Seit den späten 1980er Jahren beschleunigte die „Bekämpfung“ der Organisierten Kriminalität (OK) nicht nur die Verschärfung der deutschen Strafgesetzgebung, sondern prägte auch wesentlich die rechtspolitische Diskussion um die öffentliche Sicherheit. Nach „9/11“ wurde dann eine ständige Gefährdungslage heraufbeschworen, die zusätzlich zu gravierenden Änderungen im Polizeirecht führten. Mutmaßliche „Gefährder“ und das organisierte Verbrechen bedrohen aus dieser Sicht den Bestand des Staates und der Gesellschaft als quasi von „außen“ eindringende Kräfte, die abgewehrt werden müssen. Auch wenn es um Wirtschaftskriminalität (WK) geht, verengen Politik, juristische Fachkreise und Medien erkennbar den Blick auf die OK. Eine andere Perspektive nimmt bereits seit über 30 Jahren der Gründer von Business Crime Control (BCC), Hans See, ein. Für ihn spielt sich WK hauptsächlich innerhalb des legalen Kapitalismus ab. Er rückt den Missbrauch der „normalen“ Konzernmacht, das heißt die Straftaten der überwiegend auf gesetzeskonforme Geschäfte angelegten Wirtschaft, in den Mittelpunkt seines Interesses (vgl. See, S. 9, 175, 273). Das aber macht die WK zu einem vertrackten Problem. Wird sie nicht als externes, leicht zu entzifferndes Phänomen wahrgenommen, sondern in der Mitte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verortet, verwischen schnell die Grenzen zwischen legalen und illegalen, zwischen „redlichen“ und kriminellen Geschäftsmodellen. 

Auch trägt die direkte und indirekte Kooperation von Staat und kriminellen Akteuren nicht zur Übersichtlichkeit des Themenkomplexes bei. So setzt der Staat dem Markt zwar Grenzen, unterscheidet also zwischen legalen und illegalen Handlungen, zeigt sich selbst aber durchaus als Komplize von Rechtsbrechern, sofern es der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung dient. Dort, wo Behördenversagen bei der fehlenden oder misslingenden Verfolgung von Straftaten vermutet wird, kann in nicht seltenen Fällen von einer symbiotischen Beziehung von Staat und kriminellen Akteuren ausgegangen werden – sofern gemeinsame Interessen vorliegen (vgl. Wetzel). Das Beispiel Geldwäsche mag als Beleg genügen: Strömen Mafiagelder nach Deutschland, um in den legalen Wirtschaftskreislauf eingespeist zu werden, freuen sich (Kommunal-)Politiker und Finanzämter über wachstumsfördernde Investitionen und steigende Steuereinnahmen – und schauen nicht so genau auf die Herkunft der Mittel. Vermutlich gehört die WK auch deshalb bis heute nicht zu den bevorzugten Feldern der Kriminalpolitik. Zudem fristet der Forschungsbereich WK aufgrund der Komplexität des Themas und der Unschärfe des Phänomens in der Kriminologie weiterhin nur eine Nischenexistenz.

Was ist Wirtschaftskriminalität?

„Der Bereich von Wirtschaftskriminalität (…) ist bislang noch nicht eindeutig konturiert. Die begriffsdefinitorischen Schwierigkeiten resultieren aus der Vielfältigkeit der Sachverhalte, aus dem Wandel der Erscheinungsformen und aus der Uneinigkeit über jenen Merkmalsbereich, der alle relevanten Spielarten gemeinsam kennzeichnet (und durch den diese sich von anderweitigen Kriminalitätsformen unterscheiden).“ (Eisenberg/Kölbel, S. 926)
„Korruption als Teil der Wirtschaftskriminalität, die vielfältigen Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität selbst und die sogenannte Organisierte Kriminalität sind Stiefkinder der empirischen Forschung. Die Kriminologie thematisiert diese Bereiche am Rande, empirische Studien sind rar.“ (Bannenberg, S. 752)

Mit der wirtschaftskriminologischen Forschung scheint es also nicht weit her zu sein. An journalistischen Veröffentlichungen zum Thema Wirtschaftskriminalität (WK) mangelt es zwar nicht und speziell zur Korruption liegen theoretische Arbeiten vor, aber es fehlt an verlässlichem empirischem Material. Und an einer umfassenden und allgemeingültigen Begriffsbestimmung. Wissenschaftler schlagen darum trennscharfe Kategorien vor, um dem diffusen Bild entgegenzutreten. So differenzieren sie zwischen WK und OK, auch wenn in der medialen Berichterstattung diese Grenze oftmals skandalträchtig verwischt wird („Bau-Mafia“, „Pflege-Mafia“ usw.), andererseits aber die OK tatsächlich in die legale Wirtschaft einsickert. Weiter unterscheiden sie zwischen WK und „kriminellen Organisationen“, die selbst von der OK geschieden werden müssen. Gemeint sind organisierte Verbände, die staatliche Funktionen übertragen bekommen und diese für kriminelle Zwecke missbrauchen. Sie agieren innerhalb der politischen Sphäre und sind deshalb nicht mit der Bandenkriminalität gleichzusetzen. Als Beispiele werden in der Literatur exemplarisch die früheren „US Government Contractors“ im Irak, Halliburton und Blackwater, angeführt (vgl. Welskopp, S. 3).

Diese groben Abgrenzungen helfen nicht sehr viel weiter. Zu erwarten wäre, dass der Staat hier formalrechtlich Klarheit schafft. Der Gesetzgeber verzichtet aber auf eine juristisch maßgebende Definition dieses Deliktbereichs, die verbindlich in einem Gesetz festzulegen wäre („Legaldefinition“). Eine anerkannte, weil präzise Umschreibung der WK gibt es in Deutschland deshalb nicht. Letztlich bleibt es bei einer tautologischen Begriffsbestimmung, wie sie beispielsweise der Jurist und ehemalige niedersächsische Justizminister Hans-Dieter Schwind vorlegte: „Nach dem strafrechtlichen Verbrechensbegriff ist unter Wirtschaftskriminalität das sozial schädliche Verhalten im Wirtschaftsleben zu verstehen, soweit dieses mit Strafe bedroht ist.“ (Schwind, S. 449)

Die Folge ist eine Palette von Delikten, die der WK zugerechnet werden (unter anderem sogenannte Katalogstraftaten nach §74c Gerichtsverfassungsgesetz: Subventionsbetrug, Insolvenzdelikte, Falschbilanzierung, Korruption usw.). Das Wirtschaftsstrafrecht ist zum Teil im Strafgesetzbuch erfasst und schließt zahlreiche weitere verstreute Gesetzestexte ein. Die Vielzahl der Straftatbestände lässt sich tatsächlich kaum systematisieren, denn die rechtliche Normierung der Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik wechselt ständig und schafft damit eine zusätzliche Unübersichtlichkeit. „Das Wirtschaftsstrafrecht explodiert geradezu, schafft unaufhörlich neue Straftaten und Straftäter. Der Labeling approach [1] triumphiert, ohne ihn würde man alles kaum noch verstehen.“ (Bussmann, S. 343) Häufig entsteht Unsicherheit darüber, was noch legale „Geschäftstüchtigkeit“, was bereits Betrug oder überhaupt eine Straftat ist. Wirtschaftskriminalität bewegt sich darum in einem Graubereich zwischen Illegitimität und Illegalität.

Die Bedeutung der Frage, ob der Begriff der WK auch jenseits des juristischen Diskurses nur solche Tatbestände erfassen sollte, die Verstöße gegen das Strafrecht darstellen oder auch Verhaltensweisen, die nicht unter Strafe gestellt sind, aber als strafwürdig erscheinen, unterstreicht folgender ökonomischer Definitionsversuch, der auf das Vertrauensprinzip und das Abweichen von wirtschaftlichen Verhaltenserwartungen abzielt:
„Wirtschaftskriminalität ist die (…) Gesamtheit wirtschaftlicher Verhaltensweisen, die in nach außen hin gewaltloser Form die im Rechts- und Wirtschaftsverkehr allgemein üblichen, anerkannten und teils durch Gewohnheitsrecht gebildeten und kaufmännischen Gepflogenheiten, auf dem Grundsatz von Treu und Glauben bzw. des im Wirtschaftsleben stillschweigend vereinbarten gegenseitigen Vertrauens aufbauenden, kodifizierten und gebildeten Umgangsformen verletzen (…).“ [2]

Beide Positionen zur WK, die formalrechtliche Herleitung und der umfassendere Ansatz, der auch Konventionen und Gewohnheiten einbezieht, folgen aber einem gemeinsamen Ziel. Sie heben auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Marktwirtschaft bzw. auf den Schutz wirtschaftsbezogener Rechtsgüter ab (Vermögen, Eigentum, Wettbewerb, Markt). BCC nimmt eine umfassendere Perspektive ein, um gesellschaftskritisch über WK aufzuklären:
„Eine rein juristische Betrachtung der Problematik genügt nicht. Zumal Wirtschaftskriminalität nicht nur als illegales Handeln verstanden werden kann, sondern auch als illegitimes Geschehen – wenn zum Beispiel noch kein gesetzliches Verbot existiert, aber die Schädlichkeit einer Praxis bereits erwiesen ist. Für Wirtschaftsverbrechen in diesem übertragenen Sinn finden sich viele Beispiele bei der – noch legalen – Umweltzerstörung, beim Waffenhandel, in der Lebensmittel- und Pharmabranche.“ (Diederich, S. 7)

Die formale Eigenschaft des Rechtsbruchs wird hier um den Aspekt der Sozialschädlichkeit des an sich Erlaubten ergänzt. Das hilft zwar nicht dabei, dem diffusen Gesamtbild des Forschungsfeldes WK deutlichere Konturen zu verleihen, aber die Ausweitung des kriminologischen Blicks auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext erscheint notwendig, wenn der herrschaftskritische Stachel der Auseinandersetzung mit dem Thema nicht aufgegeben werden soll.

