„Pandemisches Systemversagen“

Unter dem Titel „Pandemisches Systemversagen“ ist im Newsletter von medico international vom 29. November 2021 ein Artikel von Anne Jung erschienen. Die Politikwissenschaftlerin leitet die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation. Sie ist außerdem zuständig für die Themen globale Gesundheit und internationale Handelsbeziehungen.

Am 21. März 2021 war Anne Jung in einer von Business Crime Control e.V. und der KunstGesellschaft e.V. im Club Voltaire in Frankfurt am Main organisierten Matinee zu Gast, bei der es um die Kampagne „Patente töten“ ging, zu der sich Nichtregierungsorganisationen aus über 30 Ländern zusammengeschlossen haben. Sie fordern eine Aufhebung des Patentschutzes nicht nur für die neuen Corona-Impfstoffe, sondern für alle unentbehrlichen, lebensrettenden Medikamente. Arzneimittel müssten als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmakonzernen begrenzt werden. An der Aktion beteiligt ist auch medico international.

In ihrem Artikel stellt Anne Jung die Corona-Pandemie in den Zusammenhang weltweiter Krisen und struktureller Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten: „Das Virus traf auf Weltverhältnisse, die aus einer Pandemie eine Polypandemie machten… Die Polypandemie hat wirtschaftliche Insolvenzen ausgelöst, die Ernährungsunsicherheit wurde durch die Verbindung von Corona und Klimakatastrophe vergrößert und bestehende Hungersnöte verschärften sich… Im Gepäck internationaler Reisetätigkeiten und durch die konsequente Weigerung Europas und der USA, rasche Gegenmaßnahmen zu ergreifen konnte sich das Virus in rasanter Geschwindigkeit ausbreiten. Die maroden Gesundheitssysteme vieler Länder und nationalistische Politiken trugen ihr Übriges zur Ausbreitung bei.“

Um dem Virus Einhalt zu gebieten habe die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai 2020 – kurz nach dem ersten Lockdown in vielen Ländern Europas und anderen Teilen der Welt – einen weitreichenden und von der Idee globaler Solidarität getragenen Vorschlag gemacht: „Sie rief den Covid-19 Technologie-Zugangspool (C-TAP) ins Leben, um den rechtzeitigen, gerechten und erschwinglichen Zugang zu Covid-19-Gesundheitsprodukten zu erleichtern. Der C-TAP könnte ein Fokuspunkt sein für die Entwickler:innen von Covid-19-Therapeutika, -Diagnostika, -Impfstoffen und anderen Gesundheitsprodukten, die ihr geistiges Eigentum, ihr Wissen und ihre Daten mit qualitätsgesicherten Herstellern durch freiwillige und transparente Lizenzen teilen.“

Impfstoff-Nationalismus statt Solidarität

Dieser Vorschlag, für den sich außer der WHO auch mehr als 40 Länder des globalen Südens einsetzten, wurde von den Industrienationen, in denen die großen Pharmaunternehmen ansässig sind, ignoriert. An vorderster Stelle von der Bundeskanzlerin Angela Merkel und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie zogen es wie ihre Kolleginnen und Kollegen aus den anderen europäischen Ländern vor, mit der Pharmabranche Exklusivverträge zu schließen und im Interesse von deren Gewinnmaximierung die Patentierung der zu entwickelnden Medikamente gegen Corona unangetastet zu lassen.

Der WHO blieb nun nichts anderes übrig, als die reichen Länder um finanzielle Unterstützung für den Ankauf von Impfdosen für die ärmeren Ländern zu bitten und Verteilungsgerechtigkeit anzumahnen, zumal das Virus nur weltweit besiegt werden kann.

„Organisiert wird die Verteilung der Impfstoffe über die an die WHO angedockte Initiative Covax, die einen weltweit gleichmäßigen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen gewährleisten soll. Sie basiert auf freiwilligen Zuwendungen von Staaten, der Pharmaindustrie (lächerliche 1% der Summe hat sie bisher beigesteuert!) sowie von Stiftungen, allen voran der Bill & Melinda Gates-Stiftung, die ihrerseits auf die Aufrechterhaltung des Patentsystems pocht. Covax ist ein klassisches Projekt privat-öffentlicher Zusammenarbeit, mit der die globale Governance einer massiv fragmentierten Gesundheitsarchitektur fortgesetzt wird.“

Damit wird die Abhängigkeit der armen Länder von den Industrienationen fortgeschrieben und eine künstliche Verknappung des Impfstoffs bewirkt, die den Pharmakonzernen ihre Gewinne garantiert. Dabei haben sie bereits von der jahrzehntelang öffentlich geförderten Forschung beispielsweise zu der neuartigen mRNA-Technologie profitiert und für die schnelle Entwicklung von Impfstoffen in der Corona-Krise staatliche Unterstützungsgelder in Milliardenhöhe erhalten. Aber auch hier gilt das alte Motto: Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste.

