Das Kapital strebt nach eigenem Recht: Die inhärente Kriminalitätsaffinität

Auszug aus dem Buch „Business Crime – Skandale mit System. Über Konzernverbrechen, kriminelle Ökonomie und halbierte Demokratie“ von Herbert Storn, das im August 2021 im Büchner-Verlag Marburg erscheint.

 Hans See (Ehrenvorsitzender von Business Crime Control) weist explizit auf die inhärente Kriminalitätsaffinität der kapitalistischen Wirtschaft hin.

In seinen Buchpublikationen (1) und anderen Veröffentlichungen geht er sogar so weit, „hinter den … Weltproblemen unserer Epoche – und zwar als deren Hauptursache – die Wirtschaftsverbrechen“ zu sehen. Dies ist ein ebenso gewichtiger wie grundsätzlicher Vorwurf. Und es geht im Kern um die Frage, inwieweit sich das Kapital in Gestalt seiner multinationalen weltweit operierenden Konzerne an bestehende Rechtsnormen zu halten gewillt ist, geschriebene wie ungeschriebene. Denn unbestritten sind soziale Gerechtigkeit, der Schutz von Mensch und Umwelt die normativen Vorgaben unserer Gesellschaft. Das durch die kapitalistische Konkurrenz bedingte Ranking von Profitraten als Grundlage für Investitionsentscheidungen ist aber eine völlig andere normative Vorgabe.

Dies zeigte sich ja gerade an den Abgasbetrugsstrategien, der Ver- und Behinderung des Verbots von gesundheitsschädlichen Pestiziden, am Beispiel der Lebensmittelfälschungen, an den verbotenen Preiskartellen, der Geldwäsche, bei den Steuerbetrugsstrategien u.v.m. Sie alle werden in der Regel als „Skandale“ bezeichnet und damit als Ausnahmeerscheinungen.

Die Frage stellt sich, warum dies mit solcher Hartnäckigkeit und Ignoranz von den vorherrschenden Meinungsmachern betrieben wird. Denn mindestens Zweifel am isolierten Charakter solcher „Skandale“ müssten inzwischen am Verstand nagen. Und das tun sie vermutlich auch mehr, als es in der veröffentlichten Debatte zum Vorschein kommt.

Aber für jeden Zweifel gibt es bekanntlich psychologische Rationalisierungsstrategien, um die Zweifel zu besänftigen oder gar beiseite zu räumen:

  • Die eine ist, dass man die inhärente Kriminalitätsaffinität der Wirtschaft im Verhältnis zu den Vorteilen für vernachlässigbar hält und deshalb „Schonbegriffe“ benutzt. Die Vorteile überwiegen die Nachteile, weshalb erstere herausgestellt,letztere aber in den Hintergrund gedrängt werden.
  • Die zweite ist, dass man bestimmte kriminelle Verhaltensweisen subjektiv gar nicht für kriminell hält, dies aber nicht offen zugeben würde. Dies zeigt sich immer wieder in Bezug auf die Behandlung von Steueroasen, Steuervermeidung oder Redewendungen wie: „Nur Dumme zahlen Steuern.
  • Die dritte Möglichkeit ist, dass man sich der inhärenten Kriminalitätsaffinität sehr wohl bewusst ist, aber alles tut, sie zu leugnen, weil man von den Vorteilen überproportional profitiert und nicht möchte, dass sich dies ändert. Dieser Standpunkt kann von Vorstandsmitgliedern eines Dax-Konzerns mit Extra-Boni ebenso eingenommen werden wie von einem Facharbeiter oder einer Fachfrau, der oder die um den Arbeitsplatz fürchtet. Die letzteren haben allerdings nicht annähernd die Macht und Möglichkeit für eine vernünftige Lösung.

Diesen Erklärungsansätzen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Tatsächlich ist die Ambivalenz des Kapitals nicht neu. „Wer über die Rolle der kapitalistischen Wirtschaftsweise bei der Entstehung der modernen Demokratie, des Liberalismus, der Arbeiterbewegung, des Sozialstaatsprinzips nachdenkt, gerät unversehens hinein in die Dialektik der Verbrechen des Kapitals. (…) Marx und Engels haben im ‚Kommunistischen Manifest‘ auf diesen Aspekt hingewiesen und ihre Bewunderung für die revolutionäre Seite des Kapitals nicht verborgen.“ Denn „die Befreiung der Menschen von überlebten moralischen Fesseln und ständischen Sozialstrukturen, der wissenschaftlich-technische und ökonomische Fortschritt, Wirtschaftswachstum und Massenwohlstand ließen noch die schlimmsten Verbrechen als unversiegbare Quelle der wirtschaftlichen Produktivität und als ökonomische Voraussetzung der individuellen Freiheit erscheinen.“ (2) Jedenfalls für einen großen Teil der Menschen in den industrialisierten Staaten, muss man wohl einschränkend hinzufügen.

Inzwischen befinden wir uns aber nicht mehr im 19. Jahrhundert. Die Schäden der unaufhörlichen Kapitalakkumulation (umgangssprachlich der „Wachstumsspirale“) haben sich so vergrößert, dass die Zeiger in der öffentlichen Debatte meist auf „fünf vor Zwölf“ stehen. Und bis auf wenige Leugner (darunter allerdings auch der ehemalige Präsident des mächtigsten Staates dieser Erde – insofern noch eher dem 19. Jahrhundert verhaftet) haben sich die Einsichten, mindestens die wissenschaftlichen, verschoben.

„Eine moderne Sozialwissenschaft, die diese dialektische Logik der Produktivkraft von Verbrechen unter dem Aspekt der sozialen und demokratischen Entwicklung einer Weltgesellschaft zu Ende dächte, könnte freilich zu der Erkenntnis kommen, dass die Grenze erreicht, vielleicht schon überschritten ist, hinter der der Schutz des Eigentums vor jenen, die es in Frage stellen, nicht nur schädlich, sondern zur tödlichen Gefahr für die Menschheit geworden ist.“

Dies schrieb Hans See bereits vor fast 30 Jahren.

