Am 24. Juni 2024 entschied das Landgericht Bonn, das Verfahren wegen schwerer Steuerhinterziehung gegen den ehemaligen Chef der Hamburger Warburg-Bank Christian Olearius einzustellen. Die angeschlagene Gesundheit des 82-jährigen prominenten deutschen Bankers lässt es nach Auffassung des Gerichts nicht zu, den Prozess fortzusetzen. Die Schuldfrage bleibt damit juristisch ungeklärt.

Olearius wurde Steuerhinterziehung in 15 besonders schweren Fällen vorgeworfen. Insgesamt ließ sich  die Warburg-Bank zwischen 2006 und 2011 vom Staat 280 Millionen Euro Steuermittel erstatten, die sie zuvor gar nicht gezahlt hatte. Die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Köln warf ihm vor, Cum-Ex-Deals initiiert und abgesegnet zu haben. Der Banker bestritt stets alle Vorwürfe. Olearius hätte im Fall einer Verurteilung mit einer Haftstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen müssen.

Vor allem hat das Gericht einen entscheidenden Punkt nicht ausermittelt. So wies es das Begehren der Staatsanwaltschaft zurück, von Olearius 43 Millionen Euro als dessen mutmaßliche persönliche Taterträge einzuziehen. Olearius hatte offensichtlich selbst fünf Millionen Euro in die illegalen Cum-Ex-Deals investiert und einen entsprechenden „Gewinn“ erschwindelt.

Das Handelsblatt dazu (Iwersen/Votsmeier):

„Offen bleibt vorerst die Frage, ob Olearius seine persönlichen Profite in Höhe von 43 Millionen Euro zurückzahlen muss. Das fordert die Staatsanwaltschaft – unabhängig von den inzwischen erfolgten Steuerrückzahlungen der Bank. Die Ankläger hatten am vorletzten Verhandlungstag die Überleitung des Verfahrens in ein sogenanntes selbstständiges Einziehungsverfahren beantragt. Die Kölner Behörde wollte so erreichen, dass Olearius zumindest die zu Unrecht erlangten Taterträge zurückzahlen muss.

Der bisherige Verfahrensstand erschien den Richtern jedoch nicht ausreichend fortgeschritten, um sicher feststellen zu können, welchen Tatbeiträgen welche Einnahmen zuzuordnen sind. Daher lehnten sie den Antrag der Staatsanwaltschaft ab.

Der Staatsanwaltschaft bleibt somit nur der Weg, ein neues Einziehungsverfahren zu beantragen. Persönlich in Bonn erscheinen müsste Olearius dann allerdings nicht. Für ihn geht es nur noch um Geld, nicht mehr um seine Freiheit.“

Die Süddeutsche Zeitung verweist auf die guten Beziehungen von Olearius zu Regierung und Justiz in Hamburg:

„Einst war Christian Gottfried Olearius, wie er vollständig heißt, einer der wichtigsten Bankiers Deutschlands. Er galt als Helfer in schwierigen Situationen, gern gesehener Gesprächspartner der Politik und das Idealbild eines hanseatischen Kaufmanns. Dass der Prozess in Bonn allerdings so viel Öffentlichkeit auf sich zog, lag nicht nur am Privatbankier und Elbphilharmonie-Mäzen selbst, sondern auch an dessen Kontakte zum jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).“ (Max Fluder)

Zur Erinnerung: Hamburgs Steuerbehörde hatte in den Jahren 2016 und 2017 auf eine Rückforderung von der Warburg-Bank in Höhe von 47 Millionen Euro verzichtet – in einer Zeit, als sich Scholz als damaliger Erster Bürgermeister der Stadt mehrmals mit Olearius getroffen hatte. Scholz hat bislang jede Einflussnahme auf das Steuerverfahren bestritten und kann sich an Details der Treffen nicht mehr erinnern.

Ohne die hartnäckigen Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft wäre der Banker wohl nie angeklagt worden. Das Neue Deutschland hält fest:

„Mit der Einstellung des Verfahrens gegen Christian Olearius, Ex-Chef der Hamburger Privatbank Warburg, bleibt die Schuldfrage offen. Dies ist Ergebnis der jahrelangen Untätigkeit der hanseatischen Behörden, die erst die illegalen Steuergewinne nicht zurückforderten und dann auch juristisch nicht aktiv wurden. Letztlich war es das Verdienst der Schwerpunktstaatsanwälte in Köln, dass der Prozess wegen schweren Steuerbetrugs überhaupt zustandekam.“

Auch die junge Welt bezieht sich auf den viel zitierten Skandal im Skandal:

„Der Skandal besteht dabei darin, dass der Prozess zunächst um Haaresbreite überhaupt nicht eröffnet worden wäre und dann über Jahre verzögert wurde, bis es 2023 doch noch losging. Andernfalls hätte das Verfahren deutlich früher beendet werden können, als sich der Bankster noch besserer Gesundheit erfreute.