Dem entsprechend wurde der Antrag von Indien und Südafrika zur Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Medizinprodukte für den Zeitraum der Pandemie im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) unter anderem von der Bundesregierung unter Merkel und Scholz und von der EU abgelehnt, obwohl ihn sogar die US-Regierung unter Biden so wie viele anderen Regierungen befürwortete.

Verlängerung der Pandemie

Anne Jungs bitteres Fazit: „Warum halten Länder wie Deutschland auch angesichts 250 Millionen Infizierter und mehr als fünf Millionen Toter weltweit weiter an dem Patentsystem fest und versuchen nicht alles, um die Pandemie einzudämmen? Es ist unübersehbar: In der Pandemie zeigen sich die systemischen Rahmenbedingungen des globalen politischen Arrangements neoliberaler Globalisierung auf unerträgliche und unannehmbare Weise. Um den Kapitalismus unangetastet zu lassen, wird die Verlängerung der Pandemie mit Millionen Toten durch die direkten und indirekten Folgen der Pandemie billigend in Kauf genommen.“

Der Protest gegen diese Verhältnisse sei in den letzten Jahren aber weltweit stärker geworden. Auch weil die Argumentation der Pharmakonzerne, der globale Süden sei nicht in der Lage, die Impfstoffe gegen Corona qualifiziert genug herzustellen, durchaus rassistische Untertöne enthält. Ein Großteil der hierzulande benötigten Medikamente wird beispielsweise längst – wegen des „komparativen Kostenvorteils“ – in Indien hergestellt. Andere Länder könnten binnen weniger Monate in die Produktion von Impfstoffen einsteigen. Ein Land wie Kuba hat gezeigt, dass auch bei begrenzten Ressourcen ein funktionierendes Gesundheitswesen aufgebaut und eigenständig ein Impfstoff gegen Corona entwickelt werden kann.

Der Artikel von Anne Jung schließt mit den Forderungen:

„Zugleich müssen die über die Pandemie hinausweisenden Fragen der globalen Gesundheitspolitik im Interesse der Menschen und nicht des Kapitals beantwortet werden: Die Abschaffung der Patente auf alle essentiellen Arzneimittel über die Pandemie hinaus; der Kampf um das Ende globaler Naturausbeutung, die eine der strukturellen Ursachen für Krankheitserreger ist, die immer neue Pandemien hervorruft. Eine konsequente Dekolonisierung der globalen Gesundheitspolitik, in der die dominanten Staaten Macht und Kontrolle abgeben, Wissen und Fähigkeiten teilen; der Aufbau von öffentlichen und allen zugänglichen Gesundheitssystemen als bestes Mittel zur Verhinderung weiterer Pandemien.“                                                                                                                                           

Quelle: www.medico.de

Aus der Beilage von BIG Business Crime zu Nr. 1/2022 von STICHWORT BAYER.

Auf den Spuren des Faschismus im deutschen Arbeitsrecht

Hans-Carl Nipperdey war von 1925 bis 1954 Professor für Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht in Köln, hatte in der NS-Zeit und auch noch nach 1945 als Präsident des Bundesarbeitsgerichts (von 1954 bis 1963) maßgeblichen Einfluss auf Theorie und Praxis des Arbeitsrechts. Er „hat das restriktive deutsche Arbeitsrecht bis heute geprägt: Politische Streiks sind verboten, Beschäftigte zur Treue verpflichtet und Whistleblower nahezu ungeschützt“. (1)

In der Weimarer Republik war Nipperdey zunächst nationalliberal orientiert, verfasste dann zusammen mit Alfred Hueck das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (vom 20. Januar 1934) und war zugleich einer von dessen Hauptkommentatoren. In besagtem Gesetz wurde das „Führerprinzip“ eingeführt, wonach der Vorgesetzte als Betriebsführer die absolute Befehlsgewalt innehatte, die Untergebenen eine „Gefolgschaft“ (nicht etwa Belegschaft) bildeten und zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet waren. Dieses Gesetz gilt als Basis für die Durchsetzung der „Produktionsschlacht“, welche dann letztlich Aufrüstung und Weltkrieg ermöglichte.

Zur historischen Kontinuität hier ein längeres Zitat aus einem Beitrag des Deutschlandfunks:

 „Die Treuepflicht stammt ursprünglich aus dem germanischen Recht, das im 19. Jahrhundert unter Rechtswissenschaftlern eine Renaissance erlebte und dann im Nationalsozialismus eine radikale Auslegung erfuhr. Diese ‚Treuepflicht‘ des Dritten Reiches wandelte die bisherigen sachlichen Rechtsansprüche zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ‚personenrechtliche‘ Ansprüche um und beherrschte das gesamte Arbeitsverhältnis. (…) So folgte zum Beispiel aus der Treuepflicht, dass ein Beschäftigter auch andere als im Arbeitsvertrag vereinbarte Leistungen erbringen musste. Die Beschäftigten hatten bei Bedarf auch Mehrarbeit, selbst über die regelmäßige gesetzliche Höchstarbeitszeit hinaus, zu leisten. (…) Diese Treuepflicht ist auch Teil der Rechtsordnung der Bundesrepublik geworden. Und zwar im Bürgerlichen Gesetzbuch. Professor Dr. Michael Kittner, Rechtswissenschaftler an der Universität Kassel und ehemaliger Justiziar der Gewerkschaft IG Metall: ‚Das ist ein sehr überkommener Begriff, der insbesondere aus der NS Zeit herrührt. Eine der wirklichen Kernangelegenheiten, wo das NS Recht substanziell in die Bundesrepublik noch hineintransportiert worden ist. (…) Und das, was früher unter dem Begriff Treuepflichten und Fürsorgepflichten subsumiert war, steht heute unter Nebenpflichten. (…) Zu den Nebenpflichten zählen: Die Anzeige- und Nachweispflicht im Krankheitsfall, Sorgfalts- und Schadensabwendungspflichten, das Wettbewerbsverbot, Verschwiegenheitspflicht, und das Schmiergeldverbot. (…) Zentral ist hier die Pflicht zur Verschwiegenheit, die bis zur Deckung von Straftaten reicht und auch das Privatleben betreffen kann. (…) Entsprechend legte das sogenannte ‚Maulkorburteil‘ des Bundesarbeitsgerichtes vom 24. August 1972 fest, dass die Meinungsfreiheit des Arbeitnehmers nicht die Interessen des Arbeitgebers beeinträchtigen dürfe. Am 4. Juli 1991 und am 3. Juli 2003 verkündet das BAG Urteile, die Strafanzeigen gegen den Arbeitgeber nur eingeschränkt ermöglichen.“ (1)

Nipperdey konnte besonders durch seine Position als Präsident des Bundesarbeitsgerichts die Idee, das Arbeitsverhältnis von einem Austausch- zu einem „Gemeinschaftsverhältnis“ umzubauen, als „herrschende Meinung“ in die Literatur und Rechtsprechung der Nachkriegszeit übertragen.(2) Damit verbunden war das Ziel, die Interessen des Arbeitnehmers denen des Arbeitgebers klar unterzuordnen (Verbot politischer Betätigung, fehlende Meinungsfreiheit am Arbeitsplatz, also auch Verbot von Whistleblowing). Die Folgen zeigen sich bis heute: Deutschland hat die Whistleblower-Richtlinie der EU noch immer nicht umgesetzt.

Auch bei der Abfassung von Gesetzen gelang es Nipperdey und seinen Gesinnungsgenossen, ihre Vorstellungen einfließen zu lassen. So wurde in das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 die Idee einer „Betriebsgemeinschaft von Arbeitgeber und Belegschaft“ übernommen, welche zuvor im „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ von 1934 als „Gemeinschaft von Betriebsführer und Gefolgschaft“ festgeschrieben war (inkl. „Friedenspflicht“, Arbeitskampfverbot, Verbot der politischen Betätigung, Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit). (3)

Passend dazu ein weiteres Zitat aus einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 28. Januar 1955 (Präsident:  Hans Carl Nipperdey): „Streiks sind im Allgemeinen unerwünscht, weil sie volkswirtschaftliche Schäden hervorrufen.“ Rolf Geffken kommentiert: „Da wurde eine rechte Stammtischparole Teil einer Grundsatzentscheidung eines höchsten Gerichts. Mit Juristerei hatte das NICHTS zu tun, es war nur pure Ideologie“. (4)

Nipperdey wird heute offensichtlich immer noch gefeiert. Viele Arbeitsrechtler*innen würden, so Rolf Geffken, heute noch immer eine zutiefst arbeitnehmerfeindliche Haltung vertreten. Denn „die meisten Spuren der faschistischen Ideologie der Betriebsgemeinschaft und angeblicher ‚Partnerschaft‘ von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind der heutigen Juristengeneration (…) tatsächlich in Fleisch und Blut übergegangen und werden nicht mehr in Frage gestellt“. (3) 

(1) Peter Kessen: „Den Unternehmern treu ergeben. Das paternalistische Arbeitsrecht des Hans Carl Nipperdey“, Das Feature, 14. Dezember 2021, 19:15 Uhr, Deutschlandfunk

https://www.hoerspielundfeature.de/das-paternalistische-arbeitsrecht-des-hans-carl-nipperdey-100.html

 (2) Rolf Geffken: „Der Professor und die Viererbande“, der Freitag vom 22. April 2021

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-professor-und-die-viererbande

(3) Ders.: „Die vergessene Geschichte: Faschismus im Arbeitsrecht“, 12. April 2021

https://www.drgeffken.de/48_Die_vergessene_Geschichte_Faschismus_im_Arbeitsrecht.php

(4) Ders.: „BAG: Der Obernazi wurde ‚vergessen‘“, 28. Januar 2021

https://www.drgeffken.de/48_BAG_Der_Obernazi_wurde_vergessen.php