Cum-Ex-Prozess in Wiesbaden hat begonnen

Die Verfolgung der organisierten Finanzmarktkriminalität ist weiter in Bewegung. Am 25. März 2021 wurde vor dem Landgericht Wiesbaden der Strafprozess gegen einen Steueranwalt und vier ehemalige Banker der Hypo-Vereinsbank eröffnet. Dabei wird über einen der größten Steuerskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte verhandelt. Die mutmaßlichen Täter sind angeklagt, zwischen 2006 und 2008 für einen Berliner Immobilieninvestor ein Cum-Ex-Produkt entwickelt und umgesetzt zu haben. Der Schaden für den Steuerzahler beträgt 113 Millionen Euro. Diese Summe hatte sich die Firma des Investors in Form der Kapitalertragsteuer vom Staat „erstatten“ lassen (ohne sie zuvor gezahlt zu haben). Der angeklagte Rechtsanwalt Hanno Berger war zu Prozessbeginn jedoch abwesend – hatte sich bereits vor Jahren in die Schweiz abgesetzt, im Vertrauen darauf, nicht ausgeliefert zu werden. Der Hauptangeklagte wird in der Anklageschrift als „Spiritus Rector“ der betrügerischen Geschäfte bezeichnet.

Die Taten der Angeklagten werden nicht mehr nur als Steuerhinterziehung, sondern auch als gewerbsmäßiger Bandenbetrug gewertet. Dadurch drohen bis zu zehn Jahren Haft. Auch ist jetzt eine Auslieferung von Hanno Berger durch die Schweizer Behörden möglich. Der Angeklagte steht auch in Bonn vor einem Strafprozess. Dort wird er sich wegen seines Vorgehens im Zusammenhang mit den Cum-Ex-Geschäften der Hamburger Bank M.M. Warburg verantworten müssen.

Der Cum-Ex-Skandal wird seit Jahren von mehreren Staatsanwaltschaften und Gerichten aufgearbeitet. So wurden zwei britische Aktienhändler bereits im März 2020 vom Landgericht Bonn zu Bewährungsstrafen verurteilt – damals wurden zum ersten Mal Cum-Ex-Deals als Straftat gewertet. Die Ermittlungen zu Cum-Ex werden fortgesetzt. Am 25. März 2021 ließ beispielsweise die Staatsanwaltschaft Frankfurt bei einer Razzia mehrere Wohnungen und Geschäftsräume durchsuchen.

Quellen:

René Bender/Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Cum-Ex-Prozessauftakt ohne Hauptangeklagten: ‚Hanno Berger kann und wird nicht erscheinen‘“, Handelsblatt vom 25. März 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-cum-ex-prozessauftakt-ohne-hauptangeklagten-hanno-berger-kann-und-wird-nicht-erscheinen/27039416.html

Dies.: „Oberlandesgericht Frankfurt macht Weg für Hanno Bergers Auslieferung frei“, Handelsblatt vom 12. März 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-oberlandesgericht-frankfurt-macht-weg-fuer-hanno-bergers-auslieferung-frei/27000838.html

„Prozess um Cum-Ex-Deals: Schlüsselfigur Berger bleibt fern“, Süddeutsche Zeitung vom 25. März 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanzen-wiesbaden-prozess-um-cum-ex-deals-schluesselfigur-berger-bleibt-fern-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210324-99-956068

Bernd Müller: „Bandenmäßiger Betrug“, junge Welt vom 16. März 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/398685.kapitalverbrechen-bandenm%C3%A4%C3%9Figer-betrug.html?sstr=cum%7Cex

Wie funktionieren Cum-Ex-Geschäfte? Der Deutschlandfunk und der Verein „Bürgerbewegung Finanzwende“ bieten jeweils einen kleinen Überblick:

https://www.deutschlandfunk.de/cum-ex-geschaefte-wie-das-verwirrspiel-mit-aktien.2897.de.html?dram:article_id=494671

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/

Eine Chronik zu Cum-Ex findet sich auf der Webseite der „Bürgerbewegung Finanzwende“:

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/chronik-von-cumex/

 

Die Schattenwelt der extremen Ausbeutung

„Die Ökonomie der Werkverträge und Subunternehmen spielt im postmodernen Kapitalismus eine zentrale Rolle.“ (Die modernen Wanderarbeiter*innen. Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte, Seite 83)

So sehr die deutsche Wirtschaft auf die innereuropäischen Wanderarbeiter*innen angewiesen ist, so wenig sind deren prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen öffentlich sichtbar. Anliegen der beiden Autor*innen Kathrin Birner und Stefan Dietl ist es, über die extreme Ausbeutung der Menschen aufzuklären, die vorübergehend ihre Heimatländer verlassen, um in Deutschland zu arbeiten. Das gelingt ihnen sehr gut – sie bieten auf nur 139 Seiten in konzentrierter Form einen gründlichen Einblick in die prekären Arbeitsverhältnisse der wichtigsten Branchen: der Landwirtschaft, des Pflegebereichs, der Bauwirtschaft, des Transport- und Logistiksektors, der (jüngst in den medialen Fokus gerückten) Fleischindustrie und des Sektors der industriellen Produktion.

Zunächst wird im Buch die Entwicklung der Arbeitsmigration der letzten Jahre innerhalb der EU im Kontext der EU-Osterweiterung beleuchtet. Deutlich wird, dass die Unternehmen dabei vor allem zwei Modelle prekärer Arbeit extensiv nutzen: die Entsendung, bei der die Beschäftigten offiziell bei Agenturen oder Subunternehmen eines anderen Land angestellt sind, und die Scheinselbständigkeit. Danach beschreiben die Autor*innen auf Basis empirischen Materials die katastrophale Situation der migrantischen Beschäftigten in den einzelnen Wirtschaftssektoren. Sie gehen auf die unterschiedlichen europarechtlichen Regelungen ein und gehen der Anschaulichkeit halber detailliert auf mehrere Beispiele ein.

Kein Zweifel wird daran gelassen, dass die staatlichen Kontrollinstanzen, wie die dem Zoll angegliederte „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“, kaum als Bündnispartner im Kampf für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen der mobilen Beschäftigten gelten können. So ist die Behörde zum einen aufgrund fehlender materieller und personeller Ausstattung kaum in der Lage, effektive Kontrollen durchzuführen. Zum anderen sind die meisten Machenschaften der deutschen Unternehmen zur Ausbeutung der Arbeitsmigrant*innen keineswegs illegal, sondern politisch gewollt. Verdeutlicht wird das am Beispiel der europäischen Entsenderichtlinie, die nicht mit dem Ziel geschaffen wurde, gleiche Arbeitsbedingungen zu fördern, sondern für den Nachschub billiger Arbeitskräfte aus Osteuropa in die industriellen Zentren der EU zu sorgen.

Dass angesichts der im Buch beschriebenen empörenden Zustände öffentlich wahrnehmbare Proteste weitgehend fehlen, erklären Birner und Dietl mit der Verbindung von Rassismus und Ausbeutung bei der Beschäftigung der Wanderarbeiter*innen. Tief in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verankerte rassistische Ressentiments und Stereotype würden dafür sorgen, dass Diskriminierungen als „normal“ gelten und damit akzeptiert werden. Erst wenn auch die Mehrheitsgesellschaft – wie in Folge der Ausbreitung des Coronavirus in deutschen Schlachthöfen – betroffen ist, sei eine erkennbare Skandalisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Migrant*innen zu erwarten.

