Die Bundesregierung will zum 1. Oktober 2022 ein zentrales Wahlkampfversprechen der SPD umsetzen und den Mindestlohn auf 12 Euro anheben. Die gesetzliche Lohnuntergrenze beträgt derzeit noch 9,82 Euro brutto pro Stunde. Zunächst soll nach einem Beschluss der Mindestlohnkommission am 1. Juli 2022 die nächste Erhöhung auf 10,45 Euro erfolgen. Die vorgesehene Anhebung auf 12 Euro – drei Monate danach – entspricht einer Steigerung um 15 Prozent. Etwa 6,2 Millionen Beschäftigte mit einem geringeren Stundenlohn werden davon profitieren.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) droht damit, Verfassungsklage gegen die gesetzlich vorgesehene Anhebung einzulegen, sieht dadurch die Tarifautonomie verletzt. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sprach in diesem Zusammenhang von der Einführung von „Staatslöhnen“ (vgl. Handelsblatt vom 21. Januar 2022).

Robert Feiger, Chef der IG Bauen-Agrar-Umwelt, warnte Ende letzten Jahres vor einer „mangelnden Mindestlohn-Moral“ bei einigen Unternehmen und vor sogenannten Placebokontrollen zur Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen: „Ein 12-Euro-Mindestlohn ist nur so gut wie seine Einhaltung“. (Pressemitteilung vom 30. Dezember 2021) Nach Auffassung des Gewerkschafters müssen Unternehmen staatliche Kontrollen kaum fürchten. Die Kontrolldichte sei schon bisher viel zu niedrig; das Risiko für Firmen, bei illegalen Machenschaften vom Zoll erwischt zu werden, bleibe verschwindend gering.

Wegen unterschrittener, zu spät oder gar nicht gezahlter Mindestlöhne habe die zuständige Abteilung des Zolls, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), im Zeitraum der ersten elf Monate des vergangenen Jahres 3.083 Ermittlungsverfahren eingeleitet, davon 816 im Bauhaupt- und Baunebengewerbe. Hierbei wären Bußgelder in Höhe von 12.535.627 Euro verhängt worden, am Bau seien es 3.884.373 Euro gewesen. Hinzu komme ein hohes Level an krimineller Energie mit Blick auf Schwarzarbeit, illegale Beschäftigung und Steuerbetrug. Im Jahr 2020 habe die FKS in diesem Zusammenhang rund 100.000 Strafverfahren eingeleitet.

Wegen Verstößen gegen die Mindestlöhne seien theoretisch Bußgelder bis zu 500.000 Euro möglich. In der Praxis kämen Firmen aber oft deutlich günstiger davon. Zwar könnten auch höhere Bußgelder weiterhelfen; noch wichtiger aber seien regelmäßige, flächendeckende Kontrollen. Die FKS brauche deutlich mehr Personal, perspektivisch müsse es eine einheitliche staatliche Arbeitsinspektion geben. Feiger kritisiert das Zuständigkeitswirrwarr zwischen den Arbeitsschutzbehörden der Länder, die die Sicherheitsvorschriften und Standards bei Unterkünften ausländischer Beschäftigter im Blick hätten, und der Bundesbehörde Zoll, deren Aufgabe es sei, sich um Schwarzarbeit, Steuern und Löhne zu kümmern. Für die Einhaltung der Coronaregeln am Arbeitsplatz wären derzeit zusätzlich die lokalen Gesundheitsämter zuständig (junge Welt vom 17. Januar 2022).

Das Portal „mindestlohnbetrug.de“ nennt die gängigen Tricks, mit denen die gesetzliche Lohnuntergrenze umgangen wird:

– Unrealistische Leistungsvorgaben:
Unternehmer erwarten von ihren Beschäftigten Leistungen, die in der normalen Arbeitszeit nicht zu erfüllen sind. Beschäftigte sollen mit einem schlechten Gewissen „freiwillig“ länger arbeiten, um den vollen Lohn zu bekommen.

– Abzüge:
Abzüge vom Lohn erfolgen aufgrund von „schlechter Arbeit“, für die Bereitstellung von Werkzeugen, Arbeitskleidung oder Nahrungsmitteln (zum Beispiel Mittagessen).

– Arbeitszeiten:
Tatsächlich geleistete Zeiten werden oft nicht korrekt oder gar nicht erfasst, Wege zur Kundschaft, Wartezeiten oder Bereitschaftsdienste nicht angerechnet.

– Schwarzarbeit und Selbständigkeit:
Illegal arbeitende Beschäftigte, die unter einem besonderen Druck stehen, „akzeptieren“ häufig, dass ihr Lohn gedrückt wird. Selbstständig arbeitende Personen müssen sich selbst versichern, was den Mindestlohn oft unterläuft.

– Falsche Einstufung:
Fachkräfte werden als Hilfskräfte eingestellt.

– Wegfallende Ansprüche
Urlaubstage, Feiertage und Tage an denen wegen Krankheit nicht gearbeitet werden kann, werden nicht bezahlt.

Laut der „Initiative Mindestlohnbetrug“ geht das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer für den DGB erstellten Analyse von 2,4 Millionen Beschäftigen aus, die den gesetzlichen Mindestlohn nicht erhalten, obwohl er ihnen zusteht. Die ermittelten Betrugsfälle stellten nicht einmal die Spitze des Eisberges dar.

Quellen:

Frank Specht: „Mindestlohn soll ab Oktober auf zwölf Euro steigen“, Handelsblatt vom 21. Januar 2022
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/entwurf-mindestlohn-soll-ab-oktober-auf-zwoelf-euro-steigen/27997728.html?ticket=ST-3382555-gnFBHDYNr4LdrdILe6Wk-ap4 

„IG BAU-Chef Robert Feiger warnt 2022 vor ‚Placebo-Kontrollen‘ beim 12-Euro-Mindestlohn“, Pressemitteilung der IG Bauen-Agrar-Umwelt vom 30. Dezember 2021
https://igbau.de/IG-BAU-Chef-Robert-Feiger-warnt-2022-vor-Placebo-Kontrollen-beim-12-Euro-Mindestlohn.html 

„‚Das Risiko für Firmen bleibt verschwindend gering‘: Ein Gespräch mit Robert Feiger“, junge Welt vom 17. Januar 2022
https://www.jungewelt.de/artikel/418617.betrug-bei-lohnuntergrenze-das-risiko-f%C3%BCr-firmen-bleibt-verschwindend-gering.html?sstr=feiger 

„Mindestlohnbetrug aufdecken!“, https://mindestlohnbetrug.de