Übergewinnsteuern gegen missbrauchte Marktmacht

Am 8. Juli 2022 stimmte der Bundesrat gegen den Antrag der Länder Bremen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen auf die befristete Einführung einer Übergewinnsteuer. Dabei handelt es sich um eine Sondersteuer auf hohe Zusatzgewinne von Unternehmen durch den Ukraine-Krieg (Kriegsprofiteure, vor allem im Energiesektor). Diese Übergewinnsteuer sollte zur Finanzierung staatlicher Entlastungsmaßnahmen dienen. Die Bundesländer, in denen die CDU/CSU oder die FDP an der Regierung beteiligt sind, stimmten gegen den Entschließungsantrag. Damit muss die Bundesregierung keinen Vorschlag für die Erhebung der Steuer für das laufende Jahr vorlegen. In der Frage zeigt sich auch die Bundesregierung gespalten: SPD und Grüne unterstützen die Idee, die FDP und Finanzminister Christian Lindner positionieren sich klar gegen eine derartige Steuer.

„Der Bürgermeister der Hansestadt, Andreas Bovenschulte, sieht vor allem im Energiesektor Handlungsbedarf: ‚Allein im ersten Quartal dieses Jahres konnten die vier Ölriesen Shell, BP, Exxon und Total ihren Nettogewinn gegenüber dem Vorjahr von etwa 15 Milliarden auf rund 34 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppeln‘, sagte der SPD-Politiker. ‚Nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur dürften die gestiegenen Energiepreise den Konzernen in diesem Jahr 200 Milliarden Euro zusätzlich in die Kassen spülen.‘“ (tagesschau.de vom 10. Juni 2022)

Auch die EU-Kommission prüft mehrere Optionen zur Einführung einer Übergewinnsteuer. Die sogenannte „Windfall Profits Tax“, schreibt die taz am 7. Juli 2022, werde von der EU-Kommission auf ihre Machbarkeit geprüft. Es gehe um eine koordinierte Herangehensweise in den 27 EU-Staaten. Denn für die Steuerpolitik seien die Mitgliedsländer zuständig. Brüssel wolle laut EU-Kommissarin Věra Jourová verhindern, dass es zu nationalen Alleingängen oder Marktverzerrungen komme. Italien und Rumänien hätten die Übergewinnsteuer bereits eingeführt, bald werde Spanien folgen.

Nach Berechnungen der Entwicklungsorganisation Oxfam würde eine einmalige Sondersteuer von 90 Prozent auf Extraprofite allein bei den größten Unternehmen der G7-Länder über 430 Milliarden US-Dollar einbringen. „Das ist genug Geld,“ so Oxfam, „um die Finanzierungslücken aller humanitären Hilfsaufrufe der Vereinten Nationen zu schließen, einen 10-Jahres-Plan zur Beendigung des Hungers zu finanzieren und den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerungen der G7-Staaten einen einmaligen Zuschuss von über 3.000 US-Dollar zu zahlen, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken.“ Laut einer aktuellen von Oxfam beauftragten Umfrage sind drei Viertel der Bundesbürger:innen dafür, Extraprofite von Unternehmen stärker zu besteuern.

Auch Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel hält eine Übergewinnsteuer für machbar:

„Die EU empfiehlt sie. Etliche Länder in Europa trauen sie sich zu. In den USA ist sie von Renommierten der Wirtschaftswissenschaft durchdekliniert worden. Historische Erfahrungen mit ihr liegen in den USA und Großbritannien vor. Sie, das ist die zeitlich befristete Sondersteuer auf Übergewinne, zielgenauer auf Extraprofite vor allem in den Kassen der Mineralölkonzerne. Diese Steuer richtet sich gegen die missbrauchte Marktmacht von der Ölquelle über die Raffinerien und Transporte bis zur Tankstelle. (…) Die am Markt monopolistisch auftretenden Big Five-Mineralölkonzerne haben jüngst selbst gezeigt, wie sie ihre Übergewinne staatlich subventioniert steigern. Es handelt sich um die Tankrabatte, die großteils mit preispolitischen Tricks in die Konzernkassen gelenkt wurden. Auch das Ifo-Institut irrt mit seiner zweifelhaften Vergleichsstudie, die die nahezu komplette Weitergabe der Rabatte auf Kraftstoffe behauptet. (…) Deshalb ist klar: Da die CDU zusammen mit der FDP die Sondersteuer auf Extraprofite abgelehnt hat, sollten diese staatlichen Subventionen per missbrauchter Tankrabatte unverzüglich abgeschafft werden. Natürlich wäre es am besten, statt die Übergewinne zusätzlich zu besteuern, deren Ursachen zu beseitigen. Sie sind das Ergebnis monopolistisch eingesetzter Marktmacht durch die Konzerne.“ (taz vom 10. Juli 2022)

Das Handelsblatt versucht, der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen:

„In Berlin“, kommentiert Redakteurin Kathrin Witsch, „diskutiert man jetzt öffentlich über die Zerschlagung der Ölmultis und die Besteuerung von Übergewinnen. Doch das scheint schon juristisch schwer durchsetzbar, schnelle Preissenkungen durch diese Initiativen gegen die international agierenden Milliardenkonzerne sind darum nicht zu erwarten. Vielmehr sollte sich die Politik darum darauf konzentrieren, weitere steuerliche Erleichterungen für diejenigen zu schaffen, die sie bei den hohen Spritpreisen wirklich brauchen – wie Pendler und Gewerbetreibende“.