Personen und Strukturen

Wer sind die Täter? Folgender Definitionsversuch sorgt für mehr Klarheit: „Subsumiert wird unter dem Begriff Wirtschaftskriminalität die vom existierenden Wirtschaftsrecht nicht gedeckte Kapitalbeschaffung, -verwertung und -sicherung, die in der Regel von Personengruppen unter dem Schutzmantel juristischer Personen sowie unter Mithilfe abhängig Beschäftigter vorgenommen wird.“ [3] Schwere Wirtschaftsstraftaten werden in der Regel von juristischen Personen bzw. „unter dem Dach“ von Unternehmen begangen. Letztere aber können in Deutschland strafrechtlich nicht verfolgt werden, während sie zum Beispiel im US-amerikanischen Rechtssystem nicht nur im Zivil-, sondern auch im Strafrecht als „Rechtspersonen“ gelten. Deutschland gehört dagegen zu den wenigen Länder, die keine Unternehmens-Strafbarkeit kennen. Damit bleiben hierzulande Straftaten, die aus Unternehmen heraus organisiert werden, strafrechtlich folgenlos, wenn aufgrund der oft undurchschaubaren hierarchischen Arbeitsteilung die verantwortlichen Personen nicht ermittelt werden können.

Sind jedoch schuldige Einzelpersonen identifizierbar, tritt die Sozialwissenschaft auf den Plan. Beim Versuch, WK zu erklären, bemüht sie noch immer oft den „Weißen Kragen“ und verweist auf Straftaten, die von Personen von hohem sozialem Status und im Rahmen ihrer Berufsausübung begangen werden. Genau so definierte bereits 1939 der amerikanische Soziologe Edwin Sutherland den von ihm geprägten Begriff „white collar crime“.
Bemerkenswerterweise sprach der Wissenschaftler von „Verbrechen“, die mit dem Strafrecht zu ahnden seien, und stellte sich damit gegen Versuche, die Verfolgung solcher Delikte auf das Privatrecht (Schadensersatz) zu beschränken. Diese im angelsächsischen Raum vorherrschende moralische Gleichsetzung von Wirtschaftsdelikten mit Mord und Totschlag widerspricht der Tradition in Deutschland, wo „white collar crimes“ eher mit „Kavaliersdelikte“ übersetzt werden könnte (vgl. Welskopp, S. 7). Letztlich greift aber Sutherlands Ansatz zu kurz, denn er trägt dazu bei, dass die Verfolgung und Sanktionierung illegaler Aktivitäten einzelner Personen dabei helfen kann, vom systemischen Charakter der WK abzulenken.

Denn eine Personalisierung der WK fördert die Leugnung der Existenz einer kriminogenen Struktur. Umgekehrt vermögen sich aber auch Personen hinter Strukturen zu verbergen. Unternehmer bzw. leitende Angestellte verweisen gerne darauf, dass sie aufgrund des Wettbewerbsdrucks delinquentes Verhalten ihrer Konkurrenten nachahmen müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Wirtschaftsstraftäter sehen sich in der Regel also selbst nicht als kriminell, begründen ihr Verhalten vielmehr mit den branchenüblichen Praktiken (selbstverständlich, um ihrem Unternehmen zu dienen).

Solche Besonderheiten der WK sind der Stoff der Wirtschaftskriminologie, die aber generell auf massive empirische Probleme stößt. So schwierig es ist, WK schlüssig zu definieren, so unmöglich erscheint es tatsächlich, ihren Umfang und durch sie verursachte Schäden zu ermitteln. Als allgemein anerkannte Tendenz gilt zwar die Aussage: Wenige Täter verursachen hohe Schäden. An verlässliche Daten zu gelangen, erweist sich aber als unrealistisch. Denn die Aussagekraft amtlicher und nicht-amtlicher Informationen über WK ist sehr begrenzt.

Empirische Befunde

Die Ergebnisse der vorliegenden Studien sind aus methodischer Hinsicht angreifbar, denn weder die staatlichen noch die privaten Untersuchungen können über Qualität und Quantität der WK generalisierbare Aussagen treffen. Einerseits führen Umfragen unter leitenden Angestellten in Unternehmen nicht unmittelbar zu allgemeingültigen Aussagen zur Wirtschaftskriminalität. Andererseits handelt es sich um klassische Kontrolldelikte, deren Entdeckung auf der behördlichen Ermittlungsarbeit beruht und deshalb abhängig ist von variablen Faktoren (zum Beispiel den polizeilichen Ressourcen). Ein Beispiel für die Schwierigkeit, vorliegende Statistiken richtig zu lesen: Ein über Jahre zu verzeichnender Anstieg darf nicht einfach als Zunahme der tatsächlichen Kriminalität interpretiert werden. Vielmehr kann er auch auf effektiveren Kontrollen der Unternehmen oder Strafverfolgungsbehörden beruhen. Dieses in der Wissenschaft als „Kontrollparadox“ bezeichnete Phänomen bedeutet: Die Verschärfung der Überwachungsmechanismen müsste eigentlich zu einer Reduzierung der Kriminalitätsrate führen. Zunächst jedoch tritt genau die gegenteilige Entwicklung ein, so dass intensivere Kontrollen zur Aufdeckung von vormals unentdeckten Delikten führen ‒ und die Fallzahlen steigen (vgl. Karmann, S. 53).

Dennoch beanspruchen nationale und internationale Statistiken, empirisch brauchbare Erkenntnisse über WK und Korruption zu bieten. Zu den nationalen Erhebungen gehören im Bereich der amtlichen Quellen:
• Bericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik 2017 (PKS, hrsg. vom BKA)
• Wirtschaftskriminalität. Bundeslagebild 2017 (hrsg. vom BKA)
Als nichtamtliche Quellen sind in erster Linie zu nennen:
• KPMG: Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2018
• PwC: Wirtschaftskriminalität 2018. Mehrwert von Compliance – forensische Erfahrungen
Wichtige internationale Untersuchungen liegen von Transparency International (TI) und der Ernst & Young GmbH vor. Das Phänomen der Korruption steht hier im Fokus der Analysen:
• TI: Corruption Perceptions Index 2017 (CPI)
• Ernst & Young GmbH: Global Fraud Survey – Ergebnisse für Deutschland (April 2018)

Zu den amtlichen Quellen

Die polizeilichen Daten geben das tatsächliche Ausmaß der WK nur sehr eingeschränkt wieder. Das wird in den Veröffentlichungen des BKA selbst deutlich angesprochen. Die PKS enthält lediglich die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten (Hellfeld). Das gleiche gilt auch für das Bundeslagebild WK, das ebenfalls vom BKA jährlich herausgegeben wird, auf den Daten der PKS basiert und die Erkenntnisse in gebündelter Form darstellt. Das Dunkelfeld − die amtlich nicht registrierte Kriminalität − kann in der PKS und in den verschiedenen Bundeslagebildern nicht abgebildet werden. Nicht erfasst werden Wirtschaftsstraftaten, die von Staatsanwaltschaften und/oder Finanzbehörden unmittelbar bearbeitet werden (zum Beispiel Finanz- und Steuerdelikte, Wettbewerbs-, Gesundheits- und Arbeitsdelikte, Subventionsbetrug). Zum anderen ist von einem gering ausgeprägten Anzeigeverhalten auszugehen. Bei der WK muss von einem großen Dunkelfeld ausgegangen werden. Die weitaus meisten kriminellen Handlungen bleiben also verborgen (die hohe Aufklärungsquote von 94,6 Prozent der angezeigten Fälle im Jahr 2017 ändert daran nichts). [4]

Bei der Zuordnung von Straftaten zur WK orientiert sich die Polizei am Katalog des §74c GVG, für den wegen des notwendigen wirtschaftsspezifischen Wissens landgerichtliche Wirtschaftsstrafkammern zuständig sind. Ändert sich das Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder die Verfolgungsintensität der Polizei, verschiebt sich die Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld − ohne zwingende Auswirkung auf das Ausmaß der tatsächlichen Kriminalität. Das BKA weist zudem selbst darauf hin, dass Änderungen in Rechtsvorschriften, aber auch bei den Erfassungsmodalitäten oftmals zu Einschränkungen in der Vergleichbarkeit der Daten mit den Vorjahren führen. Die PKS spiegelt somit die Kriminalitätswirklichkeit nicht ab, sondern ist eine polizeiliche Tätigkeitsstatistik. Sie bietet, wie die Verfasser selbst relativieren, je nach Deliktsart eine „mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität“.

