um 70 bis 100 Millionen zunehmen, sagte Weltbank-Chef David Malpass. ‚Die Zahl kann sogar noch weiter steigen‘, wenn sich die Pandemie weiter verschlimmere und noch lange hinziehe.“

Bei dieser Nachricht über das weltweite Anwachsen absoluter Armut fehlt ein Hinweis auf die relative Armut, die nach allem, was man weiß oder wissen könnte, ebenfalls wächst. Und vor allem wird als Ursache fälschlicherweise die Corona-Pandemie angegeben – während es doch in Wirklichkeit die Art des Umgangs mit der Pandemie ist, die Armut verursacht. Unter kapitalistischen Verhältnissen hat jeder Einzelne die Folgen unerwarteter Ereignisse zu tragen, allenfalls abgefedert durch finanzielle und andere Hilfen, sofern es eine funktionierende Sozialpolitik gibt. Statt diesen Verhältnissen die Schuld an der Verarmung zu geben, ist es einfacher und bequemer, das Virus als angebliche Naturplage dafür verantwortlich zu machen.
Große Konzerne wie Google und Amazon konnten in der Corona-Krise ihre Umsätze und Gewinne immens steigern. Andere mussten durch die staatichen Krisenprogramme unterstützt werden. Bei mittleren und kleineren Unternehmen und bei den kleinen Selbstständigen hingegen wird die drohende Pleitewelle nur dank staatlicher Hilfe noch etwas hinausgezögert. Krisen – ganz gleich, ob sie konjunkturell, strukturell oder anders begründet sind – haben unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen nun einmal die Funktion, den Markt zu „bereinigen“ und die Konzentration des Kapitals zu fördern.
Die Kluft zwischen Armut und Reichtum wird national wie international durch die Corona-Krise und die ihr gegensteuernde Wirtschaftspolitik nicht verringert – sie wird weiter anwachsen.

Wie steht es aber schon gegenwärtig mit den Verteilungsverhältnissen in einem hochindustrialisierten Land wie der Bundesrepublik Deutschland? Das geht aus einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hervor, deren Ergebnisse im Juli 2020 veröffentlicht wurden. Aus einer früheren Studie des DIW stammt die Angabe, dass weniger als 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also mehr als über 40 Millionen Menschen. Inzwischen entfallen 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Bevölkerung, 35 Prozent dieses Vermögens konzentriert sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt noch auf 20 Prozent des Vermögens.

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge schreibt in einem Bericht über diese Untersuchung, dass die Forscher des DIW „auf eine Spezialstichprobe von Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) zurückgriffen, eine Sonderbefragung von Vermögensmillionären vornahmen und die Reichenliste eines Wirtschaftsmagazins einbezogen. … Aufgrund der neuen Untersuchungsmethode beziffert das DIW den Gini-Koeffizienten auf 0,83. Dabei handelt es sich um ein Maß, das bei Gleichverteilung (alle Personen besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. Das 0,83 entspricht fast dem US-Vergleichswert, was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage zeigt.“ („Hunde, die bellen, aber nicht beißen“, Frankfurter Rundschau vom 14. August 2020)

Die Ergebnisse der DIW-Studie legen nahe, eine Rückverteilung von oben nach unten über Erbschafts- und Vermögenssteuern zu fordern und wenigstens einen Lastenausgleich zur Finanzierung der riesigen staatlichen Hilfsprogramme, die in der Corona-Krise aufgelegt wurden. Das entspräche auch dem, was sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung seit langem bei Meinungsumfragen zum Thema Vermögensverteilung wünscht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DIW lehnen aber eben dies ab. Ihre Argumente sind die altbekannten: Die Fähigkeit der Vermögenden, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, werde durch jede Art von höheren Abgaben eingeschränkt.
Das in spekulativen Kreisläufen weltweit zirkulierende überschüssige Kapital, das keine produktive Anlage mehr findet und längst keine mehr nötig hat, spricht einer solchen Argumentation Hohn.
Christoph Butterwegge meint dazu: „Wenn es um die Verhinderung einer höheren Besteuerung von Reichen und Hyperreichen geht, ist diesen wie ihren publizistischen und wissenschaftlichen Steigbügelhaltern kein Vorwand zu fadenscheinig.“ Schere im Kopf oder vorauseilender Gehorsam, um Aufträge und Reputation im Mainstream nicht zu gefährden?