Und die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hält in ihrem aktuellen MEMORANDUM 2021 fest: „Eine ‚Heißzeit‘ ist bei weiter ungebremstem Klimawandel sehr wahrscheinlich und mit katastrophalen, unvorstellbaren Folgen verbunden. Aber diese zukünftigen Katastrophen – zum Beispiel extreme Hitzewellen, ein enormer Meeresspiegelanstieg und drastische Wetteranomalien – scheinen noch weit weg …“ (3)

 

Wenn Kapital zum Fluchtkapital wird …

Ungeheure Mengen an Kapital werden weltweit vor dem Zugriff für gesellschaftlich notwendige und nützliche Zwecke versteckt: in den modernen Seeräuberhöhlen, die allerdings nicht so genannt werden, sondern im endlosen Strom der medialen Sprachprägung zu Steuer“oasen“ und sogar zu Steuer“paradiesen“ um- und eingeprägt wurden.

Es ist ja nicht so, dass nicht andere, treffendere Begriffe zur Verfügung stünden, etwa: „Fluchtgelder“, „Schleusersysteme“ oder „Geldwaschanlagen“. Aber damit wäre ja schon ein moralisches Urteil gefällt. Und moralische Urteile könnten auch mal zu echten Urteilen werden. Man erkennt hier übrigens nicht nur die Macht über die Begriffe, sondern auch den Standpunkt derjenigen, die sie prägen. Für diese Gesellschaftsschicht sind es wahrlich Oasen und Paradiese, die den Reichtum nicht nur zu vergrößern, sondern auch zu konzentrieren helfen.

Und die Angehörigen dieser Schicht verbringen geschätzt bis zu 36 Billionen US-Dollar in die Räuberhöhlen. Die Schätzungen der Steuereinnahmen, die der Gemeinschaft so entgehen, belaufen sich auf weltweit etwa 255 Milliarden Dollar pro Jahr. Welche Sozial-, Gesundheits- oder Bildungsprogramme könnten damit finanziert werden!

Bei den Unternehmen ist die Steuerflucht sogar die Regel: 90 Prozent der 200 größten Unternehmen sollen Ableger in Steueroasen halten. Die Kosten für die ehrlichen Steuerzahler: zwischen 500 und 600 Milliarden US-Dollar pro Jahr an verlorenen Körperschaftsteuereinnahmen. Und auch die Störung der sonst so gepriesenen Marktwirtschaft ist beträchtlich: Denn je größer dieser „Wettbewerbsvorteil“ profitsteigernd ins Gewicht fällt, desto mehr werden kleinere Unternehmen abgehängt und der Konzentrationsprozess gefördert.

Tatsächlich bewegen wir uns hier auf einem Gelände, das noch nicht zur kriminellen Wirtschaft zählt, aber kurz davor ist.

Wie sehr diese Form des Verbergens, Verbringens, der „Briefkastenfirmen“, des Surfens am Rande der kriminellen Wirtschaft in unserer Gesellschaft – und das heißt zuvorderst in ihren obersten Schichten – verbreitet ist, haben die „Panama-Papers“ enthüllt. Dies geschieht regelmäßig unter Inkaufnahme großer persönlicher Risiken, wie die Ermordung von Aufklärer*innen auf Malta, in Tschechien und anderswo gezeigt hat.

Es sind aber nicht nur entfernte Orte, die dem Unterschlupf dienen, sondern auch sehr zentral gelegene und beliebte Urlaubsziele wie die Niederlande und vor allem ein Zentrum der EU: Luxemburg. Dessen ehemaliger Finanzminister und Ministerpräsident Juncker, ebenfalls in den Panama-Papers und außerdem bereits 2014 in den „Luxemburg-Leaks“ erwähnt, wurde dennoch zum EU-Präsidenten gewählt und mit über 78 Ehrendoktorwürden und Orden überhäuft.

Das hinderte ihn nicht daran, öffentlich gegen Steuerflucht aufzutreten und gleichzeitig hinter den Kulissen den Kampf dagegen zu sabotieren; was ein Schauspiel, wenn es denn auf öffentlicher Bühne aufgeführt worden wäre. Shakespeare würde vor Neid erblassen.

Wenn wir einen Blick zurück ins 19. Jahrhundert werfen, finden wir die Seeräuberei schon in der „ursprünglichen Akkumulation“, wie sie Marx beschrieben hat (was in den Lehrbüchern als „Industrialisierung“ bezeichnet wird).

Das kriminelle Element war also von Anfang an strukturbildend ausgeprägt. „Strukturelle Räuberei, das ist der harte Kern der Kapitalverbrechen“, wie Hans See sagt. In seinen Büchern weist er sowohl wissenschaftstheoretisch als auch durch unzählige Beispiele nach, dass zwischen dem illegalen und dem legalen Kapital eine Trennschärfe nur schwer herzustellen ist. Und er schlägt deshalb vor, diesem „Wechselverhältnis zwischen dem legalen und dem illegalen Kapitalismus“ innerhalb der Bürger*innenbewegungen nachzuspüren.

In seinem Buch „Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen – Grundzüge einer Kritik der kriminellen Ökonomie“ von 2014 geht er einen Schritt weiter und spricht davon, „(…) dass die legale und die illegale Wirtschaft ein Komplementärsystem bilden. Seriöse Wirtschaftsunternehmen betreiben einen Teil ihrer Geschäfte jenseits geltenden Rechts und sie kooperieren dabei mit dem Organisierten Verbrechen, mit Parteien, Politikern, Interessenverbänden (Lobbyisten), Medien und Geheimdiensten. Sie wickeln – und dies weitgehend ungestört – alle Geschäfte ab, deren Legalisierung selbst in den liberalsten kapitalistischen Demokratien politisch nicht mehr durchsetzbar ist.“

Dies wird von der CORNET-Forschungsgruppe an der University of Amsterdam bestätigt. Milan Babic, Eelke Heemskerk & Jan Fichtner halten in ihrem Aufsatz „Wer ist mächtiger – Staaten oder Konzerne?“ fest:

„Beginnen wir mit dem Offshore-Finanzwesen. Globale Unternehmen nutzen verschiedene Rechtsräume, um eine Besteuerung oder Regulierung in ihrem Heimatland zu vermeiden. Schätzungen zufolge gehen Staaten so weltweit rund 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr an Steuereinnahmen verloren. Wenn Staaten sich selbst als Steueroasen positionieren, untergraben sie die Fähigkeit von ‚Onshore‘-Staaten, Unternehmen und reiche Einzelpersonen zu besteuern – was ein Grundpfeiler von Staatsmacht ist.

