Das Kapital strebt nach eigenem Recht: Die inhärente Kriminalitätsaffinität
Auszug aus dem Buch „Business Crime – Skandale mit System. Über Konzernverbrechen, kriminelle Ökonomie und halbierte Demokratie“ von Herbert Storn, das im August 2021 im Büchner-Verlag Marburg erscheint.
Hans See (Ehrenvorsitzender von Business Crime Control) weist explizit auf die inhärente Kriminalitätsaffinität der kapitalistischen Wirtschaft hin.
In seinen Buchpublikationen (1) und anderen Veröffentlichungen geht er sogar so weit, „hinter den … Weltproblemen unserer Epoche – und zwar als deren Hauptursache – die Wirtschaftsverbrechen“ zu sehen. Dies ist ein ebenso gewichtiger wie grundsätzlicher Vorwurf. Und es geht im Kern um die Frage, inwieweit sich das Kapital in Gestalt seiner multinationalen weltweit operierenden Konzerne an bestehende Rechtsnormen zu halten gewillt ist, geschriebene wie ungeschriebene. Denn unbestritten sind soziale Gerechtigkeit, der Schutz von Mensch und Umwelt die normativen Vorgaben unserer Gesellschaft. Das durch die kapitalistische Konkurrenz bedingte Ranking von Profitraten als Grundlage für Investitionsentscheidungen ist aber eine völlig andere normative Vorgabe.
Dies zeigte sich ja gerade an den Abgasbetrugsstrategien, der Ver- und Behinderung des Verbots von gesundheitsschädlichen Pestiziden, am Beispiel der Lebensmittelfälschungen, an den verbotenen Preiskartellen, der Geldwäsche, bei den Steuerbetrugsstrategien u.v.m. Sie alle werden in der Regel als „Skandale“ bezeichnet und damit als Ausnahmeerscheinungen.
Die Frage stellt sich, warum dies mit solcher Hartnäckigkeit und Ignoranz von den vorherrschenden Meinungsmachern betrieben wird. Denn mindestens Zweifel am isolierten Charakter solcher „Skandale“ müssten inzwischen am Verstand nagen. Und das tun sie vermutlich auch mehr, als es in der veröffentlichten Debatte zum Vorschein kommt.
Aber für jeden Zweifel gibt es bekanntlich psychologische Rationalisierungsstrategien, um die Zweifel zu besänftigen oder gar beiseite zu räumen:
- Die eine ist, dass man die inhärente Kriminalitätsaffinität der Wirtschaft im Verhältnis zu den Vorteilen für vernachlässigbar hält und deshalb „Schonbegriffe“ benutzt. Die Vorteile überwiegen die Nachteile, weshalb erstere herausgestellt,letztere aber in den Hintergrund gedrängt werden.
- Die zweite ist, dass man bestimmte kriminelle Verhaltensweisen subjektiv gar nicht für kriminell hält, dies aber nicht offen zugeben würde. Dies zeigt sich immer wieder in Bezug auf die Behandlung von Steueroasen, Steuervermeidung oder Redewendungen wie: „Nur Dumme zahlen Steuern.“
- Die dritte Möglichkeit ist, dass man sich der inhärenten Kriminalitätsaffinität sehr wohl bewusst ist, aber alles tut, sie zu leugnen, weil man von den Vorteilen überproportional profitiert und nicht möchte, dass sich dies ändert. Dieser Standpunkt kann von Vorstandsmitgliedern eines Dax-Konzerns mit Extra-Boni ebenso eingenommen werden wie von einem Facharbeiter oder einer Fachfrau, der oder die um den Arbeitsplatz fürchtet. Die letzteren haben allerdings nicht annähernd die Macht und Möglichkeit für eine vernünftige Lösung.
Diesen Erklärungsansätzen soll im Folgenden nachgegangen werden.