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema bietet das Magazin für Wirtschaftpolitik Makroskop:

Gerd Grötzinger: „Übergewinnsteuer? Ja, bitte!“ vom 6. Juli 2022
https://makroskop.eu/spotlight/versailles-durch-die-hintertur/ubergewinnsteuer-ja-bitte/

Quellen:

Eric Bonse: „Brüssel für Steuer auf Extragewinne“, taz vom 7. Juli 2022
https://taz.de/Hohe-Profite-hohe-Energiepreise/!5862682/

„Bundesrat befasst sich mit Übergewinnsteuer“, Tagesschau vom 10. Juni 2022
https://www.tagesschau.de/inland/bundesrat-uebergewinnsteuer-101.html

Rudolf Hickel: „Subventionierte Extraprofite“, taz vom 10. Juli 2022
https://taz.de/Sondersteuer-auf-Uebergewinne/!5866498/

„Oxfam fordert Übergewinnsteuer, um Hunger- und Klimakrise zu bekämpfen“, Pressemitteilung von Oxfam vom 24. Juni 2022
https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2022-06-24-oxfam-fordert-uebergewinnsteuer-um-hunger-klimakrise-bekaempfen

Kathrin Witsch: „Aktionismus zwecklos: Benzin und Diesel bleiben teurer“, Handelsblatt vom 14. Juni 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-aktionismus-zwecklos-benzin-und-diesel-bleiben-teurer/28423526.html

Adler Group: derzeit Skandalunternehmen Nummer eins in der deutschen Immobilienbranche

Über Jahre hinweg informierte fast nur die Fachpresse über die undurchsichtigen Geschäfte der Adler Group, ehemals einer der größten Wohnungskonzerne Europas. Ende Juni wurde dann von NDR und rbb eine TV-Dokumentation über die „dubiosen“ Praktiken des Unternehmens ausgestrahlt – bleibt zu hoffen, dass damit eine öffentlichkeitswirksame Berichterstattung Fahrt aufnimmt und die Adler Group weiter unter Druck gerät. Der Aktienkurs der rechtlich in Luxemburg ansässigen und von Berlin aus operierenden Unternehmensgruppe ist bereits innerhalb eines Jahres um nicht weniger als 80 Prozent eingebrochen und liegt aktuell (Ende Juni 2022) nur noch bei knapp über vier Euro.

Für Aufsehen in Fachkreisen sorgte Adler zuletzt Ende März 2022, als die Wirtschaftsprüfer von KPMG etwas taten, was in der Branche extrem ungewöhnlich ist – sie verweigerten dem Unternehmen das Testat für den Jahresabschluss 2021. Seitdem ist für Adler der Zugang zu frischen Geldern am Kapitalmarkt blockiert. Wegen fehlender Unterlagen konnten die Prüfer verschiedene Transaktionen der Firma nicht nachvollziehen. So wurden ihnen etwa 800.000 Dokumente vorenthalten, vornehmlich E-Mails zwischen der Gesellschaft und ihren Rechtsberatern. Auch deshalb blieb unklar, in welchem Ausmaß Geschäfte mit „nahestehenden Personen“ abgeschlossen werden konnten und gegen geltende Vorschriften verstoßen wurde. Nun kommen Berichte über unseriöse Geschäftspraktiken hinzu: Vor allem geht es um unbezahlte Rechnungen von Handwerksbetrieben und Baustopps bei Großprojekten trotz vorliegender Baugenehmigungen. Auch deshalb spricht der Journalist Christoph Twickel in der Zeit davon, dass sich der Konzern, dem zwischenzeitlich rund 70.000 Wohnungen gehörten, sogar „zu einer Art Wirecard der Immobilienbranche“ auswachsen würde (Die Zeit vom 27. Juni 2022).

Den Stein ins Rollen brachte aber wieder einmal der britische Leerverkäufer Fraser Perring, der bereits zur Aufklärung des Wirecard-Skandals entscheidend beigetragen und im vergangenen Oktober in einem Bericht seiner Analysefirma Viceroy ein vernichtendes Urteil über die Adler Group gefällt hatte („eine Brutstätte für Betrug, Täuschung und finanzielle Falschdarstellung“). [1] Eine Gruppe von „nahestehenden“ Personen plündere das Unternehmen zulasten der Aktionäre aus, heißt es dort. In der ARD-Doku vom 27. Juni 2022 beschrieb Perring das Geschäftsmodell der Adler-Gruppe: Es gehe vor allem darum, Bewertungen von Immobilien zu fälschen, um den Strippenziehern hinter den Kulissen Geld zuzuschanzen. Das funktioniere wie ein Schneeballsystem, das dazu diene, Gelder abzuziehen, zugleich aber immer neue Anleihen auszugeben. Deshalb habe Viceroy die Adler-Profiteure in ihrem Report „bond-villains“ („Anleihe-Schurken“) genannt. Mit dem Begriff „ausplündern“ („looting“) meine er, dass Adler Immobilienwerte künstlich aufblähe, sich dann günstige Kredite besorge, um davon Geld an die eigenen Leute ausschütten zu können.

 

Bewertungstricks

Wirklich neu ist das Problem der Bewertung von Immobilien allerdings nicht. Die Bilanzexpertin Carola Rinker unterstrich jüngst in einem Video der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), dass Wertsteigerungen von Immobilien von Wohnungskonzernen bilanziell gewinnerhöhend erfasst werden können. Soll heißen: Auch die Adler Group hat ihren Gewinn nicht in erster Linie durch Vermietung von Wohnungen oder den Bau und Verkauf von Immobilien gemacht, sondern durch Wertzuwächse ihrer „assets“. Besonders Geschäfte der Adler Group mit nahestehenden Personen halfen also Buchwerte zu begründen, aus denen Gewinne – ohne Liquiditätszuflüsse – abgeleitet werden konnten.

