Die erbärmlichen Arbeits- und Lebensbedingungen osteuropäischer Arbeiter*innen in der deutschen Fleischindustrie sind im Grunde genommen schon seit vielen Jahren bekannt. Sie führten jedoch erst ab Mai 2020 zu einer öffentlichen Entrüstung – vor allem weil vermutet wurde, dass sie die Ausbreitung des Corona-Virus unter den dort Beschäftigten forciert und damit auch die weitere Bevölkerung gefährdet hätten. Um die Wogen zu glätten, legte Bundesarbeitsminister Heil Ende Juli einen Gesetzentwurf vor, der unter anderem ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit ab 2021 in der Branche vorsieht. Scharfe Kritik daran kam erwartungsgemäß von der betroffenen Fleischindustrie und aus wirtschaftsliberalen Kreisen, während das gewerkschaftliche Spektrum, Linke und auch Grüne die Pläne unterstützen.

Weitgehend ausgeblendet in der Diskussion wird jedoch, dass die aktuell breite Kritik an der Ausbeutung der Arbeitenden (und der Quälerei von Tieren) auch einen langen Vorlauf hat. Darauf weist ein neues, vom kleinen Berliner Verlag Die Buchmacherei veröffentlichtes Buch hin. Denn so stark die Machenschaften von „Tönnies und Co.“ derzeit auch im medialen Fokus stehen – die politische und soziale Arbeit von Initiativen, Vereinen und Einzelpersonen, die sich aufgrund der Untätigkeit des Staates seit Jahren gegen die Verhältnisse in der Fleischindustrie wehren, ist überwiegend unbekannt. Der vorliegende Sammelband bietet deshalb auf vergleichsweise wenigen Seiten einen eindrucksvollen Einblick in die verschiedenen Perspektiven engagierter Aktivisten, die eben nicht erst seit den massiv auftretenden Corona-Fällen in den Großschlachtereien gegen die oft als „sklavenähnlich“ beschriebene Situation der Werkvertragsbeschäftigten Position beziehen.

Bei den insgesamt 14 Beiträgen des Bandes handelt es sich meist um Auszüge aus zuvor andernorts veröffentlichten Interviews, Artikeln und Reden, aber auch um einzelne Originalbeiträge. So berichtet beispielsweise Inge Bultschnieder aus Rheda-Wiedenbrück, einem Zentrum der deutschen Fleischindustrie, über ihre Begegnung mit einer „total heruntergewirtschafteten“ bulgarischen Werkvertragsarbeiterin, die sie im Jahr 2012 in einem Krankenhaus kennenlernte (Seite 19). Deren Erfahrungsberichte motivierten sie zu ihrem Engagement in der IG WerkFAIRträge, die sich seit mittlerweile mehreren Jahren für die praktische Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Betroffenen einsetzt.

Christin Bernhold und John Lütten vom Bündnis Marxismus und Tierbefreiung reflektieren in ihrem Beitrag ein Gespräch mit zwei ehemaligen Werkvertragsarbeitern bei Tönnies. Die hatten ihnen berichtet, dass sie wie Sklaven behandelt wurden, über gewalttätige Vorarbeiter und davon, wie insbesondere der extreme psychische Stress den Arbeitenden zusetzte.

Der mittlerweile bundesweit bekannte Lengericher Pfarrer Peter Kossen spricht mit Blick auf die osteuropäischen Arbeitskräfte von „Verschleißmaterial“, „Wegwerfmenschen“ und einer „Geisterarmee“: „Sie leben unter uns und sind doch Bürger in einer dunklen Parallelwelt (…).“ (Seite 50). Um Lohnkosten zu drücken werde „ein Sumpf von kriminellen Subunternehmern und dubiosen Leiharbeitsfirmen“ genutzt. Wer aber mit Kriminellen Geschäfte mache, so Kossen, sei selbst kriminell (ebd.).

Abgedruckt wurde auch die Rede von Werner Rügemer, die er als Vorsitzender der Aktion gegen Arbeitsunrecht bei einer Kundgebung am 13. September 2019 am Schlachtstandort von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück hielt. Rügemers Beitrag schlägt dabei einen großen Bogen. Er fordert das Ende des „System Tönnies“. Denn dieses, so der Kölner Publizist, „hat sich nicht nur in die Arbeitsverhältnisse eingefressen, sondern auch in die Natur, in die Lebensgrundlage Wasser, in die Tierwelt und nicht zuletzt in die politischen Verhältnisse in Deutschland und in der Europäischen Union, auch in die Kommunen, die mit Tönnies-Standorten gesegnet beziehungsweise belastet sind.“ (Seite 63)

Guido Grüner, seit vielen Jahren für die ALSO (Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg) in der Erwerbslosenbewegung aktiv, verweist in seinem – zuerst in der Sozialistischen Zeitung (SoZ) erschienenen – Artikel auf die positiven Effekte der hartnäckigen Arbeit unterschiedlicher Organisationen, Initiativen und Projekte zur Verbesserung der Situation in der Fleischindustrie. So habe etwa die Durchsetzung des Mindestlohns in den Aktionen dort ihren Ausgang genommen. „Zum Verbot der Werkverträge hat es bislang nie etwas gegeben, aber allein die Tatsache, dass es dazu jetzt so schnell einen Kabinettsbeschluss gibt [vom 20. Mai; Anmerkung des Verfassers], zeigt, dass die jahrelange Arbeit Spuren hinterlassen hat.“ (Seite 97) 

Peter Birke, Experte für die Geschichte der Arbeitskämpfe und gewerkschaftlicher Politik, thematisiert in seinem Beitrag unter anderem die Verknüpfung von Aufenthaltsrecht, Sozialrecht und Arbeitszwang, die in den letzten Jahren enorm verschärft worden sei. Die Empörung vieler Politiker*innen über die untragbaren Verhältnisse in der Fleischindustrie habe bislang immer das „peinliche“ Thema des Migrationsregimes umschifft, das dem System der Arbeitsausbeutung ebenso zugrunde liege wie die Abgabe von Verantwortung und Kontrolle an Subunternehmen. „Denn jene Ausbeutung“, schreibt Birke, „über die er in seiner Arbeitspolitik die Nase rümpft, bringt der Staat durch seine Migrationspolitik regelmäßig und systematisch selbst mit hervor.“ (Seite 101) Auch er hält das Verbot von Werkverträgen für einen wichtigen Schritt mit dem Potenzial, in weitere Bereiche auszustrahlen.

Nach der gesetzgeberischen Initiative des Bundesarbeitsministers kann tatsächlich eine anhaltende kontroverse parlamentarische und öffentliche Auseinandersetzung erwartet werden. Das vorliegende Buch bietet dafür auch jenseits der Ebene der reinen Empörung über die unzumutbaren Verhältnisse sachliche Analysen und politisch relevantes Hintergrundwissen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und inhaltlichen Schwerpunkte politisch aktiver Gruppen und Menschen werden verdeutlicht. Und nicht zuletzt werden auch die Stimmen der betroffenen Arbeitenden als Hauptleidtragende des Systems wahrnehmbar.

Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg (Hg.):
Das „System Tönnies“ – organisierte Kriminalität und moderne Sklaverei“

Die Buchmacherei, Berlin 2020 (2. Auflage)
124 Seiten, 10 Euro
ISBN 978-3-9822036-3-8