So entgeht ein ganz dicker Fisch im ‚Cum-ex‘-Sumpf dem Strafvollzug.“

Das Handelsblatt äußert sich zur Frage, wer für die Kosten des Prozesses aufzukommen hat (Iwersen/Votsmeier):

„Offen bleibt auch, wer das Verfahren bezahlen muss. ‚Die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden ersetzt‘, sagte Richterin Slota-Haaf. Das könnte noch zu Diskussionen führen. Olearius gab Prozessbeobachtern zufolge einen siebenstelligen Betrag pro Monat aus – über Jahre. Vor Gericht hatte er vier als besonders teuer geltende Anwälte an seiner Seite: Peter Gauweiler, Bernd Schünemann, Klaus Landry und Rudolf Hübner.

Für den Steuerzahler wird der Fall Olearius damit noch teurer, als er ohnehin schon ist. Die Staatsanwaltschaft Köln warf Olearius vor, für einen Steuerschaden von 280 Millionen Euro verantwortlich zu sein.“

Nach Aussage eines ZDF-Rechtsexperten sind die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten tatsächlich von der Staatskasse zu erstatten. Sie werden in einem gesonderten Kostenfestsetzungsbeschluss festgestellt. Dabei werden aber offenkundig nicht die Kosten der Wahlverteidiger, sondern nur die der Pflichtverteidigung übernommen.

Volker Votsmeier vom Handelsblatt bestreitet in einem Kommentar, dass der Prozess aus medizinischen Gründen eingestellt werden musste. Der Abbruch würde das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben:

„Der Fall Olearius offenbart einen Makel im deutschen Strafrecht. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass einem Angeklagten nur dann der Prozess gemacht werden darf, wenn er persönlich an der Hauptverhandlung teilnehmen kann. Diese Vorschrift ist im Grundsatz richtig. Nur so kann sich der Beschuldigte in einem öffentlichen Verfahren gegen die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft wehren. (…) Gerade bei einem Mann wie Olearius freilich sieht die Wirklichkeit im Gericht ganz anders aus. Gleich vier Anwälte vertreten ihn dort. Der Bankier hat in den neun Monaten kaum ein Wort gesagt. Seine Verteidiger dagegen zogen alle Register, um ein Urteil so lang wie möglich hinauszuzögern.

Das könnten sie auch ohne ihn tun. Der Paragraph 230, der in unserer Strafprozessordnung die Anwesenheit des Beklagten festschreibt, stammt aus 1877. Es gab damals kein Internet, auch Videokonferenzen waren unbekannt.

Olearius könnte sich heute problemlos aus Hamburg zuschalten. Das würde ihm auch die vierstündige Anreise ersparen. Fühlt er sich auch dafür zu schwach, könnte Olearius darauf vertrauen, dass ihn seine vier hochbezahlten Anwälte angemessen vertreten und über den Prozessverlauf informieren.

Das wird nicht passieren. Olearius fährt nach Hause. Jahrelange Ermittlungen, mehr als zwei Dutzend Prozesstage, ganze Aktenberge mit Zeugenaussagen und Beweisen – alles vergebens. (…) Ein Blick über die Grenze zeigt, dass es auch anders geht. In Frankreich, Italien, Belgien, Portugal und anderen Ländern ist es selbstverständlich, Verhandlungen ohne den Angeklagten zu führen. Auch in den USA wurden schon Menschen verurteilt, ohne dass sie anwesend waren. Es wird Zeit, die Anwesenheitspflicht in ein Anwesenheitsrecht umzuwandeln.“

Votsmeier kommt zu dem Schluss:

 „Gerade komplexe Wirtschaftsstrafverfahren sind für die Justiz herausfordernd. Ermittlungen dauern oft zehn Jahre und mehr. Weitere Jahre vergehen, bis die Hauptverhandlung eröffnet wird. Olearius‘ potenzielle Taten liegen heute bis zu 17 Jahre zurück.

Sie wiegen deshalb nicht weniger schwer. Es steht zu befürchten, dass weitere Cum-Ex-Verfahren enden wie das von Olearius. Strafrechtlich ist der größte Steuerskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte noch lange nicht aufgearbeitet. Mit jedem Jahr, das verstreicht, steigt das Risiko, dass die Gerichte selbst in schwerwiegenden Fällen kein Urteil mehr sprechen können.