Die PKS ist eine sogenannte Ausgangsstatistik, das heißt: Die statistische Erfassung erfolgt bei Abgabe des Vorgangs an die Staatsanwaltschaft. Bei den Angaben handelt es sich um Straftaten und um Tatverdächtige, nicht um Täter. Die Fallzahlen unterliegen dabei starken Schwankungen, was zum Teil an mehrjährigen Ermittlungen in Sammelverfahren mit einer Vielzahl von Geschädigten liegt. So wurden nach Angaben des BKA wegen der langen Ermittlungszeiten etwa 22 Prozent aller in der PKS 2017 erfassten Straftaten bereits im Jahr 2016 oder früher verübt. Laut PKS stieg die Anzahl wirtschaftskrimineller Taten von 57.546 im Jahr 2016 auf 74.070 im Jahr 2017 (plus 28,7 Prozent). Das führte in der Presse zu Schlagzeilen wie „Wirtschaftskriminalität auf höchstem Stand seit fünf Jahren“ (SPIEGEL Online, 12. Juni 2018) ‒ zwar statistisch zutreffend, aber dennoch irreführend. Denn in dem Artikel musste sogleich eingeräumt werden, dass die Fallzahlen von 2016 auf 2017 nur deshalb so deutlich nach oben schnellten, weil in einem umfangreichen Ermittlungsverfahren gegen einen sächsischen Finanzdienstleister zahlreiche Einzeldelikte erfasst worden waren. Auch hier zeigt sich: Die Statistiken beruhen auf komplexen Prämissen, so dass die vorliegenden Daten kaum auf aussagekräftige Tendenzen schließen lassen. Sie laden dennoch zu einer tendenziösen Berichterstattung ein.

Am Beispiel der Ethnisierung der Kriminalität zeigt sich dies deutlich. Es darf dabei davon ausgegangen werden, dass die offiziellen Angaben des BKA zur Kriminalitätsentwicklung vom Großteil der Bevölkerung als realitätsnah akzeptiert werden. Laut PKS ist die Zahl aller bundesweit registrierten Straftaten 2017 um fast zehn Prozent und damit so stark wie seit zwanzig Jahren nicht mehr zurückgegangen. Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung ‒ quer durch den Straftatenkatalog wurden weniger Straftaten erfasst. Der Anteil der Tatverdächtigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit ist um 22,8 Prozent gesunken. Bei einer Anzahl wesentlicher Deliktarten ging der Anteil „nichtdeutscher Tatverdächtiger“ (TV) im Vergleich zum Vorjahr 2016 zurück – unter anderem bei Raubdelikten (deutsche TV: -3,1 %, nichtdeutsche TV: -5,8 %), bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung (deutsche TV: -2,8 %, nichtdeutsche TV: -2,2 %), bei Diebstahlkriminalität insgesamt (deutsche TV: -3,5 %, nichtdeutsche TV: -10,8 %).

Kollektivpsychologisch schlägt sich das empirische Ergebnis jedoch nicht entsprechend nieder. Der Kriminologe Thomas Feltes von der Universität Bochum kommt zu dem Schluss: „Die Bürger haben mehr Angst, obwohl sie weniger Grund dazu haben“ (taz, 17. September 2018). Er hatte über die Kluft zwischen realer (besser: statistisch erfasster) und gefühlter Kriminalität geforscht: Im Jahr 2016 sahen es von 3.500 repräsentativ befragten Bochumern fast 20 Prozent als wahrscheinlich an, im kommenden Jahr Opfer eines Raubüberfalls zu werden. Tatsächlich lag das Risiko bei 0,3 Prozent. Die subjektive Angst war damit fünfundsechzigmal so hoch wie die statistisch prognostizierbare Gefahr. Die Entwicklung der Zahlen kann offensichtlich die enorme Verunsicherung eines gewichtigen Teils der Bevölkerung nicht verhindern. Medienforscher Thomas Hestermann von der Macromedia-Hochschule in Hamburg sieht die Ursache dafür in der Berichterstattung der deutschen Medien. Demnach haben Fernsehen und Zeitungen nach der Kölner Silvesternacht 2015/16 den „gewalttätigen Einwanderer“ als Angstfigur neu entdeckt (vgl. taz, 17. September 2018).

So sah zum Beispiel die ARD-Sendung „Kontraste“ von Anfang August 2018, aufgemacht mit dem reißerischen Titel „Kriminelle arabische Clans in Deutschland – Ist der Staat machtlos?“, bereits das Rechtssystem erodieren. Auch die Boulevardpresse in Berlin ließ sich über Wochen darüber aus, dass im Zusammenhang mit Delikten der OK aus dem Libanon eingewanderte Großfamilien die Polizei vor große Probleme stellten. Tatsächlich beschwört die Politik bereits seit Jahren existenzielle Gefahren für das Gemeinwesen und warnt vor kriminellen „Parallelwelten“. Die heutige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sprach noch als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln im Juli 2017 gegenüber einem Radiosender davon, dass „durch die Machenschaften dieser kriminellen Großfamilien (…) die Entwicklung einer Stadt, die Entwicklung eines Bezirks erheblich gestört“ würde und diesem Prozess Einhalt geboten werden müsse (Frankfurter Rundschau 20. Juli 2018).

Schon Anfang der 1990er Jahre formierte sich im Windschatten der Flüchtlingsmigration ein sicherheitspolitischer Diskurs, der die Bereiche Zuwanderung und Innere Sicherheit miteinander verknüpfte. Vor allem das Bedrohungsbild der OK erwies sich als geeignet, die ethnische Herkunft mit bestimmten kriminellen Organisationen zu assoziieren. Der Gründer von Business Crime Control, Hans See, hatte bereits in einem Beitrag auf einer Expertentagung im Jahr 1995 auf die Gefahr der Ethnisierung des Kriminalitätsproblems hingewiesen:
„Ethnisieren heißt, diese Form der Kriminalität als reines Ausländerproblem darzustellen. Dies verböte sich für mich selbst dann, wenn in Deutschland tatsächlich das Organisierte Verbrechen ganz überwiegend von Ausländern betrieben würde. So stellt sich das Problem ja derzeit dar. (…) Hier müssen wir klar erkennen, dass, wenn erst einmal ‚die‘ Ausländer für das Organisierte Verbrechen stehen, von längst bereitstehenden Demagogen die gefährliche Bereitschaft mobilisiert werden kann, durch Verfolgung und Vertreibung von Ausländern diese Verbrechensform ‚auszumerzen‘. (…) Was deshalb unbedingt bewusst gemacht werden muss, ist die Tatsache, dass nun einmal die internationale Wirtschaft, ob legal oder illegal betrieben, zwingend internationale Personal- und Organisationsstrukturen erfordert. Deshalb sitzen in den Chefetagen unserer multinationalen Unternehmen nicht wenige Ausländer. Wollen wir es dahin kommen lassen, dass auch diese ausgewiesen werden, um der Wirtschaftskriminalität der legalen Wirtschaftsunternehmen die Grundlage zu entziehen?“ (See, S. 259)

Zu den nichtamtlichen Quellen

Die Befragungen der beiden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften PricewaterhouseCoopers (PwC) und KPMG beschränken sich auf die subjektiven Einstellungen oder Risikowahrnehmungen von Personen aus der Wirtschaftselite.

Für die Studie „Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2018“ wurden im Auftrag von KPMG branchenübergreifend 702 Unternehmen mit repräsentativem Anspruch zu ihren Erfahrungen im Bereich WK befragt. Danach bezeichneten sich 32 Prozent von ihnen in den letzten beiden Jahren als Opfer von WK, wobei diese Angabe mit der Größe des Unternehmens stieg. 81 Prozent der Befragten halten WK allgemein für ein hohes bis sehr hohes Risiko für die Unternehmen. Über die Hälfte der Taten (51 Prozent) ist demnach nur zufällig ans Licht gekommen (2016: 39 Prozent). Vor allem auf kleine Unternehmen trifft dies zunehmend zu. Die Mehrzahl der wirtschaftskriminellen Handlungen (61 Prozent) wird aufgrund offener Hinweise durch Beschäftigte der Unternehmen aufgedeckt. Heute handelt es sich in 61 Prozent der Fälle um Täter von außen, während bei der letzten Befragung vor zwei Jahren das Verhältnis zwischen internen und externen Tätern in etwa ausgeglichen war.