Unter der Überschrift „Die Peripherisierung der Zentren“ beschreiben die Autor*innen abschließend, wie informelle Beschäftigungsverhältnisse zunehmend auch in Kernbereiche des industriellen Sektors vordringen. Als Beleg gilt hier das Ansteigen von Leiharbeit und Werkverträgen in den Schlüsselbereichen Maschinenbau und Automobilproduktion. Das einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung entnommene Beispiel eines deutschen Automobilzulieferers illustriert laut Birner und Dietl, wie die prekär Beschäftigten im industriellen Produktionssektor ausgebeutet werden. Mehr als hundert kroatische Wanderarbeiter*innen, die auf Basis eines Werkvertrags bei einer kroatischen Firma beschäftigt waren, polierten, schliffen und montierten Aluminiumteile für führende deutsche Autohersteller. Formell mit Stundenlohn bezahlt, mussten sie faktisch im Akkord arbeiten. Aus den Vorgaben resultierten extrem lange Arbeitszeiten – aus diesen wieder eine ganze Reihe von Arbeitsunfällen. Eine zuverlässige elektronische Zeiterfassung fehlte, Krankheitsausfälle wurden vom Lohn abgezogen. Und von dem geringen Lohn müssen dann noch Kosten für die Unterkünfte beglichen werden. Das Vorgehen der Firma war offensichtlich größtenteils legal, da es den gesetzlichen Rahmen in Deutschland und der EU nicht überschritt. Aber: „Faktisch sind die innereuropäischen Wanderarbeiter*innen weitgehend rechtlos“ – so bringen es die beiden Autor*innen treffend auf den Punkt (Seite 70).

Das Buch beschränkt sich jedoch nicht nur auf die bei aller Anschaulichkeit komprimiert präsentierte Darstellung der Fakten zur europäischen Arbeitsmigration. So stehen im Schlusskapitel die in der Regel öffentlich kaum beachteten kollektiven Kämpfe der Wanderarbeiter*innen im Mittelpunkt. Birner und Dietl, selbst gewerkschaftlich aktiv, knüpfen sich das paternalistische Denken der Gewerkschaften vor, die die von extremer Ausbeutung Betroffenen zwar schützen wollen, sie aber nicht ausreichend als selbständig handelnde politische Subjekte anerkennen. Es reiche eben nicht, sich nur für die Interessen von Wanderarbeiter*innen einzusetzen, sondern es müsse auch möglich sein, sich gemeinsam mit ihnen für ihre Rechte zu engagieren und ihre gesellschaftliche Isolation zu durchbrechen. Im abschließenden Teil des Buches werden deshalb konkrete Arbeitskämpfe aus den verschiedenen Branchen vorgestellt, die zumindest teilweise erfolgreich verliefen und in denen wichtige Forderungen durchgesetzt werden konnten.

Vier Kernaussagen der beiden Autor*innen lassen sich zusammenfassend benennen. Erstens: Die prekär beschäftigten Menschen erleben sich selbst als rechtlos, während die Methoden der profitierenden Unternehmen sich oft in legalem Rahmen bewegen. Zweitens: Es handelt sich letztlich um politische Entscheidungen, die die Voraussetzungen für die systematische Ausbeutung der Wanderarbeiter*innen schaffen. Drittens: Nicht nur in Schlachthöfen oder im Pflegebereich werden Wanderarbeiter*innen ausgebeutet. Deutsche Unternehmen sind in zahlreichen Sektoren der Wirtschaft für die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen hunderttausender Menschen aus ost- und südeuropäischen Ländern verantwortlich, um den Status des Landes als „Exportweltmeister“ aufrechterhalten zu können. Viertens: Die deutschen Gewerkschaften sollten ihr ambivalentes Verhältnis zur Arbeitsmigration klären (Interesse an restriktiver Zuwanderungspolitik bei gleichzeitiger Unterstützung der migrantischen Arbeiter*innen) und in kollektiven Kämpfen einen partizipatorischen Ansatz vertreten, bei dem der Wille der Betroffenen im Zentrum steht.

Kathrin Birner/Stefan Dietl: Die modernen Wanderarbeiter*innen. Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte, Unrast-Verlag, Münster, 2021, 139 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-89771-299-7

Schattenbanken im Finanzsystem: Der Kollaps der Greensill Bank

Die Pleite der Greensill Bank ist nach Wirecard der nächste große Fintech-Skandal in Deutschland. Ebenso wie vordem Wirecard hatte das Finanzinstitut aus Bremen bislang als ein Vorzeigeunternehmen gegolten. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) stoppte jedoch im März dieses Jahres den Geschäftsbetrieb der Tochter des britisch-australischen Finanzkonglomerats Greensill Capital wegen drohender Überschuldung und stellte beim Amtsgericht Bremen einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Seit einer Strafanzeige der Bafin wegen mutmaßlicher Bilanzmanipulation ermittelt nun auch noch die Staatsanwaltschaft.

Das Geschäftsmodell des Unternehmens bestand darin, Lieferantenrechnungen für Unternehmen zu bezahlen. Für die sofortige Zahlung erhielt Greensill vom jeweiligen Lieferanten einen Rabatt. Die Gesellschaft forderte dann später den vollen Rechnungsbetrag vom Kunden zurück und kassierte den Gewinn. Zur Vorfinanzierung seiner riskanten Geschäfte benötigte Greensill aber selbst verlässliche Geldquellen. Zum einen wurden erworbene Forderungen zu weltweit handelbaren Wertpapieren verpackt – also zu genau solchen Instrumenten, die auch die Finanzkrise 2008 auslösten. Zum anderen sammelte die Schattenbank* im Umfeld der Nullzinspolitik gegen einen kleinen Zins Einlagen von deutschen Sparern und Kommunen.

Auffällig erscheint Experten das Tempo von Greensills Aufstieg und Fall. Noch im Jahr 2017 war die Bank in Sachen Bilanzsumme „kleiner als die kleinste Sparkasse“ (Finanzszene, 7. März 2021). Dann aber verzehnfachte sich die Bilanzsumme binnen zwei Jahre auf 3,8 Milliarden Euro im Jahre 2019. Offensichtlich kam es zu hohen Konzentrationsrisiken bei den Forderungen (Fokussierung auf bestimmte Kunden, Branchen und Länder). Im Sommer 2020 verlor Greensill daher den Warenkreditversicherungsschutz eines wichtigen japanischen Versicherers, der bis dahin das Finanzinstitut gegen mögliche Ausfälle abgesichert und eine hohe Bedeutung für dessen Bonität hatte (ohne Versicherungsschutz versiegen die Finanzierungsquellen).

 Von der Bankenpleite sind neben Kleinanlegern auch etwa 50 Städte, Gemeinden und Bundesländer in Deutschland betroffen. So sind zum Beispiel beim Land Thüringen 50 Millionen Euro gefährdet, die Stadt Monheim (NRW) kann gegebenenfalls 38 Millionen Euro abschreiben. Insgesamt stehen Einlagen von rund 500 Millionen Euro auf dem Spiel. Anders als die Privatanleger sind die öffentlichen Investoren jedoch nicht durch die Einlagensicherung der Banken geschützt.

Der Deutschlandfunk kommentierte:

„Jeder Gemeinderat muss sich also fragen, warum die Verwaltung trotzdem zum Teil Millionen Euro als Festgeld bei der Bremer Greensill Bank deponiert hat, einer so kleinen Bank, dass deren Namen bis vor kurzem nur wenigen Finanzspezialisten geläufig gewesen sein dürfte. Eine Unvorsichtigkeit, die ihre Einwohner viel Geld kosten wird. Nur mit Glück werden sie einen Teil wiedersehen, wenn denn nach einer wahrscheinlichen Insolvenz der Bank noch etwas übrigbleiben sollte. Die Kämmerer müssen sich nun fragen lassen, warum sie ein solches Risiko eingegangen sind – für 0,3 Prozent Zins, die sie dafür einstrichen? Denn es ist ein veritables Risiko in Zeiten, in denen man für Einlagen in Millionenhöhe bei seriösen Banken auf jeden Fall Negativzinsen zahlen muss.“ (Deutschlandfunk vom 13. März 2021)

Kritiker*innen sehen in den Schattenbanken, die unter dem Radar der Aufsichtsbehörden agieren, das eigentliche Großrisko des Finanzsystems. Deshalb wird nach dem Fall Wirecard einmal mehr die Finanzaufsicht in Deutschland attackiert (vgl. u. a. die Pressemitteilung der Bürgerbewegung Finanzwende e. V. vom 16. März 2021).

