Politische Vertreter*innen in der EU pochen offiziell gerne und mit Nachdruck auf die Einhaltung der Menschenrechte für erwerbsarbeitende Menschen in anderen Regionen der Welt. Ausgeblendet wird dabei, dass Arbeitnehmer*innen auch innerhalb der EU millionenfach und weitgehend unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle in extremer Form ausgebeutet und gedemütigt werden.

Dieses „große Tabu“ bildet den Ausgangspunkt des bereits im Herbst 2020 erschienenen Buches „Imperium EU“ des Kölner Publizisten Werner Rügemer. Seine These lautet: Die Ausbeutung, Entrechtung, Verunsicherung und Verarmung abhängig Beschäftigter wird von den dominierenden Institutionen der EU zielgerichtet organisiert, zugleich von den herrschenden Medien „komplizenhaft“ verschwiegen und damit auch der politischen Rechtsentwicklung in Europa entscheidend Vorschub geleistet (Seite 31ff.). Genau dieser Zusammenhang, so der Autor, bleibt in der verbreiteten Kritik an der EU zumeist unberücksichtigt.

Im ersten Teil des Buches beschreibt Rügemer, wie rechtlich fixierte Arbeitsbedingungen und menschenrechtlich geforderte Normen nicht nur für Millionen von Wanderarbeiter*innen massenhaft straflos verletzt werden können – sowohl von den westeuropäischen Gründungsmitgliedern der EU als auch in den neuen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans. Der Autor verfolgt die Ursprünge des Arbeitsunrechts bis in die Vorstufen der EU in den 1950er Jahren (Montanunion, EG, EWG) zurück. So wurden etwa nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der von den USA initiierten Montanunion grenzüberschreitend europäische Kohle- und Stahlkonzerne mit billigen Arbeitskräften versorgt. Die EU trieb dann auch in der Folgezeit die Prekarisierung der Erwerbsarbeit und deren Verrechtlichung Zug um Zug voran.

Rügemer analysiert weiter die wichtigsten verantwortlichen Institutionen, die „heutige Kapital-Bürokratie“ (Seite 111). Vor allem die Europäische Kommission mit ihren 32.000 Beamten steht im Zentrum seiner Kritik. Denn hier, und nicht im weitgehend ohnmächtigen EU-Parlament, laufen die politischen Fäden zusammen. Nicht umsonst lieben die „professionellen Heuchler der Unternehmerlobby, (…) die ansonsten überall gegen ‚zu viel Bürokratie‘ polemisieren und für ‚Bürokratieabbau‘ kämpfen“, (…) die größte Bürokratie in Europa herzinnigst!“ – wie Rügemer süffisant feststellt. (Seite 114)

Er geht im Folgenden auf die Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen ein, die direkt und indirekt in die Arbeitsverhältnisse eingreifen, um sie im Sinne der Unternehmer zu gestalten. Als Instrumente führt Rügemer Privatisierungen und Subventionen (ohne jede Auflage für Arbeitsrechte) an, aber auch die EU-Richtlinien zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und des Arbeitsrechts. Vor allem der „führende ArbeitsUnrechts-Staat in der EU“ (Seite 137), die Bundesrepublik Deutschland, sei führend darin, Richtlinien zu ignorieren. Wenn sich der Europäische Gerichtshof EuGH mit arbeitsrechtlichen Konflikten befasst, fallen die Urteile nur in seltenen Fällen zugunsten der abhängig Beschäftigten aus – und auch diese werden zumeist nicht umgesetzt. (Seite 154) Einen zentralen Grund dafür nennt der Autor: „Die EU übt keine Kontrolle auf dem Gebiet der Arbeitsrechte aus. Sie überlässt die Kontrolle den nationalen Arbeits- und Gewerbeaufsichten, wohl wissend und duldend, dass diese wie Zoll, Gewerbe- und Gesundheitsaufsicht in Deutschland personell unterbesetzt sind.“ (Seite 140)

Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Autor in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Kämpfe von Betroffenen in den einzelnen Mitglieds-, Anwärter- und assoziierten Staaten der EU (unter anderem in Großbritannien, Deutschland, den Benelux-Staaten, dem Baltikum, Kroatien, Ungarn, Skandinavien, der Schweiz und Nordmazedonien). Estland, Lettland und Litauen gelten zum Beispiel als die im neoliberalen Sinne am meisten umgekrempelte Region in der EU (Seite 275ff.). Alle drei Länder befinden sich, so Rügemer, im Griff der USA und der NATO. Sie dienen als digitale Zulieferer für ausländische Investoren, zugleich florieren dort Geldwäsche und Schattenwirtschaft. Litauen bezeichnet der Autor als eine steuerbefreite Sonderwirtschaftszone, in der Unternehmer willkürlich herrschen können, da es dort praktisch keine Branchentarifverträge gibt. Als positiven Lichtblick verweist Rügemer auf Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst der drei baltischen Staaten, insbesondere bei Lehrer*innen, Ärzt*innen und Beschäftigten der Kindergärten.

In einer Besprechung des Buches in der sozialistischen Wochenzeitung UZ (Unsere Zeit) vom Dezember 2020 kritisiert der Jurist und Autor Rolf Geffken, dass Rügemers zentraler Begriff des Arbeitsunrechts „merkwürdig unklar und wenig erhellend“ sei und die Leserschaft am Ende ratlos zurückließe. [1] Er bezieht sich dabei auf verschnörkelt wirkende Formulierungen wie etwa: „EU – das bedeutet weltweit verrechtlichtes und auch außerrechtliches ArbeitsUnrecht“ (Seite 132). In seinem Buch misst Rügemer das von ihm so bezeichnete „ArbeitsUnrecht“ aber tatsächlich an der Umsetzung der universellen Menschenrechte der UNO sowie der Kriterien, die von der International Labor Organisation (ILO) vorgegeben werden. In einem früheren Text bezieht der Autor allerdings als Maßstab für Recht und Unrecht auch das geltende materielle Arbeitsrecht mit ein. [2] Insofern ist die Kritik nachvollziehbar.

Die von Geffken bemängelte fehlende scharfe Kontur des Begriffs liegt aber offensichtlich darin begründet, dass die Unterscheidung von legalen, kriminellen und lediglich moralisch zu verurteilenden Handlungen in der Arbeitswirklichkeit in der Praxis oftmals nur schwer möglich ist. Dazu ein weiteres Zitat von Rügemer:

„Kein Bereich des Rechts in der EU kennt ein solches verrechtliches Unrecht und ein solches Vollzugsdefizit und eine solche Grau- und Dunkelzone der systemischen Illegalität – außer vielleicht beim sexuellen Missbrauch in der für ein solches Unrechtssystem systemrelevanten katholischen Kirche.“ (Seite 32)

Diese von den Instanzen der EU absichtsvoll komplex und unübersichtlich konstruierte rechtliche Regulierung der abhängigen Arbeit ermöglicht es letztlich Politik und Kapital, menschenunwürdige Niedriglohnarbeit weitgehend reibungslos zu organisieren.

Rügemer hat mit seinem „Imperium EU“ ein beeindruckendes, detailliert recherchiertes Handbuch zum Klassencharakter der EU vorgelegt. Dabei handelt es sich ausdrücklich nicht um ein nüchtern verfasstes juristisches Lehrbuch – vielmehr beschreibt der Autor kämpferisch und oft polemisch zugespitzt die „Lage der arbeitenden Klasse in der EU“ und motiviert damit nicht zuletzt zum widerständigen Handeln gegen die vielfältigen Mechanismen des „ArbeitsUnrechts“ mitten in Europa.

 

Anmerkungen:

[1] Rolf Geffken: „Zerstörung des Normalen. Der Kampf ums Arbeitsrecht ist Klassenkampf“, UZ vom 24. Dezember 2020

https://www.unsere-zeit.de/trashed-6-139756/

[2] Werner Rügemer: „Unternehmer als straflose Rechtsbrecher“, BIG Business Crime Nr. 4/2017, Seite 28

Werner Rügemer: Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, Neue Gegenwehr. Köln 2020, PapyRossa, 319 Seiten, 19,90 Euro