„Gesellschaften haben offenbar nicht nur die Verbrecher, die
sie verdienen, sondern auch eine ihnen adäquate Justiz. So
wird sich eine Autogesellschaft auch keine Richter erlauben,
die ihr das Liebste nehmen.“ Erich Schöndorf
Erich Schöndorf war nach seinem Studium der Rechtswissenschaft, das er mit einer Promotion bei Spiros Simitis abschloss, von 1977 bis 1996 Staatsanwalt in Frankfurt am Main. Die letzten zehn Jahre war er im Umweltdezernat tätig und vor allem mit dem „Holzschutzmittel-Verfahren“ befasst. Dabei ging es um die gesundheitlichen Folgen PCP- und lindanhaltiger Holzschutzmittel, die massenhaft vertrieben worden waren. Die Verurteilung zweier Manager des Herstellers Desowag, einer Tochterfirma des Bayer-Konzerns wegen Körperverletzung wurde im Nachhinein wieder aufgehoben. Das Unternehmen kam mit einer Geldspende für Forschungszwecke davon. Die Geschädigten gingen leer aus.
Nach dieser frustrierenden Erfahrung quittierte Schöndorf den Justizdienst. Unter dem Titel „Zermürbt und müde. Interne Querelen treiben einen Umweltstaatsanwalt aus dem Amt“ beschrieb Herbert Stelz in der ZEIT vom 6. September 1996 die Vorgänge um den Prozess und die Widerstände, mit denen sich Erich Schöndorf auseinandersetzen musste. Immerhin hatte er aber im Zusammenspiel mit Journalisten erreicht, dass der Fall bundesweit bekannt wurde und das Problembewusstsein für Umweltgifte gewachsen war. Desowag und andere Firmen mussten bei der Produktion von Holzschutzmitteln fortan auf gesundheitsschädliche Stoffe verzichten.
Das langwierige und nicht von Erfolg gekrönte Gerichtsverfahren arbeitete Schöndorf in seinem Buch „Von Menschen und Ratten. Über das Scheitern der Justiz im Holzschutzmittel-Skandal“ auf. Es folgte „Strafjustiz auf Abwegen. Ein Staatsanwalt zieht Bilanz“. Dann wandte er sich als Autor eher literarischen Formen zu. Dem Thema Umweltverbrechen angemessen entstanden die Öko-Krimis „Feine Würze Dioxin“, „Das Projekt“ und „Terrorziel Wasser“, alle im Nomen-Verlag veröffentlicht. Zuletzt erschien das Hörbuch „Game over?“ im Verlag Libroletto.
1996 wurde Erich Schöndorf als Professor für Umweltrecht und öffentliches Recht an die Fachhochschule Frankfurt am Main berufen. Viele Jahre war er aktiv im Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit dem Schwerpunkt Klimaschutz. Als Mitglied bei Business Crime Control (BCC) war er seit 1998 Mitherausgeber der Zeitschrift BIG Business Crime, seit 2002 Mitglied im Vorstand und von 2011 bis 2021 Vorsitzender des Vereins.
„Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“
Unter dem Titel „Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“ hat Schöndorf in BIG Nr. 4/2014 beschrieben, wie er Ende der 1990er Jahre an der Fachhochschule Frankfurt mit Hans See und dem von ihm zusammen mit anderen gegründeten Verein BCC in Kontakt kam und wie das seinen Blick auf Umweltdelikte veränderte: „Als reinrassiger ‚Öko‘ war ich ganz auf eine Verfolgung von Straftaten fixiert, die dem Schutz von Umweltgütern wie Wasser, Boden und Luft dienen sollte. Die wirtschaftliche Dimension dieser Verfahren hatte ich zunächst komplett ausgeblendet. Ich war in Umweltverbänden und Bürgerinitiativen zuhause und hatte mich im Kampf um die Startbahn West (des Frankfurter Flughafens) engagiert.“
Über den von ihm 12 Jahre lang als Staatsanwalt geführten Holzschutzmittel-Prozess schrieb er dementsprechend selbstkritisch: „Zahlreiche Häuslebauer und Heimwerker waren durch die Anwendung giftiger Lasuren krank geworden und ich hatte im Dschungel der Toxikologie mit ihren Grenzwertproblemen und biochemischen Wirkmechanismen den wirtschaftsrechtlichen und insbesondere den wirtschaftskriminellen Hintergrund des Verfahrens schlicht verkannt. Die Firma hatte nämlich ihre Giftchargen betrügerisch an den Mann gebracht, indem sie über die Gefährlichkeit ihrer Produkte nicht aufgeklärt hatte. Neben dem Umweltdelikt der Giftfreisetzung hatte ich es quasi unbemerkt auch noch mit einem Betrug zu tun.“
Dieser Betrug diente der Gewinnerzielung und Gewinnmaximierung, wie auch bei anderen derartigen Delikten. “Wer die Umwelt schädigt“, schrieb Schöndorf in seinem Artikel, „tut das in der Regel nicht aus Lust an der Zerstörung, am Kaputtmachen, sondern weil er damit Geld verdienen will. Der Unternehmer, der seine giftigen Abwässer in einen Fluss leitet, spart die Kosten für Aufbereitung und Reinigung. Der Entsorger, der den ihm anvertrauten Bauschutt in die Landschaft kippt, statt ihn ordnungsgemäß zu recyclen, spart ebenfalls die hohen Gebühren der Wiederverwertungsanlage. Und die Bäume am Amazonas fallen deswegen der Motorsäge zum Opfer, weil das Palisander- und Mahagoniholz in Amerika oder Europa reißenden Absatz findet und die gerodeten Flächen anschließend dem gewinnbringenden Sojaanbau dienstbar gemacht werden können.“
„Die Lügen der Experten“
Im Holzschutzmittel-Prozess hatte Erich Schöndorf als Staatsanwalt mit Sachverständigen zu tun, die ganz im Sinne des beklagten Unternehmens einen Zusammenhang zwischen den giftigen Inhaltsstoffen des Produkts und den Krankheitsbildern bei Anwendern nicht bestätigen konnten beziehungsweise leugneten. Diese Erfahrung hat er in seinem Essay „Die Lügen der Experten“ im SPIEGEL Nr. 23/1999 pointiert zur Sprache gebracht.
Auf die Ärzteschaft könnten die Betroffenen kaum hoffen, schrieb Schöndorf. In deren Studienplänen sei Toxikologie oder gar Umweltmedizin nicht vorgekommen. Den „alltäglichen Chemikalienwahnsinn“ und seine Folgen für die Gesundheit hätten sie daher nicht auf dem Schirm. Aber „was bisher als stille Katastrophe von den Verantwortlichen totgeschwiegen und mit allerlei Tricks unter der Decke der marktwirtschaftlichen Normalität gehalten werden konnte“ breche nun auf.
Nach bitteren Erfahrungen mit der Schulmedizin hofften viele Betroffene auf die Justiz. „Bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Kaum ein Kläger gewinnt, selten führt eine Strafanzeige zum Ziel.“ Es stelle sich die Frage, „warum die Justiz Ansprüche der Opfer des technischen Fortschritts meist vom Tisch wischt – und das, obwohl die Betroffenen nicht weniger als das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einklagen.“
Schöndorf referierte eine naheliegende Erklärung: „Obrigkeitsorientiert, wie er nun einmal ist, fühle der Justizapparat sich den Mächtigen verpflichtet, der Politik und der Wirtschaft und deren heiliger Kuh, der Marktwirtschaft. Die garantiere Massengewinn über Massenkonsum, der nur mittels kaufbarer Produkte funktioniere. Kaufbare – also billige – Produkte seien aber nicht unbedingt sichere Produkte. Schäden seien somit programmiert, im übergeordneten Interesse aber auch hinzunehmen. Und sowieso gebe es keinen Fortschritt ohne Risiko.