Einer der Autoren der DIW-Studie, Markus Grabka, war 2017 Referent auf einer Fachtagung von Business Crime Control zum Thema „Soziale Ungleichheit und Kapitalkriminalität“. Dort stellte Grabka empirisch exakte Daten zum Auseinanderdriften sowohl von Einkommen wie auch von Vermögen in der Bundesrepublik vor. Während die mittleren Einkommen in den Jahren von 1991 bis 2014 um mehr als acht Prozent stiegen, legten die höchsten Einkommen zeitgleich um bis zu 26 Prozent zu. Die unteren Einkommen gingen dagegen real zurück. Folglich hatte die Einkommensungleichheit insgesamt zugenommen. Auch das Risiko, arm zu sein, war zuletzt wieder gestiegen. Grabka betonte, wie unvollständig die Daten bei der Vermögensverteilung seien. Über die Superreichen sei wenig bekannt. Die gut erfassten unteren 50 Prozent der Bevölkerung hätten einen verschwindend geringen Anteil am Gesamtvermögen. Ganz unten gebe es kein Vermögen, sondern nur Schulden. Die Bundesrepublik schneide auch im internationalen Vergleich schlecht ab, was die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die ungleiche Verteilung der Steuerlast zwischen Lohn- und Gewinneinkommen betrifft.
Es ist immer wieder erstaunlich, welche geringe Rolle gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse in der politischen Auseinandersetzung spielen und wie wenig praktische Konsequenzen aus ihnen selbst diejenigen ziehen, die sie erarbeitet haben.

Bei den sich abzeichnenden Konflikten darum, wer die Kosten der Corona-Krise zu tragen hat, könnten und sollten die Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zur Aufklärung genutzt werden. Wenn der Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat der SPD Olaf Scholz neuerdings davon spricht, dass die Besserverdienenden und Vermögenden stärker zur Kasse gebeten werden müssten, so ist das ein kleines Zeichen der Einsicht, das aber nicht ausreicht. Ohne eine breite Mobilisierung für mehr Steuergerechtigkeit und gegen die legale oder illegale „Steuerverkürzung“ der Reichen und Superreichen wird sich kaum etwas ändern.

Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitswirtschaft

Die Corona-Pandemie hat ins Bewusstsein gerückt, welche Folgen die zunehmende Ökonomisierung und Privatisierung im Gesundheitswesen mit sich bringt. Das fing schon bei den fehlenden Vorräten von Masken, Schutzkleidung und anderen Hilfsmitteln an. Der Normalbetrieb in den Krankenhäusern musste unterbrochen werden, weil es an genügend Reserven beim Personal und bei der intensivmedizinischen Ausrüstung mangelte. Die unter dem Diktat einer Kostensenkung getätigten Sparmaßnahmen machten sich so schlagend bemerkbar.

Ein guter Grund also, um gegen die Verwandlung des eigentlich auf das Gemeinwohl und die bestmögliche Versorgung von Kranken verpflichteten Gesundheitswesens in eine gewinnorientierte Gesundheitswirtschaft Einspruch zu erheben, die Rücknahme der Privatisierung von Krankenhäusern zu fordern, sich für eine bessere Bezahlung und erträglichere Arbeitsverhältnisse für Pflegekräfte einzusetzen. Das geschah und geschieht auch.

Dabei könnten die schon seit Jahren veröffentlichten kritischen Berichte und Streitschriften zur Misere im Gesundheitssystem und zu den Praktiken der Pharmakonzerne für die Aufklärung nützlich sein und reale Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Zwei von ihnen sollen hier vorgestellt werden.