Abgesehen von den Steueroasen sind zahlreiche Regierungen von EU-Staaten für ihre ‚Amigo-Geschäfte‘ berüchtigt geworden, die die Steuerlast für bestimmte Konzerne in drastischem Ausmaß reduziert haben. Des Weiteren hat unsere CORNET-Forschungsgruppe an der Universität Amsterdam kürzlich fünf Länder identifiziert, die eine zentrale Rolle bei der Beförderung von Steuervermeidung spielen: Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz, Irland und Singapur. Jedes dieser Länder ermöglicht es multinationalen Konzernen, Investitionen zu minimalen Kosten zwischen Steueroasen und Onshore-Staaten zu verschieben.“ (4)

Die Vermischung mit kriminellen Machenschaften hat Wolf Wetzel, früherer stellvertretender Vorsitzender von BCC, in BIG Business Crime (Heft 4/2016) am Beispiel eines der schillerndsten Geheimagenten Deutschlands, Werner Mauss, dargelegt.

Geheimkonten in Steuervermeidungsterritorien werden sowohl von Firmen als auch von staatlichen Institutionen genutzt, der Kampf dagegen sei eine „lupenreine Placebo-Veranstaltung“:

„Wenn etwa in- und ausländische Geheimdienste illegale Operationen durchführen, wie zum Beispiel die Unterstützung rechter Parteien in Portugal nach dem Sturz der Caetano-Diktatur 1974, die Bewaffnung der Contras in Nicaragua in den 80er Jahren durch den CIA…, dann wird das nicht in den jeweiligen nationalen Haushalten ausgewiesen. Dann benutzt man denselben Weg wie die Firmen und Konzerne: Briefkastenfirmen, Tarnfirmen, Strohmänner. Es ist genau dieser gemeinsame Nutzen, der sie vereint und vor politischen und gesetzlichen Veränderungen schützt.

In diesem Kontext ist es dann auch mehr als aufschlussreich, dass der deutsche Finanzminister Schäuble als ‚Konsequenz‘ aus dem Panama-Skandal nicht etwa das Verbot solcher ‚Briefkastenfirmen‘ ankündigt, sondern ein internationales Register, das die Personen aufführen soll, die sich hinter den ‚Strohmännern‘ verbergen. Er möchte also nicht den Untergrund verbieten, sondern als Gatekeeper sicherstellen, dass nur ‚die Richtigen‘ Zutritt erhalten.“ 

Soweit der Buchauszug. Ob der Wettlauf zwischen notwendiger Regulierung und ihrer prompten Umgehung jemals gewonnen werden kann, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, oder ob er überhaupt anzustreben ist, all das wird in dem Buch erörtert.

Dass eine solche Erörterung in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext überhaupt stattfindet, ist das Ziel von Business Crime Control. Dringend notwendig wäre ein solcher Diskurs schon allein aus rechtsstaatlichen und demokratiebezogenen Gründen.

Anmerkungen:

 (1) Hans See: Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen – Grundzüge 
einer Kritik der kriminellen Ökonomie, nomen Verlag 2014 
Ders.: Kapital-Verbrechen – Die Verwirtschaftung der Moral, Claasen Verlag 1990
Hans See/Eckart Spoo (Hg.): Wirtschaftskriminalität – Kriminelle Wirtschaft, Distel Verlag 1997

(2) Hans See: Kapital-Verbrechen – Die Verwirtschaftung der Moral, S. 337f

(3) Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2021, Kurzfassung, S. 17

(4) Makronom, Artikel vom 19. Juli 2018

 Herbert Storn
ist Mitglied im Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen. 2019 erschien von ihm im Büchner-Verlag Marburg das Buch „Germany first! Die heimliche deutsche Agenda“.

 

 

Greenwashing in Ökonomie und Politik

Mit ihrem individuellen Schulstreik vor dem schwedischen Parlament ist es Greta Thunberg im Jahr 2018 gelungen, den globalen Klimawandel und die in diesem Zusammenhang eskalierenden ökologischen, sozialen und ökonomischen Krisen ins Zentrum des politischen Diskurses zu rücken.

Der anthropogene Klimawandel ist seit über 50 Jahren in der wissenschaftlichen Diskussion. Die „Grenzen des Wachstums“ – im Jahr 1972 als Weckruf des Club of Rome veröffentlicht – und die internationalen Klimakonferenzen seit Beginn der 1990er Jahre sind weitgehend ohne Konsequenz im operativen Tagesgeschäft der Politik geblieben.

Die weltweite Bewegung Fridays for Future, die durch den Schulstreik von Greta Thunberg initiiert worden ist, hat das Potential, die politischen Blockaden im Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen für das Leben auf der Erde zu brechen.

Bei uns in Deutschland gehört das Bekenntnis, den Klimawandel zu bekämpfen, inzwischen bei fast allen Parteien ins rhetorische Standardrepertoire für den Bundestagswahlkampf 2021. Manche – vielleicht sogar die Mehrzahl – der politischen Akteure steht allerdings im Verdacht, jetzt in der politischen Auseinandersetzung lediglich das nachzuholen, was kommerzielles Marketing im Bereich der Konsumentenwerbung seit gut dreißig Jahren professionell und erfolgreich praktiziert.