* „Schattenbanken“ gewannen seit Ausbruch der Finanzkrise 2007 stetig an Bedeutung. Es handelt sich um Unternehmen, die ähnliche Geschäfte wie die klassischen Banken abwickeln, ohne aber den gleichen strengen Vorgaben und Kontrollen zu unterliegen. Dazu gehören Hedgefonds, Vermögensverwalter, Verbriefungsgesellschaften, zunehmend auch Technologiefirmen.

 

Quellen:

Jakob Blume/Andreas Kröner/Carsten Volkery: „Greensill-Rettung ist gescheitert – Aufstieg und Fall eines Fintech-Stars“, Handelsblatt Online vom 14. März 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/finanzskandal-greensill-rettung-ist-gescheitert-aufstieg-und-fall-eines-fintech-stars/27002790.html

„Greensill-Pleite trifft Arbeitnehmer und Steuerzahler“, ein Kommentar von Brigitte Scholtes im Deutschlandfunk vom 13. März 2021

https://www.deutschlandfunk.de/schattenbanken-im-finanzsystem-greensill-pleite-trifft.720.de.html?dram:article_id=494034

„Statement zur Einleitung des Insolvenzverfahrens bei der Greensill Bank“: Pressemitteilung von Finanzwende e. V. vom 16. März 2021

https://www.finanzwende.de/presse/statement-zur-einleitung-des-insolvenzverfahrens-bei-der-greensill-bank/

Detaillierte Informationen zum Fall Greensill finden sich hier:

Christian Kirchner: „Vom Untergang einer deutschen Bank. Das Greensill-Protokoll“, finanzszene.de, 18. März 2021

https://finanz-szene.de/banking/vom-untergang-einer-deutschen-bank-das-greensill-protokoll/

Finanz-Szene – Der Podcast. Zu Gast: Thomas Borgwerth (vom 7. März 2021)

https://finanz-szene-podcast.podigee.io/8-neue-episode

 

 

Gigantischer Anlagebetrug mit Immobilien

Die im niedersächsischen Langenhagen ansässige German Property Group (GPG), die früher unter den Namen Dolphin Trust und Dolphin Capital auftrat, versprach Anlegern in Großbritannien, Irland, Südkorea, Singapur, Israel und Russland ungewöhnlich hohe Renditen von 10 bis 15 Prozent für Anlagen auf zwei bis fünf Jahre. Das Geschäftsmodell bestand darin, denkmalgeschützte Gebäude in Deutschland zu sanieren und zu vermieten:

„Die im Jahr 2008 gegründete GPG war auf Geschäfte mit den Ersparnissen von Rentnern spezialisiert. Das funktionierte ungefähr so: Der Immobilienmarkt gilt vielen Menschen als sichere Anlagemöglichkeit. Im Ausland kommt noch hinzu, dass der Bundesrepublik das Vorurteil vorauseilt, besonders stabil und vertrauenswürdig zu sein. Die GPG schnürte daraus ein attraktiv erscheinendes Anlagekonzept. Den Kunden versprach die GPG: ‚Leihe uns für fünf Jahre einen Teil deiner Rente, dafür sanieren wir von uns erstandene Häuser in Deutschland und beteiligen dich am Gewinn der Vermietung.‘“ (junge Welt vom 13. März 2021)

In den ersten Jahren schienen die Geschäfte auch gut zu laufen: Die Anleger kassierten die versprochenen hohen Zinsen und einige Liegenschaften wurden tatsächlich entwickelt. Dann wurde aber klar, dass es viel zu wenige Projekte gab und in zahlreichen Immobilien nicht investiert wurde. Im 2018 fielen dann die Zahlungen an die Anleger aus. Im Juli 2020 erfolgte die Insolvenz des Unternehmens. Der entstandene Schaden wird auf über eine Milliarde Euro geschätzt, wobei der aktuelle Wert der zumeist nicht sanierten und zum Teil verfallenen Immobilien nur etwa 150 Millionen Euro beträgt. Offensichtlich handelt es sich bei der Betrugsmasche um ein Schneeballsystem. Um die Renditeversprechen der ersten Investoren einzulösen, wurden die Einlagen neuer Anleger genutzt, bis das System letztlich kollabierte (vgl. Handelsblatt vom 17. September 2020).

Da die GPG keine deutschen Kunden hatte und auch die Investoren im Ausland angeworben wurden, gibt es somit keine Kläger in Deutschland selbst, was die rechtliche Aufarbeitung erschwert. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft Hannover aber gegen den Geschäftsführer von GPG und weitere Akteuren wegen des Verdachts auf Anlagebetrug, Untreue und des illegalen Betreibens eines Bankengeschäfts (vgl. Business Insider vom 26. Januar 2021).

Etwa 2.000 britische Anleger schlossen sich zusammen und fordern nun von der Bundesregierung in einem Brief, als Opfer eines Anlagebetrugs entschädigt zu werden, sofern sie ihr Geld vom insolventen Unternehmen nicht mehr zurückbekommen. Politiker und Justiz hätten bislang nur spärlich reagiert, heißt es in dem Brief, aber langsam würde einigen deutschen Behörden klar werden, dass dieser massive Betrug sich zu einem der größten Finanzskandale Deutschlands entwickelt habe. Wobei auch die deutschen Aufsichtsbehörden völlig gescheitert seien. Der Rechtsstaat Deutschland sei offenbar mit wenigen Kniffen ausgehebelt worden. Um die Aufsichtsbehörde loszuwerden, habe das Unternehmen einfach nur im Ausland Geld einzusammeln brauchen (vgl. Business Insider vom 14. März 2021).

Die internationalen Investoren (darunter viele Kleinanleger) setzten also auf das attraktive Geschäftsmodell, das auf der Wohnungsnot und dem hohen Wert des Denkmalschutzes in Deutschland basierte – und ließen sich von den unseriös hohen Zinsversprechen locken. Jetzt erwarten viele der über den Tisch gezogenen Anleger, dass der deutsche Staat ihre fehlgeschlagene Renditeerwartung kompensiert.

 

Quellen:

 

Marta Orosz: „Milliardenbetrug German Property Group: 2.000 britische Rentner fordern in Brief Entschädigung von Kanzlerin Merkel“, Business Insider (Nachrichten-Webseite) vom 14. März 2021

https://www.businessinsider.de/wirtschaft/milliardenbetrug-german-property-group-2-000-betrogene-britische-rentner-fordern-in-einem-brief-entschaedigung-von-kanzlerin-merkel-a/

dies./Kayhan Özgenc: „Betrug in Milliardenhöhe: Chef der German Property Group räumt erstmals ein, Anleger getäuscht zu haben“, Business Insider (Nachrichten-Webseite) vom 26. Januar 2021

https://www.businessinsider.de/wirtschaft/betrug-in-milliardenhoehe-chef-von-immobilienfirma-raeumt-erstmals-ein-anleger-getaeuscht-zu-haben-a/

Christian Bunke: „Renten verzockt“, junge Welt Online vom 13. März 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/398351.finanzskandal-renten-verzockt.html

Volker Votsmeier: „Anlagebetrug-Ermittlungen: Neue Abgründe im Milliardenskandal mit Immobilien“, Handelsblatt vom 17. September 2020

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/german-property-group-anlagebetrug-ermittlungen-neue-abgruende-im-milliardenskandal-mit-immobilien/26195012.html

 

Politik auf privatrechtlicher Grundlage: Unternehmen regieren in „Innovationszonen“

Der demokratische Gouverneur des US-Bundesstaats Nevada hat nach Presseberichten einen Gesetzentwurf ausarbeiten lassen, der Firmen aus Zukunftsbranchen (Robotik, künstliche Intelligenz, Biometrie) erlauben soll, ganze Städte in sogenannten Innovationszonen neu aufzubauen. Dort sollen anstelle der öffentlichen Verwaltungen und Bürgermeister die investierenden Unternehmen staatliche Hoheitsbefugnisse übernehmen. Diese könnten dann etwa Steuern erheben und wären für Justiz, Polizei, Schulen, Gerichtsbarkeit, Arbeitsämter und Kindergärten zuständig.