Tatsächlich ist die Ambivalenz des Kapitals nicht neu. „Wer über die Rolle der kapitalistischen Wirtschaftsweise bei der Entstehung der modernen Demokratie, des Liberalismus, der Arbeiterbewegung, des Sozialstaatsprinzips nachdenkt, gerät unversehens hinein in die Dialektik der Verbrechen des Kapitals. (…) Marx und Engels haben im ‚Kommunistischen Manifest‘ auf diesen Aspekt hingewiesen und ihre Bewunderung für die revolutionäre Seite des Kapitals nicht verborgen.“ Denn „die Befreiung der Menschen von überlebten moralischen Fesseln und ständischen Sozialstrukturen, der wissenschaftlich-technische und ökonomische Fortschritt, Wirtschaftswachstum und Massenwohlstand ließen noch die schlimmsten Verbrechen als unversiegbare Quelle der wirtschaftlichen Produktivität und als ökonomische Voraussetzung der individuellen Freiheit erscheinen.“ (2) Jedenfalls für einen großen Teil der Menschen in den industrialisierten Staaten, muss man wohl einschränkend hinzufügen.
Inzwischen befinden wir uns aber nicht mehr im 19. Jahrhundert. Die Schäden der unaufhörlichen Kapitalakkumulation (umgangssprachlich der „Wachstumsspirale“) haben sich so vergrößert, dass die Zeiger in der öffentlichen Debatte meist auf „fünf vor Zwölf“ stehen. Und bis auf wenige Leugner (darunter allerdings auch der ehemalige Präsident des mächtigsten Staates dieser Erde – insofern noch eher dem 19. Jahrhundert verhaftet) haben sich die Einsichten, mindestens die wissenschaftlichen, verschoben.
„Eine moderne Sozialwissenschaft, die diese dialektische Logik der Produktivkraft von Verbrechen unter dem Aspekt der sozialen und demokratischen Entwicklung einer Weltgesellschaft zu Ende dächte, könnte freilich zu der Erkenntnis kommen, dass die Grenze erreicht, vielleicht schon überschritten ist, hinter der der Schutz des Eigentums vor jenen, die es in Frage stellen, nicht nur schädlich, sondern zur tödlichen Gefahr für die Menschheit geworden ist.“
Dies schrieb Hans See bereits vor fast 30 Jahren.
Und die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hält in ihrem aktuellen MEMORANDUM 2021 fest: „Eine ‚Heißzeit‘ ist bei weiter ungebremstem Klimawandel sehr wahrscheinlich und mit katastrophalen, unvorstellbaren Folgen verbunden. Aber diese zukünftigen Katastrophen – zum Beispiel extreme Hitzewellen, ein enormer Meeresspiegelanstieg und drastische Wetteranomalien – scheinen noch weit weg …“ (3)
Wenn Kapital zum Fluchtkapital wird …
Ungeheure Mengen an Kapital werden weltweit vor dem Zugriff für gesellschaftlich notwendige und nützliche Zwecke versteckt: in den modernen Seeräuberhöhlen, die allerdings nicht so genannt werden, sondern im endlosen Strom der medialen Sprachprägung zu Steuer“oasen“ und sogar zu Steuer“paradiesen“ um- und eingeprägt wurden.
Es ist ja nicht so, dass nicht andere, treffendere Begriffe zur Verfügung stünden, etwa: „Fluchtgelder“, „Schleusersysteme“ oder „Geldwaschanlagen“. Aber damit wäre ja schon ein moralisches Urteil gefällt. Und moralische Urteile könnten auch mal zu echten Urteilen werden. Man erkennt hier übrigens nicht nur die Macht über die Begriffe, sondern auch den Standpunkt derjenigen, die sie prägen. Für diese Gesellschaftsschicht sind es wahrlich Oasen und Paradiese, die den Reichtum nicht nur zu vergrößern, sondern auch zu konzentrieren helfen.
Und die Angehörigen dieser Schicht verbringen geschätzt bis zu 36 Billionen US-Dollar in die Räuberhöhlen. Die Schätzungen der Steuereinnahmen, die der Gemeinschaft so entgehen, belaufen sich auf weltweit etwa 255 Milliarden Dollar pro Jahr. Welche Sozial-, Gesundheits- oder Bildungsprogramme könnten damit finanziert werden!