Peter Christian Gøtzsche ist ein dänischer Facharzt für Innere Medizin, der viele Jahre klinische Studien für Pharmaunternehmen erstellte. Seit 2010 hat er eine Professur für klinisches Forschungsdesign und Analyse an der Universität Kopenhagen. In seinem 2019 neu aufgelegten Buch „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert“ rechnet er schonungslos mit Fehlentwicklungen und wirtschaftskriminellen Verflechtungen bei der Herstellung von Heilmitteln ab.

Gøtzsche zitiert einen ehemaligen Marketingdirektor der Firma Pfizer, der die Pharmaindustrie mit der Mafia vergleicht. In den USA übertreffe sie, was die Zahl der Straftaten betrifft, alle anderen Branchen. Sie begehe mehr als dreimal so viele schwere oder mittelschwere Gesetzesverstöße wie andere Unternehmen. Auch wenn es um Bestechung und Korruption oder gefährliche Fahrlässigkeit bei der Produktion von Medikamenten geht, seien die Pharmakonzerne Rekordhalter. Alle, die für ihren Verkaufserfolg wichtig sind, würden mit Vorteilen bedacht: Ärzte, Krankenhausverwalter, Beamte in den einschlägigen Behörden, Hochschullehrer, Minister, politische Parteien.

Im Unterschied zu anderen Waren ist der Gebrauchswert, der Nutzen von Medikamenten für diejenigen, die sie konsumieren, weil sie ihnen verordnet wurden, in den meisten Fällen nur unzureichend zu beurteilen. Das gilt besonders auch für die Nebenwirkungen. Die Patienten müssen sich hier auf ihre Ärzte verlassen – und die müssen sich letzten Endes auf die Fachleute verlassen, die diese Medikamente entwickelt, in klinischen Studien erprobt und schließlich zugelassen haben. Das wäre alles kein Problem, wenn nicht mit Medikamenten hohe Gewinne gemacht werden könnten, weil die Firmen, die sie produzieren, ein Patent und Vermarktungsmonopol für sie haben.

Das verführt Unternehmen dazu, wie Gøtzsche an vielen Beispielen belegt, Medizin auf den Markt zu bringen, deren Nutzen fragwürdig ist, die kaum einen Neuigkeitswert besitzt oder für den Patienten sogar Risiken birgt. Mit Hilfe von bezahlten Gutachtern wird dies dann häufig zu vertuschen versucht. Um mehr Produkte absetzen zu können, schöpfen die Pharmakonzerne alle Beeinflussungsmöglichkeiten aus, um neue Krankheiten zu definieren oder bestehende Grenzwerte für das, was als behandlungsbedürftig gilt, herunterzuschrauben. Bei den Blutdruck- und Cholesterinwerten ist das mit Erfolg geschehen. Auf der anderen Seite werden sinnvolle und notwendige Medikamente erst gar nicht entwickelt, wenn sie keinen Profit abzuwerfen versprechen.

Ein Kapitel gegen Ende des Buches betitelt der Autor mit dem Aufruf: „Den Pharmakonzernen Paroli bieten“. Darin macht Gøtzsche eine Reihe von Vorschlägen. Neue Medikamente sollten in staatlichen Betrieben entwickelt – oder mit öffentlichen Mitteln honoriert, statt privat patentiert zu werden. Bei ihrer Erprobung und Zulassung müsse Transparenz oberstes Gebot sein. Es sollte in allen Ländern öffentlich zugängliche Register über die Zusammenarbeit von Ärzten mit der Industrie geben. Und den Pharmaunternehmen solle man kein Wort mehr glauben, jedenfalls solange nicht, wie sie sich in privater Hand befinden.

Das zweite hier vorzustellende Buch ist ebenfalls im letzten Jahr erschienen: „Erkranken schadet Ihrer Gesundheit“ von Bernd Hontschik. So ironisch und locker der Titel klingt sind auch manche der in ihm  versammelten Glossen und Skizzen zum Gesundheitswesen verfasst – bei aller Ernsthaftigkeit der Kritik an dessen neoliberaler Umformung.

Hontschik war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und dann bis 2015 in eigener Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers „Körper, Seele, Mensch“ und Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag. Regelmäßig schreibt er Kolumnen in der Frankfurter Rundschau und der taz. Sie bilden das Ausgangsmaterial für sein neues Buch.