Mit Blick auf den Jahresabschluss von 2020 stellt Rinker nüchtern fest, dass das Unternehmen ohne Wertsteigerungen der Immobilien keine schwarzen Zahlen hätte vorweisen können. Die Adler Group stelle mit ihrer Praxis aber keinen Einzelfall dar. Tatsächlich belegte der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup schon vor einigen Jahren in verschiedenen Gutachten für die Partei Die Linke, dass börsennotierte Immobilienkonzerne wie Vonovia und die Deutsche Wohnen (DW) außerordentlich hohe Renditen auf ihr Eigenkapital erzielten – für DW in den Jahren 2012 bis 2015 durchschnittlich 18,7 Prozent. Normal seien damals fünf bis sechs Prozent gewesen. Ungewöhnlich hohe Dividenden für die Aktionäre seien die Folge gewesen. Die reale Wertschöpfung durch die Bewirtschaftung der Immobilien hätte die Höhe der Ausschüttungen jedoch nicht gedeckt. Dieser gemäß der internationalen Bilanzregeln legale Praxis, Bewertungsgewinne zu erzielen, würde es zum einen ermöglichten, leichter an günstige Bankkredite zu kommen, zum anderen Teile der Buchgewinne an die Shareholder auszuschütten. [2] Für die Mieter:innen eine beängstigende Praxis: Denn eine Höherbewertung der Immobilien basiert letztlich auf erwarteten üppigen zukünftige Mieteinnahmen bei möglichst moderaten Instandhaltungskosten.

Bontrups wissenschaftliche Analyse bestätigt auch die Aussagen des Shortsellers Perring über die Geschäftsstrategie der Adler-Gruppe. Bemerkenswert ist, dass die Aufklärung im Fall der dubiosen Adler-Deals vornehmlich von einem Insider betrieben wird, der selbst vom fallenden Aktienkurs der Adler-Gruppe profitiert. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) dagegen läuft hinterher und stützt sich auf die Expertise des selbst am Markt agierenden Leerverkäufers. Aber immerhin – die viel gescholtene Bundesbehörde wird nun endlich aktiv. Aktuell führt sie ein Bilanzkontrollverfahren bei Adler durch, da „konkrete Anhaltspunkte für Rechnungslegungsverstöße vorliegen“.

 

Staatliche Aufsicht

„Bilanzkontrollverfahren gelten als scharfes Schwert der Behörde“, schrieb das Handelsblatt am 22. Juni 2022. „Die Bafin kann direkt und auch vor Ort bei Unternehmen eingreifen, beispielsweise mit forensischen Mitteln. Die Aufsicht ist zudem befugt, Organvertreter und Beschäftigte zur Vernehmung vorzuladen. Bei erheblichen Verstößen kann sie Geschäfts- und Wohnräume durchsuchen und Gegenstände beschlagnahmen. (…) Vor einigen Wochen stellte die Bafin dann Strafanzeige, nachdem sie den Verdacht einer womöglich unrichtigen Bilanzierung hegt. Der Blick der Aufseher richtete sich vor allem auf eine Immobilientransaktion aus dem Jahr 2019.“

Diese betraf ein Entwicklungsareal in Düsseldorf-Gerresheim. Laut ARD-Doku wollte die Adler-Group damals den Berliner Konzern ADO Properties für 350 Millionen Euro übernehmen. Deshalb verkaufte Adler das Düsseldorfer Grundstück für 375 Millionen Euro an einen anderen Investor, dessen Geschäftsführer ein Schwager des Adler-Beraters Cevded Caner ist. Caner wiederum lenkt nach Meinung von Branchenkennern im Hintergrund maßgeblich die Geschicke der Adler-Gruppe. Caners Schwager bezahlte offensichtlich aber nur einen kleinen Teil des Kaufpreises. Auf dem Papier jedoch hatte Adler nun genügend Kapital, um die ADO zu übernehmen. Nach nur einem Jahr wurde der Kauf wieder rückgängig gemacht. „Der Verdacht: Es war ein Scheinverkauf, um die Bilanz nach oben zu treiben“, so Christoph Twickel in der Zeit vom 27. Juni.

Die Bilanz des Konzerns sollte mutmaßlich aufpoliert werden, um das Ausmaß seiner hohen Verbindlichkeiten zu verschleiern. Denn Adler hat in der Vergangenheit viele Anleihen ausgegeben und ist hoch verschuldet. Für Anleihen garantiert die Adler Group aber einen maximalen Verschuldungsgrad von 60 Prozent (Loan-to-value)*. „Ein Bruch mit den Bedingungen“, so das Handelsblatt am 24. Mai, „hätte das Unternehmen ins Verderben führen können. Rückzahlungen von bis zu 1,8 Milliarden Euro hätten gedroht“.

Nachdem der Konzern einen großen Teil seines Wohnungsbestandes verkaufen musste, um fällige Anleihen zurückzahlen zu können, schwindet die Bedeutung des angeschlagenen Konzerns zunehmend. Branchenkenner verweisen jedoch auch wegen der verbliebenen Milliardenschulden auf seine „Systemrelevanz“. Grund genug für den Konzern, weiter alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe abzustreiten – als wäre nichts geschehen. Mit Blick auf die Jahreshauptversammlung am 29. Juni 2022 zeigte sich das Handelsblatt deshalb stark verwundert über die unkritische Haltung der Anteilseigner und titelte: „Hauptversammlung nach nur 20 Minuten beendet: Adler-Aktionäre bestätigen Verwaltungsratschef und CEO. Trotz Ermittlungen der Behörden, verweigertem Testat und Milliardenverlust darf selbst der aktuelle Chef weitermachen.“

* Der Loan to Value ist eine wichtige immobilienwirtschaftliche Kennzahl, definiert das Verhältnis von Kredit zum Verkehrswert einer Immobilie und wird zur Bonitätsprüfung genutzt. 

