Im rechtswissenschaftlichen und politischen Diskurs wird die Auffassung vertreten, das seit Anfang des letzten Jahres in Deutschland geltende Lieferkettengesetz und die aktuelle Debatte um eine entsprechende EU-Richtlinie ließe eine internationale Rechtsentwicklung erkennen, die auf eine Durchsetzung von Normen des Menschenrechts in der globalisierten Wirtschaft gerichtet sei.

Unabhängig davon, ob man es für illusionär hält, die kapitalistische Produktionsweise könne die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten – ausgeblendet wird in der Diskussion, dass marktradikale Akteure seit Jahren auch auf juristischer Ebene weltweit erfolgreich in die genau entgegengesetzte Richtung arbeiten. Sie wollen, wie es der Untertitel des neuen Buches von Quinn Slobodian anzeigt, „die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen“. Gemeint sind eigentümliche Enklaven, die sich zwar räumlich innerhalb von nationalstaatlichen Territorien befinden, zugleich aber von den dort geltenden Regeln ausgenommen sind. Der Autor fasst sie unter dem Begriff „Zonen“ zusammen. Dort sollen sich ausschließlich die Gesetze des Marktes entfalten und Investoren selber festlegen können, an welche Regeln sie sich halten wollen. Slobodian nutzt auch die Metapher der Perforation, um zu verdeutlichen, wie der Kapitalismus Löcher in das Territorium des Nationalstaates stanzt, um Ausnahmezonen mit eigenen Gesetzen zu errichten. Mit der Folge, dass neue Rechtsräume entstehen, in denen bislang geltende Steuerpflichten, Arbeitsrechte und Umweltauflagen unterlaufen oder ganz abgeschafft werden.

Slobodian zitiert zu Beginn seines Buches eine provokante Aussage des rechtslibertären Tech-Investors Peter Thiel aus dem Jahr 2009, nach dem Freiheit und Demokratie unvereinbar seien (vgl. Beitrag in BIG Business Crime, Beilage zu Stichwort BAYER Nr. 1/2023). Die Einlassung des US-Milliardärs zeugt dabei nicht von reinem Wunschdenken, denn Slobodian verweist auf mittlerweile weltweit mehr als 5.400 tatsächlich existierende Zonen, die eine verwirrende Vielfalt an Formen annehmen; nach einer offiziellen Einstufung gibt es demnach mindestens 82 Varianten. Darunter fallen einzelne Produktionsstätten, Gewebesteueroasen auf Gemeindebasis, aber auch urbane Megaprojekte und ausgedehnte Sonderwirtschaftszonen. 

Sie alle stehen für einen „Crack Up Capitalism“ (Titel der Originalausgabe) – verstanden als eine Utopie des freien Marktes, die nach Ansicht von Anhängern der Zonenbildung „durch Sezession und Fragmentierung der Nationalstaaten“ verwirklicht werden könne. Die Idee, dass der Kapitalismus sehr viel wichtiger sei als die Demokratie und vor „dem Zugriff des Volkes“ gesichert werden müsse, entspricht nach Meinung des Buchautors einer gezielt entwickelten Geisteshaltung, die seit fünfzig Jahren unmerklich auf dem Vormarsch sei und sich auf „unsere Gesetze, Institutionen und politische Bestrebungen“ auswirke.

Slobodian entwirft im Grunde eine Verfallsgeschichte der Demokratie, wobei er seine Grundthese eines von Zonen übersäten „Zersplitterungskapitalismus“ mit Blick auf mehrere geografische Schwerpunkte und anhand von insgesamt elf Fallstudien abhandelt. Unter anderem beschreibt er markante Entwicklungen in Hongkong und Singapur, London und Liechtenstein, Dubai und Somalia – alles Orte, wo sich Kapitalismus und Demokratie auseinanderentwickeln würden. Dennoch entlarvt der Autor das Ziel, möglichst viele Zonen tatsächlich vom Staat zu „befreien“, als reine Rhetorik, denn letztlich seien sie Werkzeuge des Staates (und des Kapitals). Schließlich würden die Staaten sie einsetzen, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Soll zum einen heißen, dass die Marktradikalen ihre Ziele nicht ohne staatliche Interventionen umsetzen können und sich deshalb nicht zufällig und nur scheinbar auf paradoxe Weise bewundernd über autoritäre Staaten äußern (vor allem über deren „Effizienz“). Heißt zum anderen, dass Staaten wie Saudi-Arabien oder China ihre Position als staatskapitalistische (Groß)Mächte durch den Bau von „extraterritorialen“ Megastädten oder die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen stärken wollen – und sich dabei oft genug über das libertäre Prinzip des Schutzes der Eigentumsrechte brutal hinwegsetzen (Vertreibung von Dorfbewohnern usw.).

Quinn Slobodian: Kapitalismus ohne Demokratie. Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen, ISBN 978-3-518-43146-7,  Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 428 Seiten, 32 Euro