Hontschiks Blick auf die Probleme könnte man im besten Sinne als den eines Sozialmediziners charakterisieren. Schon am Anfang des Buches berichtet er über die Schwierigkeit, Todesursachen zu definieren – was ja gerade wieder bei der Corona-Pandemie aktuell geworden ist. Er verweist dabei auf die entscheidende Frage, den Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit mit den sozialen Verhältnissen: „Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Menschen, die in Armut leben, eine mindestens zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben als ökonomisch sorgenfreie Menschen, ist dann Armut die Todesursache?“

Unter dem Titel „Arme Viren“ benennt Hontschik eine Reihe von Infektionskrankheiten, die viele Millionen Menschen in den Ländern des Südens befallen haben und immer noch befallen: die Chagas-Krankheit, das Denguefieber, die Chikungunya-Krankheit, das Zika-Fieber und Ebola. Für all diese epidemischen Infektionen gibt es keine Medikamente und keine Impfstoffe – außer neuerdings gegen das Denguefieber, wo die Impfung aber unbezahlbar teuer ist. Hontschiks Fazit: „Für Erkrankungen armer Menschen in armen Ländern hat die Medizin nichts zu bieten. Es gibt keine Behandlung, es gibt keine Impfung, es wird gar nicht erst geforscht, wenn keine Profite am Horizont winken. Gäbe es keine Slums, gäbe es keine katastrophalen sanitären Verhältnisse, dann wären all diese Krankheiten kein wirkliches Problem.“

Auch bei uns spielt das Geld inzwischen eine Hauptrolle im Gesundheitswesen. Mit dem Märchen von der „Kostenexplosion“ wurde seit den 1970er Jahren die Politik der Einsparung, des Stellenabbaus und der Privatisierung begründet. Heute steht Deutschland bei der Zahl der privatisierten Krankenhausbetten weltweit an der Spitze, noch vor den USA. Es geht nun um Rendite und Wettbewerb. Da passt es gut, dass mit dem System der „Fallpauschalen“ die Krankenhausfinanzierung von Tagessätzen auf Operationszahlen umgestellt wurde. Seitdem gibt es immer mehr entsprechende Indikationen, werden immer mehr Wirbelsäulen versteift, Knie ersetzt und Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht.

„Mit guter Medizin hat das nichts zu tun“, stellt Hontschik fest. Wohl aber mit der Erzielung hoher Dividenden, wie sie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig erreichbar sind. Dieses Geld stammt letztlich aus den Beiträgen der Versicherten und wird dem Gesundheitswesen entzogen. Hontschik nennt das „einen – wenn auch legalisierten – Diebstahl öffentlichen Eigentums“.

Es versteht sich, dass der Autor für eine solidarische Bürgerversicherung eintritt, in die alle, auch die Beamten und Selbständigen einzahlen sollen – also auch die Besserverdienenden mit dem geringeren Krankheitsrisiko.

 

Peter C. Gøtzsche:
Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität.
Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert

Riva Verlag, München 2019
512 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-7423-1161-0

 

Bernd Hontschik:
Erkranken schadet Ihrer Gesundheit

Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2019
160 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-86489-265-3

 

 

„Clan-Kriminalität“ und die Medien

Die Ethnisierung sozialer Probleme ist ein gerne gebrauchtes Ablenkungsmittel, um Sündenböcke für sie benennen zu können. Nicht nur Rechtsextreme und Rechtspopulisten bedienen sich dieses Mittels. Auch in der „bürgerlichen Mitte“, bei ihren Parteien und Medien gibt es eine Tendenz, weniger nach den sozialen und ökonomischen Ursachen von Kriminalität zu fragen, als die ethnische Herkunft der Täter zum Thema zu machen.