Bevor die deutlich komplexere Methode des politischen Greenwashing beleuchtet wird, lohnt ein Blick auf die inzwischen etablierten Methoden des kommerziellen Greenwashing.

Gablers Wirtschaftslexikon definiert:
Greenwashing bezeichnet den Versuch von Unternehmen, durch Marketing- und PR-Maßnahmen ein „grünes Image“ zu erlangen, ohne allerdings entsprechende Maßnahmen im Rahmen der Wertschöpfung zu implementieren. Bezog sich der Begriff ursprünglich auf eine suggerierte Umweltfreundlichkeit, findet dieser mittlerweile auch für suggerierte Unternehmensverantwortung Verwendung. (1)

Wie funktioniert Greenwashing – die Methoden

In ihrer Untersuchung „Concepts and forms of greenwashing: a systematic review“ (2) stellen Sebastião Vieira de Freitas Netto und andere 13 Konzepte des kommerziellen Greenwashing vor:

  1. Die Methode des versteckten Kompromisses: Eine Behauptung, die suggeriert, dass ein Produkt „grün“ ist, basierend auf einer engen Reihe von Attributen ohne Berücksichtigung anderer wichtiger Umweltaspekte. Papier zum Beispiel ist nicht zwangsläufig umweltfreundlicher, nur weil es aus einem nachhaltig bewirtschafteten Wald stammt. Andere wichtige Umweltaspekte im Papierherstellungsprozess, wie zum Beispiel Treibhausgasemissionen oder der Chlorverbrauch beim Bleichen können ebenso wichtig sein. Andere Beispiele sind Energie-, Versorgungs- und Benzinkonzerne, die mit den Vorteilen neuer Energiequellen werben, während sie in bisher unberührten Gebieten bohren, um Öl zu gewinnen. Damit zerstören sie natürliche Lebensräume und reduzieren die Artenvielfalt, verschleiern aber den mit ihrem Vorgehen verbundenen Schaden für die Umwelt.
  2. Die Methode des fehlenden Beweises: Eine Umweltaussage, die nicht durch leicht zugängliche unterstützende Informationen oder mit einer zuverlässigen Zertifizierung durch Dritte belegt werden kann. Gängige Beispiele sind Kosmetiktücher oder Toilettenpapierprodukte, bei denen verschiedene Prozentsätze an Post-Consumer-Recycling-Anteilen angegeben werden, ohne einen Nachweis zu erbringen. Kurz gesagt, wenn ein Unternehmen eine Behauptung aufstellt, die irgendeine Art von Prozentsatz oder statistische Informationen enthält, die nicht mit etwas verifiziert werden können, wie z. B. einem Kleingedruckten oder einer URL, die zu weiteren Informationen führt, ist die Behauptung nicht als Beweis zu betrachten.
  3. Die Methode der Unbestimmheit: Eine Behauptung, die schlecht definiert oder zu weit gefasst ist, der es an Spezifizierung mangelt, so dass ihre tatsächliche Bedeutung vom Konsumenten missverstanden werden kann. „All-natural“ ist ein Beispiel für diese Methode. Arsen, Uran, Quecksilber und Formaldehyd sind alle natürlich vorkommend und giftig. „Alles natürlich“ ist also nicht unbedingt „grün“. Andere Beispiele sind „ungiftig“, weil alles in bestimmten Dosierungen giftig ist; „grün“, „umweltfreundlich“, „öko-freundlich“ und „öko-bewusst“ sind ebenfalls vage Behauptungen, die ohne nähere Ausführungen sinnlos sind.
  4. Die Methode der falschen Label: Ein Produkt, das durch ein täuschendes Logo oder ein zertifizierungsähnliches Bild den Verbraucher zu der Annahme verleitet, dass es einen legitimen grünen Zertifizierungsprozess durchlaufen hat. Ein Beispiel ist ein Papierhandtuch, dessen Verpackung ein Bild zeigt, das die Behauptung aufstellt, dass das Produkt „die globale Erwärmung bekämpft“. Andere Beispiele sind grüner Jargon wie „eco-safe“ und „eco-preferred“.
  5. Die Methode der Irrelevanz: Eine Umweltaussage, die zwar der Wahrheit entspricht, aber für Verbraucher, die nach ökologisch vorteilhaften Produkten suchen, unwichtig oder nicht hilfreich ist. „FCKW-frei“ ist beispielsweise eine nichtssagende Behauptung, da FCKW längst per Gesetz verboten ist.
  6. Die Methode des kleineren Übels: Eine Behauptung, die innerhalb der Produktkategorie wahr sein mag, aber den Verbraucher von den größeren Umweltauswirkungen der Kategorie als Ganzes ablenken kann. Bio-Zigaretten sind ein Beispiel für diese Methode, ebenso wie der „spritsparende SUV“.
  7. Die Methode des Flunkerns: Umweltaussagen, die schlichtweg falsch sind. Die häufigsten Beispiele waren Produkte, die fälschlicherweise behaupteten, Energy Star-zertifiziert oder -registriert zu sein

Besondere Beachtung verdient beim Greenwashing die Kommunikation der Öl-Gas-Industrie (OGI). Zum hydraulischen Fracking schlug sie neue Methoden vor, die mit der Konzeptualisierung von Greenwashing zusammenhängen.