Die repräsentativ angelegte PwC-Studie „Wirtschaftskriminalität 2018“, die in Zusammenarbeit mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg entstand, basiert auf fünfhundert im zweiten Halbjahr 2017 durchgeführten Telefoninterviews mit Unternehmensvertreter/innen in Deutschland. Danach berichteten 45 Prozent der Befragten, dass sie innerhalb der letzten zwei Jahre von WK betroffen waren. Etwa die Hälfte der gegen Unternehmen gerichteten Wirtschaftsstraftaten wurde von eigenen Beschäftigten begangen. In jedem vierten Fall handelte es sich dabei um eine Person aus der obersten Führungsebene. Wurden Wirtschaftsdelikte von außen begangen, handelte es sich in jedem zweiten Fall um Täter in Führungspositionen. Das Forschungsteam hält diesen Wert für überdurchschnittlich, gemessen am geringen Anteil der Führungskräfte an der gesamten Mitarbeiterschaft.

Deutlich wird, dass die beiden repräsentativen Studien zu bemerkenswert unterschiedlichen Teilergebnissen kommen. KPMG spricht von 32 Prozent der Unternehmen mit Opferstatus in den letzten beiden Jahren, nach PwC-Angaben waren 45 Prozent betroffen. 39 Prozent der Taten wurden nach der KPMG-Studie von internen Mitarbeiter*innen begangen, während PwC von 46 Prozent interner Personen ausgeht, die allein für die Taten verantwortlich waren. Die Resultate nichtamtlicher Untersuchungen sind also ebenso fragwürdig wie die offiziellen Statistiken. Weder die auf subjektiver Wahrnehmung beruhenden Antworten der befragten Unternehmensvertreter*innen in den privaten Studien noch die methodisch fragwürdige amtliche Statistik (PKS) können in der Zusammenschau „objektive“, valide Daten garantieren.

Zu den internationalen Untersuchungen

Auch die internationalen Untersuchungen (vor allem zur Korruption) basieren in erster Linie auf Umfragen in Expertenkreisen. Sie zeigen, dass weder im nationalen noch im internationalen Bereich eine im strengen Sinne empirisch gesicherte Einschätzung der Dimension von Korruption möglich ist.

Dem auf verschiedenen Datenquellen (Umfragen und weitere Untersuchungen) basierenden Korruptions-Wahrnehmungsindex (CPI) wird im Rahmen wissenschaftlicher Debatten wie auch in den Medien eine große Bedeutung beigemessen. Seit 1995 von Transparency International herausgegeben, listet er derzeit 180 Länder nach dem Grad der im öffentlichen Sektor wahrgenommenen Korruption in Punktwerten auf (Rang 1: Neuseeland, Rang 180: Somalia). Die Rangliste ist wissenschaftlich aber in keiner Weise fundiert:
„Der CPI ist ähnlichen Problemen wie die amtlichen und nicht amtlichen deutschen Statistiken ausgesetzt, weshalb eine Veränderung des Punktwertes eines Landes auf verschiedenen, nicht näher auf ihre Maßgeblichkeit bewertbaren Faktoren beruhen kann: So können sich Veränderungen des CPI im Laufe der Jahre als tatsächliche Veränderungen des Korruptionsaufkommens darstellen, sie können jedoch auch nur der veränderten Wahrnehmung von Korruption in einem Land geschuldet oder lediglich durch eine veränderte Quellenzusammensetzung bedingt sein. Aus diesem Grund stellt jeder Index eines Berichtsjahres nur eine Momentaufnahme der Eindrücke von Unternehmern und Länderrisikoanalysten im jeweiligen Einschätzungszeitraum dar. Ein Vergleich der konkreten Rangstellen des Indexes über den jeweiligen Erhebungszeitraum hinaus birgt kaum empirische Aussagekraft.“ (Karmann, S. 59)

Unter dem Titel „Wieder mehr Betrugs- und Korruptionsfälle in deutschen Unternehmen registriert“ machte Mitte Mai 2018 Ernst & Young in einer Pressemitteilung auf ihre Studie „Global Fraud Survey – Ergebnisse für Deutschland“ aufmerksam. Die Ergebnisse beruhen auf einer telefonischen Befragung von 2.550 Finanzvorständen, Leiter*innen der Revision, der Rechtsabteilung und des Compliance-Managements von Unternehmen aus fünfundfünfzig Ländern. In Deutschland wurden fünfzig Interviews durchgeführt.

Fast alle Manager in Brasilien (96 Prozent) gehen danach davon aus, dass korrupte Methoden im eigenen Land weit verbreitet sind. In Italien sind 68 Prozent dieser Ansicht, in Großbritannien 34 Prozent, in China nur 16 Prozent. Kein in Deutschland befragter Manager sieht dagegen Korruption als hierzulande weit verbreitet an. Dabei wurde in den vergangenen zwei Jahren immerhin in 18 Prozent der deutschen Unternehmen ein größerer Betrugs- oder Korruptionsfall registriert (2016: 14 Prozent). Weltweit wurde in dem Zeitraum im Schnitt nur von jedem neunten Unternehmen ein bedeutsamer Betrugsfall gemeldet.

Die Verfasser der Studie werten die vergleichsweise hohe Zahl von entdeckten Betrugsfällen in Deutschland aber nicht als Zeichen für eine überschießende Kriminalität in deutschen Unternehmen. Vielmehr würden die in den letzten Jahren eingeführten Compliance-Systeme greifen. Wo mehr Überwachungsprozesse im Einsatz sind, sei die Dunkelziffer wesentlich geringer als in Ländern, in denen die Entdeckung von Betrugs- und Korruptionsfällen eher dem Zufall überlassen würde. Dennoch scheint die Eigenwahrnehmung der deutschen Manager besser zu sein, als es die Statistik belegt.

Problematische Statistik

Trotz der empirischen Einzelergebnisse, die womöglich einen anderen Eindruck erwecken, gilt die WK als ein qualitatives und nicht quantitatives Problem, weil sie einen sehr kleinen Anteil an der Gesamtkriminalität aufweist (1,3 Prozent), aber aktuell knapp über 50 Prozent des registrierten Gesamtschadens aller in der PKS erfassten Straftaten verursacht. Das Missverhältnis von enorm hoher Schadenssumme und relativ kleiner Anzahl der Delikte ist augenfällig. In Wahrheit dürften die Schäden wegen des Dunkelfelds aber noch wesentlich höher sein. Die durch die WK angerichteten Schäden sind dabei nicht nur monetär zu bemessen, denn die immateriellen Schäden, zum Beispiel die gesundheitliche Gefährdung durch gefälschte oder minderwertige Produkte, sind immens.

Unterschiedliche und veränderte Erhebungsmethoden von staatlichen und privaten Institutionen sowie fehlende Ressourcen für die Informationsgewinnung erschweren einen halbwegs realitätsnahen Blick auf die Materie. Eine weitere Erklärung für die in Teilen verwirrende, weil wechselhafte Datenbasis liegt in einer Eigentümlichkeit von WK und insbesondere der Korruption, die sie von anderen Straftaten unterscheidet. Häufig fehlt die Täter-Opfer-Beziehung, die die Opfer veranlasst, sich zu offenbaren und eine Anzeige zu erstatten. Die über die Jahre auftretenden starken Schwankungen in den amtlichen Statistiken können damit zusammenhängen. Handelt es sich um einen realen Kriminalitätsanstieg oder nur um ein geändertes Anzeigeverhalten?

Bei Korruption spricht man von scheinbar opferlosen Delikten, bei denen die eine Seite Bestechungsgelder zahlt, während die andere diese Zahlungen kassiert, so dass letztlich beide zu Tätern werden. Darin liegt ein Grund, weshalb Korruption im Verhältnis zur Gesamtdelinquenz nur relativ geringe Ausmaße aufweist (vgl. PKS 2017: Insgesamt werden 74.070 Straftaten der WK zuordnet, aber nur 3.850 davon, das heißt 5,2 Prozent, fallen in den Bereich der Wettbewerbs-, Korruptions- und Amtsdelikte). Die PwC-Studie ermittelte, dass durch Korruption nur 6 Prozent der Unternehmen betroffen waren und gegenüber 2015 die Verdachtsfälle von 19 Prozent auf 11 Prozent zurückgegangen sind.

Theoretische Forschung – Strafverfolgung und Compliance

Die staatlichen Statistiken bilden lediglich das sogenannte Hellfeld ab, verarbeiten also aktenkundiges Geschehen. Aus den identifizierten kriminellen Handlungen werden, ein Verfolgungsinteresse der Justiz vorausgesetzt, Rechtsfälle. Welche Tendenzen zeigen sich im juristischen Bereich beim Umgang mit der WK? In Einzelfällen wirtschaftskriminellen Verhaltens werden exemplarisch (Freiheits-)Strafen verhängt. Eine Analyse der Praxis der Strafverfolgung bei WK ergibt insgesamt jedoch eine hohe Einstellungs- und eine im Vergleich zur konventionellen Kriminalität geringere Verurteilungsquote. Außerdem ist aufgrund der Komplexität der Sachverhalte (Beweisprobleme) die durchschnittliche Verfahrensdauer vergleichsweise lang − die Wirtschaftsstrafverfahren dauern oft Jahre. Denn die Ermittlungen gestalten sich als schwierig, viele Einzeltaten sind aufzuklären. Ohne das Fachwissen von Buch- und Wirtschaftsprüfern, Betriebswirten und Steuerexperten sind die Vorgänge oft nicht zu verstehen. Der Wissensvorsprung liegt in der Regel zudem bei den Beschuldigten. Wegen der Ungleichheit der Ressourcen – die Ermittler und Richter stehen in größeren Verfahren gegen eine ganze Reihe teurer Anwälte – zeigt sich bei Wirtschaftsstrafverfahren im Vergleich zu anderen Strafverfahren ein geringeres Machtgefälle zwischen Ermittlungsbehörden und Gerichten auf der einen und Beschuldigten und Verteidigern auf der anderen Seite.