Bei den Unternehmen ist die Steuerflucht sogar die Regel: 90 Prozent der 200 größten Unternehmen sollen Ableger in Steueroasen halten. Die Kosten für die ehrlichen Steuerzahler: zwischen 500 und 600 Milliarden US-Dollar pro Jahr an verlorenen Körperschaftsteuereinnahmen. Und auch die Störung der sonst so gepriesenen Marktwirtschaft ist beträchtlich: Denn je größer dieser „Wettbewerbsvorteil“ profitsteigernd ins Gewicht fällt, desto mehr werden kleinere Unternehmen abgehängt und der Konzentrationsprozess gefördert.
Tatsächlich bewegen wir uns hier auf einem Gelände, das noch nicht zur kriminellen Wirtschaft zählt, aber kurz davor ist.
Wie sehr diese Form des Verbergens, Verbringens, der „Briefkastenfirmen“, des Surfens am Rande der kriminellen Wirtschaft in unserer Gesellschaft – und das heißt zuvorderst in ihren obersten Schichten – verbreitet ist, haben die „Panama-Papers“ enthüllt. Dies geschieht regelmäßig unter Inkaufnahme großer persönlicher Risiken, wie die Ermordung von Aufklärer*innen auf Malta, in Tschechien und anderswo gezeigt hat.
Es sind aber nicht nur entfernte Orte, die dem Unterschlupf dienen, sondern auch sehr zentral gelegene und beliebte Urlaubsziele wie die Niederlande und vor allem ein Zentrum der EU: Luxemburg. Dessen ehemaliger Finanzminister und Ministerpräsident Juncker, ebenfalls in den Panama-Papers und außerdem bereits 2014 in den „Luxemburg-Leaks“ erwähnt, wurde dennoch zum EU-Präsidenten gewählt und mit über 78 Ehrendoktorwürden und Orden überhäuft.
Das hinderte ihn nicht daran, öffentlich gegen Steuerflucht aufzutreten und gleichzeitig hinter den Kulissen den Kampf dagegen zu sabotieren; was ein Schauspiel, wenn es denn auf öffentlicher Bühne aufgeführt worden wäre. Shakespeare würde vor Neid erblassen.
Wenn wir einen Blick zurück ins 19. Jahrhundert werfen, finden wir die Seeräuberei schon in der „ursprünglichen Akkumulation“, wie sie Marx beschrieben hat (was in den Lehrbüchern als „Industrialisierung“ bezeichnet wird).
Das kriminelle Element war also von Anfang an strukturbildend ausgeprägt. „Strukturelle Räuberei, das ist der harte Kern der Kapitalverbrechen“, wie Hans See sagt. In seinen Büchern weist er sowohl wissenschaftstheoretisch als auch durch unzählige Beispiele nach, dass zwischen dem illegalen und dem legalen Kapital eine Trennschärfe nur schwer herzustellen ist. Und er schlägt deshalb vor, diesem „Wechselverhältnis zwischen dem legalen und dem illegalen Kapitalismus“ innerhalb der Bürger*innenbewegungen nachzuspüren.
In seinem Buch „Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen – Grundzüge einer Kritik der kriminellen Ökonomie“ von 2014 geht er einen Schritt weiter und spricht davon, „(…) dass die legale und die illegale Wirtschaft ein Komplementärsystem bilden. Seriöse Wirtschaftsunternehmen betreiben einen Teil ihrer Geschäfte jenseits geltenden Rechts und sie kooperieren dabei mit dem Organisierten Verbrechen, mit Parteien, Politikern, Interessenverbänden (Lobbyisten), Medien und Geheimdiensten. Sie wickeln – und dies weitgehend ungestört – alle Geschäfte ab, deren Legalisierung selbst in den liberalsten kapitalistischen Demokratien politisch nicht mehr durchsetzbar ist.“
Dies wird von der CORNET-Forschungsgruppe an der University of Amsterdam bestätigt. Milan Babic, Eelke Heemskerk & Jan Fichtner halten in ihrem Aufsatz „Wer ist mächtiger – Staaten oder Konzerne?“ fest:
„Beginnen wir mit dem Offshore-Finanzwesen. Globale Unternehmen nutzen verschiedene Rechtsräume, um eine Besteuerung oder Regulierung in ihrem Heimatland zu vermeiden. Schätzungen zufolge gehen Staaten so weltweit rund 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr an Steuereinnahmen verloren. Wenn Staaten sich selbst als Steueroasen positionieren, untergraben sie die Fähigkeit von ‚Onshore‘-Staaten, Unternehmen und reiche Einzelpersonen zu besteuern – was ein Grundpfeiler von Staatsmacht ist.
