„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ – dies hatte der französische Sozialist Jean Jaurès zur Warnung vor dem Ersten Weltkrieg gesagt. Gemeint war, dass die Mechanismen der Kapitalverwertung – Konkurrenz um Rohstoffe, Arbeitskräfte, Marktanteile, Absatzmärkte und Gewinnmargen – früher oder später zwangsläufig zu Kämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen um Einflusssphären, territoriale Ausdehnung von Staaten und koloniale Landnahme führen. Der Kapitalismus trete dann in sein imperialistisches Stadium ein. In dem befinden wir uns noch.

Vorbereitet und begleitet würden diese Auseinandersetzungen durch nationalistische und rassistische Ideologien und die Produktion entsprechender Selbstidealisierungen und Feindbilder: „Wir“ sind dann die Guten mit den besten Absichten und den höheren Werten. „Die“ sind die Bösen, Kulturlosen, im Zweifel die Unmenschen. Und dies jeweils wechselseitig.

Ohne den völkerrechtlichen Unterschied zwischen Angreifer und Angegriffenem verwischen zu wollen, das Recht auf Selbstverteidigung zu bestreiten, die russischen Kriegsverbrechen zu relativieren oder das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung zu missachten: Auch der Krieg in der Ukraine trägt, besonders wenn man seine Vorgeschichte einbezieht, Züge eines imperialen Ringens um Einflusszonen und Ressourcen – mit all den ideologischen Überhöhungen, die dazugehören. Nicht nur auf Seiten Russlands, sondern ebenso auf Seiten der USA, die 2014 den prowestlichen Umsturz in der Ukraine förderte und sie gegen den Rat ihrer eigenen außenpolitischen „Realisten“ in die Nato zu integrieren beabsichtigte, um Russland zu schwächen.

Auch im Ukrainekrieg haben, wie bei Kriegen unter kapitalistischen Bedingungen immer, die Rüstungsindustrie und ihre Zulieferer etwas zu gewinnen. Der Aktienkurs von Rheinmetall, einer der größten deutschen Rüstungsschmieden, schoss seit Kriegsbeginn so in die Höhe, dass man den Konzern in Rheingold umbenennen könnte. Als Folge der gegen Russland verhängten Sanktionen und der Reaktionen darauf stiegen die Preise für Öl und Benzin so stark an, dass der Profit der Mineralölkonzerne explodierte. Bei den anschließenden Preiserhöhungen für Güter des täglichen Bedarfs ist nicht sicher, ob die Situation nicht für spekulative „Mitnahmeeffekte“ ausgenutzt wurde und wird. Eine geplante „Gasumlage“, um die horrend wachsenden Energiekosten den Verbraucherinnen und Verbraucher in Rechnung zu stellen, entpuppte sich als ausgesprochen unsozial. Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Kompensation der Belastungen für Lohnabhängige und kleine Selbständige sind äußerst unzureichend.

So wächst die Kluft zwischen Armut und Reichtum weiter und schneller – nicht nur in unserem Land, sondern, als Folge des Krieges und des ihn begleitenden Wirtschaftskrieges, auch international.

Das in der von der Regierung proklamierten „Zeitenwende“ abrupt aufgelegte 100 Milliarden Euro teure Programm für die Aufrüstung der Bundeswehr verschiebt die Gewichte staatlicher Investitionen zugunsten des Militärischen. Schon lange notwendige Investitionen in die zum Teil marode zivile Infrastruktur müssen zurückstehen. Zu erwarten und befürchten ist, dass die Kosten für die Hochrüstung in den nächsten Jahren durch Einsparungen im Sozial- und Kulturbereich gedeckt werden sollen. Aufgrund der anhaltenden Blockade der FDP wird die Ampelkoalition wohl weder eine durchgreifende Steuer auf krisenbedingte Extraprofite noch einen Lastenausgleich mit höherer Besteuerung der Besserverdienenden, der Vermögenden und reichen Erben zustande bringen. Obwohl mehr als Dreiviertel der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Verteilung von Einkommen und Vermögen für ungerecht halten.

Krieg ist nichts, was der Kapitalverwertung entgegensteht. Der Nationalökonom Joseph Schumpeter hat als Wesen des Kapitalismus die „schöpferische Zerstörung“ benannt. Altes zerstören und Neues wieder aufbauen, das generiert Gewinne, schafft und sichert Arbeitsplätze – durch alle kriegsbedingten Krisen hindurch. Auch die Hochrüstung wirkt in gewisser Weise wie ein Konjunkturprogramm, selbst wenn die produzierten Güter der Vernichtung dienen. 

Es ist sicherlich kein Zufall, dass man sich jetzt wieder an eine Geschichte aus der europäischen Vergangenheit erinnert, die den Zusammenhang von Krieg und Geschäft in krassester Weise beleuchtet. Unter dem Titel „Gefallen, zermalmt und aufgelöst“ wurde in der F.A.Z. vom 18. August 2022 über sie berichtet.

Bis vor kurzem galt als Rätsel, was aus den sterblichen Überresten der mindestens 20 000 Gefallenen der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 geworden ist. Nur ganze zwei Skelette wurden bei Ausgrabungen gefunden. An Erklärungen dafür mangelte es nicht. „So hieß es, die sterblichen Überreste seien in den 1820er-Jahren ausgegraben, nach England exportiert und dort zu Knochenmehl verarbeitet worden, bevor sie als Düngemittel auf den Feldern gelandet seien.“ Neueste Forschungsergebnisse zeigen nun, dass die Verwertung der Kriegstoten auf noch makabrere Weise geschah.

Der Aufstieg der Zuckerindustrie in Belgien nach 1833 erforderte einen ganz besonderen Stoff: Knochenkohle. „Preis und Nachfrage nach Knochen explodierten förmlich, weil die Fabriken die Knochen zu Knochenkohle verarbeiteten. Die wurde für die Filter benötigt, die zum Einsatz kamen, um den Zucker zu entfärben – nicht nur in Belgien, sondern auch in anderen Teilen Europas. Der Aufwand war gigantisch. Ein Politiker jener Tage bezifferte den Knochenbedarf auf ein Drittel des produzierten Zuckers.“ Die Beschaffung von genügend Nachschub war schwierig, weshalb alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. In einem zeitgenössischen Zeitungsartikel heißt es, eine Gruppe von Industriellen habe die Erlaubnis erhalten, das Schlachtfeld von Waterloo auszuheben, um die Gebeine der Gefallenen für die Zuckerproduktion zu nutzen. Wenn es ums Geschäft geht, muss die Pietät eben zurückstehen.

Jean Jaurès sagte zu der vor und in Kriegen angefachten bellizistischen Stimmung und den patriotischen Illusionen auf allen Seiten: „Das Vaterland gehört denen, die nichts anderes haben.“

Eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat, bei aller Empörung über den Aggressor, bei allem Mitgefühl und aller Hilfsbereitschaft für die Opfer, einen eher nüchternen Blick auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Sie spricht sich für einen möglichst baldigen Waffenstillstand aus, mit anschließenden Verhandlungen über eine diplomatische Lösung des Konflikts, so schwierig diese auch immer sein mag. Zu hoffen ist, dass die Bewegung für Frieden an Stärke und Einfluss gewinnt – nicht nur in Deutschland.