Aus diesen Gründen wurden nach Ansicht von Kriminologen unter dem Stichwort einer „Ökonomisierung des Rechts“ ressourcenschonende Reformen des Strafverfahrensrechts eingeführt. Zum Beispiel erlaubt seit 1975 der neu eingeführte §153a StPO, unter Umständen ein Ermittlungsverfahren gegen Geldbuße bzw. ein gerichtliches Hauptverfahren einzustellen. Seit 2009 sind Absprachen über die Strafzumessung erlaubt (sogenannte Deals). Mildere Strafen erfolgen, wenn durch ein Geständnis eine langwierige Hauptverhandlung abgekürzt werden kann. Diese Entformalisierung der Strafverfahren zeigt die Grenzen des Strafrechts auf: Die Anklage- und Verurteilungsquoten werden auch zukünftig gering bleiben, Absprachen das Wirtschaftsstrafrecht weiterhin prägen (vgl. Albrecht, S. 1739 und Neubacher, S. 167).

Manche Juristen sprechen deshalb von einer eingeschränkten Wirkung des Strafrechts, weshalb seit einigen Jahren verstärkt präventive Instrumente in der Kontrolle von WK eingesetzt werden. Sogenannte Compliance-Programme sollen die Selbstkontrolle der Wirtschaft stärken. Mit einer Reihe von Ethik-Regeln verpflichten sich Unternehmen, interne Mechanismen einzuführen, um das Risiko von Straftaten zu minimieren (in den und durch die Unternehmen). Drei Viertel der mittelständischen Unternehmen und Großunternehmen verfügten 2017 laut PwC-Studie bereits über ein Compliance-Management-System (CMS), bei kleineren Mittelständlern mit 500 bis 999 Mitarbeitern waren es 60 Prozent.

Wie wirksam sind solche Eigenkontrollen? Es zeigt sich ein widersprüchliches Bild. Wegen der fehlenden Durchschlagskraft des Strafrechts, so heißt es in der Fachliteratur, soll den Unternehmen selbst die Aufgabe übertragen werden, ihre Rechtskonformität sicherzustellen. Aus Sicht eines Unternehmens kann dabei mittels eines CMS das Risiko reduziert werden, bei Verstößen gegen gesetzliche Vorgaben haftbar gemacht zu werden. Andererseits spricht die Gefahr der Etablierung eines unternehmensinternen „Schattenstrafrechts“ und einer weiteren Schwächung der staatlichen Strafverfolgungsmöglichkeiten gegen deren Einführung. Denn wenn staatliche Ermittlungsverfahren und damit die StPO ganz legal umgangen werden, können die Unternehmen selbst entscheiden, ob, wann und in welchem Umfang der jeweilige Verfahrensgegenstand den staatlichen Ermittlungsbehörden übermittelt wird (vgl. Brettel/Schneider, S. 308). Das bedeutet auch, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften nicht aus reiner Wissensgier handeln, wenn sie Forschungsergebnisse zur WK vorlegen. Denn sie verdienen Geld mit ihren Beratungsleistungen zum Umgang mit Kriminalität in und gegen Unternehmen. Ihre „Forensic Services“ erbringen für ihre Auftraggeber „Leistungen rund um die Prävention, Aufdeckung und Aufklärung“ von WK, wie es etwa in der Studie der KPMG heißt.

Ist also das Strafrecht zu schwach, um WK in die Schranken zu weisen, weshalb auf die staatliche Außenkontrolle weitgehend verzichtet wird und sich die Selbstkontrolle der Unternehmen als Ausweg anbietet? Oder unterminiert gerade diese Entwicklung generell das staatliche Monopol der Strafverfolgung?

Die Einführung von CMS stößt wegen dieser Problematik und der vielen Unklarheiten in der Forschung nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf viel Skepsis (vgl. Kölbel, S. 430). Und das nicht nur aus normativen Erwägungen, denn eine überzeugende Effektivität der CMS konnte bislang nicht belegt werden. Offensichtlich wird die Präventionswirkung dieses Instruments weit überschätzt (vgl. Kölbel, S. 445 und Bergmann, S. 6). Die Verabschiedung ethischer Richtlinien und Verhaltenskodizes darf darum wohl weitgehend als industriefreundliche Scheinaktivität interpretiert werden, die in erster Linie dem Erhalt der Reputation kapitalistischer Unternehmen dient und nicht der Bekämpfung delinquenten Agierens [5]. Denn das Hauptinteresse der Wirtschaft besteht nicht primär darin, moralische Standards einzuhalten, sondern Profite zu generieren, Arbeitsplätze zu schaffen und Steuern zu bezahlen.

Ökonomische Erklärungsansätze

Bei der Bewertung von WK ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen des kapitalistischen Systems Gewinn- und Machtstreben gesellschaftliche Anerkennung finden und entsprechende persönliche Dispositionen im Wirtschaftsleben besonders ausgeprägt sind. Bei der Besetzung von Leitungspositionen sind „Managertypen“ gefragt, also risikobereite, entscheidungsfreudige Persönlichkeiten, die sich jenseits von Konformität bewegen und nicht unbedingt dem Idealbild des „ehrbaren Kaufmanns“ entsprechen. Eigenschaften also, die bei der Abwicklung legaler wie auch illegaler Geschäfte von Vorteil sind. In Zeiten, in denen der Befehl zur Selbstoptimierung in alle Poren der Gesellschaft dringt, sich Wertvorstellungen „ökonomisieren“, verändert sich auch die Akzeptanz sozialer Normen, unabhängig davon, ob sie als legal oder illegal gelten. Bestimmte Verstöße gegen Rechtsnormen werden hingenommen, solange Arbeitsplätze erhalten oder Kundenwünsche befriedigt werden. Das gesellschaftliche Umfeld fördert damit wirtschaftskriminelles Agieren (Konkurrenzdruck, Menschenbild des „Unternehmers seiner selbst“).
Zur Erklärung von WK stehen deshalb zunächst (mikro)ökonomische Kriminalitätstheorien im Vordergrund. Nach der Theorie des rationalen Akteurs werden auch strafbare Verhaltensweisen als Kosten- und Nutzenfaktor ins wirtschaftliche Kalkül einbezogen (zum Beispiel die Kosten bei Entdeckung der Straftat). Demnach gilt rationales Marktverhalten nicht als moralisch defizitär, sondern als ethisch indifferent. Eine ambivalente Situation tut sich auf. Einerseits sind die Praktiken der WK eingebettet in das gesamtgesellschaftlich akzeptierte Normengefüge und erfolgen aus der Mitte einer legalen Geschäftsaktivität, andererseits werden wirtschaftliche Vorgänge von der Kriminologie als teilweise abgeschlossenes System verstanden, das gerade darum einen der WK förderlichen „Nährboden“ bietet. Demnach können sich in Teilen der Wirtschaft informelle Werte- und Normensysteme und darauf gestützte Praktiken entwickeln, die in Widerspruch zu rechtlichen Regulierungssystemen stehen.

Von den Tätern werden in erster Linie wirtschaftliche Zwänge als Gründe für WK angeführt (Sog- und Spiralwirkung). Der Druck zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit erzeugt demnach unausweichlich strafbare Praktiken. Besonders am Beispiel der Korruption lässt sich aufzeigen, dass auch heute noch wirtschaftskriminelle Vorgänge zustimmend bewertet werden. Manche Befürworter erkennen positive Effekte der Korruption und betrachten sie als notwendigen Mechanismus zur Umgehung von staatlicher „Überregulierung“, zur Reduzierung von Unsicherheit und zur Erhöhung der Investitionsneigung. Durch Korruption könne der stotternde Motor der Volkswirtschaft schneller zum Laufen gebracht werden, die Zahlung von Bestechungsgeldern allokative Effizienz sicherstellen (vgl. Karmann, S. 97 und 80). In der Sozialwissenschaft wird schon lange auf den paradoxen Aspekt der Kriminalität hingewiesen, dass Handlungen, die unter Strafe gestellt werden, einerseits negative Effekte für die Opfer, andererseits positive kollektive Effekte erzeugen können. Übertragen auf die WK bedeutet das: Die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit großer Unternehmen rechtfertigt im Einzelfall sozialschädliches Verhalten und die Schwächung rechtlicher Normen.