  1. Die Methode der falschen Hoffnungen: Eine Behauptung, die eine falsche Hoffnung bestärkt. Die Hydraulik-Fracking-Methode der Öl- und Gasindustrie hat enorme negative Auswirkungen auf die Umwelt. Kritiker argumentieren, dass eine ökologische Modernisierung nicht möglich ist und der Glaube an das Gegenteil schadet der Umwelt. Fracking wird im Interesse der ungehinderten Ressourcengewinnung und der Gewinne aus der Energieproduktion positiv dargestellt. Mehrere Themen tauchen in der Rhetorik der Öl- und Gasindustrie auf, beginnend mit der Schaffung von Vertrauen durch Aufklärung und der Behauptung von Transparenz und weiterführend mit Ideen, die Sicherheit und Verantwortung, wissenschaftlichen Fortschritt, wirtschaftliche Vorteile und Arbeitsplätze, Energiesicherheit, Umweltschutz und Nachhaltigkeit propagieren. Im Großen und Ganzen spiegelt diese Rhetorik ökologische Modernisierungsideen wider, die die Wahrnehmung von Risiken und deren Folgen verschieben und Fracking in einer Weise rahmen, welche die negativen Auswirkungen der Abhängigkeit von einer auf fossilen Brennstoffen basierenden Wirtschaft verschleiert.
  2. Die Methode der Angstmacherei: Es werden Behauptungen aufgestellt, die die Unsicherheit fördern. Zum Beispiel erklärt die Öl- und Gasindustrie, dass „die Instabilität und Unsicherheit, die aus den Kriegen in Afghanistan und im Irak, dem globalen Krieg gegen den Terror und den schwankenden Treibstoffkosten resultieren, die öffentliche Wahrnehmung von Risiken verändert.“
  3. Die Methode der gebrochenen Versprechen: Es wird versprochen, dass Fracking arme, ländliche Gemeinden mit Reichtum aus Schürfrechten und wirtschaftlicher Entwicklung beglücken wird. Wenn sich dann das Gegenteil herausstellt, werden die Gemeinden mit den irreversiblen Folgen alleingelassen.
  4. Die Methode der Ungerechtigkeit: Die Öl- und Gasindustrie spricht in ihrer Umweltkommunikation nicht direkt die vom Fracking betroffenen Gemeinden an, sondern konzentriert sich auf ein Segment der Bevölkerung, das vom Fracking profitiert, aber nicht dessen Folgen erleidet.
  5. Die Methode der gefährlichen Folgen: Greenwashing versteckt die Realität der Ungleichheit und lenkt die Öffentlichkeit von den Gefahren ab, die andere erleben.
  6. Die Methode des Profits über Mensch und Umwelt: Profit über Mensch und Umwelt zu stellen, ist die potenziell bedeutendste Greenwashing-Methode von allen.

Wesentlich komplexer und deshalb schwerer zu erkennen ist das Greenwashing in der Politik.

Klimakrise als Menschheitskrise?

Paradoxerweise beginnt politisches Greenwashing schon mit der Wahrnehmung der Folgen des Klimawandels als „wahre Menschheitskrise“ (Entwurf des Wahlprogramms der GRÜNEN) oder existenzielle Bedrohung Europas und der Welt (EU-Kommission).

Die krude Wahrheit ist, dass die Folgen der Klimakrise über die verschiedenen Regionen der Welt und über die die sozialen Schichten der Gesellschaften sehr ungleich verteilt sind – und dies auch zukünftig sein werden. Der mit der Erderwärmung einhergehende Anstieg der Meeresspiegel bedroht unmittelbar zum Beispiel die dicht besiedelten Mündungsdeltas der großen Flüsse in Südostasien. Also die Bevölkerung von Ländern wie Bangladesch, Vietnam, Indonesien und Thailand sowie von Teilen Chinas und Indiens.

Die Temperaturerhöhung der Atmosphäre stellt für die hoch spezialisierten Gesellschaften der Innertropischen Konvergenzzone (20° um den Äquator) ganz andere Herausforderungen als an die in den gemäßigten Breiten ansässigen Gesellschaften. Erstere leben seit Jahrtausenden unter ausgesprochen konstanten Klimabedingungen ohne die in den gemäßigten Breiten bekannten jahreszeitlichen Temperaturänderungen.

Demgegenüber stehen Erwartungen, dass der Klimawandel die Nordostpassage ganzjährig eisfrei halten (Seeweg von der asiatischen Pazifikküste durch das Nordmeer nach Europa) und so den Handel zwischen Asien und Europa beleben wird. Diese Route verkürzt den Seeweg von Tokio nach Rotterdam im Vergleich zur Route durch den indischen Ozean und das Nadelöhr Suezkanal um ca. 6500 km. (3)

Diese Beispiele lassen leicht erkennen, dass hinter den Green „New“ Deals der EU und der USA nicht primär die Sorge um das Weltklima steht, sondern wesentlich die Sorge um den Erhalt des materiellen Wohlstands im globalen Norden.

So sucht die EU-Kommission eine neue Wachstumsstrategie für den Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Wir wissen aus der jüngsten Vergangenheit, dass Effizienzgewinn in der kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft nicht zur Schonung von Ressourcen geführt hat, sondern zu Ausweitung der materiellen Produktion. Ein passendes Paradigma liefert das Verhalten der Automobilindustrie. Während der Treibstoffverbrauch pro Pkw bei Verbrennungsmotoren seit Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts kontinuierlich durch technische Innovationen abgenommen hat (beim Ottomotor auf weniger als die Hälfte, beim Diesel auf etwa 2/3 des Verbrauchs), hat die verbaute Motorleistung der Pkws seither überproportional zugenommen. In Deutschland führte das dazu, das die CO2-Emissionen des Straßenverkehrs seit Jahrzehnten nicht abgenommen haben.

Zur effektiven Bekämpfung des fortschreitendes Klimawandels bedarf es eines grundsätzlichen Umdenkens in den Wirtschaftswissenschaften und in der Wirtschaftspolitik. Wir brauchen eine umfassende Strategie zur Entschleunigung der Materialumsätze und beim Energieverbrauch. Produktzyklen (Nutzungsdauer) dürfen zukünftig nicht auf optimale Kapitalrenditen abgestimmt werden. Sie müssen entgegen der aktuell verfolgten ökonomischen „Logik“ auf maximale Gebrauchsdauer umgestellt werden. Die Dinge müssen wieder reparierbar werden – der eingesetzte Materialmix zur Herstellung ist auf die Wiederverwertbarkeit zu optimieren.

Schon aus dieser Skizze dessen, was effektiver Klimaschutz zu leisten hätte, wird klar, dass Klimaschutz nur gegen massive ökonomische Interessen durchgesetzt werden kann.