Im seit den 1980er Jahren beliebt gewordenen Begriff „Ausländerkriminalität“ kam diese Tendenz zum Ausdruck. Er suggerierte, dass es unter den „ausländischen“ Bewohnerinnen und Bewohnern der Bundesrepublik eine besondere Affinität zu kriminellen Handlungen gebe oder dass es zumindest aussagekräftig sei, ihr normabweichendes Verhalten pauschal mit dem der Allgemeinheit statistisch zu vergleichen. Dabei wurden unter „Ausländer“ völlig disparate Gruppen zusammengefasst – von seit langem im Land lebenden Migranten über Asylbewerber bis hin zu vorübergehend Eingereisten. Die stets überproportional wirkenden Zahlen zur „Ausländerkriminalität“ täuschten auch deshalb, weil Altersstruktur, Geschlechterverteilung und Schichtzugehörigkeit der „Ausländer“ sich von der Mehrheitsgesellschaft erheblich unterschieden. Diese Merkmale sind es aber, die in erster Linie für die Kriminalitätsbelastung bestimmend sind.

Die Rolle der Presse in diesem Zusammenhang haben wir an der Fachhochschule Frankfurt a. M. in den 1990er Jahren bei einem deutsch-französischen Forschungsprojekt exemplarisch untersucht. Ergebnis war, dass nicht nur Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot, sondern regelmäßig auch Kriminalität mit der Zuwanderung und Anwesenheit von „Fremdethnischen“ in Verbindung gebracht wurde. Die Position einer Zeitung im politischen Spektrum entschied dabei über den Grad der Stigmatisierung dieser Gruppen *).

Inzwischen ist in der Bundesrepublik kaum noch von hier lebenden „Ausländern“ die Rede, sondern mehr von Menschen „mit Migrationshintergrund“. Das trägt der Tatsache der realen Einwanderung Rechnung. Der Begriff „Ausländerkriminalität“ kam daher aus der Mode. Aber nach wie vor berichten die Medien – entgegen einer vom Presserat gesetzten Regel – gerne mehr oder weniger offen über die ethnische Zugehörigkeit von Tatverdächtigen, Angeklagten und Verurteilten. Es reicht ja oft schon der nicht deutsch klingende Vorname.

Seit einiger Zeit erscheinen nun in Zeitungen und Zeitschriften groß aufgemachte Artikel über die Kriminalität bestimmter „Clans“. Gemeint sind damit nicht etwa betrügerische Machenschaften von Cliquen der Manager-Elite, wie beispielsweise bei den Cum/Ex-Geschäften. Auch nicht die Geschäfte der italienischen Mafia, die es geschafft hat, in Deutschland Rückzugsräume einzurichten und weitgehend unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung zu bleiben. Es geht vielmehr um aus dem Nahen Osten zugewanderte Großfamilien, von denen etliche Mitglieder Straftaten begehen, die dem Bereich der Organisierten Kriminalität zugerechnet werden können. Ihr Treiben sei – angeblich auch aus Rücksicht auf den sonst eventuell erhobenen Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit – lange Zeit nicht genügend von Polizei und Gerichten verfolgt worden.

Umso sensationeller gestalten sich die Berichte über neuerdings verstärkt stattfindende Polizeirazzien in diesem Milieu. Man kann den Eindruck gewinnen, dass an die Stelle des diskriminierenden Begriffs „Ausländerkriminalität“ der scheinbar objektive der „Clan-Kriminalität“ getreten ist. Dieser kann aber eine ähnliche Funktion erfüllen: Er lässt organisiertes Verbrechen als ein „uns fremdes“ Problem von kulturell Fremden erscheinen.

Dass es bei der „Clan-Kriminalität“ keineswegs nur um Tatbestände geht, die nicht geleugnet werden können und sollen, zeigt eine Passage aus einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Dort stand über den Ministerpräsidenten von NRW und Aspiranten auf den CDU-Vorsitz Armin Laschet zu lesen: „Laschet gilt als Muslimversteher, doch ins Innenministerium hat er sich den harten Hund Herbert Reul geholt, der einen Kreuzzug gegen kriminelle Clans führt“ (16. Februar 2020). Was hat das eine denn mit dem anderen zu tun? Und welche Assoziationen sollen hier mit dem Wort „Kreuzzug“ geweckt werden?

