30 Jahre Business Crime Control

Die diesjährige Mitgliederversammlung und Fachtagung von Business Crime Control e.V. fanden am 28. August 2021 im Club Voltaire in Frankfurt am Main statt. In seinem Grußwort betonte der scheidende Vorsitzende Prof. Dr. Erich Schöndorf die Notwendigkeit, „auf der ökologischen Zielgeraden noch ein bisschen zuzulegen“, damit die Folgen der Klimakrise noch abgewendet werden können. Schöndorf war als Staatsanwalt seinerzeit unter anderem mit dem Holzschutzmittel-Prozess befasst, lehrte später Umweltstrafrecht an der FH Frankfurt am Main und schrieb einige Bücher zu Umweltthemen, zuletzt das Hörbuch „Game over?“

Ein Grußwort gab es auch von dem Mitbegründer von BCC, Prof. Dr. h.c. Dieter Schenk, der als Kriminaldirektor im Bundeskriminalamt arbeitete, bevor er sich als freier Autor unter anderem mit der Geschichte des Amtes und den Verstrickungen dort leitend Tätiger im NS-Regime auseinandersetzte.

Als neuen Vorsitzenden wählte die Mitgliederversammlung Hans Möller, Diplom-Meteorologe und aktiv im Koordinierungskreis von attac Frankfurt am Main. Zum stellvertretenden Vorsitzenden wurde der Fernsehjournalist und Publizist Herbert Stelz gewählt. Eberhard Ruoff bleibt Kassierer, Victoria Knopp Schriftführerin. Prof. i.R. Reiner Diederich und Frank Ebert wurden als Beisitzer bestätigt. Neu als Beisitzer wurde Herbert Storn gewählt, Mitglied im Landesvorstand der GEW Hessen und aktiv bei Gemeingut in BürgerInnenhand.

Die sich anschließende Fachtagung stand unter dem Thema: „Vergehen an Klima und Umwelt – staatlich genehmigt und gefördert? Die Fälle Gigafactory Tesla und Kali + Salz AG“. Zunächst berichtete der Mitbegründer und Ehrenvorsitzende von BCC Prof. Dr. Hans See über die Ziele, die man sich bei der Gründung des Vereins gesetzt hatte. Es sei nicht in erster Linie darum gegangen, durch Gesetzesverschärfungen Wirtschaftskriminalität zu unterbinden, sondern sie präventiv zu verhindern – durch mehr Mitbestimmung in den Betrieben und Unternehmen, durch eine Entwicklung hin zur Wirtschaftsdemokratie anstelle der Chefetagen als „demokratiefreie Zone“.

Die Gründer von BCC hätten sich vorgestellt, dass es alternativ zur üblichen Wirtschaftskriminologie eine Art Thinktank geben könnte, der das Thema kapitalismuskritisch angeht, aber nicht der Illusion anhängt, dass mit einer Änderung des Wirtschaftssystems quasi automatisch die Wirtschaftskriminalität verschwindet. Die Geschichte der staatssozialistischen Länder habe gezeigt, dass die Lebensgrundlagen gefährdende Verhaltensweisen und Wirtschaftsverbrechen keineswegs ausgeschlossen oder beseitigt waren.

Der Verein sei bewusst nach der „Wiedervereinigung“ gegründet worden, als die bipolare Weltordnung am Ende war. Es ging um die Wahrnehmung der Schäden, die durch illegales oder illegitimes unternehmerisches Handeln erzeugt werden. Die durch Wirtschaftskriminalität entstehenden Schäden seien höher als die aller anderen Arten von Kriminalität zusammengenommen gewesen und das sei auch heute noch so. Dies sollte sachlich-fachlich analysiert werden. Was dazu in den Lageberichten des Bundeskriminalamts gestanden habe, sei viel zu oberflächlich gewesen.

Auch herrschte bei manchen noch ein Denken vor, das die Wirtschaftskriminalität als Teil des wirtschaftlichen Kreislaufs sah und damit verharmloste. Bei den Milliarden Drogengeldern wurde beispielsweise gedacht: Abgesehen von den gesundheitlichen Folgen für die Süchtigen und der notwendigen Kriminalisierung des Drogenverkaufs – das Geld ist ja wenigstens nicht verloren, es wird wieder investiert und mehrt so letzten Endes den gesamtgesellschaftlichen Reichtum.

