Weltweite Versklavung

„Wenn wir an Sklaverei denken, sehen wir in Ketten gelegte Menschen, die aus Afrika gewaltsam in alle Welt verschifft werden. Nur selten verbinden wir die Sklaverei mit den Arbeits- und Lebensbedingungen der Gegenwart. Tatsächlich ist die Sklaverei als rechtlich abgesichertes Arbeitssystem heute fast weltweit abgeschafft. (…) Doch die Annahme, es gäbe heutzutage keine Sklaverei mehr, geht an der Realität vorbei. Tatsächlich sind heute – in absoluten Zahlen – mehr Menschen versklavt als jemals zuvor in der Geschichte.“ 

So beginnt der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) im November 2021 vorgelegte „Atlas der Versklavung“, der anhand von zahlreichen Daten und Fakten die vielen heutigen Gesichter der Zwangsarbeit und Ausbeutung aufzeigt. „Kriminelle, die mit Menschen handeln, beuten ihre Opfer auf vielfältige Weise aus und beeinflussen auch die globalisierte legale Wirtschaft. Sklaverei existiert in vielen Wirtschaftszweigen, sie wird genutzt bei der Produktion unserer Smartphones, des Palmöls in unseren Kosmetika und Shampoos, der Meeresfrüchte, die wir im Supermarkt kaufen; sie ist in unsere Kleidung eingewebt und in der globalen Sexindustrie sowie unter Haushaltshilfen verbreitet“, heißt es im Vorwort der Broschüre.

Der Atlas geht auf 50 Seiten unter anderem auf die Definitionsprobleme des Themas ein, beschreibt Zwangsarbeit in den globalen Lieferketten und untersucht weltweit einzelne Branchen (Fischerei, Baugewerbe, Landwirtschaft). Einzelne Länder und Regionen werden beispielhaft in den Fokus gerückt (zum Beispiel Mauretanien, Mali, Haiti, Brasilien, Nordkorea, aber auch Europa). Auch wird der vielfältige zivilgesellschaftliche Widerstand gegen die verschiedenen Formen der Sklaverei thematisiert.

Sklaverei könne nur dadurch beendet werden, dass die Wirtschaft reguliert, der Zugang zu sozialen Rechten verbessert und legale Formen der Migration ermöglicht würden, hieß es im Rahmen der Präsentation der Studie in Berlin. Nur etwa 0,2 Prozent der weltweiten Fälle von Sklaverei würden juristisch untersucht und strafrechtlich verfolgt. Nötig seien deshalb auch in Deutschland der Ausbau und die langfristige Finanzierung von Beratungsstellen für Betroffene von Arbeitsausbeutung sowie regelmäßige Kontrollen des Zolls.

Quellen:

„Atlas der Versklavung. Daten und Fakten über Zwangsarbeit und Ausbeutung“, Rosa-Luxemburg-Stiuftung (Hg.), November 2021

https://www.rosalux.de/publikation/id/45336/atlas-der-versklavung?cHash=2b22333b1bfd69112e0f017fe48d06bc

Haidy Damm: An unsichtbaren Ketten, Neues Deutschland vom 10. November 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158489.moderne-sklaverei-an-unsichtbaren-ketten.html?sstr=versklavung

 

 

Eldorado für Geldwäsche

 „Deutschland hat ein gewaltiges Problem mit schmutzigem Geld“ – so lautet das Urteil des ARD-Magazins Plusminus. Dieses hat sich am 10. November 2021 in einem Beitrag mit dem Delikt der Geldwäsche als dem Herzstück organisierter Kriminalität auseinandergesetzt. Danach geht das Bundesfinanzministerium von 100 Milliarden Euro kriminellem Geld aus, welches hier pro Jahr gewaschen wird. Allerdings landen kaum Fälle vor Gericht; nur ein paar Hundert Urteile werden pro Jahr gesprochen. Das Problem ist, dass die sogenannten Vortaten, aus denen das schmutzige Geld stammt, oft nicht zu ermitteln sind. Diese strafbaren Handlungen müssen aber zumeist vor Gericht nachgewiesen werden, um Urteile wegen Geldwäsche zu erwirken. Ein anonym bleibender Ermittler wird mit den Worten zitiert: „Die Bereitschaft vieler Staatsanwaltschaften, ein Verfahren wegen Geldwäsche ohne bekanntes Grunddelikt zu führen, ist vielfach gleich Null.“

Allerdings ist eine generelle Pflicht zur Offenlegung der Vermögensherkunft bisher juristisch nicht möglich. Frank Buckenhofer von der Gewerkschaft der Polizei fordert deshalb eine neue Behörde mit ausreichenden Befugnissen. Gemeint ist eine Finanzpolizei, die präventive Finanzermittlungen aufnehmen kann. Personen oder Unternehmen, die als Dienstleister Geldwäsche für die organisierte Kriminalität betreiben, seien so abgeschottet, dass sie nie in eine Beziehung zu einer Vortat gesetzt werden könnten. „Und da hilft dann diese präventive Finanzermittlung, weil, wenn die dann trotzdem nicht erklären können, woher sie diese Mengen Geld haben, dann sage ich: Wenn du nicht erklärst, wo das Geld her ist, dann nehme ich es dir weg.“ (Zitat Frank Buckenhofer)

Quelle:

Sabina Wolf: „Unternehmen im Visier der Geldwäscher“, Plusminus (ARD) vom 10. November 2021

https://www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/sendung/geldwaesche-unternehmen-100.html

Private Equity in der Pflegebranche

Eine gemeinsam von der NGO Finanzwende und der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebene aktuelle Studie untersucht das Agieren aggressiv auftretender Investoren im Pflegebereich. Welche Rolle haben Private-Equity-Firmen in den letzten Jahren für die Finanzialisierung des Pflegesektors gespielt? Anhand der drei Beispiele Deutschland, Frankreich und Großbritannien wird erläutert, wie und mit welchen Ergebnissen sich Finanzmarktakteure mit hohen Gewinnerwartungen auch in diesem sensiblen Bereich der Daseinsfürsorge ausbreiten, also Pflegheimgruppen aufkaufen und sie in kurzer Zeit gewinnbringend umgestalten.

„Der Pflegesektor scheint das perfekte Investitionsziel für Private-Equity-Firmen und die dahinterstehenden Investoren zu sein. Die Nachfrage nach Pflegedienstleistungen ist rasch gestiegen und wird angesichts einer alternden Bevölkerung weiter zunehmen. Der Sektor bietet verlässliche Einkommensströme durch Pflegeversicherungen, Steuergelder sowie die Eigenbeteiligungen von Patienten und Angehörigen. Zudem sind die Immobilien von Pflegeheimketten für Investorinnen ein attraktiver Vermögensgegenstand, der in Paketen an andere Investoren weiterverkauft werden kann.“ (Théo Bourgeron et al., Seite 3)

Die Studie zeigt, dass die verschiedenen Private-Equity-Firmen in ihrer Renditeorientierung ähnlich vorgehen. Erleichtert wird deren Agieren durch den geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad sowie unzureichende Qualitätskontrollen in diesem Sektor.

  • Die Finanzunternehmen setzen nur wenig Eigenkapital ein, nutzen dagegen zum einen das Geld anderer Investoren wie etwa Pensionsfonds und zum anderen hohe Schulden, um Investitionen durchzuführen. Ein großer Teil der Schulden wird dann auf die erworbenen Unternehmen übertragen, so dass die langfristige Existenz der Pflegeheimgruppen gefährdet ist.
  • Pflegeheimgruppen müssen oft „Gesellschafterdarlehen“ mit hohen Zinssätzen bedienen. In der Folge führte das zu einzelnen Insolvenzen.
  • Private-Equity-Firmen strukturieren den Immobilienbestand erworbener Pflegeheimgruppen um. Nahezu alle Immobilien wurden in den untersuchten Fällen verkauft und anschließend nach der Methode „Sale & Lease Back“ wieder angemietet. 
  • Die Gewinne der Pflegeheimgruppen wurden in allen Fällen an Muttergesellschaften in Schattenfinanzzentren wie Luxemburg oder Jersey transferiert (vgl. Théo Bourgeron et al., Seite 3f.).

 

Die kontinuierlichen Übernahmen im deutschen Pflegeheimsektor verweisen auf die Strategie, größere Ketten zu schaffen, die mit großen Gewinnspannen weiterverkauft werden können. „So kaufte das US-amerikanische Private-Equity-Unternehmen Carlyle 2013 die deutsche Pflegeheimgruppe Alloheim für 180 Milllionen Euro und verkaufte das Unternehmen vier Jahre später für 1,1 Milliarden Euro an den nächsten Finanzinvestor.“ (Théo Bourgeron et al., Seite 14)

Die Studie stellt mit Bezug auf eine britische Untersuchung fest, dass bei Private-Equity-Modellen mindestens zehn Prozent der jährlichen Gesamteinnahmen des Sektors in Großbritannien in den Taschen von Finanzinvestoren landen. Die Bürgerbewegung Finanzwende geht davon aus, dass in Deutschland ähnliche Summen nicht bei den Pflegebedürftigen ankommen, sondern dem ohnehin schlecht finanzierten Pflegesystem entzogen werden.

Die Autor*innen bezweifeln, dass Private-Equity-Firmen überhaupt im Pflegebereich aktiv sein sollten. Unterstützt werden sie dabei vom Ergebnis einer zusätzlich in Auftrag gegebenen Umfrage, nach der 60 Prozent der Bevölkerung den Aufkauf von Pflegeheimen durch private Investoren ablehnen.

Was ist eigentlich Private Equity?

Eine ausführliche Erklärung findet sich auf Seite 14 der angegebenen Studie.

Quellen:

„Private-Equity-Investoren in der Pflege“, Finanzwende Recherche, 14. Oktober 2021

https://www.finanzwende-recherche.de/unsere-themen/private-equity-investoren-in-der-pflege/

„Neue Studie: Schädlicher Einfluss von Private-Equity-Investoren im Pflegebereich“, Pressemitteilung von Finanzwende Recherche, 14. Oktober 2021

https://www.finanzwende-recherche.de/2021/10/14/neue-studie-schaedlicher-einfluss-von-private-equity-investoren-im-pflegebereich/

Théo Bourgeron/Caroline Metz/Marcus Wolf: Private-Equity-Investoren in der Pflege: Eine Studie über das Agieren von Private-Equity-Investoren im Pflegebereich in Europa, Finanzwende/Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2021

https://www.finanzwende-recherche.de/wp-content/uploads/2021/10/Finanzwende_BourgeronMetzWolf_2021_Private-Equity-Investoren-in-der-Pflege_20211013.pdf

Eine vom Journalistenteam Investigate Europe durchgeführte Recherche stellt ebenfalls fest:

„Ein stetig wachsender Teil der staatlichen Ausgaben für die Pflege fließt in die Kassen transnationaler Unternehmen, die damit eine wichtigen Teil der sozialen Infrastruktur in ihren Besitz bringen; die 20 größten Konzerne verwalten bereits mehr als 4.681 Heime für mehr als 400.000 Pflegebedürftige (…).

Anonyme Finanzinvestoren übernehmen immer größere Anteile am Pflegegeschäft und entziehen ihre mit öffentlichen Geldern erzielten Gewinne der Besteuerung, indem sie ihre Erlöse in Offshore-Zentren verschieben.

Die zunehmende Privatisierung geht in vielen EU-Ländern einher mit Einsparungen beim Personal und Mängeln bei der Pflegequalität, aber die Regierungen lassen den Prozess laufen und versagen vielerorts bei der Kontrolle.

Quelle:

Nico Schmidt/Harald Schumann: „Heime als Gewinnmaschinen für Konzerne und Investoren“, Der Tagesspiegel vom 16. Juli 2021

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/das-milliardengeschaeft-altenpflege-heime-als-gewinnmaschinen-fuer-konzerne-und-investoren/27424770.html

vgl. auch:

https://www.investigate-europe.eu/de/2021/heime-als-gewinnmaschinen-fuer-konzerne-und-investoren/

https://www.investigate-europe.eu/de/2021/millardengeschaeft-altenpflege-konzerne/

 

Steuerbetrug viel größer als bisher bekannt

„Solche Geschäfte sind gewissermaßen das perfekte Verbrechen. Kompliziert, abstrakt, weit weg von unserem Alltag. Auf den ersten Blick gibt es keine Opfer. Niemand scheint direkt betroffen.“

Dieses Zitat aus einem Bericht des Recherchezentrums Correctiv bezieht sich auf den immensen Steuerbetrug, bei dem es den Tätern nicht nur darum geht, Steuern zu vermeiden – sondern aktiv in die Staatskassen zu greifen und Milliardenbeträge zu stehlen.

Eine aktuelle internationale Untersuchung, an der in Deutschland das NDR-Politmagazin Panorama und  Correctiv beteiligt waren, zeigt: Der entstandene Schaden aufgrund von Cum-Ex, Cum-Cum und anderer Steuertricksereien ist weit größer als bislang vermutet. Nach dieser Untersuchung belaufe sich die Summe europaweit auf rund 150 Milliarden Euro, davon knapp 36 Milliarden in Deutschland in den letzten 20 Jahren. Noch 2018 war man nur von rund 55 Milliarden Euro in Europa ausgegangen. Der deutsche Staatshaushalt habe tatsächlich allein mit Cum-Ex-Deals mehr als sieben Milliarden Euro verloren, mit Cum-Cum 28,5 Milliarden.

In Frankreich entstanden in den vergangenen beiden Jahrzehnten Steuerausfälle von etwa 33 Milliarden Euro, in den Niederlanden 27 Milliarden, in Spanien 19 Milliarden. Geringere Verluste verzeichneten Staaten wie etwa Großbritannien und auch die USA, in denen strengere Gesetze gelten und die Finanzmarktaufsicht schärfer vorgeht (vgl. Tagesspiegel).

Worum handelt es sich bei Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäften? Es geht bei beiden Varianten um Steuerrückzahlungen im Zusammenhang mit Dividendenzahlungen:

„Ähnlich wie auch bei Cum-ex profitieren die Akteure davon, dass der Staat Steuern zurückerstattet, obwohl diese gar keinen Anspruch darauf haben. Der Unterschied in der Bezeichnung liegt darin, dass die Aktien mal mit, also ‚cum‘, Dividende gehandelt werden und mal ohne, also ‚ex‘. Bei ‚Cum-cum‘-Geschäften geht es um Aktiengeschäfte, die vor dem Dividendenstichtag eingefädelt werden.

Zudem spielen ausländische Investoren eine besondere Rolle, denn die werden in vielen Ländern der Welt steuerrechtlich anders behandelt als inländische Institute, auch in Deutschland. Während sich inländische Investoren die einmal gezahlte Steuer zurückerstatten lassen können, ist dies ausländischen Unternehmen nur eingeschränkt möglich. In diesen Fällen liehen sich deutsche Banken, zum Beispiel die Commerzbank, für den Zeitraum der Auszahlung der Dividende die Aktien. Die deutschen Unternehmen ließen sich die Kapitalertragsteuer erstatten – und teilten dann die Zahlung mit dem ausländischen Geschäftspartner, dem die Aktien eigentlich gehörten.“ (FAZ)

Seit Juli dieses Jahres gelten Cum-Ex-Deals nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs als strafbar. Die Staatsanwaltschaft Köln, über die viele Ermittlungsverfahren laufen, geht mittlerweile auch gegen mehr als tausend Beschuldigte vor. Gerhard Schick vom Verein Finanzwende spricht jedoch von einer deutlichen Diskrepanz zwischen den Zahlen der aktuellen Studie und Angaben des Bundesfinanzministeriums. Dem vermuteten Schaden bei Cum-Cum-Deals in Höhe von über 28 Milliarden Euro stünden bisher nur Rückzahlungen in Höhe von 135 Millionen Euro gegenüber. Bund und Länder hätten jahrelang die Aufklärung blockiert (vgl. Tagesspiegel).