 

Anmerkungen:

[1] vgl. auch „Betrugsvorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler“, BIG-Nachricht vom 22. Oktober 2021

http://big.businesscrime.de/category/nachrichten/page/2/

[2] vgl. Joachim Maiworm: „Giganten auf dem Wohnungsmarkt“, in: BIG Business Crime 3-2017, Seite 27f.

Tipps:

„Immobilienpoker – Die dubiosen Geschäfte eines Wohnungskonzerns“. Ein Film der ARD von Miichael Richter und Christoph Twickel, 27. Juni 2022

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/immobilienpoker-dubiose-geschaefte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzA2NzYwNTQ0LWFkNDYtNDcyZC1hMTk1LTRhODJmNzliMDFlZg

„Immobilienpoker“, Ein Feature von Christoph Twickel, NDR Feature Box, 28. Juni 2022

https://www.ardaudiothek.de/episode/ndr-feature-box/immobilienpoker/ndr-info/10616065/

 

Finanzkriminalität auf dem deutschen Immobilienmarkt

Vom 27. bis 29. Mai 2022 fand an der TU Berlin eine Konferenz zum Thema Enteignung  und Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen statt. Organisator war die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ in Kooperation mit dem Asta der TU Berlin und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Rahmen der Veranstaltung „Follow the money – Der deutsche Immobilienmarkt als Tummelplatz für Oligarchen, Kriminelle und Steuerhinterzieher“ sprachen am 28. Mai Christoph Trautvetter (Netzwerk Steuergerechtigkeit e.V.; externer Projektleiter „Wem gehört die Stadt?“ bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Gabriela Keller (Investigativreporterin bei Correctiv). Moderiert wurde die Veranstaltung von Katalin Gennburg (MdA DIE LINKE Berlin).

In der Ankündigung hieß es:

„In Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurden zahlreiche ‚Oligarchen‘ durch die EU und andere Staaten sanktioniert. Ihre Geschäftsaktivitäten sollten unterbunden und ihre Vermögenswerte eingefroren werden. Doch insbesondere bei Immobilien verschleiern verschachtelte Firmen- und Beteiligungskonstrukte, die bis in das außereuropäische Ausland reichen, oft die tatsächlichen wirtschaftlich Berechtigen und ermöglichen so die Umgehung von Sanktionen, aber auch ganz allgemein Steuerhinterziehung und Geldwäsche. So ist der Immobilienmarkt Tummelplatz für organisierte Kriminalität und dubiose Kapitalflüsse aus autoritären Regimen – nicht nur aus Russland.“

So verwies Trautvetter auf den neuen „Schattenfinanzindex“ des Tax Justice Network. Danach stellen nicht die bekannten Steueroasen in der Karibik das Hauptproblem dar. Vielmehr seien in den G7-Staaten geschätzt zehn Billionen US-Dollar in Finanzkonstrukten versteckt – und keiner wisse, woher die Gelder stammten. Die Hälfte der Schattenfinanzplätze würde sich in den G7-Staaten finden (USA, Großbritannien, Kanada, Deutschland, Frankreich, Italien, Japan). Deutschland sei der siebtgrößte Schattenfinanzplatz der Welt. Das Vermögen weltweit würde unterschiedliche Formen annehmen und nur zu einem ganz kleinen Teil in Form von Villen und Jachten auftreten. Wegen der fehlenden Transparenz sei insbesondere der Immobilienmarkt außer Kontrolle.

Die bestehende Intransparenz, so Trautvetter, müsse abgeschafft werden. Auch um in Berlin die Enteignungsfrage zu klären und „im gleichen Schritt die russischen Oligarchen, die Steuerhinterzieher und die anderen Kriminellen auszugraben“. So wisse der Berliner Senat derzeit nicht, wer die Besitzer von mehr als 3.000 Wohnungen in der Hauptstadt seien (Anmerkung der Redaktion: Private profitorientierte Immobiliengesellschaften mit mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin sollen gemäß des Volksentscheids vom Herbst 2021 nach Artikel 15 GG enteignet werden, um ihre Bestände in Gemeineigentum zu überführen).

Trautvetter äußerte sich verhalten optimistisch zum zweiten Sanktionsdurchsetzungsgesetz, das die Bundesregierung für den Herbst 2022 plant und die Rechtsgrundlage für eine neu zu schaffende Behörde bietet soll. Deren Aufgabe bestehe darin, systematisch nach verdächtigen Vermögen zu suchen und komplexe Eigentümerstrukturen zu ermitteln. Die Behörde solle dafür den Zugriff auf alle notwendigen Register und Steuerdaten erhalten. Mit dem Sanktionsdurchsetzungsgesetz könne ein Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung geleistet werden – über die anti-russischen Sanktionen hinaus. Mit dem Fortschritt auf Bundesebene könne dann hoffentlich bald auch die Frage nach den Eigentümern der mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin beantwortet werden. „Im Prinzip“, so Trautvetter, „haben die russischen Oligarchen das Volksbegehren rechts überholt“.