BCC habe zeigen wollen, dass Wirtschaftskriminalität mehr ist als eine Straftat. Bei der Umweltzerstörung, der Abholzung von Wäldern, der Nutzung von Pestiziden geht es nicht nur um Verstöße gegen Gesetze, sondern um unser aller Leben und Wohlergehen. Zum Teil gibt es ja noch nicht einmal juristische Möglichkeiten, hier etwas zu unterbinden, oder sie werden nicht angewandt (wie die anderen Referate der Tagung belegten). Seit über 50 Jahren, seit dem Bericht des Club of Rome im Jahr 1972 werde darüber informiert und diskutiert. Vielen, die sich heute zum Beispiel bei Fridays for Future engagieren, sei dies oft überhaupt nicht bewusst. Es bestehe immer die Gefahr der Vereinnahmung von Bewegungen – eine klassische Methode. Dann werde „der ganze Staat grün angestrichen“, ohne dass sich viel ändert.

Seit den 1970er Jahren sei, wenn es um Wirtschaftskriminalität ging, die Mafia ein großes Thema gewesen. Weniger im Fokus standen die politischen Kräfte und Strukturen, die mit der Mafia in irgendeiner Weise verbunden waren, wie in Italien beispielsweise die christlich-demokratische Partei. Oder die Banken, die dabei halfen, Geld zu waschen und es in den normalen Verwertungskreislauf einzuschleusen.

Ein Thema, das ebenfalls vernachlässigt war, aber von BCC aufgegriffen wurde: die Wissenschaftskriminalität, das Dunkelfeld der gekauften Wissenschaft. Dazu habe einmal ein Manager aus der Atomindustrie gesagt: „Ich kann, wenn ich genug Geld habe, jedes Gutachten bekommen“.

Nach der Gründung von BCC entstanden weitere Organisationen, die sich unter anderem auch mit Wirtschaftskriminalität befassen – beispielsweise Transparency International, LobbyControl oder Attac. Charakteristisch für den spezifischen Ansatz von Business Crime Control  bleibe die Forderung nach einer präventiven Kriminalitätspolitik durch Demokratisierung der Wirtschaft, nach einer „kriminalpräventiven Mitbestimmung“.

In der Diskussion wurde die Notwendigkeit betont, wieder die demokratietheoretische Debatte zu beleben und sich mit anderen Initiativen zu vernetzen, die sich gegen die sozialschädlichen Folgen einer gegen Gesetze und ethische Normen verstoßenden Ökonomie zur Wehr setzen.

Es folgte der Beitrag von Dr. Walter Hölzel, dem Vorsitzenden der Werra-Weser-Anrainerkonferenz e.V.: „Kaliherstellung in Deutschland – ein seit Jahrzehnten eingeübtes System zur Umgehung des Rechts“. Es geht um die K+S AG, früher Kali und Salz AG mit Sitz in Kassel. K+S ist der weltweit größte Salzproduzent und in der internationalen Spitzengruppe, was kali- und magnesiumhaltige Produkte für landwirtschaftliche und industrielle Zwecke betrifft.

Bei der Herstellung von Kalisalz entstehen Abwässer, die bisher mit staatlicher Genehmigung in den Untergrund verpresst oder in die Flüsse Werra und Weser eingeleitet werden. Die Versalzung der Flüsse hat zur Folge, dass in ihnen die Süßwasser-Lebensgemeinschaft vernichtet wird und bis Bremen kein Trinkwasser mehr aus dem Uferfiltrat gewonnen werden kann.

Zum internationalen Tag des Wassers 2007 fand eine Konferenz der Flussanrainer statt, auf der die umweltschädlichen Praktiken von K+S kritisch beleuchtet wurden. 2008 wurde dann die Werra-Weser-Anrainerkonferenz als gemeinnütziger Verein gegründet. In ihm sind Kommunen, Verbände, Vereine und Wirtschaftsunternehmen zusammengeschlossen, die in der Flussgebietseinheit Weser von der Versalzung der Flüsse und des Grundwassers betroffen sind.