Auch Correctiv zeigt sich pessimistisch, was Aufklärung und Verfolgung dieser Art der Wirtschaftskriminalität betrifft, und verweist auf die internationale Dimension des Steuerbetrugs:

„Das Finanzministerium von Scholz scheint nicht die einzige Behörde zu sein, die im Kampf gegen steuergetriebene Deals versagt. Wir haben über das Informationsfreiheitsgesetz Einsicht in Akten beantragt und so einen Einblick bekommen, wie europäische Behörden hinter den Kulissen mit der Problematik der Cum-Ex-Geschäfte und anderer steuergetriebener Deals umgehen. Das Bild ist auch drei Jahre nach den Cum-Ex-Enthüllungen verheerend. Europäische Staaten scheitern bei der Bekämpfung des systematischen Steuerbetrugs.“

Quellen:

Corinna Budras: „140 Milliarden Euro Beute durch Steuertricksereien“, FAZ (Online) vom 21. Oktober 2021

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/cum-cum-geschaefte-140-milliarden-euro-durch-steuerbetrug-17596283.html

Correctiv (Recherchezentrum): „Top Story: Die CumEx-Files 2.0“

https://correctiv.org/schwerpunkte/cum-ex-steuerbetrug/

„Cum-Ex: Steuerräuber ohne Schuldgefühl“, ARD-Magazin Panorama vom 21. Oktober 2021

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/-,panorama17208.html

Albert Funk: „Betrug bei Dividenden richtet weltweit 150 Milliarden Euro Schaden an“, Tagesspiegel (Online) vom 21. Oktober 2021“

https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/cum-ex-deals-und-andere-geschaefte-betrug-bei-dividenden-richtet-weltweit-150-milliarden-euro-schaden-an/27725068.html

 

 

 

Betrugsvorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler

Im Februar 2016 hatte der Leerverkäufer (engl. Shortseller) Fraser Perring einen aufsehenerregenden 100seitigen Bericht über Bilanzfälschungen von Wirecard veröffentlicht und damit den Niedergang des ehemaligen Dax-Hoffnungsträgers eingeleitet. Jetzt greift er die Adler Group an, eine der größten Vermieterfirmen Deutschlands. Sein Geschäftsmodell funktioniert wie folgt: Perring überprüft Unternehmensbilanzen nach Bilanzfälschungen und anderen Unstimmigkeiten, leiht sich dann Aktien der Konzerne und verkauft sie weiter. Anschließend veröffentlicht er seine kritischen Studien über das jeweilige Unternehmen und wartet bis zum Rückgabetermin auf sinkende Kurse. Die Kursdifferenz streicht er dann als Gewinn ein. 

Wie das Handelsblatt berichtet, setzte er diesmal einen nicht bekannten Betrag auf den Fall der Aktie der Adler Group S.A. Die Adler Group mit Firmensitz in Luxemburg ist im S-Dax gelistet und operiert von Berlin aus. Sie entstand im Jahr 2020 aus dem Zusammenschluss der ADO Properties, Adler Real Estate und des Berliner Projektentwicklers Consus Real Estate und vermietet rund 70.000 Wohnungen in deutschen Großstädten. Perrings Investmentfirma Viceroy wirft in einem aktuellen Bericht Adler vor, ein „hotbed of fraud, deception and financial misrepresentation“ zu sein („eine Brutstätte für Betrug, Täuschung und finanzieller Falschdarstellung“). Adler wies die Anschuldigungen auf Schärfste zurück – die Aktie stürzt dennoch vorübergehend ab.

Das Handelsblatt schreibt in seiner Ausgabe vom 7. Oktober 2021:

„Perring hat heute auf der Webseite Viceroyresearch.org einen 61 Seiten langen Report seines Rechercheinstituts ‚Viceroy Research‘ vorgelegt. Adler ist darin als undurchsichtiges Unternehmensgeflecht beschrieben. Der Konzern sei darauf ausgelegt, besser kapitalisierte Unternehmen zu übernehmen, sie mit Schulden zu belasten und über nicht offengelegte Transaktionen mit nahe stehenden Parteien auszuhöhlen. Zugleich kritisiert Perring stillstehende Baustellen, Bilanzierungstricks und eine angebliche Überbewertung der Immobilien. Als Profiteure dieser Machenschaften hat Perring eine Gruppe aus Gesellschaftern und Managern bei Adler und im Umfeld des Konzerns ausgemacht. Diese gehörten zu einem Netzwerk um den Unternehmer Cevdet Caner, der den Immobilienkonzern angeblich aus dem Hintergrund wie ein Schatten-CEO kontrolliere. Perring wirft dem Zirkel aus ‚Friends & Family‘ verdeckte Insidergeschäfte vor. Die Leidtragenden seien Aktionäre und Anleihegläubiger.“

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) überprüft nach eigenen Angaben die in der Viceroy-Studie erhobenen Vorwürfe gegen Adler. Sollten sich daraus Verdachtsmomente für Straftaten ergeben, werde man diese bei der Staatsanwaltschaft anzeigen.

Quellen:

„Adler Group – Bond Villains“, Viceroy Research, 6. Oktober 2021

https://viceroyresearch.org/2021/10/06/adler-group-bond-villains/

René Bender/Felix Holtermann/Kerstin Leitel/Lars-Marten Nagel: „Wirecard-Jäger erhebt schwere Vorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler“, Handelsblatt vom 7. Oktober 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/shortseller-fraser-perring-wirecard-jaeger-erhebt-schwere-vorwuerfe-gegen-immobilienkonzern-adler/27681396.htmlhttps://www.bing.com/?FORM=SLBRDF&PC=SL09&ticket=ST-1133880-G01uoJMBLOxSNPVNmkZ5-cas01.example.org

Jack Sidders/Laura Benitez/Luca Casiraghi: „ House of Caner: Adler sitzt auf 8 Mrd. Euro Schulden“, Capital vom 8. Oktober 2021

https://www.capital.de/wirtschaft-politik/house-of-caner-adler-sitzt-auf-8-mrd-euro-schulden

 

RWE und der verrückte Emissionshandel

Im Januar 2019 wurde in Deutschland beschlossen, bis spätestens 2038 aus der Kohleenergie auszusteigen. Auch einer der umsatzstärksten Stromversorger hierzulande, RWE, muss seine Kohlekraftwerke bis dahin schrittweise abwickeln. Das Handelsblatt beschrieb in seiner Ausgabe vom 19. September 2021, warum der Konzern jedoch weiterhin gut an dem klimaschädlichen Energieträger verdient.

Im ersten Halbjahr 2021 erzielte die Kohle- und Atomsparte von RWE danach 235 Millionen Euro mehr Gewinn als im Vorjahreszeitraum. Der Strompreis im Großhandel stieg zwar sprunghaft an, der Preis für CO2-Zertifikate, die insbesondere die Kohleverstromung verteuern sollen, aber ebenso. Im letzten Jahr kostete ein Zertifikat, das zum Ausstoß einer Tonne des Treibhausgases berechtigt, rund 25 Euro. Aktuell liegt der Preis bei etwa 60 Euro. RWE aber, so heißt es, könne den steigenden C02-Preisen gelassen entgegenblicken, da sich das Unternehmen schon vor Längerem zu äußerst günstigen Konditionen gegen das CO2-Preis-Risiko gewappnet habe – und zwar für das ganze Jahrzehnt. RWE hatte sich schlicht mit den Erlaubnisscheinen eingedeckt, als die Preise noch im Keller waren. Bis 2030 seien die finanziellen Auswirkungen steigender CO2-Preise vollständig abgesichert.

Jedoch steht RWE als Feindbild für die Klimaschützer massiv unter politischem und öffentlichem Druck, endlich die Energiewende umzusetzen. Das Handelsblatt schreibt über die Strategie des Konzerns: „Es wird sogar spekuliert, dass RWE in den kommenden Jahren vorrangig die CO2-Rechte am Markt verkaufen und die eigenen Kraftwerke wiederum mit teureren Rechten am Markt versorgen könnte. Die Tradingabteilung würde dann hohe Gewinne verbuchen, die Gewinne mit den Kohlekraftwerken würden dagegen nicht zu üppig ausfallen – was politisch opportun wäre.“

Der Nachrichtendienst heise online erinnert daran, was es mit dem Emissionshandel auf sich hat:

„Ein Preis auf den Ausstoß von CO₂ (Kohlendioxid), dem mit Abstand wichtigsten Treibhausgas, ist für viele Umweltökonomen das Mittel der Wahl, um die Wirtschaft umzubauen. Seit 2005 müssen in der EU die Betreiber von Kohlekraftwerken und in den folgenden Jahren auch diverse andere Industriebranchen, wie Stahl, Chemie, Papier und Zement, für jede emittierte Tonne CO₂ ein Zertifikat vorweisen oder eine Strafgebühr bezahlen.

Die Zertifikate werden entweder bei staatlichen Auktionen oder an der Börse erworben. In den ersten Jahren gab es sie sogar umsonst, was die deutschen Kraftwerksbetreiber nicht daran hinderte, ihren fiktiven Preis in die Stromrechnungen der Kunden einzurechnen. Mehrere Milliarden Euro Sondergewinne haben RWE & Co. seinerzeit auf diesem Wege gemacht.

Inzwischen müssen die Energieversorger und ein Teil der übrigen betroffenen Konzerne für neue Zertifikate zahlen. Das Problem: Die Zertifikate haben kein Verfallsdatum und sie wurden in der Vergangenheit sehr großzügig ausgegeben.“

Quellen:

Jürgen Flauger/Kathrin Witsch: „Milliardengeschäft Kohle: Warum RWE sogar an steigenden CO2-Preisen verdient“, Handelsblatt vom 19. September 2021

https://www.handelsblatt.com/technik/thespark/energiekonzern-milliardengeschaeft-kohle-warum-rwe-sogar-an-steigenden-co2-preisen-verdient/27617624.html?ticket=ST-7162300-Od5UrDkhRPixOBJnkXc5-ap2

Wolfgang Pomrehn: „RWE: Zusatzgewinne durch Emissionshandel“, heise online, 21. September 2021

https://www.heise.de/tp/news/RWE-Zusatzgewinne-durch-Emissionshandel-6197570.html

Gegen Mieterverdrängung durch Bayer-Konzern

Um seinen Unternehmensstandort im Berliner Bezirk Wedding auszubauen, will der Pharmakonzern Bayer Schering Pharma AG offenbar vier Wohngebäude abreißen lassen. Darüber berichtete bereits am 18. August 2021 der Blog der lokalen Initiative Moabitonline und im Anschluss daran auch der Berliner Tagesspiegel. Kündigungen für die betroffenen Mieter*innen in der Tegeler Straße 2-5 (mit etwa 50 Wohnungen) seien bereits erfolgt; für weitere Gebäude in derselben und einer angrenzenden Straße wird ebenfalls mit Abrissen und Kündigungen gerechnet. Nach Angaben des Tagesspiegel verbindet Bayer damit eine Investition in dreistelliger Millionenhöhe, die – so ein Unternehmenssprecher – mehr als 1.000 Arbeitsplätzen in Berlin langfristig gewährleisten soll. Insgesamt arbeiten am Berliner Standort von Bayer etwa 5.000 Mitarbeiter*innen.

Im August fand vor den Häusern der Tegeler Straße eine kämpferische Kundgebung unter dem Motto „Abriss geht gar nicht!“ statt. Unter anderem wurde ein Grußwort der Coordination gegen Bayer-Gefahren verlesen. Ein Auszug daraus:

„Die Coordination gibt es seit 1978. Wir haben als Bürgerinitiative begonnen und sind mittlerweile ein internationales Netzwerk. Wir sind jedes Jahr auf BAYER-Hauptversammlungen präsent und konfrontieren den Vorstand mit seinen Verbrechen. (…) Unsere Einladung, auf der jährlichen BAYER-Hauptversammlung zu sprechen, richtet sich hiermit ausdrücklich auch an Euch! Bezahlbarer Wohnraum wird in Berlin immer rarer, die Bevölkerung kann sich ihre eigene Stadt nicht mehr leisten. Dass nun 140 von den letzten bezahlbaren Altbau-Wohnungen, soziale Infrastruktur sowie KiTas, Kleingewerbe und Kunstateliers zerstört werden sollen, damit BAYER mit Immobilien Kohle scheffeln kann, ist ein Konzernverbrechen. Hier steht ganz klar das Profitinteresse eines Konzerns gegen das Recht von Menschen, gut und bezahlbar zu leben. Dieses Vorgehen hat nichts mit dem progressiven, sozialen, umweltfreundlichen Image zu tun, welches der Konzern versucht, von sich zu zeichnen. Dieses skandalöse Vorgehen muss daher konsequent ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Auf der Hauptversammlung hören alle Aktionär*innen zu. Die Öffentlichkeit schaut auf den Konzern. (…) Nutzt die Chance, auf der Hauptversammlung Eure Stimme zu erheben! Auch, dass der Werkschutz von BAYER stundenlang die Straße observiert und die Mieter*innen einschüchtert, ist ein Skandal, der unbedingt breit sichtbar gemacht werden muss. Der Konzern greift stets zu Verdunkelung und Repression, wenn sein Profit-Interesse angegriffen wird. (…) Die Profitmaximierungslogik des Kapitalismus ist in der Chemiebranche genauso zerstörerisch wie auf dem Wohnungsmarkt. Deshalb ist unsere Forderung auch genau die gleiche wie die der bekannten Berliner Kampagne ‚Deutsche Wohnen und Co. enteignen‘: BAYER muss vergesellschaftet werden!“ 

Quellen:

Thomas Lippold: „Bezirk will Abriss von Wohngebäuden durch Bayer verhindern“, Tagesspiegel vom 20. August 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/millionen-investitionen-von-pharmakonzern-in-mitte-bezirk-will-abriss-von-wohngebaeuden-durch-bayer-verhindern/27536794.html

Susanne Torka: „Wohnraumvernichtung durch Bayer und Bezirksamt Mitte“, 18. August 2021, MoabitOnline

https://moabitonline.de/36730#comment-38471

Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V.: „Grußwort BAYER-Mettmannkiez-Demo Berlin“

https://moabitonline.de/wp-content/uploads/2021/08/Rede-Mettmannkiez-Demo-210914.pdf

 

 

30 Jahre Business Crime Control

Die diesjährige Mitgliederversammlung und Fachtagung von Business Crime Control e.V. fanden am 28. August 2021 im Club Voltaire in Frankfurt am Main statt. In seinem Grußwort betonte der scheidende Vorsitzende Prof. Dr. Erich Schöndorf die Notwendigkeit, „auf der ökologischen Zielgeraden noch ein bisschen zuzulegen“, damit die Folgen der Klimakrise noch abgewendet werden können. Schöndorf war als Staatsanwalt seinerzeit unter anderem mit dem Holzschutzmittel-Prozess befasst, lehrte später Umweltstrafrecht an der FH Frankfurt am Main und schrieb einige Bücher zu Umweltthemen, zuletzt das Hörbuch „Game over?“

Ein Grußwort gab es auch von dem Mitbegründer von BCC, Prof. Dr. h.c. Dieter Schenk, der als Kriminaldirektor im Bundeskriminalamt arbeitete, bevor er sich als freier Autor unter anderem mit der Geschichte des Amtes und den Verstrickungen dort leitend Tätiger im NS-Regime auseinandersetzte.

