Putsch für mehr Elektronikschrott

Die Existenz des chemischen Elementes Lithium ist seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt, Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es erstmals in Reinform gewonnen. Die industrielle Verwertung des Alkalimetalls und seiner Verbindungen hielt sich jedoch bis zum Ende des 2. Weltkriegs sehr in Grenzen. Ein Bedarf an größeren Mengen entstand erst während des Kalten Krieges. Das Militär benötigte damals Lithium für die Entwicklung und den Bau von Wasserstoffbomben – welche aber glücklicherweise nie zum Einsatz kamen.

In den 1980er Jahren wurde von britischen Wissenschaftlern die Möglichkeit des Baus neuartiger Akkumulatoren unter Verwendung von Lithium-Ionen entwickelt. Ein erster kommerziell nutzbarer Lithium-Ionen-Akkumulator wurde 1991 von einem japanischen Unternehmen auf den Markt gebracht. Bis in unserer Gegenwart hinein werden auf diesem Prinzip beruhende Akkumulatoren hergestellt und finden in einer Vielzahl von Geräten Anwendung. Ein großer Teil des vom US-Militär angehäuften Lithiumvorrates konnte dadurch für zivile Zwecke verwendet werden.

Mit dem Beginn des Zeitalters von Internet und der Handymania erhöhte sich die Nachfrage nach dem zuvor kaum beachteten Rohstoff Lithium schlagartig. Und kürzlich tat sich noch eine weitere Verwendungsmöglichkeit auf: Das Elektroauto. Dessen Umweltbilanz ist zwar heftig umstritten. Das Schrumpfen der weltweit bekannten Erdöllagerstätten veranlasste aber nicht wenige Autohersteller, dennoch in diese Technologie zu investieren.

Mit wachsendem Bedarf an Lithium setzte während der letzten Jahre eine fieberhafte Suche nach weiteren Lagerstätten ein. Fündig wurde man unter anderem im Zentrum Südamerikas, in Bolivien. Der abgelegene Andenstaat verfügt über Salzwasserseen, aus denen vergleichsweise kostengünstig Lithiumhydroxid gewonnen werden kann. Als tatsächlich ein Vertrag zwischen dem bolivianischen Staatsunternehmen YLB und dem in Baden-Württemberg beheimateten Unternehmen ACI Systems Alemania (ACISA) über die gemeinsame Förderung und Verarbeitung von Lithium aus dem Salzsee Uyuni zustande kam, überschlugen sich deutsche Politiker und Unternehmenssprecher in begeisterten Kommentaren. Dass Bolivien von einem Präsidenten regiert wird, der als Interessenvertreter von Gewerkschaften und landwirtschaftlichen Kooperativen an die Macht kam, geriet während dieser Euphorie vorübergehend in den Hintergrund.

Bolivien gilt als wirtschaftlich unterentwickelt und als ärmster Staat Südamerikas. Das Land verfügt zwar über einige Erdgaslagerstätten. Diese waren mit der neoliberalen Welle unter dem Druck westlicher Geldgeber privatisiert worden. Da ausländische Konzerne hauptsächlich mit eigenen Spezialisten arbeiten, ging der geförderte Reichtum demzufolge an der Bevölkerungsmehrheit vorbei. Ein weiterer Grund für Unzufriedenheit war das Antidrogenprogramm der USA. Leidtragende dieses Programms waren nämlich hauptsächlich Agrargemeinden im Andenhochland, für die der Anbau der Kokapflanze oftmals die einzige nennenswerte Erwerbsquelle ist.

Auf einer Welle von Sozialprotesten reitend konnte 2005 die Partei „Movimiento al Socialismo“ (MAS) die Wahlen gewinnen und Evo Morales wurde Präsident der Republik Bolivien. Dieser re-verstaatlichte unverzüglich die Erdgasförderung, dazu noch weitere Industrieunternehmen sowie von Grundbesitzern nicht genutzte Agrarflächen. Eine umfassende Agrarreform blieb allerdings aus. Morales konnte auch die folgenden Wahlen stets gewinnen, jedoch nur auf der Grundlage von umstrittenen Verfassungsänderungen.

Entgegen allen Prognosen neoliberaler Denkfabriken konnte sich Bolivien in der Ära Morales wirtschaftlich stabilisieren. Die Lage der Bevölkerung verbesserte sich spürbar. Ein Großteil der Staatseinnahmen floss in Sozialprogramme, in den Bildungssektor und in die medizinische Infrastruktur. Selbst der Internationale Währungsfonds attestierte dem charismatischen und betont antiwestlich auftretenden Präsidenten eine „angemessene Wirtschaftspolitik“.

Auf allgemeine Ablehnung stießen allerdings die von Morales betriebene Aufweichung des Verbotes von Kinderarbeit sowie die Freigabe von Urwaldflächen für Brandrodungen. Infolge der widersprüchlichen und sich teilweise ausschließenden Interessen seiner Wählerschaft verlor der zunehmend autoritär regierende Präsident in der Endphase seiner Herrschaft das Vertrauen von Teilen seiner Basis. Die indigenen Ethnien der Tieflandregionen betrachteten ihn beispielsweise als Verräter an ihrer Sache und warfen ihm vor, ausschließlich die Interessen der Kokabauern des Hochlandes zu vertreten.

Auch der mit der deutschen Firma abgeschlossene Joint-Venture-Vertrag über die Förderung von Lithium war in Bolivien nicht unumstritten. Kritiker aus den eigenen Reihen warfen der Regierung einen Ausverkauf nationaler Ressourcen vor. Vertreter der Bergregion, in dem der lithiumhaltige See liegt, forderten einen größeren Anteil an den voraussichtlich erzielten Erlösen. Die am 4. November 2019 bekannt gewordene Annullierung des Vertrages war wohl einer der Auslöser für eine Reihe von Protesten der vergleichsweise wohlhabenden städtischen Bevölkerung.

Der Firmenchef der Firma ACI Systems erklärte gegenüber der deutschen Tagesschau: „Wir werden daher erst einmal wie geplant am Projekt weiterarbeiten“. Es folgte eine Medienkampagne: Von den deutschen Medien und Politikern wurde Evo Morales als notorischer Umweltsünder dargestellt, der verantwortungsvolle Autofahrer dazu zwingen wolle, statt mit modernen E-Autos weiter mit benzinfressenden Dreckschleudern zu fahren. Ausgeblendet wurde dabei, dass Elektroautos gar nicht mit Lithium betankt werden. Das Element ist kein Energieträger, sondern nur Bestandteil wichtiger Bauteile des Akkumulators.

Das Aufladen dieser Akkumulatoren kann zwar mit regenerativ erzeugter Energie erfolgen, aber auch mittels dreckiger Kohleverbrennung oder gar mit Atomstrom. Die Energiebilanz von Elektroautos ist, wie gesagt, sehr umstritten. Und die massenhafte Produktion dieser Autos dürfte das nächste Umweltproblem in Gestalt von zu entsorgenden Bergen von Lithiumakkumulatoren erzeugen. Auf Armutsregionen, die mangels anderer Einnahmequellen den reicheren Industriestaaten gegen Bezahlung ihren Dreck abnehmen, dürfte mit dem Elektroauto eine neue Schwemme an hochgiftigem Schrott hereinbrechen.

Natürlich hatte Evo Morales, als er den Joint-Venture-Vertrag per Dekret stoppte, nicht die Sauberkeit des Planeten im Sinne. Umweltschutzmaßnahmen betrachtet er als Problem der wohlhabenden europäischen Staaten. Es ist aber anzunehmen, dass Morales den Vertrag im Interesse der bolivianischen Seite nachbessern wollte. Es handelte sich also um den Bestandteil eines finanziellen Tauziehens zwischen zwei Vertragspartnern – in diesem Fall der bolivianischen Regierung auf der einen und dem baden-württembergische Unternehmen auf der anderen Seite. Letzteres hatte allerdings die deutsche Regierung und ihr Auswärtiges Amt sowie diverse parteinahe Stiftungen im Rücken. Und diese unterstützen seit Jahren die bürgerlichen Oppositionsparteien Boliviens gegen den gewählten Präsidenten.

Es ist nicht bekannt, ob die Annullierung des Vertrages einziger Grund für die Welle von Unruhen und Krawallen war, die in den letzten Wochen Bolivien an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Es dürfte aber der Hauptgrund gewesen sein. Regierungsgegner hatten gewaltsam Rundfunk, und Fernsehsender besetzt, Abgeordnete und Mandatsträger der regierenden Partei angegriffen. Bekanntlich verzichtete Morales am 10. November auf sein Amt und ging ins Exil, nachdem sich zuerst die Polizei auf die Seite der Regierungsgegner gestellt hatte und die Militärführung ihn dann ultimativ zum Rücktritt aufforderte. Proteste von Morales Anhängern wurden gewaltsam aufgelöst, es gab zahlreiche Tote.

Die jetzt amtierende selbsternannte Übergangpräsidentin Jeanine Añez gilt als erklärte Gegnerin der indigenen Agrarbevölkerung und als erbitterte Kritikerin der von Morales umgesetzten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Regierung der Bundesregierung Deutschland sowie mehrere ihrer Politiker begrüßten den kaum verbrämten Putsch. Nach den letzten gegenwärtig vorliegenden Informationen steuert Bolivien auf die Installation einer vom Militär gestützten rechtsgerichteten Diktatur zu. Oder auf einen Bürgerkrieg.

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime.

„Wir fühlten uns wie die Größten“ – Kronzeuge im Cum-Ex-Prozess sagte aus

 In einem Artikel im Handelsblatt vom 1. November 2019 berichteten Volker Votsmeier und Sönke Iwersen über die Aussage des Kronzeugen Benjamin Frey (Name geändert) im Prozess zu dem wohl größten Steuerbetrug der deutschen Wirtschaftsgeschichte vor dem Landgericht Bonn. Frey war 2011 Partner in einer der einflussreichsten Rechtsanwaltskanzleien Deutschlands. Zu ihren Kunden zählten viele der vermögendsten Deutschen. Sie hatte gute Verbindungen zu den größten Banken.

Als Jana S., Sachbearbeiterin im Bundeszentralamt für Steuern, mit Frey und dessen Kollegen zu tun bekam, stoppte sie beantragte Steuererstattungen in dreistelliger Millionenhöhe. Das Handelsblatt beschrieb den Vorgang wie folgt: „Sie schob damit einen Keil in die Maschine, mit der Frey für sich und seine Geschäftspartner Unsummen verdiente. Die Maschine hieß Cum-Ex. Aktien mit (cum) und ohne (ex) Dividendenanspruch wurden dabei so gehandelt, dass die Beteiligten sich das Mehrfache dessen von den Finanzämtern ‚erstatten‘ ließen, das sie abführten. Eine ganze Dekade lang kamen schwerreiche Investoren, ihre Steuerberater, Rechtsgutachter und Banken damit durch. Dann stellte sich Jana S. quer.“

Frey und seine Kollegen drohten der Sachbearbeiterin damit, sie persönlich auf Schadensersatz zu verklagen und finanziell zu ruinieren. Jana S. ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Sie weigerte sich, Steuern zu erstatten, die gar nicht abgeführt worden waren. Das löste schließlich ein Ermittlungsverfahren aus. Die Aufklärung eines riesigen Skandals begann.

Der Schaden, der durch Cum-Ex-Geschäfte entstand, soll zwölf Milliarden Euro betragen. Diese Schätzung wird von Benjamin Frey als zu niedrig angesehen. Der Abfluss von Steuergeldern sei deutlich größer gewesen. Frey ist Beschuldigter in mehreren Strafverfahren und einer der ersten Insider, die bei der Aufarbeitung der Cum-Ex-Affäre auspackten. Im Bonner Prozess trat er als Kronzeuge gegen zwei britische Aktienhändler auf. Sie werden beschuldigt, für eine Schadenssumme von rund 400 Millionen Euro verantwortlich zu sein.

„Quer durch die Republik ermitteln Staatsanwaltschaften in mehr als 70 Komplexen gegen rund 500 Beschuldigte. Dem Handelsblatt liegt die Aufstellung eines Whistleblowers vor, der sich zwischen 2014 und 2015 intensiv mit der Steuerfahndung Wuppertal austauschte. Seine Liste enthält die Namen von 130 Banken, die an Cum-Ex-Geschäften beteiligt gewesen sein sollen. Es gibt kaum ein Geldhaus, das darauf fehlt.“

Benjamin Frey arbeitete zu Beginn seiner Karriere als Anwalt in einer US-amerikanischen Sozietät. Später machte er sich zusammen mit Partnern selbstständig. „Ihre Kanzlei wurde in Cum-Ex-Kreisen zu einer Art Zentrale. Sein Schreibtisch stand im 32. Stock des Frankfurter Bürohochhauses Skyper. Frey: ‚Wir fühlten uns wie die Größten.‘ Ab 2006 gehörten Frey und seine Partner zu den nachgefragtesten Namen in der Cum-Ex-Beratung – und akquirierten selbst häufig neue Investoren. Viele zufriedene Kunden brachten neue in die Kanzlei, das Geschäft brummte.“

Dann reagierte endlich das Justizministerium. Es wurden Regelungen eingeführt, die deutschen Banken vorschrieben, bei Cum-Ex-Aktiendeals für eine korrekte Versteuerung zu sorgen. Das sei aber nur ein Brandbeschleuniger gewesen, sagt Frey. Weil in den entsprechenden Paragrafen von inländischen Banken die Rede war, wickelte man die krummen Geschäfte nun eben über ausländische Banken ab. „Frey erinnert sich an das Credo seines ehemaligen Partners Hanno Berger: Was nicht ausdrücklich im Gesetz steht, gilt nicht… Wer Zweifel an der Maschine Cum-Ex äußerte, wurde von Berger scharf angegangen. Frey erinnert sich an die Worte des Star-Juristen: ‚Wer ein Problem damit hat, dass wegen unserer Arbeit weniger Kindergärten gebaut werden: Da ist die Tür!’“
In dem Artikel des Handelsblatts hieß es weiter: „Lüge ist ein wiederkehrendes Motiv in dieser Affäre. Viele Investoren behaupten bis heute, sie hätten nie gewusst, woher die sagenhaften Gewinne bei der Cum-Ex-Methode stammten. Die einen beteuern, sie hätten auch nie gefragt, die anderen sagen, man habe sie auf Nachfrage falsch informiert. Frey berichtet freilich auch von einem Fall, wo ein Kunde seiner Kanzlei genau nachrechnete, und sich gerade deshalb beschwerte. Dann drohte er mit Gewalt… ‚Der Mann wollte zehn Millionen Euro Nachschlag‘, erinnert sich Frey. ‚Andernfalls würde er eine bekannte Rockergang einschalten.’“
Frey erinnerte sich weiter, dass schließlich 2,5 Millionen Euro an den Kunden gezahlt wurden. Man habe bei den Steuerdeals eben auch noch versucht, sich gegenseitig zu übervorteilen, nach dem Motto: „Jeder bescheißt jeden.“
Nach 2012 gab es, als Folge vermehrter Betriebsprüfungen, immer mehr juristische Fachaufsätze, die Cum-Ex-Geschäfte als legal einstuften. Auch Freys Kanzlei vergab solche Aufträge gegen gutes Honorar an geeignete Experten, bekannte Jura-Professoren und renommierte Anwälte. Frey: „Das war letztlich alles Mietschreiberei.“
Auch die Lobbyarbeit über Kontakte in die Finanzverwaltung, die Justiz und in Ministerien sei wichtig gewesen. Man wollte alle Gesetzesänderungen schon kennen, bevor sie stattfanden. Frey sagte aus, er sei auch vom Deutschen Sparkassen- und Giroverband mit Informationen versorgt worden.
„Dann dürfen ihn auch die Anwälte der fünf Finanzinstitute befragen, die das Gericht dem Bonner Verfahren hinzugezogen hat: die Hamburger Privatbank M. M. Warburg, deren Tochter Warburg Invest, das US-Institut BNY Mellon, die französische Société Generale sowie die Fondsgesellschaft Hansa Invest. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen die Zusammenarbeit mit den beiden Angeklagten bei Cum-Ex-Geschäften vor – und den daraus entstandenen Gewinn. Im Raum steht eine mögliche Vermögensabschöpfung von rund 389 Millionen Euro. Die fünf davon bedrohten Banken verwehren sich gegen dieses Ansinnen des Gerichts.“

 

„15 Jahre Verfassungsbruch“ – zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen

Die Höhe der Grundsicherung („Hartz IV“) deckt offiziell das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum ab und liegt zurzeit für einen allein lebenden Erwachsenen bei 424 Euro (432 Euro ab 2020), plus Kosten für Unterkunft und Heizung. Doch allein im Jahr 2018 verhängten die Jobcenter knapp über 900.000 Sanktionen und stürzten damit hunderttausende Leistungsbeziehende in eine materielle (und häufig psychische) Notlage. Fast 15 Jahre nach Einführung des Hartz-IV-Regimes urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 5. November 2019 endlich über die Zulässigkeit der Hartz-IV-Sanktionen.

Zunächst, worum geht es? Lehnt bislang ein Erwerbsloser ein Jobangebot oder eine Maßnahme ab, werden die Leistungen um 30 Prozent gekürzt, im Wiederholungsfall um 60 Prozent, bei weiterer Weigerung entfällt die Leistung ganz, samt Wohn- und Heizkosten. Verhängte Sanktionen gelten dabei immer drei Monate. Wer ohne überzeugenden Grund einen Meldetermin versäumt, verliert zehn Prozent des monatlichen Regelsatzes (diese Fälle machen 77 Prozent aller Sanktionen aus). Bei Menschen unter 25 Jahren wird noch härter durchgegriffen. Ihnen droht schon beim ersten Verstoß die Totalsanktionierung.

Die besonders scharfen Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren waren jedoch nicht Teil des Verfahrens in Karlsruhe. Für alle anderen entschied das Gericht nun, dass Kürzungen von 60 Prozent und mehr nicht weiter zumutbar sind. Derartige drastische Kürzungen darf es ab sofort nicht mehr geben, 30 Prozent und weniger sind dagegen weiterhin erlaubt (in der Folge sind mit der Entscheidung aber offensichtlich auch für die Gruppe der jungen Leistungsbeziehenden Kürzungen um mehr als 30 Prozent Vergangenheit).

Die Verfassungsrichter/innen erklärten die Sanktionen damit zwar nur für teilweise verfassungswidrig, ernteten dafür aber auch in kritischen Kreisen Zustimmung. So begrüßte etwa das Bündnis „Auf Recht Bestehen“, getragen unter anderen von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, dem Bundeserwerbslosenausschuss ver.di, dem Erwerbslosenforum Deutschland, dem Frankfurter Arbeitslosenzentrum (FALZ) und der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), in einer ersten Stellungnahme das Urteil, „wonach die bestehende Sanktionsregelung zum großen Teil als verfassungswidrig anzusehen ist und in der bestehenden Form nicht mehr angewendet werden darf“. Das Bündnis fordert allerdings nach wie vor die Abschaffung des gesamten Sanktionssystem im SGB II.

Das Problem für Betroffene und Gegner des Zwangsapparats „Hartz IV“: Das Gericht bestätigte durch sein Urteil grundsätzlich, dass die Richtwerte des soziokulturellen Existenzminimums für „unkooperative“ Hartz-IV-Beziehende weiterhin abgesenkt werden dürfen. Im Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 zur Bemessung eines menschenwürdigen Existenzminimums hatte es dagegen noch geheißen: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ (Az. 1 BvL 1/09)

Die vielzitierte Menschenwürde scheint demnach keineswegs absolut zu gelten und sehr wohl einer Abwägung zugänglich zu sein. Christoph Butterwegge, Ex-Professor für Politikwissenschaft an der Uni Köln, analysierte am 5.11.2019, noch vor dem Urteilsspruch, im Neuen Deutschland („Ohne Sanktionen kollabiert das Hartz-IV-System“) dessen gesellschaftspolitischen Kontext:

„Mit seiner Entscheidung in der Sache hat sich Karlsruhe sehr viel Zeit gelassen, was nicht zuletzt ihrer enormen Tragweite geschuldet sein dürfte. Tatsächlich handelt es sich politisch um ein heißes Eisen, denn Hartz IV bildet das Herzstück des neoliberalen Wohlfahrtsstaates, und die Sanktionen bilden das Herzstück von Hartz IV. Schon ihre Androhung gleicht Daumenschrauben, die Hartz-IV-Betroffene gefügig machen sollen. Ohne die Sanktionen wäre Hartz IV daher ein zahnloser Tiger. Würden die Sanktionen verworfen, könnte das System insgesamt kollabieren. Mit den Sanktionen fielen nach Art eines Dominoeffekts womöglich auch die übrigen Bausteine des bestehenden Arbeitsmarktregimes.“

Fazit: Trotz der nach dem Urteil des BVerfG umzusetzenden Abmilderungen der bisherigen Sanktionspraxis bleiben unterm Strich „15 Jahre Verfassungsbruch“, wie die junge welt am 6. November 2019 einen Artikel zum Thema betitelte. Und ein Ende ist nicht abzusehen.

EU verbietet hochwirksames Insektizid: Sieg im Kampf gegen das Artensterben?

Der Abgeordnete der Grünen im Europaparlament Sven Giegold sprach von einem „guten Tag für die Umwelt, Gesundheit und für Europa“, nachdem eine Mehrheit der EU-Staaten im Oktober entschieden hatte, die Zulassung für das vom Bayer-Konzern vertriebene Insektengift Thiacloprid Ende April 2020 auslaufen zu lassen. Das in die Wirkstoffgruppe der Neonikotinoide fallende Insektizid Thiacloprid gilt Studien zufolge als eine Ursache für das weltweite Bienensterben. Auch kann eine Gefahr für andere Insekten, Pflanzen und Menschen (vor allem durch die Belastung des Grundwassers) nicht ausgeschlossen werden. Erst im letzten Jahr hatten die EU-Mitgliedsländer drei Insektengifte mit einer ähnlichen Wirkung aus dem Verkehr gezogen. Diese Entscheidung wird als Erfolg des zivilgesellschaftlichen Engagements gewertet. Denn unter anderem hatten mehr als 380.000 Menschen zuletzt eine Petition gegen die Wiederzulassung des Pestizids unterschrieben.

Thiacloprid ist zwar das vierte Neonikotinoid, das in der EU verboten wird. Aber trotz der Warnungen aus Expertenkreisen (z.B. BUND, Greenpeace, Umweltinstitut München) vor den dramatischen Folgen war der Einsatz der synthetisch hergestellten Wirkstoffe über Jahre auf dem EU-Markt erlaubt. Waren die Umweltschützer diesmal erfolgreicher als die Industrielobbyisten, wie ein taz-Autor die EU-Entscheidung kommentierte? Ein Leserbriefschreiber der Zeitung bleibt skeptisch: „So, so, Ende April 2020 läuft also die Zulassung des o.g Pestizids aus. Und das feiern die Grünen als Sieg im Kampf gegen das Bienensterben? Für mich stellt dieses Datum eine Verlängerung des Insektenkillens um ein Jahr dar. Die Zeit der Frühjahrsblüher und damit das Erwachen der Insekten nach der Winterpause ist ab spätestens März in vollem Gange. Das bedeutet, genau in der Phase des Wiedererwachens der Insektenpopulationen immer feste druff, ein weiteres Jahr. Da kann man nur den Kopf schütteln, in welchem Umfang sich erneut die Lobbyisten der Landwirte und der Chemieindustrie durchgesetzt haben.“

Quellen:

„Großer Erfolg für Bienen und Gesundheit: EU verbietet das Neonikotinoid Thiacloprid ab Mai 2020“, Mitteilung von Sven Giegold (Mitglied der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament) vom 22.10.2019:

https://sven-giegold.de/grosser-erfolg-fuer-bienen-und-gesundheit-eu-verbietet-thiacloprid/

Eric Bonse, „EU gegen Insektengift: Aus für Thiacloprid“, taz, 23.10.2019

https://taz.de/EU-gegen-Insektengift/!5633023&s=Thiacloprid/

Christine Vogt (Umweltinstitut München), „Thiacloprid: Kommt das Verbot?“, 5.6.2019

http://www.umweltinstitut.org/aktuelle-meldungen/meldungen/2019/pestizide/thiacloprid-kommt-das-verbot.html

Zähmung krimineller Unternehmen durch das Strafrecht?

Ende Juli 2019 überraschte die New York Times ihre Leserschaft mit einem provokanten Gastbeitrag: Der ehemalige Partner einer großen amerikanischen Anwaltskanzlei stellte in einem Artikel klipp und klar fest, dass Unternehmen rechtlich verpflichtet seien, wie „Soziopathen“ zu agieren. Sie dürften gar nicht anders, als allein dem Gebot der Profitmaximierung zu gehorchen, weil es die von Shareholdern einklagbare Pflicht verlange. Reine Profitmaximierung aber sei legalisiertes asoziales Verhalten. Sein Vorschlag: Zumindest Großunternehmen sollten neu verfasst werden. Die Erzielung höchst möglicher Gewinne als Unternehmensziel solle unangetastet bleiben, jedoch eingebunden werden in ein vom Unternehmen selbst zu definierendes aber rechtlich bindendes gemeinwohlorientiertes Statut. Das Management habe also die Interessen der Angestellten, der Kunden, der Umwelt und der künftigen Generationen bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. Die Süddeutsche Zeitung zeigte sich von dem Vorschlag angetan, denn „ohne Gemeinwohlprinzipien systemisch auch in den Unternehmen zu verankern“, so der Autor Andreas Zielcke in einem Debattenbeitrag, ,,gräbt der Kapitalismus sich ‒ samt uns ‒ das Wasser ab“. (1)

Richtig ist, dass die von Unternehmen verursachten Schäden an Mensch und Natur überwiegend das Ergebnis juristisch zulässiger Geschäftsmodelle sind. Der US-Anwalt bietet denn auch eine pointierte Beschreibung der legalen aber „antisozialen“ Funktion von Unternehmen, koppelt sie jedoch mit der altbekannten Idee der Corporate Governance, das heißt damit, „Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung“ in Form einer Selbstverpflichtung in die geschäftliche Praxis zu implementieren. Das aber kommt letztlich einer Quadratur des Kreises gleich. Konsequenter, wenn auch weniger öffentlichkeitswirksam, ist dagegen der Versuch, zumindest die kriminellen Machenschaften von Unternehmen und Konzernen juristisch zu sanktionieren. So mehren sich in Folge der internationalen Finanzkrise und zahlreicher Unternehmensskandale in den letzten Jahren ‒ vor allem der illegalen Manipulationen verschiedener Autohersteller („Dieselgate“) ‒ die Stimmen, endlich auch in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht einzuführen.

Zum Beispiel hält der Deutsche Richterbund die Einführung eines Strafrechts, mittels dem Unternehmen und „Verbände“ mit einer Kriminalstrafe belegt werden können, für verfassungsrechtlich zulässig und begrüßt die aktuellen Diskussionen rund um das Thema. Kritische Stimmen aus der Rechtswissenschaft, einzelne politische Parteien, aber auch Organisationen wie Brot für die Welt, der Bund Deutscher Kriminalbeamter oder Transparency Deutschland ‒ sie alle fordern die Einführung eines Unternehmensstrafrechts. Eine Forschungsgruppe legte 2017 den „Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes“ vor, die Landesregierung von NRW präsentierte bereits im Jahr 2013 einen Gesetzentwurf im Bundesrat, die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken reichten 2016 bzw. im Februar 2019 entsprechende Anträge im Bundestag ein.

Das breite Spektrum von Akteuren aus Politik, Rechtswissenschaft und -praxis sowie Zivilgesellschaft, das sich pro Unternehmensstrafrecht positioniert, reagiert dabei nicht zuletzt auf eine veränderte öffentliche Wahrnehmung der Wirtschaftskriminalität. Zunehmend stößt auf Kritik, dass Unternehmen strafrechtlich immun sind und Konzerne nicht bestraft werden können, unabhängig davon, ob einzelne Manager oder Mitarbeiter wegen persönlichen Fehlverhaltens zur Rechenschaft gezogen werden. Denn Deutschland gehört weltweit zu den wenigen Ländern, in denen sich bisher nur natürliche Personen strafbar machen können, sich aber juristische Personen, also auch Unternehmen, durch Strafrecht nicht erreichen lassen. Lediglich Angestellte eines Unternehmens, aber nicht das Unternehmen als Gesamteinheit und eigentlicher Akteur hinter den Mitarbeitern, sind im Rahmen des Strafrechts haftbar.

Um strafrechtliche Sanktionen einzuführen zu können, müssen also verschiedene rechtsdogmatische Hürden übersprungen werden. Juristische Personen als solche sind nach geltendem Recht handlungs- und schuldunfähig. Sie können nur durch ihre Organe handeln (Vorstand, Aufsichtsrat, Mitarbeiter) und lediglich mit Geldbußen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht belegt werden (maximal zehn Millionen Euro nach § 30 OwiG). Großkonzerne können Geldbußen in dieser Größenordnung „aus der Portokasse“ bezahlen, wie kritische Stimmen vielfach monieren. Eine Präventivwirkung des Gesetzes entfällt deshalb weitgehend. Und das, obwohl Unternehmen und Verbände mehr Einfluss auf die Gesellschaft ausüben als einzelne Personen, und ihre Straftaten weitaus größere Schäden anrichten: „Es erscheint befremdlich, dass ein einfacher Fahrraddiebstahl eine Straftat darstellt, während kriminogene Aufsichtsmängel in einem Konzern ‚nur‘ als Ordnungswidrigkeiten mit einem Bußgeld belegt werden können.“ (2)

Ein weiteres wesentliches Defizit besteht darin, dass bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten bislang nicht das Legalitäts- sondern das Opportunitätsprinzip greift. Im ersten Fall sind Staatsanwaltschaften gezwungen, bei einem Anfangsverdacht zu ermitteln, im letzteren liegt es in ihrem Ermessen, ob sie aktiv werden wollen oder nicht. Mangels Personal und eigener Fachkenntnisse schrecken in der Folge viele Staatsanwaltschaften vor Verfahren gegen Unternehmen zurück, da ihnen unter anderem die oftmals verschleierten Verantwortungs- und Entscheidungsstrukturen von Unternehmen die Arbeit erschweren und der hohe Ermittlungsaufwand im Verhältnis zu den relativ schwachen Sanktionen kaum vertretbar erscheint. (3)

Kritiker des Ist-Zustandes erwarten deshalb nur von harten Sanktionen eines Unternehmensstrafrechts einen spürbaren präventiven Effekt, da angenommen werden darf, dass Unternehmen rational betriebswirtschaftlich vorgehen. (4) Denn Unternehmenskriminalität ist „kalkulierte Kriminalität“. (5) Die Frage der Gesetzestreue verengt sich aus dieser Sicht in der Wirtschaft zu einer Kosten-Nutzen-Rechnung, das heißt das Entdeckungsrisiko und die zu erwartenden Sanktionen werden dem erhofften Vorteil gegenübergestellt.

Tatsächlich will die Bundesregierung jetzt endlich das Sanktionsrecht für Unternehmen reformieren. Im Koalitionsvertrag vom März 2018 hatten Union und SPD bereits vereinbart, sicherzustellen, „dass bei Wirtschaftskriminalität grundsätzlich auch die von Fehlverhalten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern profitierenden Unternehmen stärker sanktioniert werden“. Justizministerin Lambrecht (SPD) legte, wenn auch reichlich spät, am 23. August 2019 einen neuen Gesetzentwurf vor, der für die Öffentlichkeit noch unter Verschluss gehalten wird (Stand: 23.8.2019). Für die Ermittlungsbehörden wird eine Verpflichtung zur Strafverfolgung eingeführt. Den Begriff „Unternehmensstrafen“ diskret meidend, sollen laut Medienberichten Unternehmen künftig bis zu zehn Prozent ihres Umsatzes als Geldsanktion bezahlen, wenn eine „Leitungsperson“, so der Entwurf, eine vorsätzliche Straftat begeht. Vorgesehen ist allerdings auch, Sanktionen lediglich „unter Vorbehalt“ zu verhängen, wenn etwa das Unternehmen verspricht, strenge Compliance-Regeln einzuführen. Strafmildern kann danach wirken, wenn Unternehmen interne Untersuchungen anstellen und dabei mit der Staatsanwaltschaft kooperieren (vgl. Christian Rath, „Kriminelle Konzerne sollen zahlen“, in: taz vom 23.8.2019).

Summa summarum bleibt festhalten, dass ein Unternehmensstrafrecht als sinnvolle Ergänzung des Individualstrafrechts als wirklich „scharfes Schwert“ nur funktionieren kann, wenn es denn tatsächlich hinsichtlich krimineller Geschäftsführungspraktiken präventiv wirkt. Ob die geplanten Verschärfungen des vom Bundesjustizministerium auf den Weg gebrachten Gesetzes wirklich kriminalitätsdämpfende Wirkungen entfalten werden, bleibt abzuwarten. Wenn Regierung und Gesetzgeber eine Politik der Deregulierung betreiben, sich aber im Nachhinein und auf Druck von außen vorsichtig für ein Strafrecht ins Zeug legen, um billigend in Kauf genommene kriminelle Effekte ihrer eigenen Politik zu mildern, darf das durchaus positiv bewertet werden. Mit einer „Bekämpfung“ der destruktiven Logik der kapitalistischer Marktwirtschaft hat die Einführung eines Unternehmensstrafrechts allerdings nichts zu tun. Und an der „Interessenkonformität der großen Konzerne mit den politischen Entscheidungsträgern“ (Thilo Bode) und der rechtlichen Privilegierung der Konzerne ändern die geplanten strafrechtlichen Maßnahmen grundsätzlich auch nichts.

Anmerkungen:

(1) Süddeutsche Zeitung vom 2. August 2019

(2) Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes, Köln, 2017, Seite 13

(3) vgl. Antrag der Bundestagsfraktion Die Linke: „Deutschland braucht ein Unternehmensstrafrecht“, Drucksache 19/7983, 21. Februar 2019, Seite 4

(4) So fordert beispielsweise Die Linke als oppositionelle Fraktion im Bundestag in ihrem Antrag unter anderem Geldsanktionen, die sich an der Wirtschaftskraft des Unternehmens und dem begangenen Unrecht orientieren, nach Begehung von Straftaten Unternehmen von öffentlichen Aufträgen und öffentlichen Geldern auszuschließen, als letztes Mittel sogar Betriebsschließungen und die Auflösung von Unternehmen.

  • Christoph Kathollnig: Unternehmensstrafrecht und Menschenrechtsverantwortung, Wien/Graz, 2016, Seite 55

Der Autor
Joachim Maiworm
ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Zeitschrift „Stichwort BAYER“ Nr. 4/2019 erschienen.