Der Verein hat inzwischen umweltfreundliche Alternativen entwickelt, deren technische und wirtschaftliche Machbarkeit 2014 vom Umweltbundesamt bestätigt wurde. Sie zeigen, wie die Ziele der EU-Wasserrahmen-Richtlinie bis 2027 verwirklicht werden könnten.

Im Beitrag von Walter Hölzel wurden die Verstrickungen von Behörden mit dem Unternehmen K+S bei der Erteilung von Genehmigungen dargestellt, die mittlerweile von der Staatsanwaltschaft Meiningen als rechtswidrig eingestuft wurden.

Über ein weiteres Beispiel, wie Bürgerinitiativen und zivilgesellschaftliche Organisationen sich gegen eine allzu kapitalhörige Genehmigungspraxis zur Wehr setzen können, berichtete der Berliner Anwalt für Umweltrecht Thorsten Deppner. Sein Thema: „Großindustrieansiedlung auf zweifelhafter Rechtsgrundlage – der Fall Tesla in Brandenburg“. Deppner vertritt den Brandenburger Landesverband des Naturschutzbunds Deutschland und die Grüne Liga Brandenburg im Streit um die Zulassung des vorläufigen Beginns von Rodungs- und Baumaßnahmen für die „Gigafactory“ Tesla. In ihr sollen in großem Maßstab E-Autos, auch E-SUVs gebaut werden. Dies schaffe Arbeitsplätze und beschleunige das notwendige Ende des Verbrennungsmotors – so die Begründung der Landesregierung für die schnelle Zulassung. Die Umweltverbände unterlagen einerseits vor Gericht mit ihren Einwänden, hatten aber auch in einem Fall Erfolg und erwirkten einen vorübergehenden Baustopp. Die juristische Auseinandersetzung dauert an.

Zusammenfassend referierte dann Herbert Storn über „Skandale mit System“. Was als Einzelfälle erscheint sei symptomatisch für die sozial- und umweltschädlichen Folgen einer ungebremsten Kapitalverwertung. Der Schutz von Mensch und Umwelt bilde zwar eine normative Grundlage für das gesellschaftliche Leben, die unter anderem im Grundgesetz festgeschrieben ist. Aber das Profitprinzip als normative Grundlage des kapitalistischen Wirtschaftens stehe dem entgegen. Hinzu komme die immer stärkere Machtkonzentration bei den transnationalen Konzernen, die kaum noch unter eine demokratische Kontrolle zu bringen ist. Die Widersprüche verschärften sich in der Krise bis zu einem Punkt, an dem sie jedem offensichtlich werden. Notwendig sei es, alle kritischen Initiativen zusammen zu bringen, die Aufklärung leisten und Widerstand gegen die destruktiven Entwicklungen leisten können.

Aus: Beilage von BIG Business Crime zu Stichwort BAYER Nr. 4/2021

 

Unheiliges Erbe – über die Wurzeln des bundesdeutschen Managements

Das (west)deutsche Wirtschaftswunder der 1950er Jahre beruhte in weiten Teilen auf den während der Nazizeit geschaffenen ökonomischen Strukturen – diese Erkenntnis hat sich in der historischen Forschung schon seit langer Zeit durchgesetzt. Bekannt sind aus dieser Zeit auch die zahlreichen persönlichen Kontinuitäten in Wirtschaft und Politik – eine ernsthafte Verfolgung belasteter Nazis fand damals kaum statt. Erst nach 1968 wurde langsam begonnen, die unheilige Vergangenheit von Politikern und Wirtschaftskapitänen aufzugraben. Abgeschlossen ist diese Aufarbeitung noch immer nicht – ansonsten wäre das hier rezensierte Buch längst erschienen.

