„Die Ökonomie der Werkverträge und Subunternehmen spielt im postmodernen Kapitalismus eine zentrale Rolle.“ (Die modernen Wanderarbeiter*innen. Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte, Seite 83)

So sehr die deutsche Wirtschaft auf die innereuropäischen Wanderarbeiter*innen angewiesen ist, so wenig sind deren prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen öffentlich sichtbar. Anliegen der beiden Autor*innen Kathrin Birner und Stefan Dietl ist es, über die extreme Ausbeutung der Menschen aufzuklären, die vorübergehend ihre Heimatländer verlassen, um in Deutschland zu arbeiten. Das gelingt ihnen sehr gut – sie bieten auf nur 139 Seiten in konzentrierter Form einen gründlichen Einblick in die prekären Arbeitsverhältnisse der wichtigsten Branchen: der Landwirtschaft, des Pflegebereichs, der Bauwirtschaft, des Transport- und Logistiksektors, der (jüngst in den medialen Fokus gerückten) Fleischindustrie und des Sektors der industriellen Produktion.

Zunächst wird im Buch die Entwicklung der Arbeitsmigration der letzten Jahre innerhalb der EU im Kontext der EU-Osterweiterung beleuchtet. Deutlich wird, dass die Unternehmen dabei vor allem zwei Modelle prekärer Arbeit extensiv nutzen: die Entsendung, bei der die Beschäftigten offiziell bei Agenturen oder Subunternehmen eines anderen Land angestellt sind, und die Scheinselbständigkeit. Danach beschreiben die Autor*innen auf Basis empirischen Materials die katastrophale Situation der migrantischen Beschäftigten in den einzelnen Wirtschaftssektoren. Sie gehen auf die unterschiedlichen europarechtlichen Regelungen ein und gehen der Anschaulichkeit halber detailliert auf mehrere Beispiele ein.

Kein Zweifel wird daran gelassen, dass die staatlichen Kontrollinstanzen, wie die dem Zoll angegliederte „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“, kaum als Bündnispartner im Kampf für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen der mobilen Beschäftigten gelten können. So ist die Behörde zum einen aufgrund fehlender materieller und personeller Ausstattung kaum in der Lage, effektive Kontrollen durchzuführen. Zum anderen sind die meisten Machenschaften der deutschen Unternehmen zur Ausbeutung der Arbeitsmigrant*innen keineswegs illegal, sondern politisch gewollt. Verdeutlicht wird das am Beispiel der europäischen Entsenderichtlinie, die nicht mit dem Ziel geschaffen wurde, gleiche Arbeitsbedingungen zu fördern, sondern für den Nachschub billiger Arbeitskräfte aus Osteuropa in die industriellen Zentren der EU zu sorgen.

Dass angesichts der im Buch beschriebenen empörenden Zustände öffentlich wahrnehmbare Proteste weitgehend fehlen, erklären Birner und Dietl mit der Verbindung von Rassismus und Ausbeutung bei der Beschäftigung der Wanderarbeiter*innen. Tief in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verankerte rassistische Ressentiments und Stereotype würden dafür sorgen, dass Diskriminierungen als „normal“ gelten und damit akzeptiert werden. Erst wenn auch die Mehrheitsgesellschaft – wie in Folge der Ausbreitung des Coronavirus in deutschen Schlachthöfen – betroffen ist, sei eine erkennbare Skandalisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Migrant*innen zu erwarten.

Unter der Überschrift „Die Peripherisierung der Zentren“ beschreiben die Autor*innen abschließend, wie informelle Beschäftigungsverhältnisse zunehmend auch in Kernbereiche des industriellen Sektors vordringen. Als Beleg gilt hier das Ansteigen von Leiharbeit und Werkverträgen in den Schlüsselbereichen Maschinenbau und Automobilproduktion. Das einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung entnommene Beispiel eines deutschen Automobilzulieferers illustriert laut Birner und Dietl, wie die prekär Beschäftigten im industriellen Produktionssektor ausgebeutet werden. Mehr als hundert kroatische Wanderarbeiter*innen, die auf Basis eines Werkvertrags bei einer kroatischen Firma beschäftigt waren, polierten, schliffen und montierten Aluminiumteile für führende deutsche Autohersteller. Formell mit Stundenlohn bezahlt, mussten sie faktisch im Akkord arbeiten. Aus den Vorgaben resultierten extrem lange Arbeitszeiten – aus diesen wieder eine ganze Reihe von Arbeitsunfällen. Eine zuverlässige elektronische Zeiterfassung fehlte, Krankheitsausfälle wurden vom Lohn abgezogen. Und von dem geringen Lohn müssen dann noch Kosten für die Unterkünfte beglichen werden. Das Vorgehen der Firma war offensichtlich größtenteils legal, da es den gesetzlichen Rahmen in Deutschland und der EU nicht überschritt. Aber: „Faktisch sind die innereuropäischen Wanderarbeiter*innen weitgehend rechtlos“ – so bringen es die beiden Autor*innen treffend auf den Punkt (Seite 70).

Das Buch beschränkt sich jedoch nicht nur auf die bei aller Anschaulichkeit komprimiert präsentierte Darstellung der Fakten zur europäischen Arbeitsmigration. So stehen im Schlusskapitel die in der Regel öffentlich kaum beachteten kollektiven Kämpfe der Wanderarbeiter*innen im Mittelpunkt. Birner und Dietl, selbst gewerkschaftlich aktiv, knüpfen sich das paternalistische Denken der Gewerkschaften vor, die die von extremer Ausbeutung Betroffenen zwar schützen wollen, sie aber nicht ausreichend als selbständig handelnde politische Subjekte anerkennen. Es reiche eben nicht, sich nur für die Interessen von Wanderarbeiter*innen einzusetzen, sondern es müsse auch möglich sein, sich gemeinsam mit ihnen für ihre Rechte zu engagieren und ihre gesellschaftliche Isolation zu durchbrechen. Im abschließenden Teil des Buches werden deshalb konkrete Arbeitskämpfe aus den verschiedenen Branchen vorgestellt, die zumindest teilweise erfolgreich verliefen und in denen wichtige Forderungen durchgesetzt werden konnten.

Vier Kernaussagen der beiden Autor*innen lassen sich zusammenfassend benennen. Erstens: Die prekär beschäftigten Menschen erleben sich selbst als rechtlos, während die Methoden der profitierenden Unternehmen sich oft in legalem Rahmen bewegen. Zweitens: Es handelt sich letztlich um politische Entscheidungen, die die Voraussetzungen für die systematische Ausbeutung der Wanderarbeiter*innen schaffen. Drittens: Nicht nur in Schlachthöfen oder im Pflegebereich werden Wanderarbeiter*innen ausgebeutet. Deutsche Unternehmen sind in zahlreichen Sektoren der Wirtschaft für die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen hunderttausender Menschen aus ost- und südeuropäischen Ländern verantwortlich, um den Status des Landes als „Exportweltmeister“ aufrechterhalten zu können. Viertens: Die deutschen Gewerkschaften sollten ihr ambivalentes Verhältnis zur Arbeitsmigration klären (Interesse an restriktiver Zuwanderungspolitik bei gleichzeitiger Unterstützung der migrantischen Arbeiter*innen) und in kollektiven Kämpfen einen partizipatorischen Ansatz vertreten, bei dem der Wille der Betroffenen im Zentrum steht.

Kathrin Birner/Stefan Dietl: Die modernen Wanderarbeiter*innen. Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte, Unrast-Verlag, Münster, 2021, 139 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-89771-299-7