Anmerkungen:

(1) https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/greenwashing-51592/version-274753
(2) https://doi.org/10.1186/s12302-020-0300-3 
(3) https://polarkreisportal.de/nordostpassage-die-eisige-alternative-zum-suezkanal 


Hans Möller

ist Dipl.-Meteorologe und stellvertretender Vorsitzender von Business Crime Control e.V.

Das Lieferkettengesetz kommt

Acht Jahre sind mittlerweile vergangen – seit dem Einsturz der für den globalen Markt produzierenden Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch, bei dem über 1.100 Arbeiter*innen ums Leben kamen. So lange brauchte es, bis der Bundestag am 11. Juni 2021 das „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“, auch als „Lieferkettengesetz“ bekannt, verabschiedete. Union, SPD und die Grünen votierten für das Gesetz, die Fraktion Die Linke enthielt sich, AfD und FDP stimmten dagegen.

Das Gesetz verpflichtet größere Unternehmen ab dem Jahr 2023 dazu, menschenrechtliche Standards und Belange des Umweltschutzes in ihren Lieferketten einzuhalten. Im ersten Schritt müssen Unternehmen mit mindestens 3.000 Beschäftigten sicherstellen, dass es in ihrem eigenen Geschäftsbereich und bei unmittelbaren Zulieferern nicht zu Menschenrechtsverletzungen wie beispielsweise Kinderarbeit kommt. Bei weiteren Gliedern der Lieferkette müssen Unternehmen erst aktiv werden, wenn sie „substantiierte“ Kenntnis von einem möglichen Verstoß erhalten. Ab 2024 gilt das Gesetz dann auch für Unternehmen ab 1.000 Beschäftigten. Bei Nichteinhaltung der Regelungen drohen Bußgelder von bis zu zwei Prozent des jährlichen Umsatzes.

Jahrelang war um das Gesetz gerungen worden, vor allem die großen Wirtschaftsverbände waren gegen das geplante Gesetz Sturm gelaufen* (vgl. auch diesbezügliche BIG-Artikel vom 4. März 2021, vom 19. Juli 2020, vom 11. Dezember 2019 und vom 16. September 2019). Gewerkschaften, zahlreiche Menschenrechts- und Hilfsorganisationen unterstützten dagegen das Vorhaben. Sie bewerten die gesetzlichen Bestimmungen jedoch nur als einen ersten wichtigen Schritt, dem schärfere Regelungen folgen müssten und kritisierten vor allem, dass in dem Gesetz keine Regelungen zur zivilrechtlichen Unternehmenshaftung vorgesehen, damit auch keine Entschädigungen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen möglich sind. Aus Unternehmenssicht entscheidend ist mit Blick auf die fehlende Haftungsregel, dass der Gesetzestext lediglich eine „Bemühenspflicht, aber weder eine Erfolgspflicht noch eine Garantiehaftung“ vorschreibt.

Aus einem Pressestatement der „Initiative Lieferkettengesetz“ vom 11. Juni 2021:

„Der heutigen Abstimmung im Bundestag ist eine Lobbyschlacht vorausgegangen, die ihresgleichen sucht. Leider haben das Wirtschaftsministerium und viele Unions-Abgeordnete das Gesetz auf Druck der Wirtschaftslobbyisten an zahlreichen Stellen abgeschwächt. Das Gesetz umfasst zu wenige Unternehmen und macht zu viele Ausnahmen bei den Sorgfaltspflichten. Es verweigert Betroffenen den Anspruch auf Schadensersatz und setzt leider kein Zeichen für den Klimaschutz in Lieferketten.

Deswegen ist dieses Gesetz nur ein Etappenerfolg. Die Zivilgesellschaft wird auch weiterhin für Menschenrechte und Umweltschutz in der gesamten Wertschöpfungskette streiten: Für Nachbesserungen im Lieferkettengesetz, für eine wirkungsvolle Umsetzung und für eine europaweite Regelung, die an entscheidenden Stellen über das deutsche Gesetz hinausgeht.“**

Der Autor JustIn Monday kritisiert in einem Artikel der Zeitschrift Konkret diese Sichtweise:

„Die ins Gesetz eingebaute Wirkungslosigkeit allein auf Lobbyarbeit und Profitinteressen zurückzuführen greift allerdings zu kurz und trägt zur Verschleierung des Problems bei, das bereits in der von den NGOs favorisierten Grundstruktur der sogenannten Sorgfaltspflicht zum Ausdruck kommt. Juristisch zeigt es sich, weil eine Haftungsregel Haftung für Handlungen einfordern würde, die zum einen von anderen Personen begangen werden und die zum anderen fremdem Recht unterliegen – was selbstverständlich gegen die Grundsätze des bürgerlichen Rechts verstößt. Allein aus diesem Grund ist es notwendig, mit der Sorgfaltspflicht eine neue Rechtsform einzuführen, auf die sich die Rechtsfolgen überhaupt beziehen können. Zwischen der Rechtsnorm und der politökonomischen Realität, auf die sie Auswirkungen haben soll – also den Arbeitsbedingungen –, besteht allerdings nur in der Phantasie derjenigen ein Zusammenhang, die Fair Trade für eine Maßnahme halten, die kapitalistische Ausbeutung verhindern könne, wenn sie nur konsequent genug angewandt würde.“

* So war unter anderem von einem „Bürokratiemonster“ die Rede. Nach einer Studie des „Handelsblatt Research Institute“ (HRI) kostet es Unternehmen jedoch maximal 0,6 Prozent ihres Umsatzes, wenn sie ihren Verpflichtungen aus dem Gesetz nachkommen. Von überzogenen Vorschriften, die deutsche Unternehmen hohe Risiken aussetzen im internationalen Wettbewerb benachteiligen würde, wie etwa der Arbeitgeberverband BDA warnte, kann nach Angaben des Instituts keine Rede sein (vgl. Handelsblatt vom 17. Mai 2021).