Der französische Historiker Johann Chapoutot verweist gleich im Vorwort seines kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen Werkes „Gehorsam macht frei“ auf den bekannten Fakt, dass die Führungselite des „Dritten Reiches“ keineswegs nur aus kriminellen Schlagetots und militärischen Eisenfressern bestand. Der Autor nennt als ein Beispiel für skrupellose Manager in den Reihen deutscher Nazis den Agrarwissenschaftler Herbert Backe (1896-1947) – einen Verantwortlichen für die Ausarbeitung des „Hungerplanes“, mit dem die Naziführung die Bevölkerung der besetzten Sowjetunion durch Nahrungsmittelentzug um 30 Millionen Menschen reduzieren wollte und dies teilweise auch tat. Ein weiteres „Monster in SS-Uniform“ ist für Chapoutot der Architekt Hans Kammler (1901-1945) – KZ-Baumeister und Verantwortlicher für die Entwicklung und Produktionen der V2-Rakete. Kammler verschuldete den Tod zehntausender KZ-Häftlinge, die der industriell betriebenen Menschenvernichtung oder aber der Produktionshetze und den mörderischen Arbeitsbedingungen in Arbeitslagern zum Opfer fielen.

Backe erhängte sich 1947 in einer alliierten Gefängniszelle. Kammler ist seit dem Kriegsende verschollen – wahrscheinlich endete er ebenfalls durch Suizid.  Andere Täter hingegen, ebenfalls überzeugte Sozialdarwinisten, die während des 2. Weltkrieges „ganze Bevölkerungen umsiedelten, ganze Landstriche aushungerten, und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft bis zur völligen Erschöpfung befürworteten“, konnten in der Nachkriegszeit ihre Karriere in modifizierter Form fortsetzen. Wie Chapoutot schreibt, hätten die „nationalsozialistischen Vorstellungen von Management über das Jahr 1945 hinaus fortbestanden und (konnten) in den Jahren des Wirtschaftswunders fröhliche Urständ feiern“. Dabei fungierten „ehemalige hochrangige SS-Leute (…) nicht nur als Theoretiker (…), sondern  als Praktiker“.

Der Autor liefert in den folgenden Kapiteln keine Entstehungsgeschichte des Faschismus und auch keine Analyse des faschistischen Systems als Ganzes – ihm geht es um die von den Nazis betriebene Form der Wirtschaftssteuerung und deren mörderische Folgen. Es finden sich aber interessante Fakten: In ihrer Selbstdarstellung präsentierte sich das Naziregime gern als „geschlossene Volksgemeinschaft“, als übergreifende Ordnungsmacht, organisiert nach dem Führerprinzip. Entsprechend ist auch das Bild, welches sich die meisten Menschen vom Dritten Reich machen. Tatsächlich aber betrachteten die Nazis, so der Autor, den Staatsapparat nur als Mittel zum Zweck. Der von ihnen als träge und ineffizient betrachtete Beamtenapparat wurde an den Rand gedrängt, durch ein Gewirr unterschiedlicher quasi-staatlicher Institutionen mit nicht selten überschneidenden Kompetenzen und Aufgabenstellungen  ersetzt. Der Justizapparat blieb zwar bis zum Schluss bestehen – da aber die Reichsführung den permanenten Notstand dekretiert hatte, konnten deren Urteile ohne weiteres aufgehoben, freigesprochene Beschuldigte kurzerhand ermordet oder per Federstrich in Konzentrationslager eingewiesen werden.

Entscheidend sei für die Nazis das „Leistungsprinzip“ und das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit gewesen – diejenigen der untereinander konkurrierenden Apparate, die mit den gestellten Aufgaben tatsächlich fertig wurde, hatten jeweils die Oberhand und erhielten dann auch zusätzliche Befugnisse. In der Endphase des Krieges waren das diejenigen Organisationen, welche – wie zum Beispiel die SS – besonders brutal und ohne jede Spur von Rücksicht agierten. Die mörderischen Folgen dieser Logik sind bekannt.

Chapoutots Buch konzentriert sich im Wesentlichen auf den Werdegang des Staatsrechtlers Reinhard Höhn (1904-2000). Höhn kam ursprünglich aus dem rechtskonservativen „Deutschen Orden“, trat dann 1933 der Nazipartei und der SS bei. In der Folgezeit entwickelte er sich zu einem führenden Ideologen des Regimes, erhielt eine Professur und wurde hochrangiger SS-Führer. Nach 1945 blieb er in der Bundesrepublik weitgehend unbehelligt. Dank der Unterstützung rechter Netzwerke in Politik und Wirtschaft wurde er dann im Jahre 1953 Direktor der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“, einer Art Denkfabrik der Deutschen Industrie. Auch erhielt er eine Professur an der von ihm gegründeten „Harzburger Akademie für Führungskräfte“.