Voraussetzung für die Schaffung einer solche Innovationszone ist, dass die Unternehmen mindestens 200 Quadratkilometer von noch nicht erschlossenem und unbewohntem Land außerhalb bestehender Städte kaufen. Die Interessenten müssen außerdem mindestens 250 Millionen US-Dollar besitzen und sind verpflichtet, innerhalb von zehn Jahren eine Milliarde Dollar in das Projekt zu investieren. Die Staatsgewalt würde dann nach einer gewissen Zeit von der bestehenden Gebietskörperschaft (County) auf die Unternehmen übergehen. Im Bundestaat Nevada würden so kleine staatliche Enklaven ohne jede demokratische Legitimation entstehen.

Begründet wird das Vorhaben damit, dass die bisherigen kommunalen Verwaltungen und die üblichen Anreizsysteme aus Steuererleichterungen und Subventionen es nicht mehr schaffen würden, wichtige Zukunftstechnologien nach Nevada zu holen. Deshalb sollen „alternative Regierungsformen“ das traditionelle Modell der Kommunalverwaltung ersetzen. So kaufte der Chef des Konzerns Blockchains, Jeffrey Berns, bereits im Jahr 2028 eine 270 große unbewohnte Landfläche im Westen Nevadas. Dort soll eine unternehmenseigene „Smart City“ entstehen, die vollständig auf Blockchain-Datenspeichertechnologie basiert.

Der Berliner Tagesspiegel kommentiert dies Vorhaben wie folgt:

„Zur Idee, vielmehr Ideologie, der Smart City gehört die Verschmelzung des Bürgers mit dem Kunden und Nutzer ausgeklügelter Dienstleistungen. Der Bürger, wie man ihn hierzulande noch kennt, ist in der Hightech-Stadt von morgen, in Berns‘ privater Kommune, eine Figur von gestern. Wenn seine Umgebung sensorüberwacht ist, dann sind bloß noch des Bürgers Gedanken frei; denn seine Bewegungen, seine Tätigkeiten, die Benutzung seiner Waschmaschine und seiner Klimaanlage bedienen den gigantischen Datenhunger einer hochintelligenten Stadtmaschine, die alles optimiert: Verkehrsmittelnutzung, Energieversorgung, Müllentsorgung, die polizeiliche Bestreifung des öffentlich-privaten Raums.“ (Tagesspiegel vom 14. Februar 2021)

Die Berichte aus den USA erinnern an Pläne des US-Ökonomen Paul Romer, der schon vor Jahren „mit Retortenstädten die Entwicklungshilfe revolutionieren“ wollte (Handelsblatt vom 12. Mai 2010). Unbesiedelte Gebiete in Entwicklungsländern sollten in staatenlose Sonderzonen, sogenannten „Charter Cities“, umgewandelt werden. Für Rechtssicherheit und Verwaltung hätten westliche Partnerländer sorgen sollen. Nach Romer wären dies ausreichende Bedingungen, um Investoren und Menschen in die „Charter Cities“ zu locken und eine ungeahnte Wachstumsdynamik auszulösen. Für den Vorschlag, westliche Partnerstaaten in den Sonderzonen über Gesetze und Regeln wachen zu lassen, wurde der Ökonom von politischen Gegnern als Neokolonialist bezeichnet.

Thomas Wagner beschrieb im Jahr 2010 Romers Grundidee in der jungen Welt:

„Ein finanzschwacher Staat des Südens stellt westlichen Staaten aus freien Stücken eine nicht besiedelte Fläche seines Territoriums für die Neugründung einer Stadt zur Verfügung und tritt die Souveränitätsrechte an diesem Gebiet für eine vertraglich festgelegte Zeitdauer an diese Staaten ab. Diese steuern Gelder und administrative Leistungen bei. Eine Entwicklungsbehörde wird vereinbart, die für die Gesetzgebung und die Einhaltung der Ordnung zuständig ist. Sobald auf diese Weise für Rechtssicherheit und den Schutz des Eigentums gesorgt ist, können Privatleute in Handelsniederlassungen und industrielle Produktionsstätten investieren und Arbeiter aus den Armutsregionen des Gastgeberstaates in die neue Stadt zuwandern. Die dort tätigen westlichen Unternehmen profitieren von den Niedriglöhnen in der Region. Viele Bewohner von Charter Cities sollen dort ihren ersten regulären Job finden können. Worauf sie freilich verzichten müssen, sind elementare politische Rechte und Freiheiten. ‚Demokratisch soll es in den Reißbrettmetropolen nicht zugehen‘, berichtete die Zeitschrift Capital, freilich ohne sich allzu sehr daran zu stören: ‚Die Bewohner dürfen nur mit den Füßen abstimmen. Und die Lokalpolitiker vor Ort sollen einen ähnlichen Spielraum erhalten, wie etwa Notenbanker ihn genießen.‘“ (junge Welt vom 27. April 2010)

Paul Romer erhielt im Jahr 2018 für seine „Innovationsforschung“ den Wirtschaftsnobelpreis. Sebastian Gerhardt kommentierte die Auszeichnung damals mit folgenden Worten:

„Was Paul Romer alles dem kapitalistischen Fortschritt zu opfern bereit ist, das ist angesichts der aktuellen Würdigung kein Thema. Deshalb eine kleine Erinnerung. (…) Paul Romer, Professor der Wirtschaftswissenschaften in New York, hatte sich vor Jahren mit seinen Modellen zur Entstehung von Innovationen im Kapitalismus einen großen Namen gemacht. Der technische Fortschritt sollte nicht mehr ‚wie Manna vom Himmel‘ fallen, sondern sich aus Investitionen in Humankapital und dem freien Markt ergeben. So entwickeln sich die Ideen, die die Welt besser machen. Leider musste der Professor feststellen, dass die wirkliche Welt seinen fortschrittlichen Ideen nicht ganz entspricht. Weitverbreitete Armut führte ihn aber nicht dazu, den Glauben an seine Modelle und an den Markt aufzugeben. Sondern er stellte fest, dass leider in der Welt zu wenig von der Ordnung herrscht, in der sich der Wettbewerb gut entwickeln kann. So entwarf er einen neuen Gesellschaftsvertrag, ein Modell einer gänzlich frei und privat entwickelten Stadt: die Charter City (…). Vor allem für die Dritte Welt, in der noch immer Kriminalität und Korruption herrschen, sollten sich ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. (…)

Wie die meisten Utopisten hatte auch Paul Romer ein großes Vorbild: die Stadt Hongkong. Aus ein paar Inseln mit Fischern wurde in den Jahren der britischen Herrschaft ein prosperierendes Zentrum, weil die Briten die richtige Verwaltung und gute Regeln eingeführt haben. Und auf die kommt es an, nicht auf die falschen Lehren von Selbstverwaltung und Demokratie. Sondern auf den Rechtsstaat, der alle gleich behandelt und ihnen damit ihre Chance gibt. Die Autorität des Rechts, die Achtung vor der Person und dem Eigentum des anderen, ist entscheidend. Investoren würden sich ansiedeln und Arbeitsplätze bieten, auf denen sich auch schlecht ausgebildete Personen in einfacher Arbeit bewähren, ihr Einkommen sichern und ihr Humankapital mehren können: Learning by doing. Und irgendwann, wenn sich alle eingewöhnt haben, darf auch gewählt werden.