Als neuen Vorsitzenden wählte die Mitgliederversammlung Hans Möller, Diplom-Meteorologe und aktiv im Koordinierungskreis von attac Frankfurt am Main. Zum stellvertretenden Vorsitzenden wurde der Fernsehjournalist und Publizist Herbert Stelz gewählt. Eberhard Ruoff bleibt Kassierer, Victoria Knopp Schriftführerin. Prof. i.R. Reiner Diederich und Frank Ebert wurden als Beisitzer bestätigt. Neu als Beisitzer wurde Herbert Storn gewählt, Mitglied im Landesvorstand der GEW Hessen und aktiv bei Gemeingut in BürgerInnenhand.

Die sich anschließende Fachtagung stand unter dem Thema: „Vergehen an Klima und Umwelt – staatlich genehmigt und gefördert? Die Fälle Gigafactory Tesla und Kali + Salz AG“. Zunächst berichtete der Mitbegründer und Ehrenvorsitzende von BCC Prof. Dr. Hans See über die Ziele, die man sich bei der Gründung des Vereins gesetzt hatte. Es sei nicht in erster Linie darum gegangen, durch Gesetzesverschärfungen Wirtschaftskriminalität zu unterbinden, sondern sie präventiv zu verhindern – durch mehr Mitbestimmung in den Betrieben und Unternehmen, durch eine Entwicklung hin zur Wirtschaftsdemokratie anstelle der Chefetagen als „demokratiefreie Zone“.

Die Gründer von BCC hätten sich vorgestellt, dass es alternativ zur üblichen Wirtschaftskriminologie eine Art Thinktank geben könnte, der das Thema kapitalismuskritisch angeht, aber nicht der Illusion anhängt, dass mit einer Änderung des Wirtschaftssystems quasi automatisch die Wirtschaftskriminalität verschwindet. Die Geschichte der staatssozialistischen Länder habe gezeigt, dass die Lebensgrundlagen gefährdende Verhaltensweisen und Wirtschaftsverbrechen keineswegs ausgeschlossen oder beseitigt waren.

Der Verein sei bewusst nach der „Wiedervereinigung“ gegründet worden, als die bipolare Weltordnung am Ende war. Es ging um die Wahrnehmung der Schäden, die durch illegales oder illegitimes unternehmerisches Handeln erzeugt werden. Die durch Wirtschaftskriminalität entstehenden Schäden seien höher als die aller anderen Arten von Kriminalität zusammengenommen gewesen und das sei auch heute noch so. Dies sollte sachlich-fachlich analysiert werden. Was dazu in den Lageberichten des Bundeskriminalamts gestanden habe, sei viel zu oberflächlich gewesen.

Auch herrschte bei manchen noch ein Denken vor, das die Wirtschaftskriminalität als Teil des wirtschaftlichen Kreislaufs sah und damit verharmloste. Bei den Milliarden Drogengeldern wurde beispielsweise gedacht: Abgesehen von den gesundheitlichen Folgen für die Süchtigen und der notwendigen Kriminalisierung des Drogenverkaufs – das Geld ist ja wenigstens nicht verloren, es wird wieder investiert und mehrt so letzten Endes den gesamtgesellschaftlichen Reichtum.

BCC habe zeigen wollen, dass Wirtschaftskriminalität mehr ist als eine Straftat. Bei der Umweltzerstörung, der Abholzung von Wäldern, der Nutzung von Pestiziden geht es nicht nur um Verstöße gegen Gesetze, sondern um unser aller Leben und Wohlergehen. Zum Teil gibt es ja noch nicht einmal juristische Möglichkeiten, hier etwas zu unterbinden, oder sie werden nicht angewandt (wie die anderen Referate der Tagung belegten). Seit über 50 Jahren, seit dem Bericht des Club of Rome im Jahr 1972 werde darüber informiert und diskutiert. Vielen, die sich heute zum Beispiel bei Fridays for Future engagieren, sei dies oft überhaupt nicht bewusst. Es bestehe immer die Gefahr der Vereinnahmung von Bewegungen – eine klassische Methode. Dann werde „der ganze Staat grün angestrichen“, ohne dass sich viel ändert.

Seit den 1970er Jahren sei, wenn es um Wirtschaftskriminalität ging, die Mafia ein großes Thema gewesen. Weniger im Fokus standen die politischen Kräfte und Strukturen, die mit der Mafia in irgendeiner Weise verbunden waren, wie in Italien beispielsweise die christlich-demokratische Partei. Oder die Banken, die dabei halfen, Geld zu waschen und es in den normalen Verwertungskreislauf einzuschleusen.

Ein Thema, das ebenfalls vernachlässigt war, aber von BCC aufgegriffen wurde: die Wissenschaftskriminalität, das Dunkelfeld der gekauften Wissenschaft. Dazu habe einmal ein Manager aus der Atomindustrie gesagt: „Ich kann, wenn ich genug Geld habe, jedes Gutachten bekommen“.

Nach der Gründung von BCC entstanden weitere Organisationen, die sich unter anderem auch mit Wirtschaftskriminalität befassen – beispielsweise Transparency International, LobbyControl oder Attac. Charakteristisch für den spezifischen Ansatz von Business Crime Control  bleibe die Forderung nach einer präventiven Kriminalitätspolitik durch Demokratisierung der Wirtschaft, nach einer „kriminalpräventiven Mitbestimmung“.

In der Diskussion wurde die Notwendigkeit betont, wieder die demokratietheoretische Debatte zu beleben und sich mit anderen Initiativen zu vernetzen, die sich gegen die sozialschädlichen Folgen einer gegen Gesetze und ethische Normen verstoßenden Ökonomie zur Wehr setzen.

Es folgte der Beitrag von Dr. Walter Hölzel, dem Vorsitzenden der Werra-Weser-Anrainerkonferenz e.V.: „Kaliherstellung in Deutschland – ein seit Jahrzehnten eingeübtes System zur Umgehung des Rechts“. Es geht um die K+S AG, früher Kali und Salz AG mit Sitz in Kassel. K+S ist der weltweit größte Salzproduzent und in der internationalen Spitzengruppe, was kali- und magnesiumhaltige Produkte für landwirtschaftliche und industrielle Zwecke betrifft.

Bei der Herstellung von Kalisalz entstehen Abwässer, die bisher mit staatlicher Genehmigung in den Untergrund verpresst oder in die Flüsse Werra und Weser eingeleitet werden. Die Versalzung der Flüsse hat zur Folge, dass in ihnen die Süßwasser-Lebensgemeinschaft vernichtet wird und bis Bremen kein Trinkwasser mehr aus dem Uferfiltrat gewonnen werden kann.

Zum internationalen Tag des Wassers 2007 fand eine Konferenz der Flussanrainer statt, auf der die umweltschädlichen Praktiken von K+S kritisch beleuchtet wurden. 2008 wurde dann die Werra-Weser-Anrainerkonferenz als gemeinnütziger Verein gegründet. In ihm sind Kommunen, Verbände, Vereine und Wirtschaftsunternehmen zusammengeschlossen, die in der Flussgebietseinheit Weser von der Versalzung der Flüsse und des Grundwassers betroffen sind.

Der Verein hat inzwischen umweltfreundliche Alternativen entwickelt, deren technische und wirtschaftliche Machbarkeit 2014 vom Umweltbundesamt bestätigt wurde. Sie zeigen, wie die Ziele der EU-Wasserrahmen-Richtlinie bis 2027 verwirklicht werden könnten.

Im Beitrag von Walter Hölzel wurden die Verstrickungen von Behörden mit dem Unternehmen K+S bei der Erteilung von Genehmigungen dargestellt, die mittlerweile von der Staatsanwaltschaft Meiningen als rechtswidrig eingestuft wurden.

Über ein weiteres Beispiel, wie Bürgerinitiativen und zivilgesellschaftliche Organisationen sich gegen eine allzu kapitalhörige Genehmigungspraxis zur Wehr setzen können, berichtete der Berliner Anwalt für Umweltrecht Thorsten Deppner. Sein Thema: „Großindustrieansiedlung auf zweifelhafter Rechtsgrundlage – der Fall Tesla in Brandenburg“. Deppner vertritt den Brandenburger Landesverband des Naturschutzbunds Deutschland und die Grüne Liga Brandenburg im Streit um die Zulassung des vorläufigen Beginns von Rodungs- und Baumaßnahmen für die „Gigafactory“ Tesla. In ihr sollen in großem Maßstab E-Autos, auch E-SUVs gebaut werden. Dies schaffe Arbeitsplätze und beschleunige das notwendige Ende des Verbrennungsmotors – so die Begründung der Landesregierung für die schnelle Zulassung. Die Umweltverbände unterlagen einerseits vor Gericht mit ihren Einwänden, hatten aber auch in einem Fall Erfolg und erwirkten einen vorübergehenden Baustopp. Die juristische Auseinandersetzung dauert an.

Zusammenfassend referierte dann Herbert Storn über „Skandale mit System“. Was als Einzelfälle erscheint sei symptomatisch für die sozial- und umweltschädlichen Folgen einer ungebremsten Kapitalverwertung. Der Schutz von Mensch und Umwelt bilde zwar eine normative Grundlage für das gesellschaftliche Leben, die unter anderem im Grundgesetz festgeschrieben ist. Aber das Profitprinzip als normative Grundlage des kapitalistischen Wirtschaftens stehe dem entgegen. Hinzu komme die immer stärkere Machtkonzentration bei den transnationalen Konzernen, die kaum noch unter eine demokratische Kontrolle zu bringen ist. Die Widersprüche verschärften sich in der Krise bis zu einem Punkt, an dem sie jedem offensichtlich werden. Notwendig sei es, alle kritischen Initiativen zusammen zu bringen, die Aufklärung leisten und Widerstand gegen die destruktiven Entwicklungen leisten können.

Aus: Beilage von BIG Business Crime zu Stichwort BAYER Nr. 4/2021

 

Unternehmensstrafrecht: In Zukunft schärfere Regelungen gegen Wirtschaftskriminalität?

„Wir wollen sicherstellen, dass Wirtschaftskriminalität wirksam verfolgt und angemessen geahndet wird“: Vor dem Hintergrund von Dieselaffäre, Fleischskandalen und Cum-Ex-Geschäften hatten sich die Regierungsfraktionen im aktuellen Koalitionsvertrag auf schärfere Sanktionen gegen Unternehmen festgelegt. Dann folgte allerdings ein langer Streit über die konkrete Ausgestaltung des Vorhabens. Im Juni des letzten Jahres beschloss die Bundesregierung schließlich den von der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz vorgelegten Entwurf des „Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“. Ein Jahr nach Vorlage des Regierungsentwurfes folgte dann jedoch das endgültige Aus für das Gesetzesvorhaben. Massive Gegenwehr gegen höhere Strafen für kriminelle Unternehmen aus Kreisen der Wirtschaft und der Union hatten nun doch noch zum Scheitern der Regierungsvorlage geführt.

Einer der Kernpunkte dieser Vorlage bildete ein neues Sanktionsrecht. Für Gesetzesverstöße von Unternehmen wie Betrug, Korruption oder Umweltdelikte konnten und können bislang nur Geldbußen von maximal zehn Millionen Euro verhängt werden. Der Regierungsentwurf sah hingegen für Konzerne mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 100 Millionen Euro Bußbescheide in Höhe von bis zu zehn Prozent ihres Jahresumsatzes vor. Künftig sollten zudem – bei einen Verdacht, dass aus dem Unternehmen heraus Straftaten begangen werden – Staatsanwaltschaften nach dem Legalitätsprinzip gegen Firmen ermitteln. Bisher liegt es hingegen im Ermessen der einzelnen Behörden, ob und wie gegen Delikte von Unternehmen vorgegangen wird.

Obwohl die geplanten Unternehmenssanktionen in dieser Legislatur nun nicht mehr kommen, hält es das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom 16. August 2021 für sehr wahrscheinlich, dass sich Unternehmen in naher Zukunft auf schärfere Regelungen einstellen müssen. Zwar tauche ein neues Sanktionsrecht in den Wahlprogrammen von Union und SPD nicht mehr auf. Doch auf Nachfrage würden sich die beiden Parteien dafür grundsätzlich offen zeigen. Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, sagte gegenüber der Zeitung, dass die Betrügereien von Unternehmen mit Coronatests gerade erst gezeigt hätten, wie sinnvoll solche Regelungen wären.

Nach Angaben des rechtspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jan-Marco Luczak, will die Union Rechtsverstöße in der Wirtschaft „gezielt bekämpfen“, nicht aber Unternehmen „generell kriminalisieren“. „Wir wollen einen Regelungsrahmen“, so Luczak, „der Anreize für Unternehmen schafft, sich rechtstreu zu verhalten und mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren“. Dafür sei die Fraktion auch in Zukunft offen und gesprächsbereit.

Die Grünen hingegen halten – wie Bundesgeschäftsführer Michael Kellner dem Handelsblatt mitteilte – ein Gesetz zu Unternehmenssanktionen weiterhin für erforderlich und wollen Unternehmen bei Rechtsverstößen künftig wirksamer zur Rechenschaft ziehen.

Im Wahlprogramm der FDP tauchen Unternehmenssanktionen dagegen laut Handelsblatt mit keinem Wort auf. Die größte Abschreckungswirkung, Straftaten zu begehen, habe nach Auffassung der Liberalen immer noch die individuelle Haftung. „Gerade vor dem Hintergrund der sehr hohen Belastungen der deutschen Wirtschaft durch die Politik der Großen Koalition und durch Corona sind zusätzliche Belastungen durch ein Unternehmensstrafrecht der falsche Weg“, zitiert das Blatt das Wahlprogramm der FDP.

Der Ökonom Heinz-J. Bontrup kritisierte bereits im letzten Jahr den damals noch aktuellen Regierungsentwurf. In einem Interview mit den „NachDenkSeiten“ sagte er unter anderem, dass in der Vergangenheit unternehmensseitig begangene kriminelle Wirtschaftsdelike eben nicht strafrechtlich verfolgt werden konnten. Diese Delikte unterlagen stattdessen dem Ordnungswidrigkeitengesetz, wo bei der Sanktion nur ein Bußgeld drohte. „Bußgelder schrecken aber kriminelle Unternehmen nicht ab. Im Gegenteil, sie können sich die Geldstrafen ex-ante berechnen und diese dann in ihren Produkten einpreisen, so dass am Ende, fliegen die Unternehmen auf, auch noch der ‚dumme‘ Nachfrager das Bußgeld für die Täterunternehmen bezahlt.“

Streng genommen, meinte Bontrup weiter, würde es auch mit dem neuen Gesetz kein „Unternehmensstrafrecht“ geben. „Strafrecht impliziert neben Geldstrafen immer auch die Möglichkeit einer Haftstrafe. Man kann aber ein Unternehmen, also eine juristische Person, nicht verhaften – allenfalls kann man das Unternehmen zerschlagen oder enteignen, was übrigens im GWB* bei schweren Verstößen gegen den Wettbewerb, mit Ausnahme einer Enteignung, durchaus vorgesehen ist, bis heute realiter aber noch nicht einmal umgesetzt wurde. Und jetzt wird es interessant und entscheidend: Eine Zerschlagung oder Enteignung sieht das neue ‚Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft‘ nicht vor, sondern, wie im GWB, nur eine monetäre Sanktionierung über Bußgelder, die hier dem GWB angelehnt wurden. (…) Glauben Sie mir: Wenn der Gesetzgeber den Unternehmenseigentümern, und um die geht es bei Unternehmen letztlich, mit einer konkreten Zerschlagung oder in ganz schweren Fällen mit einer Wegnahme ihrer Unternehmen (Enteignung ohne Entschädigung) bedrohen würde, dann gäbe es auch keine kriminellen Handlungen mehr. Ein dazu notwendiges, wirkliches Unternehmensstrafgesetz zu verabschieden, traut sich aber die herrschende Politik nicht. Insofern muss man von einem Staatsversagen sprechen (…).“

* Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)

 

Quellen:

Heike Anger: „Betrug, Korruption oder Umweltdelikte: Unternehmenssanktionen werden kommen“, Handelsblatt (Online) vom 16. August 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wirtschaftskriminalitaet-betrug-korruption-oder-umweltdelikte-unternehmenssanktionen-werden-kommen/27521226.html

Corinna Budras: „Gesetzesentwurf gekippt: Skandale ohne Folgen“, FAZ (Online) vom 9. Juni 2021

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/koalition-beerdigt-gesetz-zu-unternehmenssanktionen-17381080.html

„Ein wirkliches Unternehmensstrafgesetz zu verabschieden, traut sich die herrschende Politik nicht“, Interview der „NachDenkSeiten: Die kritische Website“ mit Heinz-J. Bontrup vom 3. August 2020

https://www.nachdenkseiten.de/?p=63536

 

Cyberattacken nehmen stark zu

Bereits am 5. August 2021 stellten der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Sinan Selen, und der Präsident von Bitkom*, Achim Berg, bei der Bundespressekonferenz die repräsentative Studie „Wirtschaftsschutz und Cybercrime“ vor.

Die Schäden durch analoge und digitale Angriffe wie Diebstahl, Industriespionage und Sabotage sind demnach aktuell auf 223,5 Milliarden Euro gestiegen. Im Jahr 2019 hatte die Schadenssumme noch bei 102,9 Milliarden Euro gelegen. Bitkom hatte über tausend Unternehmen quer durch alle Branchen im Zeitraum vom 11. Januar bis 9. März 2021 jeweils nach Schäden in den vergangenen zwölf Monaten befragt. Etwa 90 Prozent der Unternehmen gaben an, Opfer von Cyberkriminalität geworden zu sein.

„Der starke Anstieg krimineller Aktivitäten geht vor allem auf Cyberattacken zurück, von denen 86 Prozent der Unternehmen laut der Bitkom-Studie betroffen waren. ‚Kein anderes Angriffsszenario ist so stark gestiegen wie Digitalattacken‘, sagte Berg am Donnerstag bei der gemeinsamen Vorstellung der Ergebnisse mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Berg bezeichnete die Entwicklung als ‚schockierend‘. Hinter den meisten Angriffen steckten immer häufiger Profis, die ‚richtig hohe Schäden verursachen‘. Ein Grund für die massive Zunahme von Cyberattacken ist der Wechsel ins Homeoffice im Zuge der Corona-Pandemie. Die neue Welle der Heimarbeit habe dazu geführt, dass viele Kriminelle vor allem das ‚schwächste Glied der Sicherheitskette‘, den Faktor Mensch, bei ihren Attacken anvisierten, so die Studie. Dabei reicht es, dass ein Mitarbeiter sein Passwort telefonisch weitergibt oder einen infizierten Anhang einer E-Mail anklickt, um den Hackern das Tor zur Unternehmenswelt weit zu öffnen.“ (Handelsblatt vom 5. August 2021)

Nach Angaben der Studie erfolgen viele der Angriffe aus dem Ausland. Die befragten Unternehmen vermuteten mit rund 60 Prozent Osteuropa und Russland als die Region, aus der die meisten Hackerattacken kamen, gefolgt von Deutschland (43 Prozent) und China (30 Prozent). Laut Verfassungsschutz ist auch eine Zunahme von staatlichen Cyberangriffen festzustellen. 84 Prozent der befragten Unternehmen befürchten, dass Cyberattacken weiter zunehmen werden. Besonders bedroht sehen sich Betreiber der kritischen Infrastruktur wie Stromnetzbetreiber oder Telekommunikationsunternehmen.

Die netzpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Anke Domscheit-Berg, kritisierte gegenüber dem Neuen Deutschland, dass die Bundesregierung viel zu wenig tue, um die Risiken zu begrenzen. Sie verdeutlicht das am Beispiel des Landkreises Anhalt-Bitterfeld.

„Dort fand Anfang Juli ein Angriff auf die IT-Systeme der Verwaltung mit einer ‚Ransomeware‘ genannten Schadsoftware statt. Eine schlichte Erpressung. Die Angreifer verschlüsselten die Daten auf den Speichern der Verwaltung und verlangten Geld dafür, damit die Daten wieder entschlüsselt werden. Das Lösegeld wurde nicht gezahlt. Wenige Tage nach dem Angriff musste der Landkreis den Katastrophenfall ausrufen, weil die Verwaltung nicht mehr arbeitsfähig war und viele Dienstleistungen nicht mehr erbringen konnten, auf die Bürger*innen angewiesen sind. Wohngeld, BaföG, Eingliederungshilfen und viele weitere Antragsverfahren mussten neu organisiert und über eine Notinfrastruktur realisiert werden. Zuletzt vermeldete der Landkreis den kleinen Erfolg, dass auch die Zulassung von Kraftfahrzeugen nach mehr als drei Wochen wieder technisch möglich sei. Die Bundeswehr kam mit ihren Cyberabteilungen zum Einsatz, um die 900 Computer der Verwaltung wieder arbeitsfähig zu machen und Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.“ (Neues Deutschland vom 5. August 2021)

Zur Angreifbarkeit der Systeme trage aber auch die Bundesregierung selbst bei. Denn trotz latenter Bedrohung wolle die Regierung weiterhin Sicherheitslücken geheim halten, um sie für Überwachung ausnutzen zu können. Faktisch sei jeder Staatstrojaner eine Schadsoftware, die auch genauso funktioniere und die gleichen Angriffswege nutze.

* Der 1999 gegründete Digitalverband Bitkom (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.) vertritt die deutsche Informations- und Telekommunikationsbranche und damit mehr als 2.000 Mitgliedsunternehmen.

Quellen:

„Wirtschaftsschutz 2021“, Studie der Bitkom vom 5. August 2021

https://www.bitkom.org/sites/default/files/2021-08/bitkom-slides-wirtschaftsschutz-cybercrime-05-08-2021.pdf

„Angriffsziel deutsche Wirtschaft: mehr als 220 Milliarden Euro Schaden pro Jahr“, Pressemitteilung Bitkom vom 5. August 2021

https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Angriffsziel-deutsche-Wirtschaft-mehr-als-220-Milliarden-Euro-Schaden-pro-Jahr

Daniel Lücking: „Angriffsziel Heimarbeit“, Neues Deutschland vom 5. August 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155312.cybersicherheit-angriffsziel-heimarbeit.html

Teresa Stiens: „Angriff auf die deutsche Wirtschaft: Cyberkriminalität kostet Unternehmen Milliarden“, Handelsblatt vom 5. August 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bitkom-studie-angriff-auf-die-deutsche-wirtschaft-cyberkriminalitaet-kostet-unternehmen-milliarden/27483826.html

 

Exzessive Profite von Impfstoffherstellern

Nach einer aktuellen Studie der internationalen NGO The People’s Vaccine Alliance erzielen die großen mRNA-Impfstoffhersteller, darunter BioNTech (Mainz), riesige Profite aus der Covid-19-Pandemie. Die NGO kommt zu dem Schluss, dass die von BioNTech und Pfizer aus dem Verkauf ihres Vakzins gezogenen Einnahmen um rund 24 Milliarden US-Dollar über dem Herstellungspreis liegen.

„Demnach könnte eine Dosis des BioNTech/Pfizer-Vakzins für rund 1,18 US-Dollar produziert werden, eine Dosis des Moderna-Vakzins für 2,85 US-Dollar. Soweit die tatsächlich gezahlten Preise bekannt sind, liegen sie bei Moderna um das 4- bis 13-Fache über den von The People’s Vaccine Alliance geschätzten Produktionskosten, bei BioNTech/Pfizer sogar um das 6- bis 24-Fache. Der niedrigste bekannte Preis für eine Dosis des BioNTech/Pfizer-Vakzins wurde von der Afrikanischen Union (AU) gezahlt; er liegt mit 6,75 US-Dollar pro Dosis beim 6-Fachen der geschätzten Produktionskosten. Den höchsten Preis bezahlte Israel mit 28 US-Dollar pro Dosis. Moderna wiederum soll von Kolumbien 30 US-Dollar pro Impfdosis verlangt haben – das Doppelte dessen, was die US-Regierung zahlte. Südafrika hat sich gezwungen gesehen, ein Angebot von Moderna als unbezahlbar abzulehnen; Berichten zufolge verlangte der Konzern 42 US-Dollar pro Dosis.“ (german-foreign-policy.com vom 4. August 2021)

Nach Einschätzung von The People’s Vaccine Alliance hat dabei die EU die Preise „besonders schlecht verhandelt“ und damit den Impfstoffherstellern besonders hohe Profite beschert. Der Betrag, den die EU über den reinen Herstellungspreis hinaus ausgegeben habe, belaufe sich auf gut 31 Milliarden Euro, 19 Prozent des gesamten EU-Haushalts für das Jahr 2021. Berlin sichere die Profite der Impfstoffhersteller, indem es die zeitweise Aussetzung der Impfstoffpatente weiterhin blockiere. Schwellen- und Entwicklungsländer würden vor allem von China versorgt – mit inzwischen über 570 Millionen Impfdosen.

In The People’s Vaccine Alliance haben sich etwa 70 internationale NGOs, darunter Oxfam und Amnesty International, zusammengeschlossen.

Quelle:

„Die Pandemieprofiteure“, Bericht des Online-Nachrichtenportals „Informationen zur Deutschen Außenpolitik“ (german-foreign-policy.com) vom 4. August 2021

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8678/

Weitere Informationen:

„Vaccine monopolies make cost of vaccinating the world against COVID at least 5 times more expensive than it could be“, Presseinformation von Oxfam International vom 29. Juli 2021

https://www.oxfam.org/en/press-releases/vaccine-monopolies-make-cost-vaccinating-world-against-covid-least-5-times-more

 

 

 

Mindestfallzahlen in den Krankenhäusern: Kritik an Schließung von Frühchenstationen

Das Anfang 2020 gegründete „Bündnis Klinikrettung“ kämpft gegen den massenhaften und flächendeckenden Abbau von Krankenhäusern. In einem aktuellen Aufruf heißt es:

„In Deutschland schließen seit Jahren fast monatlich Krankenhäuser. Kommunale Kliniken machen dicht, weil ihnen das Geld ausgeht, private Kliniken werden geschlossen, weil sie aus Sicht der Eigentümer nicht genügend Rendite erbringen. Der Bund fördert solche Schließungen sogar mit 500 Millionen Euro jährlich! Diese Entwicklung muss umgehend gestoppt werden. Krankenhäuser retten Leben. Wir brauchen sie in Krisenzeiten und im Alltag.“

Medienberichte belegen die Relevanz dieser Forderung. Am 25. Mai 2021 informierte etwa der NDR darüber, dass die Versorgung von Frühgeborenen in Mecklenburg-Vorpommern von 2024 an eingeschränkt werden soll. Der Hintergrund: In sogenannten Perinatalzentren können kranke Babys und Frühchen unabhängig von Größe, Alter und Gewicht behandelt werden. Das höchste Beschlussgremium im deutschen Gesundheitswesen, der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), entschied aber Ende des letzten Jahres, die Mindestanzahl für die Behandlung von Frühgeborenen unter 1.250 Gramm hochzusetzen: von 14 Fällen pro Jahr auf 25. Offensichtlich mit dramatischen Folgen für Mecklenburg-Vorpommern (MV). Denn die neue Mindestmenge von 25 Fällen, so der NDR, erreichten dort nur die Kliniken in Schwerin und Rostock, Greifswald und Neubrandenburg dagegen nicht.

Der Bundesverband „Das Frühgeborene Kind e.V.“ betont dagegen die positiven Effekte einer Mindestmenge. In einer Stellungnahme vom Dezember 2020 heißt es: „Es gibt Behandlungen, bei denen die Qualität des Ergebnisses von der Anzahl der Patienten pro Jahr und Krankenhaus abhängt. Im Bezug auf die stationäre Versorgung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm ist ein solcher Zusammenhang bereits seit Jahren nachweislich belegt. Ausreichende Erfahrung im Umgang mit derart unreifen Kindern wirkt sich existenziell auf die Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens aus.“

Die Süddeutsche Zeitung erläuterte bereits Ende 2020 den Hintergrund des Konflikts – mit der gleichen Stoßrichtung. Die Versorgung von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250 Gramm sei in den vergangenen Jahren besonders umstritten gewesen. Für diese extrem unreifen Frühgeborenen hätte die Mindestmenge in Deutschland seit 2010 bei nur 14 Fällen pro Jahr und Klinik gelegen. Der G-BA habe den Wert zwar noch im selben Jahr auf 30 Fälle pro Klinik erhöht. Zahlreiche Studien hätten aber schon damals belegt, dass es in Kliniken mit mehr Erfahrung zu weniger Todesfällen und Behinderungen bei den Frühgeborenen gekommen sei. Doch hätten mehrere Kliniken gegen die Erhöhung der Mindestmenge geklagt.

„Das Bundessozialgericht gab den Klägern recht, allerdings mit einer gewagten Begründung: So sei der Grenzwert von 30 willkürlich, weil ebenso gut 25 oder 50 festgelegt werden könnte. Allerdings gelten solche Grenzen beispielsweise auch für Laborwerte in der Medizin, für die Schwelle zum Übergewicht und für jedes Tempolimit, ohne dass deren Sinn in Frage gestellt würde. Vor wenigen Wochen hatte eine große Analyse von mehr als 50.000 Geburten in Deutschland gezeigt, dass eine Klinik mindestens 50 bis 60 der absoluten Leichtgewichte jährlich behandeln sollte, damit die Aussichten für die Kinder optimal wären. Jedes Jahr würden sich 25 bis 40 Todesfälle unter den Frühchen auf diese Weise verhindern lassen.“

Dr. Sven Armbrust, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Neubrandenburg, hält im NDR-Beitrag vom  vergangenen Mai vehement dagegen und kritisiert die höhere Mindestmenge. „Stattdessen müssen wir sagen, welche Kriterien brauchen wir, um zu definieren, ob das eine gute oder eine schlechte Qualität ist. Und wenn man Kliniken hat, die schlechte Qualität liefern, dann müssen sie die verbessern oder es muss Konsequenzen haben.“ Stationen aber auf Basis von Mindestmengen zu schließen halte er für den falschen Weg.

Im Juni 2021 wurde schließlich das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung” im Bundestag beschlossen (gültig ab 20. Juli 2021) und damit die Mindestmengenregelungen im Krankenhaus juristisch festgezurrt. Ausnahmen sind jedoch – als Kompromisslösung – im Einvernehmen mit den Krankenkassen möglich. Werden solche Absprachen mit den Krankenkassen getroffen, können spezielle Versorgungsleistungen und Behandlungen in dünn besiedelten Regionen weiterhin angeboten werden, obwohl bundesweite Mindestzahlen nicht erfüllt werden. Der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion und Landesvorsitzender der Partei Die Linke in MV, Torsten Koplin, merkt aber an, dass die Entscheider in den Krankenkassen alle außerhalb des Bundeslandes sitzen. MV habe denen gegenüber kein Entscheidungs- oder Weisungsrecht (vgl. Nordkurier vom 17. Juni 2021).

Quellen:

Werner Bartens: „Mehr Erfahrung für die Kleinsten“, Süddeutsche Zeitung vom 19. Dezember 2020

https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/fruehgeborene-mindestmengen-krankenhaeuser-1.5152772

Bündnis Klinikrettung: „Gemeingut Krankenhaus retten: Worum geht es?“

https://www.gemeingut.org/krankenhausschliessungen/#1604497252438-cba0189f-848c

Louisa Maria Carius: „Frühchenstationen in Mecklenburg-Vorpommern vor dem Aus?“, NDR-Nordmagazin vom 26. Mai 2021

https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Fruehchenstationen-in-MV-vor-dem-Aus,neonatologie102.html

„G-BA beschließt neue Mindestmenge für Frühgeborene unter 1250 Gramm“, Stellungnahme (vom 21. Dezember 2020) des Bundesverbands „Das frühgeborene Kind“ e.V. zum neuen Mindestmengen-Beschluss vom 17. Dezember 2020

https://www.fruehgeborene.de/news/stellungnahme-zum-neuen-mindestmengen-beschluss-vom-17122020

Christoph Schoenwiese: „Linke in MV begrüßt Kompromiss bei Frühchenstationen – mit einem Aber“, Nordkurier vom 17. Juni 2021

https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/linke-in-mv-begruesst-kompromiss-bei-fruehchenstationen-mit-einem-aber

 

Commerzbank kündigt Konto eines linken Verlags

Die Commerzbank hat das Geschäftskonto der Mediengruppe Neuer Weg GmbH, in deren Druckerei Publikationen verschiedener linker Gruppen und Initiativen gedruckt werden, gekündigt. Das berichtet der Verlag in einer Mitteilung vom 21. Juli 2021. Über den Grund der Kündigung äußerte sich die Bank offensichtlich nicht. „Die Geschäftsbeziehung des Verlag Neuer Weg mit der Commerzbank verlief über Jahrzehnte ohne jede Beanstandung. Die Kündigung des Kontos erfolgte lediglich mit Verweis auf ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach sie jederzeit die gesamte Geschäftsverbindung oder einzelne Geschäftsbeziehungen ohne Angabe von Gründen kündigen kann“, heißt es dazu vom Verlag.

Ebenso sei das Privatkonto des Geschäftsführers Uwe Pahsticker und das der „Internationalismusverantwortlichen“ der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands), Monika Gärtner-Engel, gekündigt worden. Wenige Wochen zuvor habe die Bank auch das Konto von Stefan Engel, Autor im Verlag Neuer Weg und ehemaliger Parteivorsitzender der MLPD, gekündigt.

Nach Auffassung des Verlags reihen sich diese Angriffe „in eine Rechtsentwicklung der Gesellschaft ein, siehe die Nichtzulassung der DKP zu den Bundestagswahlen, Einschränkungen beim Versammlungsrecht usw.“.* Es sei geradezu lächerlich, „wenn die Commerzbank auf ihrer Homepage ihr Logo jetzt in Regenbogenfarben erscheinen lässt und behauptet ‚Wir bekennen Farbe für Vielfalt‘. Die Vielfalt gilt offensichtlich nur für höchstprofitbringende Geschäftskunden und nicht für Marxisten-Leninisten“.

In der Vergangenheit wurden bereits Geschäfts- und Privatkonten der MLPD bzw. einzelner ihrer Mitglieder von Banken gekündigt, so im Jahr 2009 durch die Deutsche Bank – ebenfalls ohne Nennung von Gründen.

* Die Nichtzulassung der DKP zur Bundestagswahl ist inzwischen aufgehoben worden.

Quellen:

„Kündigung unseres Geschäftskontos durch die Commerzbank“, Mitteilung der Mediengruppe Neuer Weg GmbH vom 21. Juli 2021

https://www.rf-news.de/2021/kw30/210721-mnw_erklaerung-zu-kontenkuendigung-durch-commerzbank.pdf

Luise Strothmann: „Marxisten müssen neue Bank suchen“, taz vom 20.11.2009

https://taz.de/Deusche-Bank-kuendigt-Konto/!5152150/

 

 

 

Finanzskandal im Vatikan

Am 27. Juli 2021 begann in Rom ein außergewöhnlicher Strafprozess um den Verlust von Kirchengeldern. Denn mit Giovanni Angelo Becciu, einem 73-jährigen Sarden, steht zum ersten Mal in der Geschichte ein Kardinal vor einem vatikanischen Gericht. Zehn weitere Personen sind angeklagt, Kirchengelder in dreistelliger Millionenhöhe veruntreut zu haben. Es soll dabei laut Anklage nicht nur zu massiven finanziellen Verlusten gekommen sein, sondern auch zu schweren Delikten wie Unterschlagung, Amtsmissbrauch, Geldwäsche, Korruption, Betrug und Erpressung.

„Becciu war von 2011 bis 2018 Substitut im Staatssekretariat des Vatikan, also Stellvertreter des Chefs in der Verwaltungszentrale der Weltkirche. Dort war er hauptsächlich zuständig für Investitionen. In seine Amtszeit fiel der Erwerb einer Luxusimmobilie im schicken Londoner Stadtteil Chelsea – für mehrere Hundert Millionen Euro. Im ehemaligen Lager des Kaufhauses Harrods an der Sloane Avenue sollten Wohnungen für sehr reiche Kunden gebaut werden. In den Deal waren Trader und Broker verwickelt, die für ihre Vermittlung hohe Kommissionen erhielten. Im Fall von Raffaele Mincione, der das Geschäft eingefädelt hatte, sollen es 40 Millionen Euro gewesen sein.“ (Süddeutsche Zeitung vom 25. Juli 2021)

Am 4. Juli 2021 schrieb die FAZ, dass ein erheblicher Teil der rund 350 Millionen Euro, die das vatikanische Staatssekretariat für den Erwerb des ehemaligen Lagerhauses bezahlt haben soll, aus dem Fonds des sogenannten Peterspfennigs stamme. Dabei handelt es sich um eine Kollekte, die einmal pro Jahr während einer Sonntagsmesse in den katholischen Kirchen weltweit erhoben wird. Nach Darstellung des Vatikan ist der Peterpfennig der „bezeichnendste Ausdruck der Teilhabe aller Gläubigen an den wohltätigen Initiativen des Bischofs von Rom für die Weltkirche“.

Beobachter sind gespannt, ob der angeklagte Kardinal während des Prozesses andere hohe Würdenträger durch belastende Aussagen in die Enge treibt. „Becciu war jahrelang so mächtig in der vatikanischen Verwaltung, dass er alles weiß, er kennt auch alle Geheimnisse“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Becciu drohen im Falle eines Schuldspruchs bis zu fünf Jahre Haft.

Quellen:

Matthias Rüb: „Wenn der Vatikan einen Kardinal anklagt“, FAZ (Online) vom 4. Juli 2021

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/finanzskandal-der-kirche-wenn-der-vatikan-einen-kardinal-anklagt-17421476.html?service=printPreview

Oliver Meiler: „Deal mit dem Peterspfennig“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 25. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/vatikan-immobiliendeal-prozess-kardinal-angelo-becciu-1.5362791

Marco Ansaldo/Andreas Englisch/Eveleyn Finger: „Ein Prozess, wie ihn Rom noch nicht erlebt hat“, Die Zeit (Online) vom 22. Juli 2021

https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/vatikanstaat-strafprozess-kirchengelder-spenden-investments-millionenhoehe-betrug/komplettansicht

„Der Peterspfennig heute“, Vatikanisches Presseamt

https://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/obolo_spietro/documents/actual_ge.html

Weitere Informationen:

„Mammutprozess startet am 27. Juli“, Domradio.de vom 19. Juli 2021

https://www.domradio.de/themen/vatikan/2021-07-19/mammutprozess-startet-am-27-juli-vatikan-erhebt-anklage-wegen-finanzskandal-um-londoner-immobilie

„Vatikan blickt auf schwieriges Wirtschaftsjahr zurück“, Vatican News vom 24. Juli 2021

https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2021-07/vatikan-wirtschaft-jahresabschluss-guerrero-bilanz-corona.html

Autobauer Tesla – umweltrechtliche Zulassung wahrscheinlich

Nach Einschätzung von Brandenburgs Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) spricht gegenwärtig nichts gegen eine umweltrechtliche Zulassung für die Fabrik des US-Elektroautoherstellers Tesla in Grünheide bei Berlin. Er hoffe auf einen Produktionsstart im vierten Quartal 2021, wenn „nichts Unvorhergesehenes“ mehr passiere, wie unter anderem der Berliner Tagesspiegel am 18. Juli berichtete. Weil Tesla einen neuen Antrag auf Zulassung – unter Einschluss einer Batteriefabrik – stellte, hat sich das vom Land Brandenburg durchgeführte Genehmigungsverfahren verzögert. Ursprünglich sollte die Produktion der vom Hersteller selbst als „Gigafactory“ bezeichneten ersten Fertigungsanlage in der EU im Juli aufgenommen werden. Tesla plant in Grünheide die Produktion von 500.000 Elektroautos pro Jahr.

Das Unternehmen, so Minister Steinbach, habe im bisherigen Antragsverfahren gezeigt, dass alles dafür getan werde, um Genehmigungshindernisse auszuräumen. Die Bauarbeiten des US-Elektroautoherstellers in Grünheide liefen in Teilabschnitten auf Basis vorläufiger Zulassungen weiter und seien schon weit fortgeschritten. Auch könnten bestimmte Anlagen weiterhin getestet werden, obwohl die Gesamtgenehmigung des Landesumweltamtes für die Fabrik nach wie vor fehle. Wann darüber entschieden werde, sei offen.

Der Naturschutzbund (Nabu) und die Grüne Liga Brandenburg sehen das Projekt kritisch und haben mehrfach versucht, vorzeitige Genehmigungen vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zu Fall zu bringen. Die Umweltverbände hatten sich gegen Tests von Anlagen in den Bereichen Lackiererei, Gießerei und Karosseriebau sowie den Einbau von Tanks für die Abwasserreinigung und die Betankungsanlage gewandt (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2021).

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

„Die Umweltschützer verweisen auf ein Störfallgutachten, sie halten damit eine positive Prognose für die Genehmigung nicht mehr für möglich. Damit fehlt aus ihrer Sicht eine der wichtigen Voraussetzungen für die vorzeitige Zulassung. Der Landesgeschäftsführer der Grünen Liga Brandenburg, Michael Ganschow, sieht die Gefahr, ‚dass der Standort im Wasserschutzgebiet im Verfahren nicht notwendig Berücksichtigung findet‘. Er kritisiert auch, es gebe zahlreiche geschwärzte Stellen im Antrag von Tesla, mit denen die Frage der Gefahr unklar sei.“

Das Magazin Sozialismus.de beschreibt dagegen die Unzufriedenheit des Managements von Tesla mit der deutschen Bürokratie:

„In einem Brandbrief an die Öffentlichkeit drückte Tesla sein Unverständnis darüber aus, dass Projekte, die sich positiv auf die Energiewende auswirken und einen Beitrag zur Klimaneutralität leisten, nicht vorrangig genehmigt werden. ‚Tesla Brandenburg hat hautnah erfahren, dass Hindernisse im deutschen Genehmigungsrecht die notwendige industrielle Transformation und damit die Verkehrs- und Energiewende verlangsamen.‘ Die deutschen Genehmigungsverfahren müssten den verfolgten Zielen der Klimapolitik angepasst werden, sie hinkten dem Ziel hinterher und seien im Grunde die gleichen wie für ein Kohlekraftwerk. Diesen hinterherhinkenden Genehmigungsverfahren ist es nach Tesla auch zu verdanken, dass nach 16 Monaten immer noch keine Hauptgenehmigung für das Werk in Brandenburg vorliege und Tesla auf eigenen Risiko handele, mit der Gefahr, dass letztendlich auch alles wieder zurückgebaut werden müsse.“

Trotz aller Kritik im politischen Spektrum an Tesla ist die Angst des US-Konzerns vor einem möglichen Rückbau der Anlage unbegründet. Schließlich tritt keine der im Brandenburger Landtag vertretenen Parteien, auch die oppositionelle Linke nicht, prinzipiell gegen den Bau der Autofabrik auf.

Quellen:

„Wirtschaftsminister sieht Chance für Genehmigung von Tesla-Fabrik“, Tagesspiegel vom 18. Juli 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/gigafabrik-in-gruenheide-brandenburger-wirtschaftsminister-sieht-chance-fuer-genehmigung-vontesla-fabrik/27431654.html

„Minister: Aktuell keine Gründe gegen Genehmigung für Tesla“, Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/auto-gruenheide-mark-minister-aktuell-keine-gruende-gegen-genehmigung-fuer-tesla-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210718-99-423934

Tomas Morgenstern: „Tesla darf weiterbauen“, Neues Deutschland vom 15. Juli 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154501.tesla-tesla-darf-weiterbauen.html?sstr=tesla16.7.21

Ulrich Bochum: „Teslas Gigafactory“, Sozialismus.de, Heft 6/2021, Seite 42

https://www.sozialismus.de/vorherige_hefte_archiv/sozialismus/2021/heft_nr_6_juni_2021/

 

Massiver Widerstand der Industrie gegen neuen Hochwasserschutzplan

Vor dem Hintergrund der aktuellen Hochwasserkatastrophe hat das BMI (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat) nach Angaben des Handelsblatt „ein bislang wenig beachtetes Vorhaben abgeschlossen, das in diesen Tagen enorme Bedeutung erlangt: den bundesweiten Raumordnungsplan für den Hochwasserschutz“. Bereits 2018 wurde im Koalitionsvertrag von Union und SPD angekündigt, einen entsprechenden Vorsorgeplan „zum Schutz der Menschen und Umwelt entlang unserer Gewässer“ zu entwickeln. „Mit ihm“, schreibt das Handelsblatt, „sollen sich Katastrophen wie dieser Tage möglichst nicht mehr wiederholen und überall dieselben Standards gelten“. 

Danach sollen Straßen- und Bahnnetze sowie kritische Infrastrukturen wie Strom und Mobilfunk besser vor Hochwasser geschützt werden. Vor allem in „Risikogebieten außerhalb von Überschwemmungsgebieten“ soll gar nicht erst geplant oder gebaut werden, wie es in dem Plan heißt, der offenbar dem Handelsblatt vorliegt. Neben den eigentlichen Überflutungs- und Überschwemmungsgebieten gelten zukünftig auch angrenzende Flächen als schutzwürdig, da sie „statistisch ein zunehmendes Schadenspotenzial“ aufweisen.

„Was dieser Tage angesichts der schrecklichen Bilder aus dem Rheinland und der zahlreichen Toten einleuchtend klingt“, fährt die Zeitung fort, „wurde bisher allerdings bekämpft: von Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, aber auch und vor allem von der Industrie“. Das Blatt verweist auf eine Stellungnahme des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) vom 28. Mai 2021. Danach hätte der Bundesraumordnungsplan, wenn er in der aktuellen Fassung verabschiedet würde, massive negative Auswirkungen auf die Entwicklung und das Fortbestehen des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

„Als nicht erforderlich und zielführend angesehen und daher abgelehnt“, bewertet der VCI (Verband der Chemischen Industrie) die staatlichen Pläne. Mit der EU-Hochwasserrichtlinie, dem Wasserhaushaltsgesetz, dem Raumordnungs-, dem Bau- und dem Bodenschutzrecht sowie wasserrechtlichen Anforderungen gäbe es genügend Regeln zum Hochwasserschutz.

Der Lobbyverband Wirtschaftsvereinigung Stahl verwies Ende Juni in einem Brief an den zuständigen Innenstaatssekretär darauf, dass Anlagenbetreiber seit vielen Jahren Hochwasserschutz beachteten. Viele Unternehmen der stahl- und metallverarbeitenden Branche seien an historischen Standorten an Flüssen über Jahrzehnte gewachsen. Der Schutzplan wirke wie eine „Zulassungssperre“ und komme einem „Neubau- und Änderungsverbot“ gleich.

Auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hält nichts von einer Bundesregelung. Das Handelsblatt   zitiert aus einer Stellungnahme des NRW-Wirtschaftsministeriums vom vergangenen Mai. Danach komme schon heute dem Hochwasserschutz im Land eine sehr hohe Bedeutung zu. Für den Bundesplan bestehe „keine ausreichende Veranlassung“, auch gebe es „keinen Mehrwert“. Mit den neuen Vorgaben müssten dagegen mehr als ein Drittel der Bauleitpläne angepasst werden, weil die Regeln auch „für die großflächigen Risikogebiete und die Einzugsgebiete der Gewässer, das heißt letztlich flächendeckend Wirkungen“ entfalten würden.

Quelle:

Daniel Delhaes: „‚Nicht erforderlich und zielführend‘: Wie die Industrie den neuen Hochwasserschutzplan bekämpfte“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/naturkatastrophen-nicht-erforderlich-und-zielfuehrend-wie-die-industrie-den-neuen-hochwasserschutzplan-bekaempfte/27437096.html?ticket=ST-10165452-Y1fmZc17ViPiuBevI3As-ap4

 

Das Lieferkettengesetz kommt

Acht Jahre sind mittlerweile vergangen – seit dem Einsturz der für den globalen Markt produzierenden Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch, bei dem über 1.100 Arbeiter*innen ums Leben kamen. So lange brauchte es, bis der Bundestag am 11. Juni 2021 das „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“, auch als „Lieferkettengesetz“ bekannt, verabschiedete. Union, SPD und die Grünen votierten für das Gesetz, die Fraktion Die Linke enthielt sich, AfD und FDP stimmten dagegen.

Das Gesetz verpflichtet größere Unternehmen ab dem Jahr 2023 dazu, menschenrechtliche Standards und Belange des Umweltschutzes in ihren Lieferketten einzuhalten. Im ersten Schritt müssen Unternehmen mit mindestens 3.000 Beschäftigten sicherstellen, dass es in ihrem eigenen Geschäftsbereich und bei unmittelbaren Zulieferern nicht zu Menschenrechtsverletzungen wie beispielsweise Kinderarbeit kommt. Bei weiteren Gliedern der Lieferkette müssen Unternehmen erst aktiv werden, wenn sie „substantiierte“ Kenntnis von einem möglichen Verstoß erhalten. Ab 2024 gilt das Gesetz dann auch für Unternehmen ab 1.000 Beschäftigten. Bei Nichteinhaltung der Regelungen drohen Bußgelder von bis zu zwei Prozent des jährlichen Umsatzes.

Jahrelang war um das Gesetz gerungen worden, vor allem die großen Wirtschaftsverbände waren gegen das geplante Gesetz Sturm gelaufen* (vgl. auch diesbezügliche BIG-Artikel vom 4. März 2021, vom 19. Juli 2020, vom 11. Dezember 2019 und vom 16. September 2019). Gewerkschaften, zahlreiche Menschenrechts- und Hilfsorganisationen unterstützten dagegen das Vorhaben. Sie bewerten die gesetzlichen Bestimmungen jedoch nur als einen ersten wichtigen Schritt, dem schärfere Regelungen folgen müssten und kritisierten vor allem, dass in dem Gesetz keine Regelungen zur zivilrechtlichen Unternehmenshaftung vorgesehen, damit auch keine Entschädigungen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen möglich sind. Aus Unternehmenssicht entscheidend ist mit Blick auf die fehlende Haftungsregel, dass der Gesetzestext lediglich eine „Bemühenspflicht, aber weder eine Erfolgspflicht noch eine Garantiehaftung“ vorschreibt.

Aus einem Pressestatement der „Initiative Lieferkettengesetz“ vom 11. Juni 2021:

„Der heutigen Abstimmung im Bundestag ist eine Lobbyschlacht vorausgegangen, die ihresgleichen sucht. Leider haben das Wirtschaftsministerium und viele Unions-Abgeordnete das Gesetz auf Druck der Wirtschaftslobbyisten an zahlreichen Stellen abgeschwächt. Das Gesetz umfasst zu wenige Unternehmen und macht zu viele Ausnahmen bei den Sorgfaltspflichten. Es verweigert Betroffenen den Anspruch auf Schadensersatz und setzt leider kein Zeichen für den Klimaschutz in Lieferketten.

Deswegen ist dieses Gesetz nur ein Etappenerfolg. Die Zivilgesellschaft wird auch weiterhin für Menschenrechte und Umweltschutz in der gesamten Wertschöpfungskette streiten: Für Nachbesserungen im Lieferkettengesetz, für eine wirkungsvolle Umsetzung und für eine europaweite Regelung, die an entscheidenden Stellen über das deutsche Gesetz hinausgeht.“**

Der Autor JustIn Monday kritisiert in einem Artikel der Zeitschrift Konkret diese Sichtweise:

„Die ins Gesetz eingebaute Wirkungslosigkeit allein auf Lobbyarbeit und Profitinteressen zurückzuführen greift allerdings zu kurz und trägt zur Verschleierung des Problems bei, das bereits in der von den NGOs favorisierten Grundstruktur der sogenannten Sorgfaltspflicht zum Ausdruck kommt. Juristisch zeigt es sich, weil eine Haftungsregel Haftung für Handlungen einfordern würde, die zum einen von anderen Personen begangen werden und die zum anderen fremdem Recht unterliegen – was selbstverständlich gegen die Grundsätze des bürgerlichen Rechts verstößt. Allein aus diesem Grund ist es notwendig, mit der Sorgfaltspflicht eine neue Rechtsform einzuführen, auf die sich die Rechtsfolgen überhaupt beziehen können. Zwischen der Rechtsnorm und der politökonomischen Realität, auf die sie Auswirkungen haben soll – also den Arbeitsbedingungen –, besteht allerdings nur in der Phantasie derjenigen ein Zusammenhang, die Fair Trade für eine Maßnahme halten, die kapitalistische Ausbeutung verhindern könne, wenn sie nur konsequent genug angewandt würde.“

* So war unter anderem von einem „Bürokratiemonster“ die Rede. Nach einer Studie des „Handelsblatt Research Institute“ (HRI) kostet es Unternehmen jedoch maximal 0,6 Prozent ihres Umsatzes, wenn sie ihren Verpflichtungen aus dem Gesetz nachkommen. Von überzogenen Vorschriften, die deutsche Unternehmen hohe Risiken aussetzen im internationalen Wettbewerb benachteiligen würde, wie etwa der Arbeitgeberverband BDA warnte, kann nach Angaben des Instituts keine Rede sein (vgl. Handelsblatt vom 17. Mai 2021).

** Das EU-Parlament befürwortet ein schärferes Gesetz. Am 10. März stimmten die Parlamentarier*innen mehrheitlich für den „Legislativbericht über menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten von Unternehmen“. Das Europaparlament empfiehlt damit der EU-Kommission, eine Art EU-weites Lieferkettengesetz einzuführen. Danach sollen kleine und mittlere Unternehmen nicht ausgenommen werden und zivilrechtliche Klagen gegen Unternehmen möglich sein.

Quellen:

Deutscher Bundestag: „Gesetzentwurf der Bundesregierung über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten vom 19. April 2021“, BT-Drucksache 19/28649

https://dserver.bundestag.de/btd/19/286/1928649.pdf

„Was im neuen Lieferkettengesetz steht – und was nicht“, Deutschlandfunk vom 11. Juni 2021

https://www.deutschlandfunk.de/koalition-einigt-sich-lieferkettengesetz-regelungen-und.2897.de.html?dram:article_id=492469

Initiative Lieferkettengesetz: „‚Noch nicht am Ziel, aber endlich am Start‘ – Kommentar zum Beschluss des Lieferkettengesetzes“, Pressestatement vom 11. Juni 2021

https://lieferkettengesetz.de/presse/

Martina Kind: „Mehr Respekt, bitte“, Süddeutsche Zeitung vom 5. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lieferkettengesetz-unternehmen-ausland-textilindustrie-1.5336393

JustIn Monday: „Jammerhöhlen der Exploitation“, Konkret 7/2017, Seite 24

https://www.konkret-magazin.de/404-aktuelles-heft

Frank Specht: „HRI-Studie: Kostenbelastung durch Einhaltung der Menschenrechte nur gering“, Handelsblatt vom 17. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/sorgfaltspflichtengesetz-hri-studie-kostenbelastung-durch-einhaltung-der-menschenrechte-nur-gering/27197452.html

Welt-Sichten (Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit): „Bundesrat billigt Lieferkettengesetz“, 25. Juni 2021

https://www.welt-sichten.org/nachrichten/39017/bundesrat-billigt-lieferkettengesetz

 

Globale Mindeststeuer – Minimallösung oder historischer Durchbruch?

Der Steuerexperte Christoph Trautvetter erläuterte jüngst in einem Interview mit der Zeitung Jungle World, wie Konzerne ihre Gewinne verschieben können, um Steuern zu vermeiden:

„Das Unternehmensteuersystem ist knapp 100 Jahre alt und basiert darauf, dass jede Tochtergesellschaft eines internationalen Konzerns im jeweiligen Land die Gewinne versteuert, die in diesem Land erwirtschaftet wurden. Heute ist aber Wertschöpfung nicht mehr so klar einem Ort oder einer Tochtergesellschaft zuzuordnen. Softwarelizenzen, Markennamen, Patente und andere immaterielle Werte spielen eine immer größere Rolle. Also verschieben die Konzerne diese Lizenzen, Markennamen und Patente auf dem Papier zu ihrer Tochtergesellschaft in einer Steueroase, und alle Gewinne fallen dort an, während die Tochtergesellschaft im Hochsteuerland auf dem Papier kaum Gewinne macht. So zahlen viele internationale Unternehmen kaum Gewinnsteuern.“

 Längst überfällig ist deshalb, dass auf internationalem Parkett Bemühungen erkennbar sind, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sprach zum Abschluss des Treffens der G20-Gruppe am 9./10. Juli in Venedig gar von einem „kolossalen Fortschritt“. Er bezog sich dabei auf die beschlossene Untergrenze bei der Besteuerung von Unternehmen, die den jahrzehntelangen ruinösen Steuerwettlauf nach unten beenden soll. Denn große, grenzüberschreitend tätige Konzerne sollen künftig 15 Prozent Steuern auf ihre Gewinne entrichten. 132 Staaten machen unter dem Dach der Industriestaaten-Organisation OECD mit, neun Länder, darunter bekannte Niedrigsteuerländer wie Irland und Ungarn, verweigern sich noch den getroffenen Absprachen. Bis Oktober 2021 wollen die 20 führenden Industrie- und Schwellenländer letzte Details der geplanten globalen Steuerreform klären. Die neuen Regeln sollen im Jahr 2022 Gesetzesform erlangen und dann ab 2023 in Kraft treten.

 Zwar ist geplant, dass international tätige Unternehmen unabhängig von ihrem Sitz den Mindeststeuersatz auf ihre Profite zahlen. Den Staaten werden jedoch keine Steuersätze direkt vorgeschrieben. Zahlt ein Konzern mit seiner Tochterfirma im Ausland jedoch weniger Steuern, kann der Heimatstaat die Differenz einfordern – mit dem Ziel, dass sich die Verlagerung von Gewinnen in Steueroasen nicht mehr lohnt.

 Die OECD erhofft sich durch die globale Mindeststeuer Mehreinnahmen von weltweit 150 Milliarden Dollar im Jahr. Nach Auskunft des Handelsblattes dürften sich die Auswirkungen der Neuregelung für den deutschen Fiskus jedoch in einem überschaubaren Rahmen halten. Nach einer Schätzung von Deloitte Deutschland kann die Bundesrepublik nur mit Mehreinnahmen von einer bis 1,5 Milliarden Euro rechnen (Handelsblatt vom 10. Juli 2021). Gemäß der Mindeststeuer-Regelung werden Unternehmen erst ab einem Jahresumsatz von 750 Millionen Euro zur Kasse gebeten. Weltweit betrifft die Steuer demnach 7.000 bis 8.000 Konzerne. In Deutschland lagen nach Daten des Statistischen Bundesamts 827 Firmen über der 750-Millionen-Euro-Umsatzschwelle (Handelsblatt vom 2. Juli 2021).

 Die globalisierungskritische NGO Attac stellt fest, dass der geplante Steuersatz von nur 15 Prozent viel zu niedrig sei. Er entspreche dem Niveau aktueller Steuersümpfe und berge die Gefahr, dass das globale Steuerdumping in diese Richtung fortgesetzt werde. Attac fordert dagegen als Ausgangspunkt einen globalen Mindeststeuersatz von 25 Prozent, einen Satz, der offensichtlich auch von zahlreichen internationalen Organisationen und Expert*innen gefordert wird. Die nominellen Steuersätze für Unternehmen hätten sich, so Attac, weltweit in den vergangenen 40 Jahren von rund 50 auf etwa 24 Prozent halbiert. In einer Zeit steigender Ungleichheit und angesichts der enormen Kosten der Pandemie gelte es, diese Entwicklung zu stoppen und umzukehren.

 Das Online-Magazin Telepolis argumentiert ähnlich:

„Würden die 15 Prozent wie geplant kommen, müssten europäische Steueroasen wie Irland oder Luxemburg ihre Steuersätze allerdings nur wenig erhöhen. Die Differenz zu Körperschaftssteuersätzen in anderen Ländern (Deutschland etwa 30 Prozent) bliebe aber fast unverändert bestehen. Deren Mehreinnahmen erhöhen sich kaum und, anders als behauptet, bleibt der Steuerwettbewerb erhalten und wird nicht bekämpft, obwohl unklar ist, ob Amazon und Co wirklich endlich zur Kasse gebeten werden.

Man darf sogar befürchten, dass sich eine Nivellierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einstellt, wenn der Mindeststeuersatz zum Standard wird und zum Beispiel auch Deutschland weiter unter Druck gerät, seine Steuern nach unten anzupassen (…) Entwicklungshilfeorganisationen wie Oxfam International kritisieren das Vorhaben aus dem Blickwinkel der Länder im globalen Süden. Auch die britische Organisation befürchtet, dass das gesamte Steuerniveau weltweit eher weiter abgesenkt als erhöht werde. (…) Es sei ‚absurd‘, dass man eine weltweite Mindeststeuer aufsetzen wolle, ‚die den niedrigen Steuersätzen in Steueroasen wie Irland, der Schweiz oder Singapur ähnlich ist, erklärt die Oxfam-Geschäftsführerin Gabriela Bucher.“

Auch das Neue Deutschland vermutet, dass die Mindeststeuer zum Niedrigstandard mutieren könnte:

„Eine Mindeststeuer könnte zwar die weltweite Erosion bei der Konzernbesteuerung stoppen und dafür sorgen, dass Entwicklungsländer mehr vom Kuchen abbekommen. Aber sie ist eben auch nicht mehr als eine Untergrenze, und 15 Prozent Gewinnbesteuerung sind verdammt wenig. Zu befürchten ist, dass sich viele Staaten an dieser Marke, die Gut von Böse unterscheiden soll, orientieren werden und die Untergrenze zur Benchmark wird. Umso wichtiger wird, dass große Blöcke wie die EU mit gutem Beispiel vorangehen, die eigenen Mitgliedsschurken zur Räson rufen und deutlich höhere Untergrenzen einziehen. Es mag sein, dass es mit der globalen Reform bei der Konzernbesteuerung in einigen Jahren etwas fairer zugehen wird. Aber fair ist auch das noch lange nicht.“

Alain Deneault, Professor für Philosophie an der Universität von Moncton (Kanada), hält die globale Steuer dagegen für einen Fortschritt, weniger aus fiskalischer denn aus juristischer Sicht. Denn sie gebe den global agierenden Konzernen den Status von Rechtssubjekten, während bislang in den einzelnen Staaten nur die auf ihrem Gebiet operierenden Tochtergesellschaften als Rechtssubjekte behandelt worden seien. Diese rechtliche Aufsplitterung hätten die Multis im Laufe ihres vor hundert Jahren begonnenen Siegeszugs bedenkenlos missbraucht. Allerdings stellt auch er fest, dass die Höhe der globalen Steuer „gering bis lachhaft“ ausfalle. „Der Satz von 15 Prozent“, so Deneault, „entspricht dem Trinkgeld, das in Nordamerika üblich ist“.

Quellen:

„Reform von reichen Staaten für reiche Staaten“, Webseite von Attac vom 10. Juni 2021

https://www.attac.de/kampagnen/pg-eurokrise/neuigkeiten/artikel/news/globale-mindeststeuer-zu-niedrig-und-zum-nachteil-der-aermsten-staaten

Alain Deneault: „Warum die gobale Steuer ein Fortschritt ist“, Le Monde diplomatique, Juli 2021, Seite 9

https://monde-diplomatique.de/zeitung

Martin Greive/Jan Hildebrand: „Mehreinnahmen von 150 Milliarden Euro pro Jahr – Das bringt die globale Steuerreform“, Handelsblatt vom 2. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/international/steuerpolitik-mehreinnahmen-von-150-milliarden-euro-pro-jahr-das-bringt-die-globale-steuerreform/27386662.html?ticket=ST-4916756-AqfbWLf6creEfoSOQx1D-ap6

Martin Greive/Carsten Volkery/Christian Wermke: „G20-Finanzminister beschließen globale Steuerreform – doch einige Fragen sind noch offen“, Handelsblatt vom 10. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/international/globale-mindeststeuer-g20-finanzminister-beschliessen-globale-steuerreform-doch-einige-fragen-sind-noch-offen/27409768.html

Kurt Stenger: „Die Sache mit der Fairness“, Neues Deutschland vom 2. Juli 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154016.globale-mindeststeuer-die-sache-mit-der-fairness.html

Ralf Streck: „G7 legalisiert das Recht auf Steuerhinterziehung“, Telepolis (Online-Magazin) vom 18. Juni 2021

https://www.heise.de/tp/features/G7-legalisiert-das-Recht-auf-Steuerhinterziehung-6110375.html?seite=all

„Eine globale Mindeststeuer wäre ein Paradigmenwechsel“, Interview mit Christoph Trautvetter, Jungle World vom 12. Mai 2021

https://jungle.world/artikel/2021/19/eine-globale-mindest-steuer-waere-ein-paradig-menwechsel

 

Neues aus der Dienstbotengesellschaft – Wilder Streik bei den „Gorillas“

Nach Angaben des Manager-Magazins flossen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mehr als sieben Milliarden Euro in deutsche Start-ups – mehr als die Summe, die im gesamten letzten Jahr erreicht wurde. Investoren haben die Gründerszene in Deutschland kaum jemals so umfangreich mit Wachstumskapital versorgt wie derzeit. Das Volumen der Finanzierungsdeals steigt dabei ebenso rasch an wie die Bewertungen der Jungunternehmen. Deutschland weist inzwischen 23 sogenannter Einhörner („Unicorns“) auf, also Firmen mit einem Wert von mehr als einer Milliarde Dollar, die nicht an der Börse notiert sind (vgl. Manager Magazin vom 24. Juni 2021).

Eines der bestfinanzierten Start-ups in Deutschland ist „Gorillas“, ein Berliner Lebensmittellieferdienst, der erst im vergangenen Jahr gegründet wurde. Dieser konnte noch im April dieses Jahres 245 Millionen Euro einsammeln und wird mittlerweile mit einer Milliarde Dollar bewertet (vgl. Manager Magazin vom 10. Juni 2021). Das Unternehmen wirbt damit, online bestellte Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs in zehn Minuten per Fahrrad an die Wohnungstür zu liefern – mit einer festen Liefergebühr von lediglich 1,80 Euro. Die Fahrer*innen („Riders“) erhalten dafür einen Stundenlohn von 10,50 Euro. Mittlerweile gibt es das Unternehmen in Berlin, sowie in weiteren 17 deutschen Städten und vier anderen europäischen Ländern. Möglich wurde der rasante Expansionskurs offensichtlich nur, weil „Gorillas“ massiv von den Anti-Corona-Maßnahmen profitierte.

Gar nicht ins Konzept des Managements passen deshalb die Proteste Dutzender Fahrradkuriere, die ab dem 9. Juni in Berlin eine Streikwelle starteten, nachdem einem Mitarbeiter in der Probezeit gekündigt worden war. Dabei wurden mehrere dezentral in der Stadt verteilte Warenlager blockiert. Die im „Gorillas Workers Collective“ organisieren Aktivist*innen wandten sich mit ihrer Aktion gegen prekäre Arbeitsbedingungen und stellten drei Forderungen auf: Der entlassene Kollege sei sofort wieder einzustellen, die sechsmonatige Probezeit abzuschaffen und es dürfe keine Kündigungen ohne vorherige Abmahnungen geben.

Es folgen Auszüge aus Medienberichten zum (gesellschafts)politischen Hintergrund des Streiks:

„Das Märchen von der großen Familie: Gorillas hatte sich in den vergangenen Monaten auffallend intensiv um Imagepflege bemüht: Die Arbeitsverhältnisse seien nicht prekär, wie bei anderen Lieferdiensten, sondern sicher. Parallel wird die Start-up-Ideologie hier aggressiv verbreitet, wie man es eben kennt: Man sei wie eine große Familie, alles geschehe auf Augenhöhe, gemeinsam arbeite man an einer Unternehmenskultur, in der sich alle wohl fühlen könnten.“

 

Quelle: Jan Ole Arps/Nelli Tügel: „No more Probezeit“, ak (analyse & kritik) Nr. 672 vom 15. Juni 2021

https://www.akweb.de/bewegung/no-more-probezeit-wilder-streik-bei-lieferdienst-gorillas-in-berlin/

„Viele der Rider leben noch nicht lange in Deutschland und haben die durchregulierten deutschen Arbeitskampfbeziehungen noch nicht verinnerlicht. Manche bringen Erfahrungen mit politischem oder gewerkschaftlichem Widerstand aus anderen Teilen der Welt mit. Dass in Deutschland Streiks, zu denen keine ‚tariffähige‘ Gewerkschaft aufruft, nicht legal sein sollen, leuchtet ihnen nicht ein. (…) Groß ist auch der Kontrast zur Start-up-Rhetorik, die das Gorillas-Management bemüht. In dieser Sprache sind alle Rider und Picker eine ‚Familie‘, eine ‚Community‘ und Teil einer ‚Bewegung‘.“

 

Quelle: Nelli Tügel/Jan Ole Arps: „Riders in ‘nem Sturm“, Der Freitag vom 24. Juni 2021

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/riders-in-2019nem-sturm

„Lieferdienste stehen seit Jahren im Zentrum von Aktionen von gewerkschaftsnahen Gruppen. Bei Amazon versucht die Gewerkschaft Verdi seit vielen Jahren, das Unternehmen mit Streikaktionen in den Einzelhandels-Tarifvertrag zu drängen. Auch gegen Lieferando machen Aktivisten seit Jahren mobil. Jetzt gerät Gorillas als bekanntester der neuen, schnellen Lieferdienste ins Visier. Organisator der Proteste ist offenbar die Gruppe ‚Gorillas Workers Collective‘, die mit der Gastro-Gewerkschaft NGG und der anarchistischen Gewerkschaft FAU kooperiert. (…) Für Gorillas kommen die Proteste zu einem heiklen Zeitpunkt: Nach einer Finanzierung über 245 Millionen Euro im März ist das Unternehmen laut mehreren Berichten erneut dabei, Geld einzusammeln. Diesmal soll es um zwei- bis viermal so viel Geld gehen. Damit will Gründer Sümer das rasante Wachstumstempo des kaum zwei Jahre alten Start-ups aufrechterhalten – und gegen die Konkurrenz ankommen. Zuletzt erhielt der Klon Flink eine ähnlich hohe Finanzierung und Rückendeckung von Rewe. Zudem stehen mehrere große Konkurrenten wie Delivery Hero und Getir aus der Türkei in den Startlöchern für eine Expansion ihrer Lebensmittellieferdienste in Deutschland.“

Christoph Kapalschinski: „Wilde Streiks in Berlin: Fahrer gefährden das Image des App-Supermarkts Gorillas“, Handelsblatt vom 10. Juni 2021

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/start-up-wilde-streiks-in-berlin-fahrer-gefaehrden-das-image-des-app-supermarkts-gorillas-/27273432.html

„Zum einen sehen wir in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern auch eine schleichende Deregulierung von Arbeitnehmerrechten, die dazu beigetragen haben, dass es überhaupt möglich ist, Mitarbeiter wie die von Lieferdiensten zu ultraprekären Bedingungen anzustellen. Während das Thema Arbeit in Europa ob Schulden- und Coronakrise unter Druck steht, wurde die ‚Flexibilisierung‘ des Arbeitsmarktes hierzulande ein Jahrzehnt früher auf den Weg gebracht. Wir erinnern uns, Deutschland galt einmal als ‚kranker Mann‘ Europas. Daraus folgte: die Agenda 2010.

Zum anderen sehen wir dieser Tage, wie Wirtschaft und Politik sich gleichsam mühen, Frauen für Führungspositionen zu mobilisieren. Das ist gut und überfällig – wird aber im Moment nur für einen Teil der Gesellschaft gedacht: die Besserverdienenden. Ihnen gegenüber steht ein Apparat an Niedriglohnarbeitenden. In Deutschland wird jeder Fünfte Arbeitnehmer diesem Sektor zugerechnet. Darin noch gar nicht berücksichtigt, die schwarz arbeiten. Wenn in Haushalten Arbeiten wie Putzen, Waschen, Einkaufen oder Kinderbetreuung nun wegen hoher Arbeitsbelastungen im Job von zum Beispiel zwei Elternteilen nicht mehr erledigt werden können, werden sie ausgelagert – und zwar zu im Vergleich oft prekären Arbeitsbedingungen.

Das ist eine Entwicklung, die wir bereits vor der Pandemie gesehen haben, die aber während ihres Verlaufs noch deutlicher wurde: Im Grunde arbeiten wir so viel, dass wir uns um die Dinge des Alltags kaum mehr selbst kümmern können. Daraus folgt: die Renaissance der Dienstbotengesellschaft. Das kann man so halten, aber dann gilt es, die Arbeitsbedingungen derer zu achten und zu guten Konditionen zu gestalten, die stattdessen für uns anrücken, unser Privatleben bequemer einzurichten. Der Protest der Gorillas-Fahrer ist insofern zu verstehen. Wir sollten ihn unterstützen.“

Quelle: Katharina Brienne: „Zum Arbeitskampf bei Gorillas: Die Rampe des Aufstiegs ist der Verrat“, Berliner Zeitung vom 15. Juni 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/die-rampe-des-aufstiegs-ist-der-verrat-li.164915

„Von ‚digitaler Sklaverei‘ spricht hingegen die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe aus Friedrichshain-Kreuzberg. Schon länger befasst sie sich mit den Arbeitsbedingungen in der Branche. Kiziltepe wirft Unternehmen wie Gorillas vor, Wachstum auf dem Rücken der Beschäftigten zu erzwingen. Gorillas wisse über die App, über die auch der Bestellvorgang abgewickelt wird, immer, wo sich ein Fahrer gerade befindet. Das baue Druck auf, um die Beschäftigten zu drillen. ‚Dass einem Mitarbeiter wegen einer einmaligen Verspätung gekündigt wird, ist rechtlich zwar möglich, wirft aber kein gutes Licht auf das Unternehmen‘, sagte Kiziltepe der Berliner Zeitung. Die SPD-Politikerin hat einen Brief an Gorillas-CEO Sümer geschrieben. Darin fordert sie ihn auf, die Kündigung des Fahrers zurückzunehmen – und die Regeln der betrieblichen Mitbestimmung zu akzeptieren. (…) Kiziltepe spielt damit auf die Vorgeschichte der Eskalation bei Gorillas an. Um einen Betriebsrat zu gründen, haben die Beschäftigten Anfang Juni zunächst einen Wahlvorstand gewählt. Diese Hürde sieht das Gesetz vor. Doch das Management will die Wahl gerichtlich überprüfen lassen. Nicht alle Angestellten, so die Begründung, konnten an der Abstimmung gleichberechtigt teilnehmen. Die Mitarbeiter, die sich im ‚Gorillas Workers Collective‘ organisiert haben, halten dieses Argument für vorgeschoben. Sie verweisen auf Verhinderungsversuche des Unternehmens – und das per se problematische Geschäftsmodell von Gorillas.“

Quelle: Fabian Hartmann: „Streik bei Gorillas: Das steckt hinter dem Aufstand beim Liefer-Giganten“, Berliner Zeitung vom 14. Juni 20021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/streik-bei-gorillas-das-steckt-hinter-dem-aufstand-beim-liefer-giganten-li.164878

„Die Dienstbotifizierung macht vor nichts halt, auch nicht vorm Supermarkt. Lieferdienste wie ‚Gorillas‘ sind der letzte Schrei des Start-up-Irrsinns. (…) Früher haben die Leute Holz gehackt und ihre Butter selbst gemolken. Sie sind vor wilden Tieren um ihr Leben gerannt. Heute sendet ‚Gorillas‘ auf Plakaten einen ‚Gruß an alle, die morgens um 8 h Bio-Gurken aus der Region bestellen‘. (…) Wohin das alles führt, ist eine gute und sogar ernst gemeinte Frage. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass sich Akademiker:innenpärchen eine sprechende Lautsprecherbox ins Wohnzimmer stellen? Folgt auf ‚Alexa‘ bald ‚Rettich‘, der das leider nicht mitlieferbare Supermarktfeeling ganz bequem ins Eigenheim trägt? Hängen sich Hipster bald Einkaufswagen an die Wand, voll retro?“

Quelle: Adrian Schulz: „Rückkehr zum Planet der Affen“, taz vom 16. Juni 2021

https://taz.de/Lieferdienste-fuer-Lebensmittel/!5774556/

 

„Die ‚Rider‘, also die Fahrradkuriere, von Gorillas verdienen nur knapp über dem Mindestlohn und sind aufgrund der überambitionierten Lieferzeit und Arbeitsbedingungen wie aus dem Frühkapitalismus nicht gerade ein begehrter Traumjob. In einem funktionierenden Arbeitsmarkt gäbe es gar nicht genügend Interessenten, die sich auf diesen Knochenjob zu diesen Konditionen einlassen würden. Die Corona-Maßnahmen haben jedoch gerade in den Großstädten vor allem in den prekären Jobs gewütet, aus denen Lieferdienste wie Gorillas im letzten Jahr ihr Personal rekrutierten – Aushilfsjobber aus der Gastronomie, oft Migranten, die kaum Deutsch sprechen; nicht umsonst ist Englisch die Betriebssprache bei Gorillas. Auch zahlreiche Studenten sind unter den Mitarbeitern, also größtenteils jüngere Menschen, für die während der Maßnahmen-Krise kein soziales Netz gespannt wurde und die aufgrund ihrer prekären Arbeitsverhältnisse auch nicht von Kurzarbeit oder sonstigen staatlichen Hilfen profitieren konnten. Die Maßnahmen und die Weigerung der Politik, Opfern der Maßnahmen zu helfen, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, haben das Geschäftsmodell des Quick-Commerce, so bezeichnen sich diese Dienste, eröffnet.

Finanziert wird die atemberaubende Expansion dieser Unternehmen vornehmlich durch Risikokapital; und hier ist der Begriff ‚Risiko‘ durchaus ernstzunehmen. Nachhaltig ist dieses Geschäftsmodell nämlich nicht. Wenn ein Rider einen Stundenlohn von 10,80 Euro bekommt, muss er sechs Kunden pro Stunde beliefern, um nur seinen Lohn über die Liefergebühren von 1,80 Euro pro Bestellung zu erwirtschaften. Schon das ist nicht möglich. Hinzu kommen indirekte Kosten (z.B. die Sozialabgaben) der Beschäftigten, die Kosten für die Logistik – die lokalen Auslieferungslager sind geschäftsmodell-bedingt natürlich auch in den ‚besseren‘ und somit teuren Stadtteilen untergebracht, in denen die Kundschaft lebt. Und so macht Gorillas – internen Dokumenten zufolge, die das Managermagazin ausgewertet hat – mit jeder Bestellung 1,50 Euro Verlust. Das erinnert an eine klassische Blase, die jedoch in der risikokapitalgetriebenen Internet-Ökonomie schon fast normal ist. Man sammelt einen dreistelligen Millionenbetrag von Investoren ein und expandiert trotz roter Zahlen in einem atemberaubenden Tempo mit dem Ziel, das Unternehmen später für einen Milliardenbetrag an einen multinationalen Konzern zu verkaufen oder selbst an die Börse zu gehen und weitere Milliarden Investorengelder einzusammeln. Real wird zwar Geld verbrannt, was aber nicht interessiert, solange der Unternehmenswert losgelöst von der Realität bewertet wird. Irgendwann platzt die Blase zwar, aber wenn dies innerhalb der Gewinn- und Verlustrechnung eines hochprofitablen Multis wie Amazon oder Google passiert, deren Rücklagen schier unermesslich sind, ist dies nur noch eine Randnotiz.

Die eigentlichen Verlierer sind neben den ausgebeuteten Niedriglöhnern die meist als Familien- oder Kleinbetrieb geführten Konkurrenten aus der Realwirtschaft. Während Dienste wie Amazon fresh eher mit den großen Supermarktketten konkurrieren, sind Gorillas und Co. eine Kampfansage an die kleinen Kioske, Büdchen und Spätis, die in der Großstadt der erste Anlaufpunkt sind, wenn man noch eine kleine Besorgung zu erledigen hat. Hat Amazon den klassischen Einzelhandel in den Städten ruiniert, drohen Gorillas und Co. nun den kleinen Geschäften im großstädtischen Bereich den Boden unter den Füßen wegzureißen.“

 

Jens Berger: „Quick-Commerce – die Rückkehr der Dienstbotengesellschaft“, NachDenkSeiten – Die kritische Website vom 23. Juni 2021

https://www.nachdenkseiten.de/?p=73617

Es folgen Auszüge aus Medienberichten zum Aspekt des „wilden Streiks“:

„Es handelt sich um einen sogenannten wilden Streik, also um einen, der unabhängig von den Gewerkschaften organisiert wurde. Nach derzeitiger Rechtslage sind die Streikenden deshalb nicht vor Kündigungen geschützt. Die Arbeitgeber:innen könnten argumentieren, dass die Arbeiter:innen ihre Seite des Arbeitsvertrags nicht erfüllen. Für Nicht-EU-Bürger:innen hängt der Aufenthaltsstatus ja auch von einer Beschäftigung ab. (…) Wir erleben wilde Streiks insbesondere in Branchen, die von den großen Gewerkschaften nicht abgedeckt werden. Die stark flexibilisierte Online-Ökonomie ist ein Paradebeispiel. Da die Riders kaum eine Möglichkeit haben, legal in Tarifverhandlungen einzutreten, helfen sie sich mit dem Mittel, das ihnen zur Verfügung steht: dem Verweigern ihrer Arbeitskraft. (…) Hierzulande sind Streiks durch Gerichte traditionell stark reglementiert und auch die großen Gewerkschaften haben es sich in ihrer Rolle als Tarifpartner eingerichtet. Die größte wilde Streikwelle gab es in den 1970er Jahren in den Industriebetrieben Westdeutschlands. Interessant ist, dass diese zu überragenden Teilen von Gastarbeiter:innen getragen wurde.

Historisch wurden die Interessen von Gastarbeiter:innen durch die Gewerkschaften nicht oder deutlich schlechter vertreten, sie waren Arbeiter:innen zweiter Klasse. Spannend ist, dass auch bei Gorillas sehr viele migrierte Menschen arbeiten, die sich an den Aktionen beteiligen. Das mag mit den besonders prekären Arbeitsbedingungen von migrierten Menschen zusammenhängen. Oder mit einer politischen Sozialisation außerhalb Deutschlands. (…) In anderen Ländern sind Streiks häufig politischer, ja. Aber wilde Streiks müssen keineswegs revolutionär sein. Die Gorillas-Arbeiter:innen wollen aktuell nichts weiter als leichte Verbesserungen in ihrer prekären Arbeitssituation – sie wollen Reformen. Dennoch wohnt wilden Streiks zumindest ein revolutionäres Moment inne, weil sich Arbeiter:innen an der Basis selbst ermächtigen. Sie vertreten sich ohne Repräsentanzen. Ein wirklich revolutionärer Streik wäre daher vermutlich ein wilder.“

Quelle: Timm Kühn: „Wild bestreikt“, Simon Duncker (Pressesekretariat der unabhängigen Basisgewerkschaft „Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union Berlin“ [FAU Berlin] im Interview, taz vom 16. Juni 2021

https://taz.de/Protest-bei-Lieferdienst-Gorillas/!5775031/

„Wilde Streiks sind spontane Arbeitsniederlegungen ohne gewerkschaftlichen Segen. Sie sind genaugenommen illegal und kommen hierzulande so gut wie nie vor. Der letzte wilde Streik fand vergangenen Sommer statt, als vorwiegend rumänische Erntearbeiterinnen und Erntearbeiter beim Spargelhof Ritter in Bornheim gegen vorenthaltene Löhne vorgingen. Und 2017 schrieben sich auffallend viele Air-Berlin-Pilotinnen und -Piloten gleichzeitig krank, was in der Presse – unzutreffenderweise – als wilder Streik bezeichnet wurde. Ende 2014 legten Daimler-Beschäftigte in Bremen spontan die Arbeit nieder, um gegen Werkverträge zu protestieren; zehn Jahre zuvor gab es den letzten großen wilden Streik in Deutschland: Mehrere tausend Arbeiterinnen und Arbeiter bei Opel Bochum versuchten im Oktober 2004, ihre Arbeitsplätze zu verteidigen. Blickt man noch weiter zurück, bis in die 1970er Jahren, stößt man auf eine Welle wilder Streiks der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter gegen ihre Überausbeutung, der bekannteste: Fordstreik in Köln. 1973 war das.

Wilde Streiks sind nicht nur spannend, weil sie eine widerspenstige Ausnahme in den Klassenbeziehungen darstellen – in den 1970ern hätte man von Arbeiterautonomie gesprochen –, sondern auch, weil sie häufig von Arbeiterinnen und Arbeitern gestartet werden, die von den Gewerkschaften nicht gut vertreten werden oder sich nicht gut vertreten fühlen. Wenn sie erfolgreich sind, sind sie eine wichtige Inspiration für andere. Da sie sich außerhalb des rechtlichen Rahmens bewegen, sind wild Streikende schlecht vor Repressalien oder Schadensersatzforderungen geschützt. Damit ihr Kampf als positives und nicht als abschreckendes Beispiel endet, ist Solidarität besonders wichtig.“

Quelle: Jan Ole Arps: „Wildcat bei ‚Gorillas‘“, junge Welt vom 15. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404536.arbeitskampf-wildcat-bei-gorillas.html

„Zu Streiks können laut deutschem Recht nur Gewerkschaften aufrufen. Weder die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die zunächst auch bei der Betriebsratswahl involviert war, noch Verdi hätten vorab von der Arbeitsniederlegung gewusst oder seien daran beteiligt (…). Die Freie Arbeiter Union (FAU), die vor allem Angestellte der Gig Economy vertritt, wird vom Deutschen Gewerkschaftsbund nicht als rechtmäßige Arbeitnehmervertretung angesehen, sodass auch diese Organisation keine Ermächtigung dazu hat.

Solch ein sogenannter ‚wilder Streik‘ sei eine rechtswidrige Maßnahme, so ein Arbeitsrechtler zu Gründerszene. Solche Proteste habe es in Deutschland seit mehreren Jahren nicht mehr gegeben. Theoretisch gesehen könnte Gorillas daher allen Teilnehmenden fristlos kündigen und sogar Schadensersatz für die ausgefallenen Touren verlangen. Ob das Unicorn diesen Schritt gehen wird, ist aber fraglich. Das würde schließlich kein gutes Licht auf den Lieferdienst werfen, so der Anwalt.“

Sarah Heuberger/Lis Ksienrzyk: „Nach Kündigung eines Kollegen: Gorillas-Fahrer gehen in illegalen Streik“, businessinsider (Nachrichtenportal) vom 11. Juni 2021

https://www.businessinsider.de/gruenderszene/food/gorillas-streik-fahrer-gekuendigt-b/

„Das deutsche Richterrecht habe eine Handvoll Glaubenssätze über Streiks aufgestellt, die ein knöchernes System bilden und Streikende vor Herausforderungen stellen, erklärt Sylvia Bayram von der Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht gegenüber jW. ‚Allzu gerne wird alles, was nicht in das enge Korsett dieses Katechismus passt, für rechtswidrig erklärt.‘ Ein zentraler Glaubenssatz sei, dass Arbeitskämpfe, zu denen nicht eine Gewerkschaft aufruft, ‚auch spontane oder wilde Streiks genannt, als illegal gelten‘.

Was Bayram meint, wird deutlich, wenn man in die Vergangenheit blickt. Ende 2015 traten die Mercedes-Arbeiter in Bremen in den ‚wilden‘ Streik. Auch hier explodierte scheinbar wie aus dem Nichts eine Bremer Supernova. Das Ende des immer stärker wuchernden Werkvertragssystems und die Festanstellung der Lohnsklaven zweiter und dritter Klasse wurden gefordert. Die Unternehmensleitung mahnte das ‚wilde‘ Streiken ab. Die IG Metall lehnte es ab, den Arbeitskampf nachträglich zu entkriminalisieren.

‚Nach europäischem Recht – genauer: nach der Europäischen Sozialcharta (ESC) – sind wilde Streiks legal‘, so Rechtsanwalt Benedikt Hopmann im Gespräch mit jW. ‚Denn zu Recht betrachtet das europäische Recht die Koalitionsfreiheit als Ausgangspunkt für Arbeitskämpfe. Und in dieser Logik sind nicht nur Gewerkschaften Koalitionen. Auch Gruppen von Beschäftigten eines Betriebes, die sich – vielleicht sogar spontan – zusammentun, um ihre Interessen zu erstreiken, bilden eine Koalition.‘ Hopmann rät, bei wilden Streiks einen Verhandlungspartner für die Gegenseite unter den Streikenden zu benennen.

Bei Daimler entschied Mercedes letztlich, die Abmahnungen vorzeitig aus den Personalakten zu entfernen. Ein Etappensieg. Ein weiterer Glaubenssatz des deutschen Richterrechts, der im Arbeitskampf bei Gorillas relevant sein könnte, ist das Dogma, dass Arbeitskampfforderungen tariffähig sein müssen.

Zwei der insgesamt drei Forderungen des Gorillas-Streiks lassen sich sicherlich problemlos in einen Tarifvertrag gießen, aber die dritte Forderung, die Rücknahme der Kündigung eines Kollegen, eher nicht. Als tiefere Ursache für den Streik benennen die Gorillas-Beschäftigten das gesamte prekäre, menschenfeindliche System bei Gorillas. Die Kündigung ihres Kollegen Santiago war aber nun einmal der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen nicht alle Forderungen zulässig sein. Allein die Tatsache, dass eine Gruppe von Beschäftigten im Betrieb eine Forderung für streikwürdig hält, legalisiert diese, egal, ob tariffähig oder nicht, wenn gleichzeitig auch tariffähige Forderungen aufgestellt werden.“

Quelle: Lukas Schmolzi: „Falsche Glaubenssätze“, junge Welt vom 22. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404811.wilder-streik-bei-gorillas-falsche-glaubenss%C3%A4tze.html

Weitere Quellen: „Zoff bei Gorillas in Berlin“, Manager Magazin vom 10. Juni 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/tech/gorillas-streik-und-blockaden-beim-lebensmittellieferdienst-in-berlin-a-1515500c-4c6d-4b2b-9c89-1bb85823bfe5

„Die größten Gründerdeals des Jahres“, Manager Magazin vom 24. Juni 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/scalable-trade-republic-celonis-die-groessten-gruenderdeals-des-jahres-a-44686e0a-5b2c-490f-b550-56e4a802ab82

Interessant ist auch folgende Online-Diskussion, in der unter anderem Ramazan Bayram von der „Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht“ den Kampf der „Riders“ in die allgemeine Situation von Arbeitskämpfen der letzten Monate einordnet:

„Riders Unite – Arbeitskämpfe in der Pandemie“, Teil 15 der Reihe „Corona und linke Kritik(un)fähigkeit“ vom 14. Juni 2021

https://vimeo.com/563308641