Wie Chapoutot schreibt, übertrug Höhn das unter seiner Mitwirkung im NS-Regime entwickelte administrative Modell nach 1945 auf die Privatwirtschaft – offenbar mit großem Erfolg. Obwohl Höhns braune Vergangenheit spätestens ab Mitte der 1960er Jahre öffentlich bekannt war, besuchten bis zum Jahre 2000 etwa 600.000 Manager bundesdeutscher Unternehmen die von ihm gegründete Akademie.

Chapoutots abschließend getroffener Feststellung: „Das Management und seine Welt sind nicht neutral“ kann man selbstverständlich beipflichten. Eine übergreifende Abrechnung mit sozialdarwinistischem Denken und Handeln findet sich in dem Buch allerdings nicht. Und erst recht keine Darstellung der gegenwärtigen Abgründe kapitalistischen Managements.

Johann Chapoutot: Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute. Aus dem Französischen von Clemens Klünemann, Propyläen Verlag, 173 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-549-10035-6

 

 

 

 

Skandale mit System

Wirtschaftskriminalität/Business Crime wird gern im “Schattenbereich“, im Milieu, bei der Mafia angesiedelt. Und doch finden wir sie in der Realität mitten in der Gesellschaft.

 In dem Ankündigungstext eines Webinars mit Sven Giegold unter der Überschrift: „Too big to jail?“ heißt es:

 „CumEx, WireCard, Abgasskandal, Kartellverfahren oder die vielen Bankenskandale: Der Schaden für die Steuerzahler*innen und für die deutsche Wirtschaft durch Wirtschaftskriminalität ist riesig – und auch für Verbraucher*innen, Aktionäre und Arbeitnehmer*innen. Dennoch: Die meisten Verfahren werden von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Wirtschaftskriminalität richtet einen erheblichen Schaden an und scheint dennoch kaum zu bekämpfen zu sein. Verantwortliche in Führungspositionen von Unternehmen können nur selten individuell zur Verantwortung gezogen werden. (…)

Dennoch gibt es auf entsprechende Meldungen in der Öffentlichkeit jeweils sehr unterschiedliche Reaktionen:

 

  • Eher erschrocken ungläubig. Vor allem ungläubig gegenüber der Tatsache, dass regelmäßig und offensichtlich der über alles wachende Staat und seine Rechtsorgane so leicht übertölpelt werden können.
  • Oder eher widerwillig hingenommen. Achselzuckend bedauernd als Ausrutscher. Eben als „Skandal“ abgetan.
  • Oder heimlich trotzig gerechtfertigt. Wie bei den Steuerhinterziehern. Sind wir das nicht irgendwie alle?!
  • Oder eben doch „mit System“. Und zwar ohne Fragezeichen.

Um dieses System, um dieses Systemische geht es mir hier. Davon abhängig die Frage der effektiven Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität – ihren Möglichkeiten oder ihrer Unmöglichkeit. Das Hase-Igel-Spiel. Nur dass es kein Spiel ist. Weil zu viel auf dem Spiel steht (siehe oben): eine soziale Gesellschaft, der Erhalt der Lebensgrundlagen, Recht und Demokratie.

Wenn ein Wirtschaftssystem wie das kapitalistische aus sich heraus kriminelles Handeln nicht nur nicht ausschließt, sondern als Bestandteil seines „Waffenarsenals“ betrachtet, Wirtschaftskriminalität also dem kapitalistischen Wirtschaftssystem inhärent ist, dann gehört es wahrlich auf den Prüfstand.

Zunächst: worin besteht die grundsätzliche „inhärente Kriminalitätsaffinität des Kapitals“?

Im Kern geht es um die Frage, inwieweit sich das Kapital in Gestalt seiner multinationalen weltweit operierenden Konzerne an bestehende Rechtsnormen zu halten gewillt ist, geschriebene wie ungeschriebene. Denn unbestritten sind soziale Gerechtigkeit, der Schutz von Mensch und Umwelt die normativen Vorgaben unserer Gesellschaft. Das durch die kapitalistische Konkurrenz bedingte Ranking von Profiraten als Grundlage für Investitionsentscheidungen ist aber eine völlig andere normative Vorgabe.