Nach den rassistischen Morden in Hanau hat die Rapperin Ebow, eine Deutsche kurdischer Herkunft, in einem Interview im Spiegel über den Täter und die Tat gesagt: „Bevor sein Bekennerschreiben analysiert wurde, waren erst mal Clans in Verdacht. Zunächst wurde von ‚Shisha-Morden‘ gesprochen, genauso wie die Mordtaten des NSU anfangs ‚Döner-Morde‘ genannt wurden“ (Spiegel online, 24. Februar 2020). Diese versuchte Täter-Opfer-Umkehr gehört zur nicht nur bei deutschen Behörden, sondern auch bei größeren Teilen der deutschen Bevölkerung zu beobachtenden strukturellen Rechtsblindheit.

Dazu passt, dass Friedrich Merz, Mitbewerber für den CDU-Vorsitz, auf die Frage nach seinen Konzepten zur Bekämpfung der Gefahr von Rechts geantwortet hat, dass er „Themen wie Clan-Kriminalität und schärfere Grenzkontrollen stärker in den Fokus stellen wolle“ (Spiegel online, 25. Februar 2020).

In einem Artikel von Sanem Kleff und Benno Plassmann in der taz vom 27. Januar 2020 heißt es: „Razzien bei ‚Clans‘ vermitteln ein rassistisch geprägtes Bild von organisierter Kriminalität. Demokratiegefährdend aber sind ganz andere Strukturen.“ Sowieso betreffe „der weitaus größte Teil bekannter Fälle Gruppierungen, die von Deutschen dominiert waren.“ Der Lagebericht Organisierte Kriminalität des Bundeskriminalamts für 2018 melde „6.483 Tatverdächtige, von denen nur 7,2 Prozent als ‚Zuwanderer‘ erfasst wurden… Diese Gruppe Tatverdächtiger wurde vom BKA erstmals gesondert erfasst, wobei als Symbol zur Kennzeichnung der Gruppe ausgerechnet das Piktogramm eines überfüllten Flüchtlingsboots gewählt wurde.“

Wenn es schon die Zahlen nicht hergeben, muss es wenigstens die Symbolik tun.

In einem Beitrag zum Thema „Clan-Kriminalität“ in der Zeitschrift Ossietzky  gibt Ulla Jelpke den Rat, man solle auch einmal über deutsche Familienclans sprechen, die „durch Kolonialkriege, Kriegsproduktion und durch die Ausbeutung von Zwangsarbeit reich wurden. Sprechen wir beispielsweise einmal über den Hohenzollern-Clan, der die Dreistigkeit besitzt, nun seine aufgrund seiner Kollaboration mit den Nazis enteigneten Schlösser zurückzufordern“ (Heft 4, 22. Februar 2020).

*) Vgl. Reiner Diederich / Lothar Kupp: Das Bild des Fremden in der Presse von Marseille und Frankfurt a. M., Forschungsbericht, Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule Frankfurt am Main, 2000

Reiner Diederich
war bis 2006 Professor für Soziologie und Politische Ökonomie an der FH Frankfurt am Main. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

 

Raus aus der Kohle – sonst schmelzen die Pole

„Im Rheinischen Revier und in der Lausitz kratzen die größten Bagger der Welt 24 Stunden am Tag an 365 Tagen im Jahr gigantische Mengen an Braunkohle aus der Erde.
Das rheinische Braunkohlerevier ist damit die größte CO2-Quelle Europas. Jede Tonne Braunkohle, die RWE und Vattenfall aus der Erde holen und verbrennen, schmilzt fast zwei Tonnen Gletscher. Und zwar Jahr für Jahr. Das haben die Klima-Fachleute von Climate Analytics für Campact ausgerechnet.
• Jede Sekunde holen die größten Bagger der Welt in Deutschland fast 6 Tonnen Braunkohle aus der Erde.
• Die schmelzen 11 Tonnen Gletscher – Sekunde für Sekunde.
• Jede Minute sind es 660 Tonnen, jede Stunde fast 40.000 Tonnen, jeden Tag 950.000 Tonnen Gletscher.
Alles durch deutsche Braunkohle. Der komplette Irrsinn – Klimazerstörung mit deutscher Effizienz und Gründlichkeit.“

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