Ob die Justiz wirklich diese Logik – es ist die Logik der Konzerne, die nur die eigenen Gewinne sehen und die Kehrseite der Medaille ignorieren – übernommen hat? Es wäre grober Unfug, wenngleich die Justiz immer wieder für Überraschungen gut ist. Trotzdem, andere Interpretationen des justiziellen Mißstandes liegen näher.“
Richter und Staatsanwälte dürften und müssten sich fremden Sachverstands bedienen, um die Sache, die verhandelt wird, in allen Einzelheiten zu verstehen, das Für und Wider abwägen zu können und zu einem Urteil zu kommen. Sie könnten also nach Belieben Gutachter aus Wissenschaft und Praxis bestellen. Und da liege das Problem, so Schöndorf.
„Prominente Lehrstuhlinhaber, internationale Kapazitäten, doppelt und dreifach Promovierte bevölkern die Gerichtssäle. Und trotzdem gibt es keine Gerechtigkeit für Chemikalienkranke.
Oder gerade deswegen? Vor wenigen Jahren wurde das Problem noch unter dem Begriff der käuflichen Wissenschaft gehandelt. Mittlerweile ist man deutlicher geworden und spricht von Wissenschaftskriminalität.
Zahlreiche Sachverständige begutachten einfach falsch. Sie irren nicht, sie lügen. Und sie lügen mit Kalkül, immer zugunsten des am Verfahren beteiligten wirtschaftlich Mächtigen, des Unternehmens, des Konzerns, des Herstellers. Nie zum Vorteil der kranken Kläger. Sie bestreiten den Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schaden, setzen zumindest entsprechende Zweifel in die Welt. Und die genügen, um den Prozesserfolg des Opfers zu vereiteln.
Was die Sachverständigen da tun, ist kein Freundschaftsdienst, sondern Teil eines Geschäfts: Unwahrheit gegen Cash. Der Hintergrund dieses schlimmen Tatbestandes ist kein Geheimnis.
Längst können Universitätsinstitute, Forschungsgesellschaften oder andere Wissenschaftseinrichtungen ohne den ständigen Geldstrom aus der Wirtschaft nicht mehr existieren. Der Staat gibt nur noch Peanuts. Und weil auch die immer weniger werden, gewinnen die Drittmittel, wie die Zuwendungen wertneutral heißen, ständig an Bedeutung. Die Heimstätten unserer Sachverständigen hängen am Tropf der Konzerne.
Deren Unterhaltsleistungen erfolgen ganz und gar unspektakulär und unverfänglich in Form von Forschungs- und Gutachtenaufträgen und hin und wieder auch als Spende oder Doktorandenstipendium. Dafür dürfen die Unternehmen sich etwas wünschen: günstige Expertisen. Die bekommen sie auch, ansonsten wäre die geschäftliche Beziehung gefährdet.“
Um diesen Usancen ein Ende zu bereiten machte Erich Schöndorf einen Vorschlag: „Was wir brauchen ist der wenn nicht gläserne, so doch wirtschaftlich transparente Sachverständige. Der seine finanziellen Verflechtungen bekannt macht und seine wirtschaftlichen Abhängigkeiten offenlegt. Der sagt, woher er seine Aufträge und sein Geld bekommt und wer sein Institut finanziert, sein Labor ausrüstet oder seinen Betriebsausflug sponsert. Und der selbstverständlich auch seine Sachkenntnis belegen kann.“
Was die Transparenz bei Sachverständigen angeht, hat sich inzwischen dank des Drucks der Öffentlichkeit einiges getan. Dennoch bleibt der SPIEGEL-Essay Erich Schöndorfs in vielem aktuell.
