Zur Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt von Migrant:innen liegt bereits eine breite Forschungsliteratur vor. Untersuchungen zu deren konkreten Arbeitsverhältnissen gibt es dagegen nur wenige. „Grenzen aus Glas“ dokumentiert deshalb die Ergebnisse einer breit angelegten empirischen Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen über die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsprozesse und die Arbeitskämpfe im Online-Versandhandel und in der Fleischindustrie. Der Autor Peter Birke und seine Mitarbeiter:innen führten in der Zeit von 2017 bis Mitte 2021 bei Amazon, Tönnies und anderen Unternehmen fast 220 qualitative Interviews durch – vor allem mit Beschäftigen, aber auch mit Manager:innen, Betriebsrät:innen und weiteren Expert:innen. Dabei wurde ein breites Spektrum der Migration abgedeckt (geflüchtete Menschen aus Drittstaaten und EU-Migrant:innen). Wichtige Erkenntnisse konnten die Wissenschaftler:innen auch durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen und Beratungsgesprächen sammeln.

Während der Hochzeit der Corona-Pandemie mit ihren Masseninfektionen standen beide Branchen (als Fallbeispiele für den Dienstleistungssektor und die „klassische“ Industrie) kurzzeitig massiv in der öffentlichen Kritik. Deutlich wurde dabei, dass in deren Niedriglohnbereichen fast ausschließlich Menschen ohne deutschen Pass arbeiten. Die Untersuchung setzt aber bereits einige Jahre zuvor an, nimmt das Anwerben und Ankommen der Betroffenen in den Blick und offenbart eindrücklich die Härten des Arbeitsalltags mit ihren vielfältigen Diskriminierungen.

Online-Handel und Fleischindustrie weisen dabei trotz aller Unterschiede große Ähnlichkeiten auf. Beide Branchen expandieren seit zwanzig Jahren außerordentlich schnell und produzieren auf dem neuesten Stand der Technik. Sie rationalisieren kontinuierlich ihre Arbeitsprozesse, beuten zeitgleich immer neue Arbeitskräfte zu Niedriglöhnen und unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen aus. Von einem Verschwinden der „Einfacharbeit“ in Zeiten durchdigitalisierter Arbeitsprozesse kann deshalb nicht die Rede sein. Denn in beiden Bereichen muss schwere körperliche und psychische Arbeit geleistet werden. Der Gesundheitsschutz wird hier wie dort oft vernachlässigt; die Arbeitszeiten sind lang (mitunter bis zu zwölf Stunden am Tag bei einer 7-Tage-Woche). In der Fleischindustrie wurden in der Vergangenheit sogar körperliche Übergriffe von Vorgesetzten bekannt; im Versandhandel stehen die Arbeitenden unter einer permanenten computergestützten Echtzeit-Kontrolle. Auf Seite 64 des Buches heißt es: „So gilt insbesondere das, was man über die Arbeitsbedingungen bei Amazon weiß, als Musterbeispiel für ein System rigider Zergliederung und Kontrolle der Arbeit in Anwendung digitaler Technologien“.

Der Autor wendet sich jedoch gegen die Verwendung der Bezeichnung „moderne Sklaven“ für die Beschäftigten, selbst wenn sich manche der gefragten Arbeiter:innen selbst so bezeichnen – insbesondere solche in der Fleischindustrie. Denn diese sind keineswegs nur wehrlose Opfer ausbeuterischer Unternehmer. Reflektiert werden in dem Buch deshalb auch die Möglichkeiten der Gegenwehr gegen die „Vernutzung von Arbeitskräften“, wie es der Autor formuliert. Viele der Betroffenen entwickeln durchaus vielfältige Formen von Alltagswiderstand. Auch fanden in den Jahren 2020 bis 2022 kollektive Protestaktionen statt, ohne dass die breite Öffentlichkeit diese wahrgenommen hätte. Es gab Tarifstreiks der Gewerkschaft NGG und vor allem im Jahr 2020 etliche „wilde Streiks“ ohne gewerkschaftliche Rückendeckung, stattdessen begleitet von engagierten Beratungsstellen. Dies blieb nicht ohne Erfolg: Das seit Anfang 2021 geltende Arbeitsschutzkontrollgesetz verbietet beispielsweise den Einsatz von Werkverträgen in der Fleischindustrie. In den Bereichen Schlachtung und Zerlegung darf nur noch eigenes Stammpersonal der Unternehmen arbeiten. Im vergangenen Jahr konnte durch die Gewerkschaft NGG eine Erhöhung des Mindestlohnes durchgesetzt werden.