Abgesehen von den Steueroasen sind zahlreiche Regierungen von EU-Staaten für ihre ‚Amigo-Geschäfte‘ berüchtigt geworden, die die Steuerlast für bestimmte Konzerne in drastischem Ausmaß reduziert haben. Des Weiteren hat unsere CORNET-Forschungsgruppe an der Universität Amsterdam kürzlich fünf Länder identifiziert, die eine zentrale Rolle bei der Beförderung von Steuervermeidung spielen: Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz, Irland und Singapur. Jedes dieser Länder ermöglicht es multinationalen Konzernen, Investitionen zu minimalen Kosten zwischen Steueroasen und Onshore-Staaten zu verschieben.“ (4)
Die Vermischung mit kriminellen Machenschaften hat Wolf Wetzel, früherer stellvertretender Vorsitzender von BCC, in BIG Business Crime (Heft 4/2016) am Beispiel eines der schillerndsten Geheimagenten Deutschlands, Werner Mauss, dargelegt.
Geheimkonten in Steuervermeidungsterritorien werden sowohl von Firmen als auch von staatlichen Institutionen genutzt, der Kampf dagegen sei eine „lupenreine Placebo-Veranstaltung“:
„Wenn etwa in- und ausländische Geheimdienste illegale Operationen durchführen, wie zum Beispiel die Unterstützung rechter Parteien in Portugal nach dem Sturz der Caetano-Diktatur 1974, die Bewaffnung der Contras in Nicaragua in den 80er Jahren durch den CIA…, dann wird das nicht in den jeweiligen nationalen Haushalten ausgewiesen. Dann benutzt man denselben Weg wie die Firmen und Konzerne: Briefkastenfirmen, Tarnfirmen, Strohmänner. Es ist genau dieser gemeinsame Nutzen, der sie vereint und vor politischen und gesetzlichen Veränderungen schützt.
In diesem Kontext ist es dann auch mehr als aufschlussreich, dass der deutsche Finanzminister Schäuble als ‚Konsequenz‘ aus dem Panama-Skandal nicht etwa das Verbot solcher ‚Briefkastenfirmen‘ ankündigt, sondern ein internationales Register, das die Personen aufführen soll, die sich hinter den ‚Strohmännern‘ verbergen. Er möchte also nicht den Untergrund verbieten, sondern als Gatekeeper sicherstellen, dass nur ‚die Richtigen‘ Zutritt erhalten.“
Soweit der Buchauszug. Ob der Wettlauf zwischen notwendiger Regulierung und ihrer prompten Umgehung jemals gewonnen werden kann, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, oder ob er überhaupt anzustreben ist, all das wird in dem Buch erörtert.
Dass eine solche Erörterung in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext überhaupt stattfindet, ist das Ziel von Business Crime Control. Dringend notwendig wäre ein solcher Diskurs schon allein aus rechtsstaatlichen und demokratiebezogenen Gründen.
Anmerkungen:
(1) Hans See: Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen – Grundzüge
einer Kritik der kriminellen Ökonomie, nomen Verlag 2014
Ders.: Kapital-Verbrechen – Die Verwirtschaftung der Moral, Claasen Verlag 1990
Hans See/Eckart Spoo (Hg.): Wirtschaftskriminalität – Kriminelle Wirtschaft, Distel Verlag 1997
(2) Hans See: Kapital-Verbrechen – Die Verwirtschaftung der Moral, S. 337f
(3) Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2021, Kurzfassung, S. 17
(4) Makronom, Artikel vom 19. Juli 2018
Herbert Storn
ist Mitglied im Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen. 2019 erschien von ihm im Büchner-Verlag Marburg das Buch „Germany first! Die heimliche deutsche Agenda“.