„Die Mühen der Ebene“
Im Dezember 2015 wurde in Paris von 197 Staaten ein Klimavertrag abgeschlossen, um die Erderwärmung auf 1,5 bis maximal 2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen. „Nach dem Gipfel kommen die Mühen der Ebene“, waren die Anmerkungen von Erich Schöndorf zu diesem Vertrag betitelt, die in BIG Nr. 1/2016 erschienen sind. Schöndorf schrieb: „Das Wunder von Paris. Da war vielleicht die Prophezeiung von Friedrich Hölderlin wahrgeworden, der da, wo Gefahr war, auch das Rettende wachsen sah. Oder die Welt hatte tatsächlich begriffen, dass es in Sachen Klimaschutz so um die 12 Uhr war. Schon einmal hatte ja die Weltgesellschaft in einer ähnlich prekären Situation in letzter Sekunde das Ruder herumgerissen, als sie zur Rettung der lebensnotwendigen Ozonschicht im Montreal-Abkommen die FCKW verbot.“
In seinem Artikel stellte Schöndorf die Möglichkeiten zur Nutzung und Weiterentwicklung erneuerbarer Energien dar, um die CO2-Emissionen mittelfristig erheblich zu senken und so einen weiteren Temperaturanstieg zu verhindern. Da sei „vorsichtiger Optimismus“ angebracht. „In jedem Fall bedeutet Paris, dass die Staaten in der Falle ihrer Selbstverpflichtung sitzen. Auch wenn es keine völkerrechtlich verbindlichen Sanktionsregeln gibt: Wer sich jetzt drückt oder zu bluffen versucht, steht zu Recht am Pranger der vertragstreuen Staaten sowie der überall mächtiger werdenden NGOs und Umweltverbände.“
Schöndorf sah „in den Köpfen der Menschen eine Trendwende geschafft“. „Jetzt geht es in eine andere Richtung und dieser Richtungswechsel kann eine neue Zuversicht generieren, kann dem Engagement zur Klimarettung einen neuen Schub verleihen.“ Inzwischen wissen wir, dass die „Mühen der Ebene“ noch viel schwieriger zu bewältigen sind als gedacht.
Am Schluss seines Artikels proklamierte Schöndorf ein Widerstandsrecht, wenn beispielsweise der Ausstieg aus der Kohle torpediert werde: „Dann werden sich hoffentlich viele an Wackersdorf, Whyl und Brokdorf erinnern, wo die Umweltbewegung ihre großen Erfolge gefeiert hat, und werden Kohlekraftwerke besetzen und Tagebaue blockieren. Denn es gibt da ein Ziel, auf das sich alle Staaten der Welt am 12. Dezember 2015 geeinigt haben: Die Erde zu retten. Wenn der Zweck die Mittel heiligen kann, dann jetzt.“
Bei allem Ernst der Lage hat Erich Schöndorf sich immer einen Sinn für den künstlerischen „Gegenentwurf“ und für die Satire bewahrt. In seinem Westerwälder Heimatort Greifenstein, in dem Erwin Piscator geboren wurde, für dessen Denkmal dort er sich einsetzte, hat er mit Laiengruppen Theaterstücke aufgeführt. Und in BIG hat er hier und da satirische Texte veröffentlicht – „wo die Satire doch“, schrieb er, „wie alle Kabarettisten übereinstimmend sagen, die einzig richtige Antwort auf den Unfug der Welt darstellt“.
Weitere Infos:
DokZentrum ansTageslicht.de: Ein ehemaliger Staatsanwalt gegen einen großen Chemiekonzern namens BAYER AG. Auf dieser Webseite findet sich u.a. auch die Aufzeichnung eines Interviews mit Erich Schöndorf.
Udo Hörster: Der Staatsanwalt des Holzgifte-Prozesses zieht Bilanz. In: Stichwort BAYER Nr. 1/1999
Herbert Stelz: Zermürbt und müde, DIE ZEIT Nr. 37/1996
https://www.zeit.de/1996/37/Zermuerbt_und_muede
Herbert Stelz: Wie im Mittelalter, DIE ZEIT Nr. 47/1996
https://www.zeit.de/1996/47/Wie_im_Mittelalter