Diese Ambivalenz wird ergänzt durch die sich in vielen Fällen aufdrängende Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen legalen und nicht legalen Praktiken. Fragwürdige Verhaltensweisen können als legale Handlungen erscheinen bzw. unterscheiden sich äußerlich kaum von legalen Vorgängen und lassen sich strafrechtlich nur schwer erfassen. Der Rechtsbruch wird nach außen „unsichtbar“, das Aufdeckungsrisiko ist gering: „Die Grenze zwischen Kriminalität und Geschäftstüchtigkeit scheint sich im Grau wirtschaftlicher Grenzmoral zu verlieren.“ (Schmitt-Leonardy, S. 62) Neueste Software und der Einsatz modernster Technologien erleichtern dabei die Begehung und die Verschleierung von Straftaten – auch findet psychologisch eine Neutralisierung [6] statt (Straftaten „per Mausklick“ fallen offenbar leichter). Die Wirtschaft wird insofern von einer „Zone der rechtlichen Unbestimmtheit“ geprägt, die sich als systemfunktional erweist.

Sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze

Im Gegensatz zu den ökonomischen Theorien befasst sich die Soziologie mit dem Individuum und dessen Interaktion mit der Umwelt. Agiert ein Individuum gegen eine Norm, wird dieses Verhalten als abweichendes Verhalten oder Devianz bezeichnet. Wer sind diese Personen im Bereich der Wirtschaft? Es handelt sich überwiegend um ehrgeizige, berufsorientierte Männer über 40 Jahre in Entscheidungspositionen, die relativ angepasst mit grundsätzlich legalen Wertvorstellungen und in legalen und unauffälligen Sozialstrukturen leben und beruflich über das Normale hinaus motiviert sind. Sie haben in der Regel keine Schulden, sind nicht vorbestraft, erfahren, „korrekt“, eher penibel, aber auch dominant. So beschreibt zumindest die Professorin für Kriminologie Britta Bannenberg die typischen Wirtschaftsstraftäter (vgl. Bannenberg, S. 763). Das Unternehmen scheint für sie als gesellschaftliche Enklave einen „geschützten Ort“ zu bieten, der wirtschaftskriminelle Handlungen ermöglicht und befördert. Sie haben die Gelegenheit zur Tat und profitieren direkt und indirekt davon (Karriere oder wenigstens Arbeitsplatzsicherheit).

Aus Sicht der Soziologie kann WK als ein von der allgemeinen Erwartungshaltung abweichendes persönliches Verhalten bezeichnet werden, mit dem sich Einzelne einen monetären oder nichtmonetären Vorteil gegenüber Konkurrenten oder der Allgemeinheit zu verschaffen suchen – oder das unter dem Druck der Verhältnisse die ökonomische Position des eigenen Unternehmens festigen soll. Die mangelnde Normbefolgung drückt dabei nicht notwendigerweise deren generelle Ablehnung aus, sondern kann in konkreten Einzelfällen Problemlösungen anbieten, wenn sich rein formale Normen im Alltag als dysfunktional erwiesen haben. Insofern wirkt der Ort des Unternehmens kriminogen. Zur Erklärung der politischen Relevanz der WK ist eine Typisierung des Wirtschaftsstraftäters aber uninteressant. Die Ursachen für eine Tat bei der Person des Täters oder insbesondere in dessen Persönlichkeit zu suchen, hilft nicht weiter. Denn einer Personalisierung des Problems ist – wie erwähnt – vorzubeugen, zusätzliche Befunde zur Person des Delinquenten füllen darüber hinaus nicht die Erkenntnislücken hinsichtlich der ökonomischen und politischen Entstehungszusammenhänge der WK.

Mit Recht gegen die Macht der Konzerne?

Der täterorientierte Zugang, das heißt das Verhalten verantwortlicher Einzelpersonen, wird von vielen Kriminologen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, um dem „Wesen“ oder den Ursachen der WK auf die Spur zu kommen. Das auf natürliche Personen orientierte deutsche Strafrecht steht allerdings stark in der Kritik. In juristischen Kreisen wird sogar die Frage aufgeworfen, ob das Strafrecht überhaupt ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der WK bzw. der Korruption darstellt und nicht vielleicht bereits ausgedient hat (vgl. Schwind, S. 450 u. Thiel, S. 181). Dass sich ein strafrechtlicher Abschreckungseffekt von neuen Gesetzen und Sanktionen empirisch nicht untermauern lässt, weder auf individueller noch auf Unternehmensebene, konstatiert die Fachliteratur ebenfalls (mit Blick auf die völkerrechtliche Dimension vgl. Karstedt, S. 159ff.). Die bloße Schaffung neuer Straftatbestände wird an dem Problem nur wenig ändern können.

Dennoch wird derzeit ein emanzipatorisches Projekt vorangebracht, dass eine weitergehende Verrechtlichung ökonomischer Prozesse zum Ziel hat. Es handelt sich um die Etablierung des Wirtschaftsvölkerstrafrechts (vgl. Jeßberger et al.). Denn menschen- und völkerrechtlich orientierte Aktivisten, die wirtschaftliche Aktivitäten weltweit stärker rechtlich reguliert sehen wollen, befinden sich derzeit in einer verzwickten Lage. Zum einen prallen sie gegen die von den mächtigsten Staaten selbst geschaffene neoliberale Mauer aus Privatisierung und Liberalisierung bzw. Deregulierung. Zum anderen folgt das Recht den wirtschaftlichen Praktiken oft nach, legalisiert sie und konzentriert sich auf die Absicherung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Den Initiatoren geht es aber nicht um den strafrechtlichen Schutz wirtschaftsbezogener Rechtsgüter (Eigentum, Wettbewerb, Volkswirtschaft), sondern darum, Verantwortungsträger in Unternehmen für Beteiligungen an Völkerrechtsverbrechen zu verfolgen und die Einzelnen vor politischen Wirtschaftsstraftaten zu schützen.

Ob dabei am Individuum, das heißt dem Unternehmer, oder am Unternehmen angesetzt werden sollte, scheint in dem Diskurs noch eine offene Frage zu sein. Immerhin sehen Menschenrechtsaktivisten wie Wolfgang Kaleck (Anwalt für internationales Strafrecht) eine positive Tendenz: die Schwächung des bisher vorherrschenden Paradigmas der freiwilligen Übernahme von sozialer Verantwortung durch Unternehmen (Corporate Social Responsibility), gleichzeitig aber eine Stärkung von tatsächlicher Verantwortlichkeit und Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen (Kaleck nennt als Beispiel die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die im UN-Menschenrechtsrat 2011 verabschiedet wurden und die sich an Staaten und an die Wirtschaft zugleich wenden; vgl. Kaleck, S. 83ff.). Es handelt sich dabei zwar lediglich um sogenanntes Soft Law, das heißt um Übereinkünfte, die rechtlich nicht durchsetzbar sind, denn Unternehmen können noch nicht vor den Menschenrechts-Gerichtshöfen angeklagt werden, da allein Staaten durch die Völkerrechtsverträge rechtlich gebunden sind. Kaleck aber setzt auf den Faktor Zeit: Er versteht Soft Law als sich entwickelndes Recht, das, so die Hoffnung, zunehmend auch eine „harte“, tatsächliche Wirkung entfalten wird.

Fazit

Auch wenn die Validität der statistischen Ergebnisse zur WK unbefriedigend ist, liegt es auf der Hand, dass das Prinzip der Profitmaximierung einen Kriminalitätsfaktor darstellt. Insofern übt „die Wirtschaft“ einen kriminogenen Einfluss aus. Die Ausgangssituation zeigt sich als ambivalent. Normen werden zum Gegenstand zweckrationaler Überlegungen, wie sie im eigenen Interesse zu umgehen, über Lobbyarbeit abzuändern oder neu, den Profitzielen konform, zu schaffen sind. Durch den Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess sorgen die „Mächtigen“ dafür, dass strafrechtliche Bestimmungen, wenn sie denn nicht zu verhindern sind, möglichst unbestimmt gehalten werden, um viele Interpretationen zu ermöglichen. Die Unklarheit, ob in vielen Fällen überhaupt eine Straftat im Sinne der Strafgesetzgebung vorliegt, ist dabei nicht zuletzt dem Lobbyismus der Kapitalseite geschuldet.

Wo seitens der Wirtschaft ein Interesse an rechtlicher Verbindlichkeit und wirksamen Durchsetzungsmechanismen besteht, gibt es sie auch. Stehen verbindliche Normen Wirtschaftsinteressen entgegen, sind sie dagegen oft eher wirkungslos. Ein zentrales Problem besteht in der engen Verbindung von Staat und Wirtschaft. Die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen wird an private Anwaltskanzleien ausgelagert, Politiker wirken in Aufsichtsräten und Vorständen mit oder wechseln nach ihrem Mandat direkt in die Wirtschaft. Auch sind Public-Private-Partnerships in Zeiten angespannter öffentlicher Haushalte angesagt. Von einer „Parallelordnung“ WK kann im engeren Sinne darum nicht gesprochen werden. Es besteht keineswegs die Absicht, die bestehende Ordnung in Frage zu stellen, grundsätzlich wird sie akzeptiert. Denn wirtschaftskriminelle Handlungen sind in das offizielle System eingebettet und nutzen es. Sie stellen ein marktkompatibles Verhalten dar, werden aber in der Regel als Marktversagen gedeutet, als Verhalten, das die wirtschaftliche Moral, den Wettbewerb und die Grundlagen der Marktgesellschaften gefährdet.