Eine Eingewöhnungsphase ist aber nötig, immerhin soll die neue Idealstadt vor allem eines sein: neu. Ohne Rücksichten, ohne irgendwelche überkommenen Strukturen! Wie jede echte Utopie lebt auch die Charter City von der Illusion, man könnte einfach mal ganz von vorne anfangen und diesmal alles richtig machen. Nur eine Struktur soll selbstverständlich aus der Vergangenheit übernommen werden: das Eigentum. (…) Eine Arbeitslosenversicherung sieht der Professor nicht vor – in Anbetracht der guten Investitionsbedingungen sieht er hier wohl keine Schwierigkeiten. Wer trotz der tollen Möglichkeiten scheitert, hat ein privates Problem.“ (Sebastian Gerhardt, 9. Oktober 2018)

 

Quellen:

Daniel AJ Sokolov: „Nevada will lokale Regierungsmacht an Tech-Firmen abtreten – samt Gericht“, Heise Online, 8. Februar 2021 

https://www.heise.de/news/Nevada-will-lokale-Regierungsmacht-an-Tech-Firmen-abtreten-samt-Gericht-5048204.html

Claus Hulverscheidt: „Meine Firma, meine Stadt“, Süddeutsche Zeitung Online, 8. Februar 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/usa-technologie-libertarismus-1.5199920

Werner van Bebber: „Hätte die Blockchain-City ein Corona-Problem?“, Tagesspiegel Online, 14. Februar 2021 

https://www.tagesspiegel.de/politik/intelligente-staedte-haette-die-blockchain-city-ein-corona-problem/26914456.html

Johannes Pennekamp: „Der Stadtplaner als Welt-Retter“, Handelsblatt Online, 12. Mai 2010

https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/oekonomie/nachrichten/entwicklungsoekonomie-der-stadtplaner-als-welt-retter/v_detail_tab_print/3434790.html

Thomas Wagner: „Dreiste Landnahme“, junge Welt Online, 27. April 2010

https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/143514.dreiste-landnahme.html

Sebastian Gerhardt: „Nobelpreiswürdig? Mahagonny reloaded“, 9. Oktober 2018

https://planwirtschaft.works/2018/10/09/nobelpreiswurdig-mahagonny-reloaded/

Trotz Wirecard: Zahlungsdienstleister hoch im Kurs

Der insolvente Konzern Wirecard konnte über Jahre seine Investoren mit – zum Teil gefälschten – Erfolgszahlen beeindrucken. So legte der international aktive Zahlungsdienstleister im Jahr 2019 bei Umsatz und Gewinn rund 40 Prozent zu. In Spitzenzeiten war das Unternehmen fast 24 Milliarden Euro wert. 2018 ersetzte es die Commerzbank im DAX. Erst nach der Entlarvung des Managements als mutmaßliche Fälscherbande sahen sich Journalisten veranlasst, selbstkritische Fragen zu stellen: Warum wurde die unglaubliche Wachstumsgeschichte trotz vereinzelter kritischer Stimmen nicht frühzeitig hinterfragt? Hätten die vorgelegten Kennzahlen nicht mit Blick auf mögliche wirtschaftskriminelle Handlungen des Konzerns stutzig machen sollen?

Der Boom im milliardenschweren Online-Zahlungsverkehr geht trotz des Skandals um Wirecard munter weiter. Die Coronakrise beschleunigt dabei den Trend zu mehr bargeldlosen Zahlungen weltweit. Und potenzielle Investoren sind permanent auf der Suche nach lukrativen Anlagemöglichkeiten. So „pumpen“ die Investoren viele Millionen „in den nächsten Hoffnungsträger“, wie das Handelsblatt anmerkt (Handelsblatt Online, 8. September 2020) Wer sich aber die Erfolgszahlen der Marktführer in der hart umkämpften Payment-Branche etwas genauer anschaut, wird an die Wachstumsstory von Wirecard erinnert.

Zu den besonders schnell expandierenden Zahlungsdienstleistern gehört der weltweit agierende niederländische Konzern Adyen, gegründet 2006, seit Sommer 2018 an der Börse notiert. Seitdem scheint dessen Aktienkurs regelrecht zu explodieren. Der Börsenwert beträgt aktuell mehr als 65 Milliarden Euro und liegt damit höher als die Marktkapitalisierung mancher DAX-Werte. Das sogenannte Transaktionsvolumen stieg im vergangenen Jahr um fast 30 Prozent auf 300 Milliarden Euro. In den kommenden Jahren will der Konzern seinen Umsatz durchschnittlich um mindestens 25 Prozent steigern. (Handelsblatt Online vom 10. und 22. Februar 2021) Zahlen, die von den offiziellen Wirecard-Kennziffern nicht um Welten entfernt liegen.

Im Interview mit dem Handelsblatt verneint Adyen-Vorstandschef Pieter van der Does jedoch die Frage, ob seine Kunden wegen des Wirecard-Skandals vermehrt nachfragen, wie Adyen genau arbeitet. „Die meisten, die mit unserer Branche zu tun haben, betrachten es wie den Enron- oder den Parmalat-Skandal – als Problem, das alle zehn bis 15 Jahre in der Finanzwelt auftritt, aber nicht als systemisches Problem der Zahlungsdienstleister.“ (Handelsblatt vom 21. September 2020)

Die Betrugsmasche des deutschen Zahlungsdienstleisters führte tatsächlich zu keinem Dämpfer für das globale Geschäftsmodell der elektronischen Zahlungsabwicklung. Denn die Geschäftszahlen von Adyen und Co* belegen, dass sich das anlagesuchende Kapital nicht von einzelnen Bilanzskandalen und Firmenpleiten abschrecken lässt. Gespannt darf deshalb beobachtet werden, ob Investigativjournalisten oder auf fallende Kurse setzende Shortseller auch nach Wirecard den hart umkämpften Payment-Markt weiter unter die Lupe nehmen – und einen weiteren Skandal offenlegen.

*Andere derzeit aufstrebende Zahlungsdienstleiter sind Klarna (Schweden), Stripe (USA), Paypal (USA) oder Checkout (Großbritannien). Es handelt sich bei ihnen um Kandidaten für baldige Börsengänge. Teilweise wird eine rasante Steigerung der Marktkapitalisierungen erwartet. So wird laut Handelsblatt Stripe aktuell mit 36 Milliarden Dollar bewertet, könnte aber bald 100 Milliarden Dollar wert sein. (Handelsblatt vom 22. Februar 2021)

Quellen:

Elisabeth Atzler/Katharina Schneider: „Investoren stürzen sich auf Zahlungsdienstleister“, Handelsblatt Online vom 8. September 2020

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/finanz-start-ups-investoren-stuerzen-sich-auf-zahlungsdienstleister/26164590.html

Elisabeth Atzler/Felix Holtermann: „Adyen-Chef zur Pleite des Konkurrenten: ‚Der Wirecard-Untergang ist ein Desaster für die Branche‘“, Handelblatt Online vom 21. September 2019

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/pieter-van-der-does-im-interview-adyen-chef-zur-pleite-des-konkurrenten-der-wirecard-untergang-ist-ein-desaster-fuer-die-branche/26197882.html

Elisabeth Atzler: „Profiteur der Coronakrise: Hoher Gewinnsprung bei Adyen“, Handelsblatt Online vom 10. Februar 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/zahlungsabwickler-profiteur-der-coronakrise-hoher-gewinnsprung-bei-adyen/26900752.html

dies., „Das Milliarden-Fintech Stripe heuert früheren britischen Notenbankchef an“, Handelsblatt Online vom 22. Februar 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/finanz-start-up-das-milliarden-fintech-stripe-heuert-frueheren-britischen-notenbankchef-an/26939522.html

 

Entschärftes Lieferkettengesetz. Ein Medienbericht

Nach langen Auseinandersetzungen einigten sich am 12. Februar 2021 Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) auf einen Kompromiss zum Lieferkettengesetz. Danach sollen ab 2023 deutsche Unternehmen mit mehr als 3000 Mitarbeiter*innen zur Einhaltung von Menschenrechten bei ihren Lieferanten im Ausland verpflichtet werden. Ab 2024 gelten die Regelungen auch für Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten. Durch die Begrenzung soll laut Minister Heil die Wettbewerbsstellung der deutschen mittelständischen Wirtschaft geschützt werden. Geplant ist, den vorliegenden Entwurf bis Mitte März im Kabinett und als Gesetz noch in dieser Legislaturperiode im Bundestag zu beschließen.