Quellen:

„Enteignungskonferenz: Tag 2 (Follow the Money + Abendpodium)“, live übertragen am 28. Mai 2022

https://www.youtube.com/watch?v=k1z4xoVpCaQ

Pressemitteilung vom Netzwerk Steuergerechtigkeit e.V. vom 17. Mai 2022 zum Schattenfinanzindex 2022:
„Der Schattenfinanzmarkt torpediert Sanktionen und Rechtsstaat“

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/infothek/pressemitteilung-zum-schattenfinanzindex-2022-schattenfinanz-torpediert-sanktionen-und-rechtsstaat/

Putschpräsidentin verurteilt

Evo Morales, gewählter Präsident der Republik Boliviens, wurde am 10. November 2019 von der Militärführung seines Landes zum Rücktritt gezwungen. Dem Umsturz vorausgegangen waren massive Proteste des städtischen Bürgertums. Morales, der als Interessenvertreter der indigenen Agrarbevölkerung gilt, hatte zuvor einen Joint-Venture-Vertrag mit einem  deutschen Bergbauunternehmen annulliert. BIG Business Crime berichtete in der Beilage 1/2020 zu Stichwort BAYER ausführlich über den „Putsch für mehr Elektronikschrott“.

Nach einem erneuten Wahlsieg der Linkspartei MAS im Oktober 2020 konnte Morales aus dem Exil heimkehren. Nachdem eine ehemalige MAS-Abgeordnete gegen den „Staatsstreich“ vor Gericht gezogen war, wurden Angehörige der selbsternannten „Übergangsregierung“ im März 2021 in Untersuchungshaft genommen. Die stockkonservativ-bürgerliche „Übergangspräsidentin“ Jeanine Áñez ist nun von einem Gericht wegen „ Pflichtverletzungen“ und „verfassungswidriger Beschlüsse“ in ihrer Amtszeit zu 10 Jahren Haft verurteilt worden. Áñez hatte zuvor der MAS-Regierung wegen ihrer Festnahme „politische Verfolgung“ vorgeworfen. Die Urteile zu weiteren ihr vorgeworfenen Anklagepunkten stehen noch aus.

Quellen:

Thomas Milz in der Neuen Züricher Zeitung vom 14. Juni 2022

https://www.nzz.ch/international/bolivien-proteste-gegen-verurteilung-von-ex-praesidentin-anez-ld.1688717

Kommentar Euronews vom 11. Juni 2022

https://de.euronews.com/2022/06/11/bolivien-ex-interimsprasidentin-anez-zu-10-jahren-haft-verurteilt

 

Zur Verflechtung von organisiertem Verbrechen und Politik

Der britisch-irische Journalist und Autor Misha Glenny hat als Journalist unter anderem für die BBC gearbeitet und lehrte als Experte für den Balkan, organisiertes Verbrechen und Cyberkriminalität an der Columbia University in New York sowie am University College in London. Seit Anfang Mai 2022 ist er Rektor des sozialwissenschaftlichen Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien Sein Buch „McMafia“, seit 2008 auch auf Deutsch erhältlich, diente als Vorlage für eine Krimiserie, deren 2. Staffel bald anlaufen soll. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung „der Standard“ äußerte er sich zu der Frage, ob im Ukrainekrieg Korruption und mafiose Strukturen eine Rolle spielen: „Ich habe keine speziellen Recherchen mit Blick auf den Krieg in der Ukraine angestellt. Was ich aber über die letzten dreißig Jahre, als Fazit meiner Arbeit am Buch ‚McMafia‘ sagen kann, ist, dass die Verflechtung von organisiertem Verbrechen und Politik stetig zugenommen hat. Trump hat nachgewiesene Verbindungen zur Mafia in New Jersey; die Konservative Partei im Vereinigten Königreich hat beträchtliche Summen aus russischen Quellen erhalten, die von den Geheimdiensten als dubios eingestuft wurden. In Russland hat dieses Zusammenwirken seit 1989 tiefe Wurzeln geschlagen und ist für Putins Regime nach wie vor eines der wichtigsten Instrumente der Machterhaltung.“ (der Standard, 21. Mai 2022)

Kriminelle Machenschaften von Oligarchen und ihr Einfluss auf die Politik waren auch in der Ukraine vor Kriegsbeginn immer beträchtlich. Präsident Selenskyj wurde mit großer Mehrheit gewählt, weil er versprach, dagegen vorzugehen. Bei der Veröffentlichung der „Pandora Papers“ im letzten Jahr kam allerdings heraus, dass auch er Konten in Steuerparadiesen besitzt. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegte die Ukraine im Jahr 2020 Platz 117 (von 179 Ländern). Russland kam auf Platz 129.

Demontage des Gesundheitswesens

Reportagen über Defizite und die zunehmende Ausdünnung des deutschen Gesundheitswesens gibt es mittlerweile nicht wenige. Das hier rezensierte Buch wurde allerdings von einem ausgewiesenen Spezialisten geschrieben: Thomas Strohschneider, Facharzt für Allgemein- und Gefäßchirurgie, war viele Jahre als Chefarzt in einer privat geführten Klinik tätig.

Im Vorwort bringt der bekannte Wissenschaftsjournalist Werner Bartens die Aussage des Buches wie folgt auf den Punkt: Die Medizin sei in Gefahr. Diese Gefahr bestehe primär jedoch nicht im Auftreten neuer Krankheitserreger, sondern in der zunehmenden Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und dem dieser Kommerzialisierung zugrunde liegenden Streben nach Gewinnmaximierung. Die „Medizin mit dem Preisschild“ habe die medizinische Ethik ausgehöhlt und die Heilkunst insgesamt „aus der Balance gebracht“.