Legitimiert wird das Wirtschaftsrecht bzw. dessen Ausweitung mit den zu schützenden Rechtsgütern. Dazu zählt seit Beginn der Finanzkrise insbesondere das „Vertrauen in die Wirtschaftsordnung“. Dieses wiederherzustellen, scheint notwendig, seit sich der Staat aus der sozialen Daseinsvorsorge zunehmend verabschiedet hat und immer mehr Menschen gezwungen werden, der Vorsorge dienendes Geld an die Kapitalmärkte fließen zu lassen – mit allen damit verbundenen Risiken. Einer sich verstärkenden Legitimationskrise des Neoliberalismus oder gar des Kapitalismus soll vorgebeugt werden, indem marktkonforme Eigenverantwortung in einem „vertrauenswürdigen“ Rahmen wahrgenommen werden kann. Dafür bieten sich verlässliche rechtliche Verfahren an. Da die Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse durch nationales Recht aber schwieriger wird, steht auch das Vertrauen in die Ökonomie und das Recht insgesamt auf dem Spiel. In der Ära des Finanzmarktkapitalismus erleben viele Menschen einen zunehmenden Niedergang des Nationalstaats und fürchten die „Unregierbarkeit“ einer globalen, multipolaren Welt, die nicht mehr national und noch nicht supranational reguliert wird. Die Schwächung oder gar Abwesenheit des Rechts, zumindest die Frage nach seiner effektiven Durchsetzung, gewinnt denn auch zunehmend im politischen und wissenschaftlichen Diskurs an Gewicht.

Auch das Wirtschaftsstrafrecht steht in der Kritik. Neuere Wirtschaftskrisen, ausgelöst zum Beispiel durch die im Jahr 2000 geplatzte „Dotcom-Blase“, die Unternehmen der New Economy betraf und viele Kleinanleger in den Industrieländern um ihre Vermögen brachte, sowie die Finanzkrise ab 2007 belegen, dass eine systematische strafrechtliche Aufarbeitung im Zusammenhang mit „toxischen Finanzprodukten“ trotz erheblicher Hinweise auf strafbare Handlungen bis heute ausgeblieben ist. Strafverfahren erfolgten offensichtlich nur in Ausnahmefällen. Als Gründe führt der Jurist Hans-Jörg Albrecht an: die Diffusion von Verantwortung über tausende Personen in einem Unternehmen und die Furcht vor (ökonomisch) kontraproduktiven Folgen des Strafrechts, also die Annahme, dass „too big to fail“ auch „too big to prosecute“ bedeuten könnte (vgl. Albrecht, S. 1738).

Als ein weiterer Grund für das selektive Vorgehen von Staatsanwaltschaften in Wirtschaftsstrafsachen ließe sich – neben dem Mangel an Ressourcen und dem möglichen Zurückweichen vor der „Systemrelevanz“ von Unternehmen und ihrer Manager – die bekannte These anführen, dass das Strafrecht zur Aufrechterhaltung seiner Funktion keiner umfassenden, lückenlosen Anwendung bedarf. Schon 1968 schrieb der Jurist Heinrich Popitz: “Wenn auch der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird, verliert die Strafe ihr moralisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend. Auch die Strafe kann sich verbrauchen. Wenn die Norm nicht mehr oder zu selten sanktioniert wird, verliert sie die Zähne, − muss sie dauernd zubeißen, werden die Zähne stumpf. Selbst der praktische Nachteil, den die Strafe bringt, schwächt sich in dem Grade ab, in dem er allgemein wird. Aber nicht nur die Sanktion verliert ihr Gewicht, wenn der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird. Es wird damit auch offenbar – und zwar in denkbar eindeutiger Weise –, daß auch der Nachbar die Norm nicht einhält.“ (Popitz, S. 43)

Nach Popitz würden die Normen ihre Geltung verlieren, wüssten alle von den zahllosen Normbrüchen, die jeden Tag in den verschiedenen gesellschaftlichen Milieus geschehen. Denn die Illusion ihrer Geltung wäre hinfällig, würde jedes deviante Verhalten aufgedeckt und sanktioniert. Demnach verlieren Strafen ihr moralisches Gewicht, wenn sie jeden treffen (nach dem Motto: „Wenn alle andern gegen das Gesetz verstoßen, kann ich es auch tun!“). Die Pointe ist: Entgegen der allseitigen Forderung nach mehr Transparenz stabilisiert das eigentlich aufzuklärende Dunkelfeld die Normen und erhält nach dieser Theorie das Normen- und Sanktionssystem überhaupt am Leben. Wenn aufgrund einer ausgeweiteten Strafverfolgung gesamtgesellschaftlich deutlich würde, wie groß die „Sog- und Spiralwirkung“ wirklich ist, die die leitenden Angestellten in die WK „zieht“, wäre also nach der Popitzschen Lesart die Schwächung der geltenden rechtlichen Normen und auch der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsstrafrechts die Folge.

Wahrscheinlich ist der theoretische Ansatz, den der Jurist bereits vor fast fünfzig Jahren entwickelte, längst bedeutungslos geworden. Denn die meisten Menschen machen sich über die hohe Dunkelziffer im Bereich der WK und das Ausmaß dieser Art der Kriminalität sicherlich keine Illusionen. Weisen die offiziellen Statistiken eine ansteigende WK aus oder passiert bei der polizeilichen Aufdeckung krimineller Handlungen eher wenig (expandiert also das Hell- oder das Dunkelfeld), steigt die Zahl angeklagter Wirtschaftskrimineller oder überwiegt das Paradigma der Selektion im Wirtschaftsstrafrecht und bleiben die meisten Täter strafrechtlich unbehelligt – die Schlussfolgerungen sind immer dieselben. Denn jeder der Fälle wird als ein Versagen des Staates gedeutet. Werden mehr Straftaten entdeckt und juristisch verfolgt, belegt das die Schwäche geltender Normen. Geschieht dies nicht, ist das ein Beweis für die Existenz eines großen dunklen wirtschaftskriminellen „Schattenreichs“ − als ein Symptom defizitär arbeitender staatlicher Behörden. Der populistische Hass auf die „Eliten“ und die „Staatsverdrossenheit“ werden vermutlich so oder so wachsen, während das Vertrauen in den Rechtsstaat zunehmend erodiert.

Als Reaktion auf den faktischen staatlichen „Kuschelkurs“ gegenüber der Wirtschaft sollten darum nicht in erster Linie immer neue und schärfere Strafgesetze gefordert werden, die das Phänomen WK letztlich nicht besiegen können. Wichtiger wäre es, das dichte Geflecht von Interessen, in dem sich die WK bewegt, konkret aufzudecken, um die Sphäre der Ökonomie als weitgehend demokratiefreie Zone kenntlich zu machen. Damit Zusammenhänge und Mechanismen der WK sowie die Planung, Durchführung und Duldung von Wirtschaftsverbrechen besser verständlich werden, sind deshalb Versuche einer „umfassenden“ und verallgemeinernden Bestandsaufnahme „der“ WK wenig sinnvoll. Es sollten vornehmlich Einzelfälle exemplarisch untersucht werden, sofern sie mehr als nur punktuelle Erkenntnisse liefern und vielmehr typische Merkmale der WK kenntlich machen. Der Zusammenhang von einzelnen kriminellen Taten und dem gesellschaftlichen Umfeld muss herausgearbeitet werden, um der Wahrnehmung von Kriminalität als eine Reihe singulärer Ereignisse entgegenwirken zu können.

Verschiedene NGOs widmen sich dieser Aufgabe, zum Beispiel Transparency International (TI), LobbyControl und Business Crime Control (BCC). Trotz der Kritik an dem konsensorientierten Kurs von TI bleibt der positive Beitrag der Organisation zu würdigen, denn sie fördert mit ihrer Arbeit ein Bewusstsein für Ausmaß und Folgen der Korruption weltweit und legt Studien und Standpunkte zu einzelnen Gesellschafts- und Wirtschaftsbereichen vor (Finanzmarkt, Gesundheit, Pflege, Sport, Verwaltung u.a.). Der Verein LobbyControl will nach eigener Aussage über Machtstrukturen und Einflussstrategien in Deutschland und der EU aufklären und bezieht sich dabei auf konkrete Wirtschaftssektoren. Er berichtet über schmutzige Methoden der Lobbyisten aus der Gesundheits-, Energie-, Auto-, Finanz-, Rüstungs-, Bildungs- und Immobilienbranche. BCC selbst versucht seit seiner Gründung 1991 die WK als sozialwissenschaftliches und politisches Thema in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion zu etablieren. Tagungen, Veranstaltungen und die regelmäßig erscheinende Zeitschrift BIG Business Crime reflektieren die thematische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten, Formen und Auswirkungen der WK.