Die Bundesregierung hatte sich bereits im Koalitionsvertrag von 2018 verpflichtet, ein Gesetz mit Sanktionen zu verabschieden, sofern nicht eine freiwillige Selbstverpflichtung der deutschen Großunternehmen zur Einhaltung entsprechender Regeln bis zum Jahr 2020 greifen würde. Im Oktober des vergangenen Jahres ergab der Abschlussbericht eines Monitoringprozesses, dass maximal 17 Prozent der befragten Unternehmen freiwillig die Anforderungen erfüllt hatten. Das von der Bundesregierung gesetzte Ziel von 50 Prozent wurde damit weit verfehlt und eine verpflichtende Regelung für die Unternehmen notwendig.

Einige Auszüge aus Pressekommentaren und Stellungnahmen von NGOs zum aktuellen Gesetzesentwurf:

Pepe Egger: „Minimalstandards? Zu teuer!“, der Freitag vom 25. Februar 2021:

„Denn als die Bundesregierung ihrer eigenen Vorgabe folgte und nach dem Scheitern der freiwilligen Selbstkontrolle ein Gesetz zur Sorgfaltspflicht beschließen wollte, begannen die Branchenlobbyisten zu kalkulieren. Die Wirtschaftsvereinigung Metalle will errechnet haben, dass derlei Pflichten jeden Mittelständler mit zusätzlich rund 60.000 Euro jährlich ‚belasten‘. Größere Firmen müssten mit Extrakosten von einer halben Million Euro kalkulieren. Pro Jahr! Man muss der Wirtschaftsvereinigung Metalle dankbar sein. So klar hätte man das selbst nicht sagen können: Absolute Mindeststandards in Lieferketten sind einfach zu teuer. Zusätzliche Kosten in der Höhe des Jahresgehalts sage und schreibe eines zusätzlichen Mitarbeiters sind für Mittelständler doch offensichtlich unzumutbar. Für DAX-Unternehmen wären es rund zehn Prozent des durchschnittlichen Vorstandsvorsitzenden-Gehalts. Eine quasi unmenschliche Belastung! (…) Müller und Heil hatten verlangt, dass Unternehmen auch dafür geradestehen, was in ihren Lieferketten passiert, sprich: zivilrechtlich dafür haften. Doch ‚die Wirtschaft‘ machte da nicht mit: Unternehmen sind nur für ihre direkten Zulieferer mitverantwortlich, haften müssen sie auch nicht. Stattdessen drohen nur mögliche Bußgelder, wenn sie ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen.“

https://www.freitag.de/autoren/pep/minimalstandards-zu-teuer

Thomas Seibert: „Lockdown hier und Elend dort – Textilproduktion, Corona und das Lieferkettengesetz“, express: Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 2/2021:

„Politisch zählt, dass das Gesetz unumgänglich wurde, weil es gesellschaftlich mit Mehrheit gewollt wird – ein Erfolg zuletzt der globalen Kampagnen um die großen Fabrikkatastrophen der Jahre 2021/2013. Soll das zum Tragen kommen, sind jetzt zwei Sachen durchzukämpfen. Die erste erklärt sich aus der geschilderten Situation in Südasien, die im Grunde den ganzen globalen Süden trifft: kapitalistische Globalisierung im Anspruch unters Menschenrecht zu stellen, heißt heute, einen als partikularen (Arbeits-)Kampf historisch verlorenen Kampf perspektivisch zu einem universellen Kampf um Form und Sache selbst der Globalisierung zu machen. Seine Bewährung findet er mit seinen Subjekten, an deren Zustimmung er appelliert. Denn ein Menschenrechtskampf gegen kapitalistische Ausbeutung wäre nicht nur die Sache derer, die ihr unmittelbar unterliegen, es wäre mehr als ‚nur‘ ein Klassenkampf und schon gar kein Arbeitskampf mehr. Er wäre nicht nur in den Fabriken, sondern entlang der ganzen Herstellungs- und Lieferketten zu führen, von denen, die da beliefert werden, und denen, die das Ausgelieferte herstellen. Wer ihm beitritt, folgt keinem unmittelbaren ‚Klasseninteresse‘, sondern gibt eine politische Antwort auf die Frage, in welcher Welt wir alle morgen eigentlich leben wollen.“

https://express-afp.info/der-express-2-2021-ist-erschienen

Martin Ling: „Kein scharfes Schwert“, ND Online vom 12. Februar 2021:

„Mit dem Lieferkettengesetz werden erstmals überhaupt deutsche Unternehmen in Verantwortung genommen für das, was ihre Zulieferer im Ausland veranstalten. Bisher konnte es ihnen egal sein, wenn bei ihren Vertragspartnern soziale und ökologische Standards mit Füßen getreten wurden. Nun sollen vorerst nur die großen Unternehmen per Gesetz verpflichtet werden, auch bei ihren ausländischen Zulieferern auf die Einhaltung von menschenrechtlichen, sozialen und Umweltstandards zu achten. Das ist ein Fortschritt. Denn an freiwillige Selbstverpflichtungen haben sich die wenigsten Unternehmen gehalten – der Profit geht vor! Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat für die Entschärfung hart gekämpft: Die Bundesregierung verzichtet auf eine zivilrechtliche Haftung. So haben direkt Geschädigte keine Möglichkeit, Firmen hierzulande gerichtlich zu belangen. Das scharfe Schwert wurde weggesteckt.“

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1148259.lieferkettengesetz-kein-scharfes-schwert.html?sstr=lieferkettengesetz

„Fauler Kompromiss bei Lieferkettengesetz“, junge Welt Online vom 13. Februar 2021:

„Beifall für die Novelle kam von der Kapitalseite: Auf den ersten Blick sei die regierungsinterne Einigung zum Lieferkettengesetz ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu den bisherigen, weltfremden Vorstellungen aus den Arbeits- und Entwicklungsministerien, so Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander in einer Mitteilung am Freitag. Die Partei Die Linke dagegen äußerte sich kritisch. Der Kompromiss sei eine Absage an den wirksamen Schutz der Menschenrechte. Ohne eine Unternehmenshaftung sei das Gesetz ein zahnloser Tiger, erklärte Michel Brandt, Obmann für die Linksfraktion im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, in einem Pressestatement gleichentags. ‚Immer wieder sehen deutsche Unternehmen bei Menschenrechtsverstößen weg und profitieren sogar davon. Sie müssen deshalb von Betroffenen zur Rechenschaft gezogen werden können, sonst bleibt alles wie es ist‘, sagte Brandt weiter. Franziska Humbert von der Entwicklungsorganisation Oxfam bezeichnete den Kompromiss als ‚Lightversion‘ eines wirksamen Gesetzes. Sie beklagte: ‚Dass deutsche Wirtschaftsverbände außerdem durchgesetzt haben, dass die Regelungen nur für Unternehmen ab 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelten, bedeutet, dass die Mehrzahl der deutschen Unternehmen einfach weitermachen kann wie bisher.‘“

https://www.jungewelt.de/artikel/396361.unternehmerlobby-fauler-kompromiss-bei-lieferkettengesetz.html?sstr=Lieferkettengesetz

Hannes Koch: „Menschenrechte achten“, Taz Online vom 12. Februar 2021:

„Laut Heil müssen hiesige Unternehmen künftig ihre Lieferkette untersuchen und dies in Risikoberichten dokumentieren. Dabei gibt es jedoch Abstufungen. Die höchsten Standards gelten im eigenen Betrieb. Dann folgen etwas abgeschwächt die direkten Zulieferer. Um die Zustände bei deren Vorlieferanten müssen sich die hiesigen Firmen nur kümmern, wenn es einen Anlass zur Sorge gibt. (…) Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) in Eschborn bei Frankfurt/Main, eine nachgeordnete Behörde des Wirtschaftsministeriums, wird die Dokumente der Firmen überprüfen und bei Bedarf Kontrollen im In- und Ausland durchführen. Halten Unternehmen die Regeln nicht ein, drohen ihnen ‚Zwangs- und Bußgelder‘, so Müller. Bei deutlichen Verstößen können Betriebe zur Strafe sogar für drei Jahre von öffentlichen Ausschreibungen in Deutschland ausgeschlossen werden.