Die geführten Interviews belegen auch, dass vor allem in der Fleischwirtschaft wirtschaftskriminelle Praktiken üblich sind. Befragte berichten davon, dass sie für einige Wochen ununterbrochen an sieben Tagen die Woche arbeiten mussten. Die Industriereinigung (Reinigung der Maschineneparks) stellt dabei die „Nachtseite“ der Fleischindustrie dar. Sie wird öffentlich wenig beachtet, umfasst aber einige der gefährlichsten Tätigkeiten in der Branche. Da das Arbeitsschutzkontrollgesetz diesen Bereich nicht umfasst, wird diese Tätigkeit auch nach Beginn der Pandemie weiterhin von Serviceunternehmen auf Werkvertragsbasis durchgeführt. Interviewte klagten beispielsweise durchgehend darüber, schlecht eingearbeitet worden zu sein:

„Da (gibt es) so eine Art Sicherheitsknopf oder so einen Alarmknopf, wo man (…) drei Mal draufdrücken muss. (…) Und, ja, (ein Kollege) war neu und wusste auch wohl nichts, hat wohl einmal gedrückt. Das war schon eher verwunderlich , dass der am Stück wieder rausgekommen ist. (…) Arbeitsunfälle passieren (auch), weil tendenziell hohe Fluktuation. Also jemand, der zwei, drei Jahre dabei ist, ist schon eigentlich ein ganz alter Hase. Sind viele dabei, die zwei, drei Monate und (dann) wieder wechseln.“ (Seite 216)

Mangelnde Einarbeitung stellt einen wesentlichen Grund für Unfälle und Verletzungen dar. Der Druck auf das Reinigungspersonal nimmt zudem dann stark zu, wenn in Schlachtung und Zerlegung Überstunden anfallen. Letztlich führe dies, so der Autor, zu deutlichen Verzögerungen beim Arbeitsbeginn der Reinigungskolonne und einem entsprechend verdichteten Pensum. Dabei komme es dann auch zur illegalen Streichung der arbeitsrechtlich vorgeschriebenen halbstündigen Pause – die daraus resultierende Arbeitsverdichtung führe im Effekt zu Unfällen. Auch berichten Arbeitskräfte davon, dass sie für den Abschluss eines Arbeitsvertrages – selbstredend illegale – Schmiergelder, oft auch „Gebühren“ genannt, an Vermittler oder Vorgesetzte bezahlen mussten (eine Betroffene nennt den Betrag von 1.200 Euro).

Dennoch hält Birke, wie schon erwähnt, wenig davon, von „modernen Sklaven“ zu reden. Die typische öffentliche Verwendung dieses Begriffs spiegele zudem nicht die „multiple Prekarität“ der Betroffenen wider. Dies sei ein wichtiger Aspekt – der Begriff beziehe sich nämlich nicht nur auf den Arbeitsprozess selbst, sondern schließe die Lebensverhältnisse insgesamt ein (eingeschränkte Aufenthalts- und Sozialrechte, miserable Wohnbedingungen).

Dass sich die Beschäftigten von Amazon, Tönnies und Co. mit wenigen Ausnahmen nicht vorstellen können, unter den gegebenen Bedingungen lange in den jeweiligen Unternehmen zu arbeiten, wundert deshalb nicht. Mitte 2021 waren rund drei Viertel der Gesprächspartner:innen nicht mehr in dem Betrieb beschäftigt, in dem sie zum Zeitpunkt der Interviews einen Arbeitsvertrag hatten. Der weitgehend bestehende gesellschaftliche Konsens darüber, dass „Arbeit“ auf jeden Fall gut für die gesellschaftliche Integration von geflüchteten Menschen sei – unabhängig von den jeweiligen Arbeitsbedingungen – darf deshalb als zynisch anmutender Unsinn bewertet werden. Die vorliegende Studie zeigt, dass diese Form der Erwerbsarbeit  vielmehr einen sozialen Ausschluss zementiert.

Die ankommenden Migrant:innen werden immer wieder mit „gläsernen Wänden“ konfrontiert, die von außen kaum sichtbar, aber für die Betroffenen doch spürbar sind. „Grenzen aus Glas“ werden erlebt als Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, durch die Tatsache, dass in der Fleischwirtschaft „Eintrittsgelder“ bezahlt werden müssen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten, durch das Tragen markierter Kleidung für die Mitarbeiter:innen von Subunternehmen oder das Verbot, Pausenräume benutzen zu dürfen, die Festangestellten vorbehalten sind. Migrantische Arbeitskräfte laufen gegen Wände, weil sie geltende Rechtsansprüche kaum durchsetzen können, denn unter den gegebenen Machtverhältnissen lässt sich erfahrenes Unrecht nur selten korrigieren. „Aber die Frage, wie das Unrecht von vornherein vermieden werden könnte, ruft bei uns allen, den Arbeitenden selbst und den sie begleitenden Angehörigen, Berater*innen, Gewerkschafter*innen, Forschenden – Ratlosigkeit hervor.“ (Seite 221)

Dieser pessimistischen Feststellung hält der Autor im Resümee allerdings eine kämpferische Ansage entgegen: „Es stellt sich also erstens die Frage, warum man für einen Zugang von Migrant*innen zu Arbeitsmärkten kämpfen sollte, auf denen praktisch nur derartige und vergleichbare Tätigkeiten angeboten werden. Und zweitens, ob man mit Blick auf die konkrete Ausformung von Produktion und Dienstleistungen nicht sogar für eine Abschaffung dieser Art von Arbeit eintreten sollte.“ (Seite 337) Bei einer Buchvorstellung im Rahmen der „Linke Buchtage Berlin“ Mitte Mai 2022 wurde Peter Birke im Hinblick auf die Fleischindustrie noch deutlicher: Die Arbeit dort sei nicht humanisierbar, die Fabriken müssten geschlossen werden.

Peter Birke: „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“, Mandelbaum Verlag, Wien und Berlin 2022, 400 Seiten, 27 Euro