Eines ist gewiss: Das Ende des Verfahrens gegen Olearius schadet unserem Rechtsstaat. Mancher Außenstehende mag das Treiben beobachten und zu dem Schluss kommen, mit dem sich schon zu viele abgefunden haben: Die Großen lässt man laufen.“

Nicht überraschend zeigte sich auch der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler, einer von Olearius‘ vier hochpreisigen Verteidigern, staatskritisch. Für ihn fehlt der Anklage jede Glaubwürdigkeit, da die Cum-Ex-Geschäfte der staatlichen Landesbank WestLB bis heute nicht strafrechtlich verfolgt würden: „Das Land NRW klagt Taten an, die es selbst begangen hat.“ (zit. nach taz)

Tatsächlich werden Cum-Ex-ähnliche Steuerraub-Modelle nicht nur von großen Banken, sondern auch von Volksbanken und Sparkassen genutzt (vgl. auch den BIG-Artikel vom 19. Dezember 2022). Der Verein Finanzwende berichtet, dass nach neuen Schätzungen für den Zeitraum von 2000 bis 2020 allein in Deutschland der Schaden aus Cum-Cum-Geschäften bei etwa 28,5 Milliarden Euro liegt.

Nach dem Eindruck von Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker, als engagierte Aufklärerin in Sachen Cum-Ex bekannt geworden, laufen die kriminellen Geschäfte weiter. So hätte sich das System weiter perfektioniert und verschiedene Varianten hervorgebracht. Sie kritisiert das fehlende staatliche Verfolgungsinteresse scharf:

„Bei Cum-Ex ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft inzwischen gegen 1.700 Beschuldigte. Jetzt stellen Sie sich mal vor, es wären 1.700 Drogendealer gewesen. Da wäre in Köln aber was los gewesen! Das hätte selbstverständlich sofort lückenlos aufgeklärt werden müssen. Aber bei Wirtschaftsstrafsachen passiert das oft nicht. Es wird zwar immer gesagt, vor dem Gesetz sind alle gleich, aber ich habe festgestellt: In Fällen, in denen es schwieriger, komplizierter und langwieriger wird, da kapituliert der Staat häufig.“

Abschließend noch einmal die Junge Welt:

„‚Cum-ex‘-ähnliche Steuerraub-Modelle florieren also weiterhin – und mit dem Wissen um den politischen Unwillen zur Strafverfolgung wohl jetzt erst recht. Schließlich waren die Einstellung des Verfahrens gegen Olearius und die Degradierung Brorhilkers nicht die einzigen erfreulichen Signale, die Steuerdiebe in letzter Zeit vernehmen durften. So wurde Mitte Juni bekannt, dass nach mittlerweile zwölf Jahren Ermittlungsarbeit gerade einmal 17 Verfahren gegen ‚Cum-ex‘-Verbrecher eröffnet wurden. Von den bislang rund 1.700 Verdächtigen muss sich also gerade mal ein Prozent vor Gericht verantworten. Aufstockung der Ermittlungskapazitäten? Pustekuchen.“

 

Quellen:

Klau Ott: „Der Skandal hinterm Skandal“, Süddeutsche Zeitung vom 25. Juni

Hermannus Pfeiffer: „Olearius kommt so davon“, taz (Online) vom 24. Juni 2024

https://taz.de/Archiv-Suche/!6016239&s/

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Gericht stellt Verfahren gegen Olearius wegen Krankheit ein“, Handelsblatt (Online) vom 24. Juni 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-gericht-stellt-verfahren-gegen-olearius-wegen-krankheit-ein/100046417.html

Volker Votsmeier: „Das Ende des Prozesses gegen Olearius schadet dem Rechtsstaat“, Handelsblatt (Online) vom 24. Juni 20254

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-das-ende-des-prozesses-gegen-olearius-schadet-dem-rechtsstaat/100046968.html

„Cum-Ex-Deals ohne Konsequenzen?“, Interview mit dem ZDF-Rechtsexperten Christoph Schneider, ZDF-heute live vom 24. Juni 2024

https://www.zdf.de/nachrichten-sendungen/zdfheute-live/cum-ex-prozess-schneider-video-100.html

Sebastian Edinger: „Einladung zum Steuerraub“, junge Welt vom 1. Juli 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/478421.cum-ex-und-cum-cum-einladung-zum-steuerraub.html?

„Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren kann“, Interview mit Anne Brorhilker, Die Zeit vom 27. Juni 2024, Seite 17f.