Während Müller und Heil den Arbeiter:innen der Zulieferfabriken ursprünglich den Gang zu deutschen Gerichten erleichtern wollten, hat Altmaier das verhindert. Eine verschärfte zivilrechtliche Haftung gibt es im Gesetzentwurf nicht. Allerdings sollen Gewerkschaften, Bürgerrechts- und Entwicklungsorganisationen künftig die Möglichkeit bekommen, im Namen von ausländischen Geschädigten vor hiesigen Gerichten zu klagen. Diese Drohung dürfte Firmen anspornen, das Gesetz einzuhalten.“

https://taz.de/Regierung-vereinbart-Lieferkettengesetz/!5748604/

„Koalition einigt sich auf Lieferkettengesetz“, Der Spiegel Online vom 12. Februar 2021:

„Unternehmen müssen künftig bei Verstößen gegen die Sorgfaltspflicht nur mit einem Bußgeld rechnen. Sie sollen dann auch bis zu drei Jahre von öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen werden. Es soll jedoch keine zivilrechtliche Haftung der Unternehmen geben – das hatte Altmaier abgelehnt. Wirtschaftsverbände hatten argumentiert, eine zivilrechtliche Haftung von Unternehmen für unabhängige Geschäftspartner im Ausland, die dort eigenen gesetzlichen Regelungen unterliegen, sei realitätsfern. In diesem Falle drohe, dass sich deutsche Firmen wegen zu hoher Risiken aus vielen Ländern der Welt zurückziehen.“

https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/koalition-einigt-sich-auf-lieferkettengesetz-a-4312009c-0875-4d74-90ca-f26a51711916

„Bundesregierung einigt sich auf abgeschwächtes Lieferkettengesetz“, Pressestatement der „Initiative Lieferkettengesetz“ vom 12. Februar 2021:

„Ein wirkungsvolleres Gesetz wäre möglich gewesen. Doch offenbar sind der CDU ihre guten Beziehungen zu den Wirtschaftsverbänden wichtiger als der effektive Schutz von Menschenrechten und Umwelt. Nur so ist zu erklären, dass das Gesetz zunächst nur für so wenige Unternehmen gilt. Durch die fehlende zivilrechtliche Haftung wird Opfern von schweren Menschenrechtsverletzungen ein verbesserter Rechtsschutz vor deutschen Gerichten verwehrt. Und auch die Pflicht zur Einhaltung von Umweltstandards berücksichtigt das Gesetz nur marginal – hier gibt es dringenden Nachbesserungsbedarf.

Umso wichtiger ist es, dass in Zukunft eine Behörde prüfen wird, ob sich Unternehmen an ihre Sorgfaltspflichten halten. Verstößt ein Unternehmen gegen seine Pflichten, kann die Behörde Bußgelder verhängen und das Unternehmen von öffentlichen Aufträgen ausschließen. Das ist ein großer Fortschritt zu den bisherigen freiwilligen Ansätzen.

Die Bundestagsabgeordneten fordern wir nun dazu auf, sicherzustellen, dass die Sorgfaltspflichten von Unternehmen den UN-Leitprinzipien entsprechen. Ein Lieferkettengesetz muss auch Umweltstandards abdecken und eine zivilrechtliche Haftungsregelung enthalten, um die Schadensersatzansprüche von Betroffenen zu stärken.“

https://lieferkettengesetz.de/presse/

Lena Hollender (Greenpeace), „Ein Lieferkettengesetzchen“, 16. Februar 2021:

„In die Diskussion um ein deutsches Lieferkettengesetz ist Bewegung gekommen. (…) Die Politik feiert sich für den Erfolg. Dabei beinhaltet der Kompromiss keine zivilrechtliche Haftungsregelung, wenn Unternehmen gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen. Auch wird nicht die gesamte Lieferkette abgedeckt. (…)

Sowohl Verletzungen von Menschenrechten und Arbeitsstandards, als auch Umweltschäden geschehen häufig in Produktionsländern außerhalb der EU. Damit finden sie überwiegend am Anfang von globalen Lieferketten statt. (…) ‚Ein Lieferkettengesetz ist deshalb nur dann wirksam, wenn es verbindliche Haftungsregeln für die ganze Länge der Wertschöpfungskette beinhaltet‘, sagt Viola Wohlgemuth, Expertin für Konsum und Ressourcenschutz bei Greenpeace. ‚Es muss schlicht gewährleisten: Wer Umweltschutz und Menschenrechte aus Profitgier missachtet, wird künftig zur Verantwortung gezogen, egal wo auf der Welt er sie begeht‘, mahnt sie. (…) Nun soll das Gesetz noch vor der Bundestagswahl in diesem Jahr verabschiedet werden. Nach einem monatelangen Streit hatte bis zuletzt vor allem der Wirtschaftsminister eine Einigung blockiert. Jetzt zetert der wirtschaftspolitische Flügel der CDU/CSU gegen das geplante Gesetz. (…)

Damit sich die deutsche Wirtschaft auf die Vorgaben einstellen kann, soll das Gesetz ab 2023 inkrafttreten. Betroffen sind zunächst allerdings nur Firmen mit mehr als 3000 Mitarbeitenden, erst ein Jahr später soll das Gesetz dann auch für Firmen gelten, für die mehr als 1000 Menschen arbeiten. Auch diese ‚Verschärfung‘ klammert jedoch den gesamten Mittelstand, die größte Gruppe von Firmen in Deutschland, aus.“

https://www.greenpeace.de/themen/umwelt-gesellschaft/wirtschaft/ein-lieferkettengesetzchen

Nicole Bastian/Dana Heide: „Joe Kaeser fordert gemeinsame europäische Antwort auf Chinas Wirtschaftsstrategie“, Interview mit dem ehemaligen Siemens-Chef Joe Kaeser, Handelsblatt Online vom 26. Februar 2021

Politische Aufgaben sollten der Politik überlassen werden. Da gehören sie hin. Wir als Unternehmen haben aber die Verpflichtung, dass in unserem Wirkungsbereich Menschenrechtsstandards, wie etwa das Verbot von Zwangs- oder Kinderarbeit, eingehalten werden. Ich begrüße daher auch ausdrücklich das Lieferkettengesetz. Ich finde es richtig, dass ein Unternehmen seine Lieferanten überprüft, das kann man von ihm verlangen – übrigens auch von kleineren. Das muss aber praktikabel bleiben und kann sich nur auf die unmittelbaren Zulieferer, mit denen wir als Kunde im direkten Kontakt stehen, beschränken. Bürokratie haben wir schon genug.“ (Joe Kaeser)

https://www.handelsblatt.com/politik/international/interview-joe-kaeser-fordert-gemeinsame-europaeische-antwort-auf-chinas-wirtschaftsstrategie-/26952212.html

Frank Specht: „Das Lieferkettengesetz wird die Erwartungen nicht erfüllen“, Handelsblatt Online vom 14. Februar 2021:

„Es sei ein Gesetz ‚mit Zähnen‘ geworden, lobt Arbeitsminister Heil. Man bringe die Menschenrechte voran, ohne die Wirtschaft zu sehr mit Bürokratie zu belasten, lobt sich Wirtschaftsminister Altmaier selbst. Beide irren. An der Situation der Teepflückerin im indischen Assam, die Entwicklungsminister Müller als Beispiel nannte, an den Zuständen in Kobaltminen im Kongo oder Textilfabriken in Bangladesch wird das Gesetz wenig ändern. Zu lang sind die Lieferketten bis hin zum Rohstoffproduzenten, zu undurchsichtig die Verästelungen der globalen Wirtschaft, als dass deutsche Unternehmen sie wirklich bis ins letzte Glied durchschauen könnten. Und die Klage des afrikanischen Kobaltschürfers vor deutschen Gerichten wird nur unwesentlich leichter dadurch, dass ihn jetzt NGOs dabei unterstützen dürfen. Statt Zähnen hat das Gesetz allenfalls Zähnchen. Und die Bürokratie? Die vom Gesetz betroffenen Konzerne werden mit neuen Berichtspflichten belegt, obwohl sie ihre direkten Zulieferer ohnehin im Blick haben. Schon weil Investoren Wert auf nachhaltige Investments legen und die Firmen es sich gar nicht leisten können, in den Ruch von Menschenrechtsverletzungen zu kommen. Trotzdem müssen sie ab 2023 viel Papier mit Texten bedrucken, die am Ende niemand liest.