** Das EU-Parlament befürwortet ein schärferes Gesetz. Am 10. März stimmten die Parlamentarier*innen mehrheitlich für den „Legislativbericht über menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten von Unternehmen“. Das Europaparlament empfiehlt damit der EU-Kommission, eine Art EU-weites Lieferkettengesetz einzuführen. Danach sollen kleine und mittlere Unternehmen nicht ausgenommen werden und zivilrechtliche Klagen gegen Unternehmen möglich sein.

Quellen:

Deutscher Bundestag: „Gesetzentwurf der Bundesregierung über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten vom 19. April 2021“, BT-Drucksache 19/28649

https://dserver.bundestag.de/btd/19/286/1928649.pdf

„Was im neuen Lieferkettengesetz steht – und was nicht“, Deutschlandfunk vom 11. Juni 2021

https://www.deutschlandfunk.de/koalition-einigt-sich-lieferkettengesetz-regelungen-und.2897.de.html?dram:article_id=492469

Initiative Lieferkettengesetz: „‚Noch nicht am Ziel, aber endlich am Start‘ – Kommentar zum Beschluss des Lieferkettengesetzes“, Pressestatement vom 11. Juni 2021

https://lieferkettengesetz.de/presse/

Martina Kind: „Mehr Respekt, bitte“, Süddeutsche Zeitung vom 5. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lieferkettengesetz-unternehmen-ausland-textilindustrie-1.5336393

JustIn Monday: „Jammerhöhlen der Exploitation“, Konkret 7/2017, Seite 24

https://www.konkret-magazin.de/404-aktuelles-heft

Frank Specht: „HRI-Studie: Kostenbelastung durch Einhaltung der Menschenrechte nur gering“, Handelsblatt vom 17. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/sorgfaltspflichtengesetz-hri-studie-kostenbelastung-durch-einhaltung-der-menschenrechte-nur-gering/27197452.html

Welt-Sichten (Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit): „Bundesrat billigt Lieferkettengesetz“, 25. Juni 2021

https://www.welt-sichten.org/nachrichten/39017/bundesrat-billigt-lieferkettengesetz

 

Globale Mindeststeuer – Minimallösung oder historischer Durchbruch?

Der Steuerexperte Christoph Trautvetter erläuterte jüngst in einem Interview mit der Zeitung Jungle World, wie Konzerne ihre Gewinne verschieben können, um Steuern zu vermeiden:

„Das Unternehmensteuersystem ist knapp 100 Jahre alt und basiert darauf, dass jede Tochtergesellschaft eines internationalen Konzerns im jeweiligen Land die Gewinne versteuert, die in diesem Land erwirtschaftet wurden. Heute ist aber Wertschöpfung nicht mehr so klar einem Ort oder einer Tochtergesellschaft zuzuordnen. Softwarelizenzen, Markennamen, Patente und andere immaterielle Werte spielen eine immer größere Rolle. Also verschieben die Konzerne diese Lizenzen, Markennamen und Patente auf dem Papier zu ihrer Tochtergesellschaft in einer Steueroase, und alle Gewinne fallen dort an, während die Tochtergesellschaft im Hochsteuerland auf dem Papier kaum Gewinne macht. So zahlen viele internationale Unternehmen kaum Gewinnsteuern.“

 Längst überfällig ist deshalb, dass auf internationalem Parkett Bemühungen erkennbar sind, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sprach zum Abschluss des Treffens der G20-Gruppe am 9./10. Juli in Venedig gar von einem „kolossalen Fortschritt“. Er bezog sich dabei auf die beschlossene Untergrenze bei der Besteuerung von Unternehmen, die den jahrzehntelangen ruinösen Steuerwettlauf nach unten beenden soll. Denn große, grenzüberschreitend tätige Konzerne sollen künftig 15 Prozent Steuern auf ihre Gewinne entrichten. 132 Staaten machen unter dem Dach der Industriestaaten-Organisation OECD mit, neun Länder, darunter bekannte Niedrigsteuerländer wie Irland und Ungarn, verweigern sich noch den getroffenen Absprachen. Bis Oktober 2021 wollen die 20 führenden Industrie- und Schwellenländer letzte Details der geplanten globalen Steuerreform klären. Die neuen Regeln sollen im Jahr 2022 Gesetzesform erlangen und dann ab 2023 in Kraft treten.

 Zwar ist geplant, dass international tätige Unternehmen unabhängig von ihrem Sitz den Mindeststeuersatz auf ihre Profite zahlen. Den Staaten werden jedoch keine Steuersätze direkt vorgeschrieben. Zahlt ein Konzern mit seiner Tochterfirma im Ausland jedoch weniger Steuern, kann der Heimatstaat die Differenz einfordern – mit dem Ziel, dass sich die Verlagerung von Gewinnen in Steueroasen nicht mehr lohnt.

 Die OECD erhofft sich durch die globale Mindeststeuer Mehreinnahmen von weltweit 150 Milliarden Dollar im Jahr. Nach Auskunft des Handelsblattes dürften sich die Auswirkungen der Neuregelung für den deutschen Fiskus jedoch in einem überschaubaren Rahmen halten. Nach einer Schätzung von Deloitte Deutschland kann die Bundesrepublik nur mit Mehreinnahmen von einer bis 1,5 Milliarden Euro rechnen (Handelsblatt vom 10. Juli 2021). Gemäß der Mindeststeuer-Regelung werden Unternehmen erst ab einem Jahresumsatz von 750 Millionen Euro zur Kasse gebeten. Weltweit betrifft die Steuer demnach 7.000 bis 8.000 Konzerne. In Deutschland lagen nach Daten des Statistischen Bundesamts 827 Firmen über der 750-Millionen-Euro-Umsatzschwelle (Handelsblatt vom 2. Juli 2021).