16 Jahre ist es her, dass der damalige Chef der Deutschen Bank Josef Ackermann wie selbstverständlich die Maxime von der 25 Prozent Gewinnmarge öffentlich ausgegeben hat. Dafür wurde er 2005 eher bewundert als kritisiert.

Dazu aus dem 1. Band des Kapitals von Karl Marx eine auch heute noch hochaktuelle Passage, wo Marx den Gewerkschafter Dunning zu Wort kommen lässt:

„Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird das Kapital kühn. 10 Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, und es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren.“

Die Qualität der unheilvollen Macht des Kapitals in Gestalt seiner multinationalen Konzerne ist auch auf dieser Fachtagung von Business Crime Control das Problem, wie anhand der Beispiele von Kali+Salz AG und Tesla gezeigt wurde.

Es geht um nicht mehr oder weniger als darum, ob wir von einer Demokratie überhaupt sprechen können.

Das World Economic Forum – WEF-Davos – (die mächtigste Propaganda-Plattform des privaten Kapitals) stellte 2009 fest:

„Im Fall der Multinationalen Konzerne hat ihre effektive Reichweite als de-facto Institutionen der globalen Governance schon lange die Tätigkeit des UN-Systems überflügelt. (…) Multinationale Konzerne und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen als vollwertige Akteure im globalen Governance System anerkannt werden, nicht nur als Lobbyisten.“

Private Unternehmens-Akteure haben inzwischen größeren Einfluss als gewählte staatliche Akteure, fallen aber nicht unter die demokratische Kontrolle!

Oder wie es Rainer Mausfeld zuspitzt:

„Mit transnationalen Großkonzernen schuf er (der Neoliberalismus, H.S.) eine neue Klasse von Akteuren, die formal abgesicherte Freiheitsrechte erhielten, die weit über Rechte natürlicher Personen hinausgehen. Diese Akteure genießen einen einzigartigen Schutz vor öffentlicher Transparenz und staatlichen Eingriffen in ihre Arbeitsbereiche. Sie haben die Rechte von Übermenschen erhalten, und sind jeder gesellschaftlichen Verantwortlichkeit und Kontrolle entzogen. Sie sind rechtlich verpflichtet, sich gesellschaftlich pathologisch zu verhalten, Macht und Reichtum zu maximieren und zugleich eigene Kosten zu externalisieren, also auf die Allgemeinheit abzuwälzen. So entstanden in den vergangenen Jahrzehnten die totalitärsten Strukturen, die der Mensch je geschaffen hat. Ihre globale Vernetzung hat die eigentlichen Zentren der Macht einer Verstehbarkeit durch die Öffentlichkeit entzogen und sie damit gleichsam unsichtbar gemacht. Indem Herrschaft zunehmend anonymisiert wurde, entfällt die Möglichkeit, Verantwortlichkeiten zuzuweisen und damit auch grundsätzlich die Möglichkeit demokratischer Kontrolle.“

(Rainer Mausfeld: Die neoliberale Mitte als demokratische Maske einer radikal antidemokratischen Gegenrevolution, in: Ali, Flassbeck, Mausfeld, Streeck, Wahl: Die extreme Mitte: Wer die westliche Welt beherrscht, Wien 2020, S.147)

Und die Übergänge zwischen der kriminellen und der legalen Wirtschaft sind fließend, wie die folgende Meldung zeigt:

„Banken helfen Terroristen und Drogendealern“, titelte die Frankfurter Rundschau vom 23. September 2020 in einem Bericht über die „FinCEN-Files“. Dafür haben mehr als 400 JournalistInnen  recherchiert. Die Recherche zeigte, wie kaputt das System der internationalen Geldwäscheüberwachung ist, denn beteiligt waren auch fünf der mächtigsten Banken der Welt. Und alle erklärten, sie nähmen die Geldwäschebekämpfung sehr ernst.

Ein Grund für die fehlende Wirkungsmächtigkeit alternativer kritischer Ansätze und damit das Demokratie-Defizit liegt vermutlich in der unzureichenden Wahrnehmung der Dreistigkeit und der Militanz der neoliberalen Politik.

Die heute vorgetragenen Beispiele betreffen ja nicht nur eine Schädigung der Umwelt, sondern auch den Umgang mit Rechtsvorschriften. Sie zeigen, dass die Verteidigung von Ökologie und Recht heute von ehrenamtlichen Initiativen getragen werden muss, weil die meisten Parteien bereits zu stark in die ökonomischen Verhältnisse eingebunden sind. Das bedeutet natürlich einen ungeheuren Arbeitsaufwand und ungleiche Kampfbedingungen (David gegen Goliath).

Für BCC heißt das keine abnehmende, sondern eine zunehmende Bedeutung, das Problem stärker in der Öffentlichkeit, in der öffentlichen Wahrnehmung und vor allem im öffentlichen kritischen Diskurs zu verankern.

Ein Institut, wie es heute schon von einigen NGOs gemacht wird, wäre durchaus wünschenswert. Und wenn man träumen darf, wäre eine wissenschaftliche Beauftragung und Betreuung in einem solchen Rahmen eine wichtige Stütze – auch für eine sozial-ökologische Transformation.

Wenn noch die unabdingbare Vernetzung mit Initiativen dazukäme, wäre die „kritische Masse“ nicht unerheblich gestärkt.

Was tun?

Das bereits genannte WEF (das übrigens von rund 1.000 Großkonzernen finanziert wird) organisiert und betreut seit 1992 (also etwa so lang wie es BCC gibt) sogenannte „Young Global Leaders“, darunter in der ersten aufgemachten Klasse Angela Merkel, die von Kohl damals als „mein Mädchen“ bezeichnet wurde. Zur Zeit sind es 1.300 Leaders, die in dieser Verbindung sind, darunter vier Gesundheitsminister aus Deutschland (Andrea Fischer, Daniel Bahr, Philipp Rössler, Spahn), aber auch Macron, Özdemir und viele andere Politiker, aber auch Medienleute wie Maischberger.

Seit 2012 hat das WEF zusätzlich noch die „Global Shapers“ installiert. Das sind z.Zt. rund 10.000 junge Nachwuchskräfte unter 30 Jahren in 400 Städten weltweit.

Warum ich das ausführe:

Wenn wir die kapitalinhärente Wirtschaftskriminalität mit all den auch heute geschilderten dramatischen Auswirkungen wirklich überwinden wollen, also David gegen Goliath, dann kommen wir nicht darum herum, wenigstens ansatzweise solchen Influencern wie dem WEF durch die Verbindung von Wissenschaft, aktiven Gruppen, kritischen Medien und PolitikerInnen mit eigenem Verstand entgegenzutreten.

Nehmen wir uns ein Beispiel an der MEMORANDUM-Gruppe, die 1975 der Einleitung des Sozialabbaus ein erstes Memorandum der Professoren Huffschmid, Hickel und Schui entgegensetzte und das bis heute tut.

Ein sogenannter Think-Tank einer wirtschaftskritischen Denkgruppe aus Sozialwissenschaftlern, NGO-Vertretern, Publizisten und Journalisten, die sich mit den gesellschafts- und demokratietheoretisch relevanten Problemen der weltweit wirksamen Wirtschaftsverbrechen, mit Konzern-Verbrechen befassen und sie eben nicht durch Selbstkontrolle oder immer schärfere Strafgesetze, sondern durch Kapital-Kontrollräte, kriminalpräventive Mitbestimmung, Globalsanktionen (denen das Kapital nicht ausweichen kann, also Internationalisierung der kriminalpräventiven Wirtschaftsdemokratie) zu bekämpfen versucht.

Das wäre doch was!

Herbert Storn
ist Mitglied im Landesvorstand der GEW Hessen, aktiv bei Gemeingut in BürgerInnenhand und Vorstandsmitglied von Business Crime Control e.V.

Wir dokumentieren hier seine Rede auf der Fachtagung von BCC, die zum Thema: „Vergehen an Klima und Umwelt – staatlich genehmigt und gefördert? Die Fällte Gigafactory Tesla und Kali + Salz AG“ am 28. August 2021 in Frankfurt am Main stattfand.