Die Grundproblematik des Gesetzes bleibt: Wie sollen Unternehmen hinbekommen, was Staaten mit Menschenrechtspolitik, Sanktionen und Importregularien nicht schaffen? Während die Politik den Rückzug von Firmen aus kritischen Regionen wünscht, stützt sie mit Entwicklungshilfe korrupte Regime, die bei Menschenrechtsverletzungen beide Augen zudrücken oder sie selbst zu verantworten haben.“

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-das-lieferkettengesetz-wird-die-erwartungen-nicht-erfuellen/26913630.html

Manfred Schäfers: „Eine Kette für den Handel“, FAZ Online vom 12, Februar 2021:

„Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig. Die deutsche Wirtschaft leidet enorm unter der Pandemie. Auch wenn die Industrie noch einigermaßen gut läuft, heißt das nicht, dass keine Gefahren existieren. In dieser Situation ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen, bleibt riskant. Vom Jahr 2023 an sollen Unternehmen mit mehr als 3000 Mitarbeitern in Deutschland in die neue Pflicht genommen werden, ein Jahr später sinkt die Schwelle schon auf 1000.

Anzuerkennen (ist), dass die direkten Folgen für die Unternehmen im Vergleich zu den ursprünglichen Plänen von Müller und Heil etwas begrenzt wurden. Der Entwurf sieht keine neue privatrechtliche Haftung vor. Die neuen Pflichten betreffen nur Menschenrechte, nicht Umweltstandards. Konkrete Verantwortung erhalten die Unternehmen allein für ihre direkten Zulieferer, bei den mittelbaren müssen sie aber aktiv werden, wenn sie von Missständen erfahren.

Aus Sicht der Wirtschaft hätte es schlimmer kommen können. Aber was nicht ist, kann noch werden. Der Ausbau der Bürokratie ist schon sicher. Unklar ist, ob die neuen Normen den Menschen im Süden helfen. Die Armut in der Welt lässt sich nicht mit einem deutschen Gesetz abschaffen. Wer Entwicklung will, braucht Handel. Ob da das neue Gesetz hilft? Zweifel sind mehr als berechtigt.“

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/sorgfaltspflichtengesetz-armut-abschaffen-in-corona-pandemie-17194695.html

Daniel Goffart: „Firmen haften nur für die erste Reihe der Lieferanten“, WirtschaftsWoche Online vom 15. Februar 2021:

„Wirtschaftsminister Altmaier hatte hingegen immer vor neuen Belastungen für die Unternehmen gewarnt, allerdings könne er jetzt mit dem Kompromiss leben, sagte der CDU-Politiker in Berlin. Eine zivile Haftung für die Wirtschaft gebe es nicht. Damit hat Altmaier einen aus seiner Sicht wichtigen Punkt umgesetzt, denn die Wirtschaftsverbände hatten immer wieder vor Wettbewerbsnachteilen auf globalen Märkten gewarnt. (…)

Dennoch regte sich Kritik in den Reihen der Unionsfraktion im Bundestag. Der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/CSU, Joachim Pfeiffer, sagte der WirtschaftsWoche, dass er ‚den Sinn des Vorhabens nicht erkennen‘ könne. ‚Deutsche Unternehmen achten wie kaum andere in der Welt auf die Einhaltung von Arbeitsschutz und menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten. Das ist weltweit bekannt und anerkannt. Sie sind deshalb in aller Welt gern gesehen und hochwillkommen‘, so der Wirtschaftsexperte. (…) Statt zu entlasten, schaffen wir neue Belastungen für die Unternehmen, die ganz sicher Zeit brauchen werden, sich von der aktuellen Coronakrise zu erholen‘, kritisierte Pfeiffer. (…)

Der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der deutschen Textil- und Modeindustrie, Uwe Mazura, kündigte eine ‚kritische Begleitung‘ der Beratungen und Gesetzesarbeit an. ‚Bemerkenswert ist, wie viele Kapazitäten die Bundesregierung für ein neues Gesetz hat, während unsere Unternehmen seit Monaten auf Coronahilfe warten und ihre werthaltige Mode in den geschlossenen Geschäften nicht verkauft werden darf‘.

Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander sagte, mit der Einigung sei ‚die Grenze des Machbaren für die Unternehmen absolut erreicht, vielleicht teilweise auch etwas überschritten‘. Allerdings habe es Wirtschaftsminister Altmaier geschafft, ‚weltfremde Vorstellungen‘ aus den anderen Ressorts weg zu verhandeln. Wichtig sei, dass Haftungsregeln verhindert wurden und dass die betroffenen Unternehmen nur für das erste Glied ihrer Lieferkette direkt verantwortlich seien. (…)

Skepsis und Kritik äußert auch die Gesellschafterin des Klebstoffspezialisten Delo, Sabine Herold: ‚Ich halte es weiter für grundfalsch, Unternehmen die Aufgabe aufzubürden, bei der die Politik gescheitert ist – Menschenrechte in Drittstaaten durchzusetzen‘, sagte sie der WirtschaftsWoche. Natürlich gäbe es Missstände in einigen Bereichen. Aber deshalb alle Unternehmen mit einer hochgradig bürokratischen Regelung zu überziehen anstatt ausschließlich problematische Felder zu regulieren, sei ‚weit über das Ziel geschossen und schadet unnötig am Ende allen Verbrauchern durch Mehrkosten ohne Zugewinn‘.“

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/lieferkettengesetz-firmen-haften-nur-fuer-die-erste-reihe-der-lieferanten/26910770.html

Aktionärssubvention auf Staatskosten

Nach einer von der NGO Facing Finance geförderten aktuellen Studie ließen sich im Jahr 2020 viele börsennotierte Großunternehmen die Gehälter ihrer Mitarbeiter*innen vom Staat bezahlen, schütteten aber zugleich Milliardenbeträge in Form von Dividenden an ihre Aktionäre aus.

Im letzten Jahr wurden insgesamt geschätzt 14,3 Milliarden Euro im Zusammenhang mit dem Kurzarbeitergeld ausgezahlt. Zwölf der 30 Dax-Konzerne nahmen im Jahr 2020 Kurzarbeit in Anspruch; elf von ihnen schütteten dennoch weiterhin Dividenden aus. 13,7 Milliarden Euro der von Dax-Konzernen ausgezahlten Dividenden fallen auf Unternehmen, die vom Staat Kurzarbeitergeld erhalten haben und weiterhin erhalten. Dabei handele es sich laut Studie aber nur um die „Spitze des Eisbergs“. Denn auch außerhalb des Dax gebe es zahlreiche weitere Fälle – in Deutschland seien im Jahr 2019 insgesamt 470 Unternehmen an der Börse notiert gewesen. Der tatsächlich entstandene Schaden wäre damit noch deutlich höher anzusetzen, als bei den genannten 13,7 Milliarden.

Die Studie fasst zusammen:

Die in dieser Publikation dargestellten Zusammenhänge machen eins deutlich: im Zuge der Corona-Pandemie haben als Aktiengesellschaften aufgestellte Großunternehmen staatliche Unterstützung in Finanzmarktrendite verwandelt. (…) Durch die Auszahlung der Dividenden von Unternehmen in Kurzarbeit wird der Sinn des Kurzarbeiter:innengeldes, die Unterstützung der Realwirtschaft, völlig ad absurdum geführt: das Geld des deutschen Staats fließt als Rendite direkt in die Finanzwirtschaft.“

Quellen:

Robin Jaspert: Dividenden und Kurzarbeit in Deutschland. Der Staat springt ein – Shareholder profitieren?, Februar 2021 (gefördert von: Facing Finance)

https://www.facing-finance.org/files/2021/02/Report_Dividenden_und_Kurzarbeit_in_Deutschland_202102.pdf

Steffen Stierle: „Asozial durch die Krise“, junge Welt vom 22. Februar 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/396971.abzockerei-asozial-durch-die-krise.html