 Die globalisierungskritische NGO Attac stellt fest, dass der geplante Steuersatz von nur 15 Prozent viel zu niedrig sei. Er entspreche dem Niveau aktueller Steuersümpfe und berge die Gefahr, dass das globale Steuerdumping in diese Richtung fortgesetzt werde. Attac fordert dagegen als Ausgangspunkt einen globalen Mindeststeuersatz von 25 Prozent, einen Satz, der offensichtlich auch von zahlreichen internationalen Organisationen und Expert*innen gefordert wird. Die nominellen Steuersätze für Unternehmen hätten sich, so Attac, weltweit in den vergangenen 40 Jahren von rund 50 auf etwa 24 Prozent halbiert. In einer Zeit steigender Ungleichheit und angesichts der enormen Kosten der Pandemie gelte es, diese Entwicklung zu stoppen und umzukehren.

 Das Online-Magazin Telepolis argumentiert ähnlich:

„Würden die 15 Prozent wie geplant kommen, müssten europäische Steueroasen wie Irland oder Luxemburg ihre Steuersätze allerdings nur wenig erhöhen. Die Differenz zu Körperschaftssteuersätzen in anderen Ländern (Deutschland etwa 30 Prozent) bliebe aber fast unverändert bestehen. Deren Mehreinnahmen erhöhen sich kaum und, anders als behauptet, bleibt der Steuerwettbewerb erhalten und wird nicht bekämpft, obwohl unklar ist, ob Amazon und Co wirklich endlich zur Kasse gebeten werden.

Man darf sogar befürchten, dass sich eine Nivellierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einstellt, wenn der Mindeststeuersatz zum Standard wird und zum Beispiel auch Deutschland weiter unter Druck gerät, seine Steuern nach unten anzupassen (…) Entwicklungshilfeorganisationen wie Oxfam International kritisieren das Vorhaben aus dem Blickwinkel der Länder im globalen Süden. Auch die britische Organisation befürchtet, dass das gesamte Steuerniveau weltweit eher weiter abgesenkt als erhöht werde. (…) Es sei ‚absurd‘, dass man eine weltweite Mindeststeuer aufsetzen wolle, ‚die den niedrigen Steuersätzen in Steueroasen wie Irland, der Schweiz oder Singapur ähnlich ist, erklärt die Oxfam-Geschäftsführerin Gabriela Bucher.“

Auch das Neue Deutschland vermutet, dass die Mindeststeuer zum Niedrigstandard mutieren könnte:

„Eine Mindeststeuer könnte zwar die weltweite Erosion bei der Konzernbesteuerung stoppen und dafür sorgen, dass Entwicklungsländer mehr vom Kuchen abbekommen. Aber sie ist eben auch nicht mehr als eine Untergrenze, und 15 Prozent Gewinnbesteuerung sind verdammt wenig. Zu befürchten ist, dass sich viele Staaten an dieser Marke, die Gut von Böse unterscheiden soll, orientieren werden und die Untergrenze zur Benchmark wird. Umso wichtiger wird, dass große Blöcke wie die EU mit gutem Beispiel vorangehen, die eigenen Mitgliedsschurken zur Räson rufen und deutlich höhere Untergrenzen einziehen. Es mag sein, dass es mit der globalen Reform bei der Konzernbesteuerung in einigen Jahren etwas fairer zugehen wird. Aber fair ist auch das noch lange nicht.“

Alain Deneault, Professor für Philosophie an der Universität von Moncton (Kanada), hält die globale Steuer dagegen für einen Fortschritt, weniger aus fiskalischer denn aus juristischer Sicht. Denn sie gebe den global agierenden Konzernen den Status von Rechtssubjekten, während bislang in den einzelnen Staaten nur die auf ihrem Gebiet operierenden Tochtergesellschaften als Rechtssubjekte behandelt worden seien. Diese rechtliche Aufsplitterung hätten die Multis im Laufe ihres vor hundert Jahren begonnenen Siegeszugs bedenkenlos missbraucht. Allerdings stellt auch er fest, dass die Höhe der globalen Steuer „gering bis lachhaft“ ausfalle. „Der Satz von 15 Prozent“, so Deneault, „entspricht dem Trinkgeld, das in Nordamerika üblich ist“.

Quellen:

„Reform von reichen Staaten für reiche Staaten“, Webseite von Attac vom 10. Juni 2021

https://www.attac.de/kampagnen/pg-eurokrise/neuigkeiten/artikel/news/globale-mindeststeuer-zu-niedrig-und-zum-nachteil-der-aermsten-staaten

Alain Deneault: „Warum die gobale Steuer ein Fortschritt ist“, Le Monde diplomatique, Juli 2021, Seite 9

https://monde-diplomatique.de/zeitung

Martin Greive/Jan Hildebrand: „Mehreinnahmen von 150 Milliarden Euro pro Jahr – Das bringt die globale Steuerreform“, Handelsblatt vom 2. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/international/steuerpolitik-mehreinnahmen-von-150-milliarden-euro-pro-jahr-das-bringt-die-globale-steuerreform/27386662.html?ticket=ST-4916756-AqfbWLf6creEfoSOQx1D-ap6

Martin Greive/Carsten Volkery/Christian Wermke: „G20-Finanzminister beschließen globale Steuerreform – doch einige Fragen sind noch offen“, Handelsblatt vom 10. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/international/globale-mindeststeuer-g20-finanzminister-beschliessen-globale-steuerreform-doch-einige-fragen-sind-noch-offen/27409768.html

Kurt Stenger: „Die Sache mit der Fairness“, Neues Deutschland vom 2. Juli 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154016.globale-mindeststeuer-die-sache-mit-der-fairness.html

Ralf Streck: „G7 legalisiert das Recht auf Steuerhinterziehung“, Telepolis (Online-Magazin) vom 18. Juni 2021

https://www.heise.de/tp/features/G7-legalisiert-das-Recht-auf-Steuerhinterziehung-6110375.html?seite=all

„Eine globale Mindeststeuer wäre ein Paradigmenwechsel“, Interview mit Christoph Trautvetter, Jungle World vom 12. Mai 2021

https://jungle.world/artikel/2021/19/eine-globale-mindest-steuer-waere-ein-paradig-menwechsel