Strohschneider selbst liefert in den 24 in sich geschlossenen Beiträgen des Buches eine gekonnte Schilderung der Abgründe zunehmender Monetarisierung beim Betreiben deutscher Gesundheitseinrichtungen und verdeutlicht diese durch eingestreute Episoden, welche teilweise auf eigenem Erleben beruhen. So liest man gleich zu Anfang vom Fall eines lebensgefährlich erkrankten und psychisch angeschlagenen Obdachlosen. Dessen Behandlung musste von Ärzten gegen heftigen Widerstand der Krankenhausdirektion durchgesetzt werden. Als Ergebnis konnte der Mann dann zwar geheilt und entlassen werden. Kurze Zeit später wurden die betreffenden Abteilungen aber vom Klinikträger aber als „unrentabel“ geschlossen und den Beschäftigten gekündigt.

Die Ursachen für solche Fälle sieht der Autor unter anderem darin, dass die öffentliche Hand sich während der letzten Jahrzehnte weitgehend aus dem Gesundheitswesen zurückgezogen habe. Die öffentliche Bezuschussung sei rückläufig. Private Betreiber seien jedoch nicht in erster Linie an dem Wohlergehen der Patient/innen sondern an einer Gewinnmaximierung interessiert. Eigens beauftragte Unternehmensberater durchleuchteten daher zielgerichtet Krankenhäuser. Dem Führungspersonal  würden dann wirtschaftliche Leistungsziele vorgegeben und deren Erfüllung mit zum Teil hochgradig fragwürdigen Methoden durchgesetzt. Wie im Buch erwähnt wird, stünden zudem hinter privaten Krankenhausbetreibern nicht selten Pharmakonzerne, die sich so einen lukrativen Marktanteil sicherten. Den Beginn der Privatisierungs- und Monetarisierungswelle datiert der Autor übrigens auf die Jahre 1999 bis 2002 – also auf genau die Zeit, in der die neoliberalen Exzesse der Schröder-Regierung begannen.

Wie Strohschneider weiter schreibt, verfüge mittlerweile jedes kommerziell betriebene Krankenhaus über Controlling-Abteilungen, die einerseits auf der Jagd nach zusätzlichen Abrechnungsmöglichkeiten für Behandlungen sind, andererseits aber auch die Kosten erbarmungslos drücken. Es handele sich, wie der Autor meint, um eine „gefährliche Übertragung ökonomischen Denkens auf medizinische Abläufe“. Qualifiziertes und motiviertes Pflegepersonal habe man „in Scharen aus den Kliniken getrieben“ und durch schlecht ausgebildete und miserabel bezahlte Billiglöhner/innen – meist Beschäftigte von Leiharbeitsfirmen – ersetzt. Die Fallzahl pro Pflegekraft wurde so in den letzten 25 Jahren fast verdoppelt – inklusive Arbeitshetze und permanenter Überlastung der Beschäftigten.

Leidtragende dieser Entwicklung seien aber in erster Linie die Patienten. Defizitäre Abteilungen von Krankenhäusern würden immer öfter geschlossen, bei der Patientenauswahl selektiert. Nicht selten entschieden mittlerweile Computerprogramme darüber, ob Behandlungen fortgesetzt oder ob die betreffende Person als geheilt entlassen würden. Mit zunehmender Außerkraftsetzung der medizinisch-ärztlichen Logik und Humanität habe die Vorstellung vom Arzt als „Helfer des hilfesuchenden Patienten (…) in diesem System nur noch wenig Raum“.

Im Buch werden auch Praktiken von Krankenhausleitungen geschildert, die man durchaus als kriminell oder zumindest als grenzwertig charakterisieren kann. So wurden beispielsweise in einigen Krankenhäusern über Jahre hinweg Betten als vorhanden geführt, die es nicht mehr gab – die betreffenden Abteilungen hatte man längst geschlossen. Die in öffentlichen Statistiken angegebene Zahl zur Verfügung stehender Krankenhausbetten entspreche daher nicht der Realität. Die Ursache für solche Falschmeldungen bestünde darin, dass Zuschüsse für Investitionsmaßnahmen an die Zahl der zur Verfügung stehenden Betten geknüpft seien.

Als ein anderes Beispiel beschreibt der Autor, dass man Ärzte gezielt unter Druck setzte, Patienten vorzugsweise Prothesen „aus dem unteren und mittleren Preissegment“ zu implantieren. Im schlimmsten Falle könne, wie Strohschneider meint, die verfehlte Auswahl eines solchen Implantates dem jeweiligen Patienten das Leben oder einen Körperteil kosten.

Ein gesondertes Kapitel schildert die Abgründe der Privatisierung bis dahin öffentlich betriebener Krankenhäuser. Als ein besonders gemeines Beispiel sei hier nur genannt der 2004 unter einem CDU-Bürgermeister umgesetzte Verkauf der Hamburger Krankenhäuser an den Gesundheitskonzern Asklepios. Entgegen den Ergebnissen eines diesbezüglichen Volksentscheids zog der Senat die Veräußerung zu einem Spottpreis durch und feierte dies dann auch noch als Sieg. Tatsächlich stellten, wie der Autor meint, die Kliniken heute ein „Milliardenvermögen“ dar. Strohschneider bezeichnet übrigens an anderer Stelle die laufenden Privatisierungsorgien sowie die unausweichlich folgende Durchrationalisierung ehemals öffentlich betriebener Krankenhäuser als „Kannibalismus“.

Zu den Resultaten von Ausdünnung und zunehmender Monetarisierung des Gesundheitswesens, die dann beim Ausbruch der Pandemie offenbar wurden, gibt es im Buch leider nicht viel Material. Immerhin findet man eine kurze Schilderung, wie die SANA-Kliniken als drittgrößter privater Klinikbetreiber inmitten der Pandemie etwa 1000 Mitarbeitern aus ihrem Servicebereich kündigten. Auch thematisiert der Autor die Äußerung des Gesundheitsökonomen Reinhard Busse, der auf dem Höhepunkt der Pandemie „etwa 800 der insgesamt 1.400 Akutkrankenhäuser in Deutschlands“ für „überflüssig“ erklärte.

Und natürlich wird Im Buch die Vergangenheit des derzeitigen Gesundheitsminister Karl Lauterbach erwähnt, der als Lobbyist der kommerziell betriebenen Gesundheits-Konzerns Rhön-Kliniken viele Jahre an der Demontage des Gesundheitssystems mitwirkte. Die vom Autor in diesem Zusammenhang ausgesprochene Hoffnung, Lauterbach könne sich „vom Saulus zum Paulus“ gewandelt haben, hat sich allerdings bislang nicht bestätigt. Die Schließung finanziell defizitärer Kliniken wurde auch nach Ausbruch der Pandemie kaum gebrochen fortgesetzt.

Thomas Strohschneider hat sich nach eigener Aussage das Ziel gestellt, „Hintergründe und Auswirkungen der gesundheitspolitischen Veränderungen der letzten Jahre, vor allem im Krankenhauswesen“ zu beschreiben. Dies ist ihm gelungen. Und dass er gegen Ende des Buches als erstrebenswertes Ziel formuliert, Krankenhäuser zu „rekommunalisieren“ und sie so „dem Einfluss der Konzerne zu entziehen“, kann man nur als ehrenwert bezeichnen.

Thomas Strohschneider: „Krankenhaus im Ausverkauf. Private Gewinne auf Kosten unserer Gesundheit“, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022, 238 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86489-371-1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein erhellender Blick hinter die Werkstore

Zur Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt von Migrant:innen liegt bereits eine breite Forschungsliteratur vor. Untersuchungen zu deren konkreten Arbeitsverhältnissen gibt es dagegen nur wenige. „Grenzen aus Glas“ dokumentiert deshalb die Ergebnisse einer breit angelegten empirischen Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen über die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsprozesse und die Arbeitskämpfe im Online-Versandhandel und in der Fleischindustrie. Der Autor Peter Birke und seine Mitarbeiter:innen führten in der Zeit von 2017 bis Mitte 2021 bei Amazon, Tönnies und anderen Unternehmen fast 220 qualitative Interviews durch – vor allem mit Beschäftigen, aber auch mit Manager:innen, Betriebsrät:innen und weiteren Expert:innen. Dabei wurde ein breites Spektrum der Migration abgedeckt (geflüchtete Menschen aus Drittstaaten und EU-Migrant:innen). Wichtige Erkenntnisse konnten die Wissenschaftler:innen auch durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen und Beratungsgesprächen sammeln.

Während der Hochzeit der Corona-Pandemie mit ihren Masseninfektionen standen beide Branchen (als Fallbeispiele für den Dienstleistungssektor und die „klassische“ Industrie) kurzzeitig massiv in der öffentlichen Kritik. Deutlich wurde dabei, dass in deren Niedriglohnbereichen fast ausschließlich Menschen ohne deutschen Pass arbeiten. Die Untersuchung setzt aber bereits einige Jahre zuvor an, nimmt das Anwerben und Ankommen der Betroffenen in den Blick und offenbart eindrücklich die Härten des Arbeitsalltags mit ihren vielfältigen Diskriminierungen.

Online-Handel und Fleischindustrie weisen dabei trotz aller Unterschiede große Ähnlichkeiten auf. Beide Branchen expandieren seit zwanzig Jahren außerordentlich schnell und produzieren auf dem neuesten Stand der Technik. Sie rationalisieren kontinuierlich ihre Arbeitsprozesse, beuten zeitgleich immer neue Arbeitskräfte zu Niedriglöhnen und unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen aus. Von einem Verschwinden der „Einfacharbeit“ in Zeiten durchdigitalisierter Arbeitsprozesse kann deshalb nicht die Rede sein. Denn in beiden Bereichen muss schwere körperliche und psychische Arbeit geleistet werden. Der Gesundheitsschutz wird hier wie dort oft vernachlässigt; die Arbeitszeiten sind lang (mitunter bis zu zwölf Stunden am Tag bei einer 7-Tage-Woche). In der Fleischindustrie wurden in der Vergangenheit sogar körperliche Übergriffe von Vorgesetzten bekannt; im Versandhandel stehen die Arbeitenden unter einer permanenten computergestützten Echtzeit-Kontrolle. Auf Seite 64 des Buches heißt es: „So gilt insbesondere das, was man über die Arbeitsbedingungen bei Amazon weiß, als Musterbeispiel für ein System rigider Zergliederung und Kontrolle der Arbeit in Anwendung digitaler Technologien“.