Hans See wendet sich in seinen theoretischen Arbeiten dagegen, nur für eine neue Wirtschaftsethik zu werben bzw. schärfere Gesetze zu fordern. Denn ethische Maßstäbe beschränken sich auf die „innere“ Handlungsmotivation der Akteure – die Strafverfolgung setzt erst nachträglich ein, das heißt nach dem Machtmissbrauch der Konzerne und Unternehmen. See streitet für mehr Wirtschaftsdemokratie, zum Beispiel in Form einer „kriminalpräventiven Mitbestimmung“, die bereits im Vorfeld von Investitions- und Produktionsentscheidungen dafür sorgt, dass geltende Gesetze eingehalten werden (vgl. See, S. 441). Die Demokratisierung der Ökonomie ist damit der Dreh- und Angelpunkt dafür, die WK zumindest einzudämmen − eine gigantische Aufgabe. BIG-Autor Gerd Bedszent schreibt denn auch in seinem Buch „Wirtschaftsverbrechen und andere Kleinigkeiten“: „Die zunehmende Ignorierung nationalstaatlicher Gesetzgebung durch Wirtschaftskriminelle erfolgt hauptsächlich unter dem Druck der Marktkonkurrenz, die bekanntlich eine der treibenden Kräfte kapitalistischer Ökonomie ist. (…) Illegales Wirtschaften ist daher so alt wie der Kapitalismus selbst und wird erst mit diesem aufhören.“ (Bedszent, S. 136)

Ob es dann tatsächlich mit der WK ein Ende hätte, ob sie ein unvermeidlicher, weil systemisch bedingter Bestandteil allein des kapitalistischen Systems ist, bleibt fraglich. Sicher scheint allerdings, dass die aufklärende theoretische Arbeit und die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie zu konkreten politischen Schritten führen müssen, um die WK an ihrer Entfaltung zu hindern. Dazu gehört zum Beispiel die Schaffung einer öffentlichen sozialen Infrastruktur. Werden ökonomische Sektoren der Daseinsvorsorge (Gesundheit, Wasser, Bildung, Wohnungsbau usw.) aus dem kapitalistischen Markt herausgelöst, öffentlich finanziert und reguliert und zugleich die individuellen und vor allem kollektiven Rechte der Nutzer/innen gestärkt, kann wirtschaftskriminellen Akteuren spürbar der Boden entzogen werden. Das wäre vielleicht die wichtigste Form einer Kriminalitätsprophylaxe (Compliance). Möglichkeiten, sich für dieses Ziel zu engagieren, gibt es derzeit im Rahmen der sozialen Bewegungen genug.

Anmerkungen:

[1] Labeling approach („Etikettierungsansatz“) meint, dass „abweichendes Verhalten“ nicht objektiv vorhanden, sondern durch soziale Zuschreibung erklärbar ist. Der Ansatz fragt nicht nach den Ursachen eines Verhaltens, sondern danach, wie es dazu kommt, dass das Verhalten als kriminell bezeichnet und sanktioniert wird, ein anderes dagegen nicht. Es gibt danach keine Kriminalität an und für sich, weil sie stets von der Definitionstätigkeit der Rechtsanwender abhängt; vgl. Neubacher, S. 105.

[2] A. Rossbach, „Die Unternehmung als Objekt und als Instrument krimineller Handlungen unter besonderer Berücksichtigung der Abschreibungsgesellschaften“, in: Betriebswirtschaft in Forschung und Praxis (1975), zitiert nach Guggenberger, S. 56.

[3] BKA-Forschungsreihe Bd. 35, 1996, S. 22, zitiert nach See, S. 19.

[4] Die Aufklärungsquote von 94,6 Prozent lag damit deutlich über der Gesamtaufklärungsquote aller in der PKS erfassten Straftaten (57,1 Prozent). Der Grund dafür ist die Tatsache, dass es sich bei Straftaten der WK überwiegend um Anzeigedelikte handelt, bei denen die Täter den Geschädigten in vielen Fällen bekannt sind.

[5] Nicht alle sehen hier ein Problem: „Im Bereich der klassischen Kriminalität wurde die Hauptlast der Prävention schon immer von der Familie, den Nachbarn, der Schule und der Gemeinschaft getragen. Warum sollte das bei Unternehmen anders sein, nur weil sie zuvörderst an ihren Nutzen denken?“ (Bussmann, S. 345).

[6] Neutralisierungstechniken sind Rationalisierungen, das heißt nachträglich zurechtgelegte Erklärungen zur persönlichen Entlastung. Wirtschaftsstraftäter möchten sich selbst nicht als kriminell ansehen und verweisen deshalb häufig auf die Branchenüblichkeit.

Literatur:

Hans-Jörg Albrecht: „Wirtschaftskriminalität“, in: Evangelisches Soziallexikon (hrsg. v. Jörg Hübner et al.), 9. überarb. Aufl., Stuttgart, 2016, S. 1734-39.

Britta Bannenberg: Korruption und Wirtschaftskriminalität als soziales Problem, in: Günter Albrecht/Axel Gronemeyer (Hrsg.), Handbuch soziale Probleme, Bd. 1, 2. Aufl., 2012, S. 752-71.

Gerd Bedszent: Wirtschaftsverbrechen und andere Kleinigkeiten, Frankfurt/M., 2017

Jens Bergmann: „Corporate Crime, Kriminalitätstheorie und Organisationssoziologie“, in: MschKrim (Monatsschrift für Kriminologie), Heft 1, 2016, S. 3-24.

Hauke Brettel/Hendrik Schneider: Wirtschaftsstrafrecht, Baden-Baden, 2. Aufl., 2018.

Kai-D. Bussmann: „Editoral: Wirtschaftskriminologie im Aufbruch“, in: MschrKrim, Heft 5, 2010, S. 343-45.

Reiner Diederich: „Ziele von Business Crime Control. Beitrag zur Diskussion, in: BIG Business Crime Nr. 2/2018, S. 7-8.

Ulrich Eisenberg/Ralf Kölbel: Kriminologie, 7. völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen, 2017.

Armin-Josef Guggenberger: Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in einer Marktwirtschaft – eine empirische Analyse, Diss. Universität Regensburg, 2012. http://epub.uni-regensburg.de/23501/1/gugggenberger.pdf

Wolfgang Kaleck: „Die Verantwortung von Unternehmen und Unternehmern für Völkerrechtsverbrechen ̶ die Entwicklung seit den Nürnberger Prozessen“, in: Florian Jeßberger/Wolfgang Kaleck/Tobias Singelnstein (Hrsg.), Wirtschaftsvölkerstrafrecht. Ursprünge, Begriff, Praxis, Baden-Baden, 2015, S. 83-120.

Susanne Karstedt: „Transnationale Unternehmen und Völkerstrafrecht. Kriminologische Perspektiven“, in: Florian Jeßberger et al., a.a.O., S. 159-90.

Christopher Karmann: Korruption von global agierenden Unternehmen. Regelungssysteme der Bekämpfung, Baden-Baden, 2016.

Ralf Kölbel: „Unternehmenskriminalität und (Selbst-)Regulierung“, in: MschrKrim, Heft 6, 2017, S. 430-452.

Frank Neubacher: Kriminologie, 2. Aufl., Baden-Baden, 2014.

Heinrich Popit: „Über die Präventivwirkung des Nichtwissens“ (1968), in: Daniela Klimke/Aldo Legnaro (Hrsg.), Kriminologische Grundlagentexte, Wiesbaden, 2016, S. 33-46.

Charlotte Schmitt-Leonardy: Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?, Heidelberg/München, 2013.

Hans-Dieter Schwind: Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen, 21. Aufl., Heidelberg/München, 2011.

Stephanie Thiel: „Korruption als Forschungsthema der Kriminologie“, S. 169-188, in: Peter Graeff/Jürgen Grieger (Hrsg.), Was ist Korruption? Begriffe, Grundlagen und Perspektiven gesellschaftswissenschaftlicher Korruptionsforschung, Baden-Baden, 2012.

Hans See: Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen. Grundzüge einer Kritik der kriminellen Ökonomie, Frankfurt am Main, 2014.

Thomas Welskopp: „Wirtschaftskriminalität und Unternehmen – Eine Einführung“, in: Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh/Thomas Welskopp, Tatort Unternehmen. Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin/Boston, 2016.

Wolf Wetzel: „Der Tiefe Staat und der konzerneigene Untergrund – eine Symbiose“, in: Ulrich Mies/Jens Wernicke (Hg.), Fassaden-Demokratie und Tiefer Staat. Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter, Wien, 2017, S. 167-183.

Der Autor
Joachim Maiworm lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Der vorliegende Artikel erschien zuerst in BIG Business Crime Nr. 2/2017. Er wurde überarbeitet und aktualisiert.
Vgl. auch die Rezension des Artikels im Forschungsbericht Wirtschaftskriminalität des Bundeskriminalamts: