Großrazzia in Hamburg: Verdacht der Korruption beim Geschäft mit Krebsmedikamenten

Eine gemeinsame Recherche des ARD-Magazins Panorama und von ZEIT Online ergab, dass der bundesweit größte Hersteller von Infusionen für Krebstherapien, die Firma ZytoService, ein neues Betrugsmodell der ganz großen Art entwickelt hat. Am 17. Dezember 2019 wurde deshalb die größte Razzia durchgeführt, die bislang von der Hamburger Wirtschaftsstaatsanwaltschaft angeordnet worden ist. 420 Polizisten durchsuchten dabei insgesamt 58 Objekte: Arztpraxen, Apotheken, einige Firmensitze, Privathäuser und ein Krankenhaus. Den Beschuldigten (mehrere Ärzte, Apotheker und Pharma-Manager) wird laut Staatsanwaltschaft Hamburg „Bestechung im Gesundheitswesen in besonders schwerem Fall“ und „bandenmäßiger Betrug“ vorgeworfen (Höchststrafe 10 Jahre Gefängnis).

Im Fokus der Ermittlungen stehen dabei die drei Gründer von ZytoService. Sie sollen in den vergangenen Jahren systematisch Ärzte bestochen haben, die offenbar im Gegenzug unter Beteiligung einer konzernnahen Apotheke profitable Rezepte für die Infusionen ausstellten. Diese wurden offensichtlich zu Unrecht bei den Kassen abgerechnet, so dass allein der Techniker Krankenkasse seit Januar 2017 ein Schaden von 8,6 Millionen Euro entstanden sei. Die DAK schätzt ihren Verlust sogar auf 18,2 Millionen Euro.

ZEIT Online schrieb am 18. Dezember 2019: „Es ist nicht der erste Verdacht von Korruption im Milliardenmarkt mit Krebsmitteln. Aber der Fall hat eine neue Dimension, weil es neben klassischer Bestechung um eine neue Methode geht: Statt Ärzte in geheimen Treffen Geld auf Nummernkonten im Ausland zu versprechen, werden die Mediziner ganz offen und auf den ersten Blick legal gekauft.“

Die Masche von ZytoServive läuft demnach so: ZytoService erwarb über ein bundesweit verflochtenes Firmenkonstrukt ganze Arztpraxen. Dabei soll der Konzern ein Vielfaches des üblichen Marktpreises gezahlt haben. Anschließend wurden die Praxen in sogenannte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) umgewandelt. Die dort angestellten Ärzte sollen Rezepte für die Herstellung der Infusionen exklusiv an ZytoService weitergeleitet und dafür eine Beteiligung am Umsatz als Boni erhalten haben.

Damit Ärzte sich am Patientenwohl und nicht vorrangig an wirtschaftlichen Interessen orientieren, ist es Apothekern und Herstellern allerdings gesetzlich verboten, sich an Arztpraxen zu beteiligen, um die Nachfrage nach ihren eigenen Produkten kontrollieren zu können. Möglicherweise nutzte ZytoService eine Gesetzeslücke, um diese Bestimmung zu umgehen. Denn gemeinnützige Organisationen oder Krankenhäuser dürfen MVZ kaufen.

ZytoService ist offiziell selbst nicht Gründer und Besitzer der MVZ, sondern eine sehr kleine Hamburger Stadtteilklinik (mit lediglich 15 Betten und ohne eigene onkologische Abteilung). Diese eröffnete seit 2014 bundesweit 15 dieser Versorgungszentren. Zunächst gehörte die Klinik, also die „Mutter“ der MVZ, direkt ZytoService. Mittlerweile aber ist wiederum der Mutterkonzern von ZytoService, die Alanta Health Group, die Inhaberin der Klinik.

ZytoService bzw. die Alanta Health Group verweigerten den Redaktionen von Panorama und ZEIT Online eine diesbezügliche Stellungnahme.

Quellen:

Robert Bongen, Oliver Hollenstein, Niklas Schenck, Oliver Schröm, Caroline Walter: Кrebsmedikamente: Wie man sich einen Onkologen kauft, ZEIT Online, 18.12.2019
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-12/krebsmedikamente-zytoservice-betrug-onkologen-gesetzesluecke-hamburg/komplettansicht

Dies.: „Krebstherapie: Offenbar neues Betrugsmodell“, Panorama, Stand: 18.12.2019
https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Krebstherapie-Offenbar-neues-Betrugsmodell,zytostatika112.ht

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Panorama-vom-19-Dezember-2019,panoramaarchiv492.html

 

Die permanente Angst

Aus den Fabriken des Todes: Mordechai Striglers “Werk C” liegt in deutscher Übersetzung vor

Das Buch “Werk C” ist das dritte von insgesamt vier Büchern des Journalisten Mordechai Strigler (1918–1998). Dieser überlebte im besetzten Polen und in Deutschland insgesamt zwölf Ghettos und Konzentrationslager, darunter das Vernichtungslager Majdanek. Mehrere seiner Verwandten wurden umgebracht. Im April 1945 in Buchenwald befreit, sagte er vor einem Untersuchungsausschuss der US-Armee zu den Verbrechen der Nazis aus. In den Folgejahren legte Strigler, der nach dem Krieg in Paris und ab 1952 in New York lebte, seine Erinnerungen schriftlich nieder. Das Ergebnis ist die Tetralogie “Verloschene Lichter”, die ursprünglich in jiddischer Sprache erschien und derzeit vom Verlag zu Klampen erstmals in deutscher Übersetzung herausgebracht wird. Die beiden ersten Bände “Majdanek” und “In den Fabriken des Todes” erschienen 2016 und 2017 (siehe jW vom 21. August 2017). Der die Reihe abschließende vierte Band ist noch in Arbeit.

Beim titelgebenden “Werk C” handelte es sich um eine von einem Leipziger Unternehmen, der Hugo-Schneider-Aktiengesellschaft (HASAG), betriebene Munitionsfabrik im besetzten Polen. In dieser mussten überwiegend jüdische Häftlinge des Arbeitslagers Skarzysko-Kamienna Granaten und Seeminen für die Wehrmacht herstellen. Strigler hatte im zweiten Band seine Ankunft und die ersten Wochen im Lager geschildert. In der jetzt vorliegenden Fortsetzung beschreibt er die Fabrik als “großes Rad des wahnsinnigen Todes, das Menschen hineinzieht und ihnen das Blut aussaugt”.

Der Autor liefert in seinen Büchern keine Beschreibung von Widerstandsaktionen, sondern thematisiert das Grauen des Arbeits- und Lageralltags, wie ihn die Mehrzahl der jüdischen Häftlinge erlebte. Dieser Alltag bestand vor allem aus Hunger, dem täglichen Kampf um einen Napf Suppe und einen Kanten Brot, aus extrem gesundheitsschädigender Schwerstarbeit, aus Schlägen samt Schikanen von Seiten des Aufsichtspersonals und privilegierter Häftlinge der Lagerverwaltung. Und aus der permanenten Angst, krank zu werden und zu schwach für die Arbeit. Denn dann wurde man entweder vom Werkschutz in den umliegenden Wäldern erschossen oder aber auf “Transport” zurück in eines der Vernichtungslager geschickt. Bei der mit höchstem Tempo zu leistenden Arbeit kam es oft zu Unfällen; nicht wenige Häftlinge wurden in den Fabrikhallen von explodierenden Granaten zerrissen. Tausende überlebten die Arbeit in der Fabrik nicht.

Der übergroße Teil der bekannten Erinnerungsliteratur von Shoa-Überlebenden wurde von jüdischen Häftlingen geschrieben, die in ihren Heimatländern als “assimiliert” galten und es häufig geschafft hatten, in irgendeiner Funktion der Lagerverwaltung das Grauen der Massenvernichtung und des mörderischen Lageralltags zu überleben. Aus Angehörigen dieser Minderheit rekrutierten sich auch die sozialistisch oder zionistisch geprägten Widerstandsgruppen, die den Vernichtungsaktionen der Nazis stellenweise erbitterten Widerstand entgegensetzten und von denen einige im Untergrund überlebten. Strigler, der sein Überleben wohl ebenfalls dem Aufstieg in den Kreis der “Funktionshäftlinge” verdankt, schreibt hingegen aus der Sicht der religiös geprägten und gänzlich unpolitischen Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Polens, die den größten Anteil der in den Lagern Ermordeten ausmachte.

Die Lektüre der Bände Striglers ist in weiten Teilen verstörend und schwer erträglich. Der Autor thematisiert ohne Verklausulierung die Beteiligung von baltischen und ukrainischen “Hilfskräften” der SS an den Massenmorden und die duldende Mittäterschaft polnischer Antisemiten, die sich den Besatzern andienten. Existierte denn, wie der Herausgeber im Vorwort fragt, in dieser Welt des Grauens gar keine Solidarität der Opfer des Naziregimes untereinander? Doch, so etwas gab es. Um darauf zu stoßen, muss man das Buch aber sehr genau lesen.

Strigler porträtiert beispielsweise einen polnischen Arbeiter, der sich nicht an Schikanen und der Ausplünderung der Häftlinge beteiligt, ihnen sogar hin und wieder etwas zu essen zusteckt. Seine Einweisung des neu in der Werkhalle angekommenen Häftlings liest sich fast wie eine Anleitung zur Sabotage: “Mich stört es wenig, wenn die Granate an der Front nicht explodiert (…) Lass uns hoffen, dass es tatsächlich wirkt und ein paar Menschen am Leben bleiben.” An einer anderen Stelle beginnen weibliche Häftlinge plötzlich Lieder der jüdischen Arbeiterbewegung zu singen. Gegen Ende des Buches schildert der Autor zaghafte Versuche einer Selbstorganisation der Häftlinge. So wird ein hochschwangeres Mädchen abgeschirmt, um sie und ihr Kind zu retten.

Dem letzten Band der Tetralogie kann man mit Interesse entgegensehen. Für das sehr informative Vorwort des jüngsten Bandes und die zahlreichen erläuternden Fußnoten sei Herausgeber Frank Beer und dem Verlag zu Klampen ausdrücklich gedankt.

Mordechai Strigler (Hrsg. Frank Beer): Werk C. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes. Übersetzung: Sigrid Beisel. Verlag zu Klampen, Springe 2019, 453 Seiten, 32 Euro

Die Rezension erschien in der vorliegenden Form bereits am 09. Dezember 2019 in der Tageszeitung „junge Welt“ (www.jungewelt.de) auf der Seite „Politisches Buch“. Die beiden ersten Bände von Mordechai Strigler „Majdanek“ und „In den Fabriken des Todes“ wurden in der Ausgabe 4/2017 von BIG Business Crime ausführlich rezensiert.

Die Verbrechen der Pharmaindustrie

 

In der Ausgabe der Tageszeitung junge Welt vom 10. Dezember 2019 berichtet Jan Pehrke, Mitglied der Coordination gegen Bayer-Gefahren e. V., darüber, wie Bayer und andere Pharmakonzerne bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein Arzneimittel, insbesondere Psychopharmaka, an Heimkindern testeten. Drei ehemals Betroffene forderten deshalb im April 2019 auf der letzten Bayer-Hauptversammlung eine Entschuldigung und eine Entschädigung von dem Leverkusener Konzern. Ohne Erfolg, der Bayer-Chef lehnte ab und bestritt, dass es überhaupt Studien in Heimen gegeben habe. Zu Entschädigungszahlungen erklärten sich bislang weder Bayer noch andere Unternehmen aus der Branche bereit. Über die Bewertung der Arzneierprobungen herrsche jedoch heute weitgehend Einigkeit, so der Autor. Er zitiert eine Kieler Medizinethikerin: „Das ist ethisch problematische Forschung. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Das ist ethisch unzulässige Forschung“. Das Vorgehen der Ärzte hätte nach Ansicht der Wissenschaftlerin selbst damaligen Standards nicht entsprochen.

Liest man außer solchen eher medizinhistorischen Berichten weitere Publikationen, die über die gegenwärtigen (wirtschafts-)kriminellen Handlungen in der Branche Aufschluss geben, so zeigt sich deutlich: Die Pharmaindustrie ist nach wie vor für kriminelles Verhalten in besonderer Weise anfällig. Eine branchenspezifische Untersuchung aus dem Jahr 2013 etwa ergab, „dass Pharmaunternehmen bei der Vorbeugung gegen Wirtschaftskriminalität im Vergleich zu anderen Branchen noch Nachholbedarf haben“. Obwohl gerade die Pharmabranche einem erhöhten Korruptionsrisiko ausgesetzt sei, würde deren Bekämpfung im Vergleich zu anderen Branchen weniger Aufmerksamkeit gewidmet (Bussmann, Seite 5 und 16).

Korruption und Bestechung in der Pharmaindustrie sind natürlich nichts Neues. An der Einsicht in die Notwendigkeit, grenzüberschreitend und kooperativ gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen vorzugehen, fehlt es prinzipiell auch nicht. So führte das Europäische Netzwerk gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen (EHFCN) am 19. November 2019 in Berlin bereits zum 13. Mal eine Expertentagung durch. Festgestellt wurde unter anderem, „dass nationale Alleingänge im Kampf gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen angesichts eines offenen Binnenmarktes und grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung nicht länger zielführend erscheinen“. Ein erfolgreiches Vorgehen gegen das wirtschaftskriminelle Agieren stärke hingegen das Vertrauen der EU-Bevölkerung in die Integrität von Gesundheitsversorgung, wie der Präsident des EHFCN-Netzwerks in einer Pressemitteilung erklärte.

Weniger banal und verhalten äußern sich kämpferische Wissenschaftler wie etwa der dänische Medizinforscher Peter Gøtzsche, der im September 2018 aus der renommierten Cochrane Collaboration ausgeschlossen wurde. Dabei handelt es sich laut Wikipedia um „ein globales, unabhängiges Netzwerk (…) aus Wissenschaftlern, Ärzten, Angehörigen der Gesundheitsfachberufe, Patienten und weiteren an Gesundheitsfragen interessierten Personen“. Nach Transparency International sollte er mundtot gemacht werden, „weil er das wissenschaftliche Herangehen der Cochrane Collaboration grundsätzlich und die damit verbundene Pharma-Nähe kritisiert hat“. Gøtzsche kämpft seit Jahren gegen pharmagesponserte Studien und plädiert für die Transparenz klinischer Studiendaten. Denn Pharmafirmen halten seiner Auffassung nach immer wieder Daten zurück, um die Wirksamkeit von Medikamenten behaupten zu können.

In seinem 2015 veröffentlichten Buch „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität“, welches für reichlich öffentliches Aufsehen sorgte, spricht er im Zusammenhang mit der Pharmaindustrie sogar von organisierter Kriminalität. Seine provokante These lautet, dass die Pharmaindustrie mehr Menschen umbringen würde als die Mafia. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus dem gleichen Jahr bestätigte er, dass Unternehmen Arzneimittel auf den Markt drückten, obwohl sie für viele Patienten sogar tödlich seien. Auf die Bitte des Journalisten, Beispiele zu nennen, führte Gøtzsche aus:
„Etwa Schmerzmittel wie Vioxx, von denen bekannt war, dass sie ein Herzinfarktrisiko darstellen und zum Tod führen können. Vioxx kam ohne ausreichende klinische Dokumentation auf den Markt, weshalb Merck vor Gericht stand und 2011 immerhin 950 Millionen Dollar zahlen musste. Bevor es vom Markt genommen wurde, wurde das Mittel bei Rückenschmerzen eingesetzt, bei Tennisarm, bei allen möglichen Leiden. Vielen Patienten wäre es aber schon mit Paracetamol oder auch ganz ohne Medikamente wieder gutgegangen − und jetzt sind sie tot. Das ist eine Tragödie.“

Betrug, Irreführung, Bestechung oder Vermarktung nicht zugelassener Mittel seien die Regel. Diese Straftaten erfüllten die Kriterien für das organisierte Verbrechen, deshalb könne man von Mafia reden.

US-Behörden ziehen offensichtlich praktische Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen und zeigen sich bei ihren Ermittlungen wenig zimperlich. Spiegel Online berichtete am 27. November 2019, dass Pharmakonzerne juristisch mit Drogendealern gleichgestellt werden sollen. „Den Pharmakonzernen wird vorgeworfen“, so das Magazin, „mit ihren Produkten zu der Schmerzmittelepidemie beigetragen zu haben, die in den vergangenen Jahren (…) zu Hunderttausenden Toten durch Überdosierungen führte“. Die Justizbehörden prüfen demnach, ob Hersteller und Händler abhängig machender Opioide gegen das bundesweite Suchtmittelgesetz „Controlled Substances Act“ verstoßen haben und entsprechend verfolgt werden können.

 

Quellen:

Kai Bussmann/Michael Burkhart/Steffen Salvenmoser: „Wirtschaftskriminalität – Pharmaindustrie“, hrsg. von PricewaterhouseCoopers AG und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2013
https://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/assets/pharmabranche-fehlt-rezept-gegen-korruption.pdf

EHFCN, Gemeinsame Pressemitteilung vom 19. November 2019: Internationale Konferenz setzt auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Kampf gegen Betrug und Korruption
https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/presse/pressemitteilungen/2019/Gm_PM_2019-11-19_Konferenz_Betrug_im_Gesundheitswesen.pdf

Jan Pehrke: „Bayers Menschenversuche“, in: junge Welt, 19. Dezember 2019
https://www.jungewelt.de/artikel/368448.medizingeschichte-bayers-menschenversuche.html?sstr=pharmaindustrie

Markus C. Schulte von Drach: „Kritik an Arzneimittelherstellern: Die Pharmaindustrie ist schlimmer als die Mafia“, Süddeutsche Zeitung, 6. Februar 2015
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/kritik-an-arzneimittelherstellern-die-pharmaindustrie-ist-schlimmer-als-die-mafia-1.2267631?print=true

„Plan der US-Behörden: Pharmakonzerne sollen mit Drogendealern gleichgestellt werden“, in: SPIEGEL Online, 27. November 2019
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/us-behoerden-wollen-pharmakonzerne-mit-drogen-dealern-gleichstellen-a-1298430.html

Transparency International Deutschland: „Erklärung zum Ausschluss von Peter Gøtzsche aus dem Cochrane-Netzwerk“, Berlin, 22. Januar 2019
https://www.transparency.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles/2019/19-01-22_Erklaerung_Goetzsche_Transparency_Deutschland.pdf


Joachim Maiworm
ist Redakteur von BIG Business Crime

 

 

„Organisierte Verantwortungslosigkeit“ – Die deutsche Textilindustrie und die Notwendigkeit eines Lieferkettengesetzes

Im April 2013 ereignete sich das bislang größte Unglück in der Bekleidungsindustrie: In Bangladesch stürzte das Gebäude der Textilfabrik Rana Plaza ein. Damals starben über 1.100 Menschen, 2.500 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Im Jahr zuvor kamen bei einem schweren Fabrikbrand der Firma Ali Enterprises im pakistanischen Karatschi 260 Menschen ums Leben.

Beide Fabriken produzierten für den Weltmarkt. Hauptkunde von Ali Enterprises war der deutsche Billiganbieter KiK, der damals nach eigenen Angaben für 70 Prozent der Aufträge verantwortlich war. Trotz des zweifellos vorhandenen Einflusses auf seine Zulieferer unterließ es der Discounter offensichtlich, auf einen ausreichenden Brand- und Arbeitsschutz hinzuwirken.

Als Reaktion auf diese Unglücke kam eine längst überfällige Diskussion über die Verantwortung von Unternehmen aus den nördlichen Industriestaaten für die desaströsen Arbeitsverhältnisse im globalen Süden international in Gang. Debattiert wurde über fehlenden Arbeitsschutz, Hungerlöhne, überlange Arbeitstage, Kinderarbeit, den Umgang mit gefährlichen Chemikalien und mangelhaften Brandschutz. Deutsche Textilfirmen lassen mittlerweile nahezu vollständig in Asien produzieren. Industrie und Politik versprechen seit geraumer Zeit, für bessere Bedingungen in den dortigen Zulieferfirmen zu sorgen.

Sechs bzw. sieben Jahre nach Rana Plaza und Ali Enterprises ist nach einhelliger Meinung kritischer Experten jedoch kaum etwas geschehen. Die Produktion läuft wie gehabt, Arbeitsausbeutung und Fabrikunfälle sind weiter an der Tagesordnung. KiK-Chef Patrick Zahn, der sein Unternehmen selbst als „echtes Schwergewicht“ im deutschen Einzelhandel bezeichnet, verteidigte die für die Arbeiter*innen verheerende Produktion in Ländern wie Bangladesch und Pakistan.

Im Nachhaltigkeitsbericht 2017 seines Unternehmens unterstrich Zahn klipp und klar die „oberste Priorität, das Unternehmen profitabel und auf Wachstumskurs zu halten. Denn nur, wenn der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens langfristig gesichert ist, kann nachhaltige Entwicklung gewährleistet werden.“ An anderer Stelle erklärte er, es sei keine Option, sich aus diesen Ländern zurückzuziehen. Damit wäre den Menschen dort überhaupt nicht geholfen (vgl. SPIEGEL Online vom 29. November 2018).

Intransparente Produktionsstruktur

Umgekehrt wird wohl eher ein Schuh draus: Die Profite auch der deutschen Textilkonzerne werden durch die miserablen Arbeitsbedingungen in den verzweigten Lieferketten mit rechtlich selbständigen Subunternehmen überhaupt erst ermöglicht. Die Komplexität des Systems bietet den Auftraggebern zugleich eine gute Ausrede dafür, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Darauf verweist Thomas Seibert, bei medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. In einem Radiogespräch stellte er jüngst klar, die Undurchschaubarkeit der Produktionsstruktur bilde letztlich die Voraussetzung für die Gewinnerzielung der Unternehmen in den Industriestaaten (vgl. SWR2 Forum vom 9. September 2019).

Je weiter unten Betriebe in der Lieferkette der globalen Produktions- und Vertriebsnetze angesiedelt sind, desto ungeschützter sind die Arbeitsbedingungen bei ihnen. Aus der Debatte verdrängt wird, so Seibert, dass dieses System gewollt ist, weil nur auf diesem Wege die ungeheuren Profitmargen realisiert werden können. Die Produktion von Bekleidung wurde schließlich aus Gründen der Kostensenkung in andere Länder verlagert, zuletzt nach Südasien, wo sie am billigsten ist. Strikte Preisvorgaben und eng gesetzte Liefertermine sorgen dabei für einen verschärften Arbeitsdruck auf Kosten der Beschäftigten.

Die Hauptbetroffenen der Standortverlagerungen und des Preiskampfs in der Textilbranche sind darum nicht die Menschen hierzulande, sondern die Näher*innen vornehmlich in Bangladesch und Pakistan. Zunächst sorgte der Aufstieg der westlichen Wirtschaftsmächte für einen rapiden Verfall der traditionellen Wirtschaftsstrukturen des globalen Südens. Zwar schafft die Verlegung von Produktionsstätten bzw. die Vergabe von Aufträgen an dort ansässige Subunternehmen dann in diesen Regionen dringend benötigte Arbeitsplätze. Zugleich zeigen die Fabrikunfälle aber auf drastische Weise, wie unmenschlich die Arbeitsbedingungen entlang der globalen Produktionsketten sind.

Die Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten durch deutsche Textilkonzerne stellt deshalb grundsätzlich die Frage nach ihrer moralischen und rechtlichen Verantwortung. Über Jahre war beispielsweise KiK nach der vermeidbaren Katastrophe von Ali Enterprises einer scharfen öffentlichen Kritik ausgesetzt – juristisch aber nicht belangbar.

Betroffene von Menschenrechtsverstößen am Arbeitsplatz haben tatsächlich kaum eine Möglichkeit, die ausländischen mitverantwortlichen Unternehmen auf Schadensersatz zu verklagen. Diese können für die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit im Ausland nicht zur Rechenschaft gezogen werden. So wies etwa Anfang 2019 das Landgericht Dortmund die Klage von vier pakistanischen Betroffenen der Ali Enterprises-Katastrophe vom September 2012 wegen Verjährung ab. Da sich das Unglück in Pakistan ereignete, wurde der Fall nach pakistanischem Recht entschieden. Und danach waren die Ansprüche verjährt. Dieser Fall belegt, dass die Verantwortung deutscher Unternehmen für ihre Zulieferfirmen juristisch völlig unzureichend geregelt ist.

UNO-Leitlinien und Nationaler Aktionsplan

Die im Jahr 2011 von den Vereinten Nationen verabschiedeten „Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ reflektieren dieses Defizit, indem sie auf die Schutzpflicht des Staates zur Einhaltung der Menschenrechte – auch gegen Übergriffen von Dritten, zum Beispiel Unternehmen – verweisen. Allerdings sind die Vorgaben als nicht rechtlich bindend formuliert und setzen deshalb auf Empfehlungen als Steuerungsinstrument. So heißt es etwa: „Staaten sollten klar die Erwartung zum Ausdruck bringen, dass alle in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen und/oder ihrer Jurisdiktion unterstehenden Wirtschaftsunternehmen bei ihrer gesamten Geschäftstätigkeit die Menschenrechte achten“, oder so schlicht wie zahnlos: „Wirtschaftsunternehmen sollten die Menschenrechte achten“.

Im Dezember 2016 setzte Deutschland die UN-Leitprinzipien in Form des „Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ um. Auch hier verzichtet die Bundesregierung auf verbindliche, strafbewehrte Regelungen für deutsche Unternehmen, baut stattdessen auf das Prinzip der „freiwilligen Selbstverpflichtung“. Originalton: „Die Bundesregierung erwartet von allen Unternehmen, den im Weiteren beschriebenen Prozess der unternehmerischen Sorgfalt mit Bezug auf die Achtung der Menschenrechte in einer ihrer Größe, Branche und Position in der Liefer- und Wertschöpfungskette angemessenen Weise einzuführen.“

In diesen Kontext gehört auch das von der Bundesregierung im Oktober 2014 als Reaktion auf die tödlichen Unfälle in Bangladesch und Pakistan ins Leben gerufene „Bündnis für nachhaltige Textilien“, das offiziell auf eine Verbesserung der Produktions- und Umweltbedingungen in der weltweiten Textilproduktion zielt – „von der Rohstoffproduktion bis zur Entsorgung“. Nach über fünf Jahren beteiligen sich aber nur etwa 50 Prozent der Unternehmen aus der Textilbranche an dem Zusammenschluss, bestehend aus Vertreter*innen der Wirtschaft, von Nichtregierungsorganisationen (NGO), Gewerkschaften und der Bundesregierung. Es überrascht nicht, dass sich auch das Textilbündnis an den unverbindlichen internationalen Vereinbarungen und Leitlinien orientiert und damit auf rein freiwillige Maßnahmen setzt.

Der „Grüne Knopf“

Im September 2019 brachte dann Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) mit dem „Grünen Knopf“ ein zusätzliches Steuerungsinstrument an den Start: ein staatliches Textilsiegel. Und reicherte damit den bereits bestehenden Siegel-Dschungel weiter an. Ein Siegel, das den Verbrauchern zwar Orientierung verspricht, aber angesichts Dutzender anderer Labels, die ebenfalls für „ökologische und soziale Nachhaltigkeit“ bürgen sollen, wohl eher für Verwirrung als für mehr Klarheit sorgen wird. Mit dem Siegel sollen die Produkte von Unternehmen ausgezeichnet werden, die – so der politische Fachjargon – in ihrem „Lieferketten-Management“ transparent sind und aufzeigen können, dass und wie ihre Produkte sozial und ökologisch „fair“ hergestellt werden.

Minister Müller bei der offiziellen Präsentation des „Grünen Knopfes“ am 9. September 2019: „Fair Fashion ist ein Mega-Trend. Für drei Viertel der Verbraucher ist faire Kleidung wichtig. Doch bisher fehlt die Orientierung. Mit dem Grünen Knopf ändert sich das. Mit jeder Kaufentscheidung können wir jetzt einen Beitrag leisten: Für eine gerechte Globalisierung, bei der Mensch und Natur nicht für unseren Konsum ausgebeutet werden. Für Menschlichkeit und Humanität“.

NGOs wie zum Beispiel medico international kritisieren das staatliche Siegel, weil einmal mehr an Unternehmen appelliert wird, bestimmte Standards einzuhalten, ohne dass sie dazu rechtlich verpflichtet werden. Wer nicht mitmachen will, darf weiter schädlich für Mensch und Natur produzieren wie bisher. Im Fokus der Maßnahme stehen dagegen die Konsumenten, denen eine Entscheidungshilfe beim Kauf von Textilien angeboten wird. Letztlich wird ihnen die Verantwortung für Menschenrechtsverbrechen entlang der Lieferketten aufgebürdet.

Die Überprüfung der Unternehmen und ihrer Produkte erfolgt durch Privatfirmen, die von den Unternehmen als Auftraggeber bezahlt werden. Mit diesem System wurden bisher überwiegend negative Erfahrungen gemacht. Die entwicklungspolitische Expertin und Autorin Gisela Burckhardt stellt in ihrem 2014 erschienenen Buch „Todschick“ fest, dass sich das Geschäft mit Zertifikaten sowie Audits in asiatischen Bekleidungsfabriken zu einer „wahren Goldgrube für Prüfgesellschaften“ entwickelt habe und zu einem „Milliardengeschäft“ geworden sei. „Was zählt, ist das Stück Papier, das eine Überprüfung der jeweiligen Fabrik bescheinigt. Details will niemand wissen – auch nicht wie die Fabrik eigentlich zu diesem Zertifikat gekommen ist.“ (Seite 107f.)

Die Autorin führt in ihrem Buch eine Reihe von Unternehmen an, bei denen massive Defizite im sozialen Bereich (fehlende Organisationsfreiheit, erzwungene Überstunden) sowie beim Arbeits- und Gebäudeschutz auftraten mit zum Teil verheerenden Folgen (Brände, eingestürzte Gebäude). In allen Fällen lagen von „unabhängigen“ Prüfern ausgestellte Zertifikate vor, die die Einhaltung der Unternehmens- und Produktkriterien bescheinigten. Aber auch die definierten Standards selbst sind teilweise mehr als fraglich. Beispielsweise erhält den „Grünen Knopf“ bereits jedes Unternehmen, welches garantiert, dass die Beschäftigten vor Ort den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Der aber bewegt sich in asiatischen Ländern nicht annähernd auf existenzsicherndem Niveau.

Lieferkettengesetz anstatt freiwillige Standards

Damit deutsche Unternehmen nicht länger mit der Verlagerung der Produktion in Billigstlohnländer auch ihre unternehmerische Verantwortung abschütteln können, fordern Vertreter*innen entwicklungspolitischer NGOs seit Jahren eine gesetzliche Regelung mit klaren strafbewehrten Regelungen, die die rechtliche Lücke schließt und die Achtung der Menschenrechte in den globalen Lieferketten verbindlich vorgibt. Deshalb stellte sich im September 2019 in Berlin die „Initiative Lieferkettengesetz“ vor, ein breites Bündnis aus 64 zivilgesellschaftlichen Organisationen, zu deren Initiatoren unter anderen Brot für die Welt, Misereor, Greenpeace und Oxfam zählen, aber auch der DGB und die Gewerkschaft ver.di.

In einer Petition fordert das Bündnis die Bundeskanzlerin auf, „endlich einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, mit dem Unternehmen dazu verpflichtet werden, sich an Menschenrechte und Umweltstandards zu halten“. Ein eigener Gesetzesvorschlag wird zwar nicht präsentiert, aber zentrale Anforderungen für ein wirksames Lieferkettengesetz formuliert.

Danach sollen alle Unternehmen erfasst werden, die in Deutschland geschäftstätig und für die gesamte Lieferkette von der Rohstoffgewinnung bis zur Abfallentsorgung verantwortlich sind. Sie werden verpflichtet, die Risiken und möglichen Auswirkungen ihrer Geschäfte für Menschenrechte und Umwelt zu ermitteln, sie zu analysieren und „angemessene Maßnahmen zur Prävention bzw. zur Abmilderung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden [zu] ergreifen“ (vgl. Hintergrundpaper: Die Initiative Lieferkettengesetz, September 2019).

Unternehmen haben zudem die Einhaltung der Sorgfaltspflichten zu dokumentieren und öffentlich darüber zu berichten. „Lückenhafte oder fehlerhafte Berichterstattung sollte dabei an Konsequenzen wie Bußgelder oder den Ausschluss von öffentlichen Aufträgen geknüpft sein.“ Ein Lieferkettengesetz muss neben dem Präventionsgedanken („Sorgfaltspflicht“) außerdem eine Haftung vorsehen, „wenn ein Unternehmen keine angemessenen Sorgfaltsmaßnahmen ergriffen hat, um einen vorhersehbaren und vermeidbaren Schaden zu verhindern“. Geschädigten ausländischen Betroffenen muss der Zugang zur bundesdeutschen Justiz ermöglicht werden, damit sie auch vor deutschen Gerichten ihr Recht einfordern können.

Beide Komponenten sollen über die Verwaltungsrechts- und die Zivilrechtsschiene durchgesetzt werden (mit verwaltungs- und zivilrechtlichen Sanktionsmitteln). Würde ein solches Gesetz eingeführt, hätten Unternehmen, die im Ausland Menschenrechte ignorierten, zumindest Bußgelder und Zivilklagen zu fürchten. Der Fokus liegt ausdrücklich nicht auf dem Strafrecht. Vielmehr ergänzt die Intervention der Initiative die davon unabhängig laufende Forderung, endlich auch in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht als Mechanismus einzuführen, um juristische Personen wie Unternehmen und Verbände im Falle von Wirtschaftskriminalität mit strafrechtlichen Sanktionen belegen zu können.

Die derzeitige Praxis, Menschenrechtsverletzungen auf globaler Ebene in erster Linie mit den Mitteln des sogenannten Soft Laws, also mit Leitlinien und Übereinkünften, die im engeren Sinne nicht rechtsverbindlich sind, bewältigen zu wollen, „stellt letztlich eine Bankrotterklärung demokratischer Institutionen dar, die nicht (mehr) für einen Ausgleich zwischen Gemeinwohlbelangen und Wirtschaftsinteressen sorgen wollen“. (Kaleck/Saage-Maaß, Seite 43)

Während die internationalen Wirtschaftsbeziehungen über ein dichtes rechtliches Normenwerk abgesichert werden und sich dort unternehmerische Interessen über verbindliches Recht durchsetzen lassen (zum Beispiel mittels Investitionsschutzabkommen und Vertragsrecht), entledigen sich Unternehmen der Verantwortung gegenüber ihren Lohnarbeiter*innen über das System der globalen Lieferketten. Die Forderung nach einem Lieferkettengesetz zeigt einmal mehr, dass das Recht den herrschenden Machtbeziehungen immer wieder hinterherläuft.

Literatur:

Gisela Burckhardt: Todschick. Edle Labels, billige Mode – unmenschlich produziert, München 2014.

Wolfgang Kaleck/Miriam Saage-Maaß: Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte, Berlin 2016.

Wirtschaft und Menschenrechte. Das Ende der Freiwilligkeit (ein Dossier von Brot für die Welt und Misereor in Zusammenarbeit mit der Redaktion „Welt-Sichten“), in: Welt-Sichten, 6/2019.

Joachim Maiworm
lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime.

Der Gott des Geldes

 

Eine junge Frau wird beschuldigt, durch Hochverrat einen mehrere Tage andauernden wirtschaftlichen Zusammenbruch mitverschuldet zu haben. In dieser Zeit herrschte in Deutschland das nackte Chaos, über hundert Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Es entstand ein Schaden in Milliardenhöhe. Die junge Frau beteuert ihre Unschuld. Ist sie unschuldig?

In der den Großteil des hier rezensierten Buches umfassenden Rückblende kann der Leser die Beschuldigte als zunächst arglose und nichtsahnende Bankkundin erleben, bevor ein Wirrwarr unvermittelt hereinbrechender Abenteuer sie aus der Bahn wirft. Ereignisse, in die, wie sich herausstellt, auch höhere Bankmitarbeiter und Polizeibeamte verstrickt sind. Auf eine fehlerhafte Geldabhebung folgt ein Kidnapping, auf dieses folgen dann irrwitzige Verfolgungsjagden durch eine im Chaos versinkende Stadt. Denn bei der einen fehlerhaften Abhebung war es nicht geblieben. Zuerst brach eine Bank zusammen, dann eine zweite und schließlich schaffte ein geheimnisvoller Unbekannter den Einbruch ins Allerheiligste: die Zentrale der Bundesbank. Währenddessen sitzt die vermeintliche Mittäterin in Beugehaft und überlegt verzweifelt, wie sie ihrem Sohn seine lebenswichtigen Medikation zukommen lassen kann.

Ist der Zusammenbruch des deutschen Finanzwesens nun das Werk hinterlistiger russischen Hacker? Oder stecken ganz andere Personen hinter dem Bankencrash? Eine Erpressung? Aber warum gibt es dann keine Forderung? Der Einzige, der darüber Auskunft geben könnte, ist und bleibt verschwunden.
Als Folge des Crashs müssen sich große Teile der Bevölkerung jedenfalls ernsthaft überlegen, wie man ohne Bargeld in einer immer brutaler agierenden Gesellschaft klarkommt. Unbesoldete Polizisten weigern sich nämlich, ihren Dienst weiter zu versehen. Polizei- und Militärführung streiten sich über Kompetenzen, während die Preise für Sachwerte ins Unermessliche steigen und aufgebrachte Demonstranten die Kanzlerin mit Steinen bewerfen…

Dass der Autor Gerhart J. Rekel mit seinem Thriller etwas drastisch an die mittlerweile fast vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwundene Finanzkrise des Jahres 2008 erinnert, macht ihn sympathisch. Und dass Finanzhaie im Verlaufe seines Romans nicht gerade als Sympathieträger herüberkommen, ebenfalls. Rekel hat allerdings noch nicht so richtig mitbekommen, dass derzeit ganz andere Leute die deutsche Kanzlerin mit Wurfgeschossen bombardieren wollen. Als Österreicher mag man ihm das jedoch nachsehen.

Aber ob, wie der Autor im Verlauf der Romanhandlung suggeriert, einfach nur ein heftiger Schreckschuss genügen würde, damit irgendwelche ominösen Verantwortlichen zur Vernunft kommen und nun endlich das weltweit verschachtelte Banken- und Finanzsystem reformieren, sollte man doch eher bezweifeln. Schließlich ist nach der Krise immer gleichzeitig vor der nächsten Krise. So war es stets und so wird es bleiben. Jedenfalls solange, wie wir Kapitalismus haben.

Gerhard J. Rekel: Der Gott des Geldes, Roman, Verlag Wortreich, 2018,
ISBN 978-3-903091, 275 Seiten, 14,90 Euro

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.