Der Autor wendet sich jedoch gegen die Verwendung der Bezeichnung „moderne Sklaven“ für die Beschäftigten, selbst wenn sich manche der gefragten Arbeiter:innen selbst so bezeichnen – insbesondere solche in der Fleischindustrie. Denn diese sind keineswegs nur wehrlose Opfer ausbeuterischer Unternehmer. Reflektiert werden in dem Buch deshalb auch die Möglichkeiten der Gegenwehr gegen die „Vernutzung von Arbeitskräften“, wie es der Autor formuliert. Viele der Betroffenen entwickeln durchaus vielfältige Formen von Alltagswiderstand. Auch fanden in den Jahren 2020 bis 2022 kollektive Protestaktionen statt, ohne dass die breite Öffentlichkeit diese wahrgenommen hätte. Es gab Tarifstreiks der Gewerkschaft NGG und vor allem im Jahr 2020 etliche „wilde Streiks“ ohne gewerkschaftliche Rückendeckung, stattdessen begleitet von engagierten Beratungsstellen. Dies blieb nicht ohne Erfolg: Das seit Anfang 2021 geltende Arbeitsschutzkontrollgesetz verbietet beispielsweise den Einsatz von Werkverträgen in der Fleischindustrie. In den Bereichen Schlachtung und Zerlegung darf nur noch eigenes Stammpersonal der Unternehmen arbeiten. Im vergangenen Jahr konnte durch die Gewerkschaft NGG eine Erhöhung des Mindestlohnes durchgesetzt werden.

Die geführten Interviews belegen auch, dass vor allem in der Fleischwirtschaft wirtschaftskriminelle Praktiken üblich sind. Befragte berichten davon, dass sie für einige Wochen ununterbrochen an sieben Tagen die Woche arbeiten mussten. Die Industriereinigung (Reinigung der Maschineneparks) stellt dabei die „Nachtseite“ der Fleischindustrie dar. Sie wird öffentlich wenig beachtet, umfasst aber einige der gefährlichsten Tätigkeiten in der Branche. Da das Arbeitsschutzkontrollgesetz diesen Bereich nicht umfasst, wird diese Tätigkeit auch nach Beginn der Pandemie weiterhin von Serviceunternehmen auf Werkvertragsbasis durchgeführt. Interviewte klagten beispielsweise durchgehend darüber, schlecht eingearbeitet worden zu sein:

„Da (gibt es) so eine Art Sicherheitsknopf oder so einen Alarmknopf, wo man (…) drei Mal draufdrücken muss. (…) Und, ja, (ein Kollege) war neu und wusste auch wohl nichts, hat wohl einmal gedrückt. Das war schon eher verwunderlich , dass der am Stück wieder rausgekommen ist. (…) Arbeitsunfälle passieren (auch), weil tendenziell hohe Fluktuation. Also jemand, der zwei, drei Jahre dabei ist, ist schon eigentlich ein ganz alter Hase. Sind viele dabei, die zwei, drei Monate und (dann) wieder wechseln.“ (Seite 216)

Mangelnde Einarbeitung stellt einen wesentlichen Grund für Unfälle und Verletzungen dar. Der Druck auf das Reinigungspersonal nimmt zudem dann stark zu, wenn in Schlachtung und Zerlegung Überstunden anfallen. Letztlich führe dies, so der Autor, zu deutlichen Verzögerungen beim Arbeitsbeginn der Reinigungskolonne und einem entsprechend verdichteten Pensum. Dabei komme es dann auch zur illegalen Streichung der arbeitsrechtlich vorgeschriebenen halbstündigen Pause – die daraus resultierende Arbeitsverdichtung führe im Effekt zu Unfällen. Auch berichten Arbeitskräfte davon, dass sie für den Abschluss eines Arbeitsvertrages – selbstredend illegale – Schmiergelder, oft auch „Gebühren“ genannt, an Vermittler oder Vorgesetzte bezahlen mussten (eine Betroffene nennt den Betrag von 1.200 Euro).

Dennoch hält Birke, wie schon erwähnt, wenig davon, von „modernen Sklaven“ zu reden. Die typische öffentliche Verwendung dieses Begriffs spiegele zudem nicht die „multiple Prekarität“ der Betroffenen wider. Dies sei ein wichtiger Aspekt – der Begriff beziehe sich nämlich nicht nur auf den Arbeitsprozess selbst, sondern schließe die Lebensverhältnisse insgesamt ein (eingeschränkte Aufenthalts- und Sozialrechte, miserable Wohnbedingungen).

Dass sich die Beschäftigten von Amazon, Tönnies und Co. mit wenigen Ausnahmen nicht vorstellen können, unter den gegebenen Bedingungen lange in den jeweiligen Unternehmen zu arbeiten, wundert deshalb nicht. Mitte 2021 waren rund drei Viertel der Gesprächspartner:innen nicht mehr in dem Betrieb beschäftigt, in dem sie zum Zeitpunkt der Interviews einen Arbeitsvertrag hatten. Der weitgehend bestehende gesellschaftliche Konsens darüber, dass „Arbeit“ auf jeden Fall gut für die gesellschaftliche Integration von geflüchteten Menschen sei – unabhängig von den jeweiligen Arbeitsbedingungen – darf deshalb als zynisch anmutender Unsinn bewertet werden. Die vorliegende Studie zeigt, dass diese Form der Erwerbsarbeit  vielmehr einen sozialen Ausschluss zementiert.

Die ankommenden Migrant:innen werden immer wieder mit „gläsernen Wänden“ konfrontiert, die von außen kaum sichtbar, aber für die Betroffenen doch spürbar sind. „Grenzen aus Glas“ werden erlebt als Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, durch die Tatsache, dass in der Fleischwirtschaft „Eintrittsgelder“ bezahlt werden müssen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten, durch das Tragen markierter Kleidung für die Mitarbeiter:innen von Subunternehmen oder das Verbot, Pausenräume benutzen zu dürfen, die Festangestellten vorbehalten sind. Migrantische Arbeitskräfte laufen gegen Wände, weil sie geltende Rechtsansprüche kaum durchsetzen können, denn unter den gegebenen Machtverhältnissen lässt sich erfahrenes Unrecht nur selten korrigieren. „Aber die Frage, wie das Unrecht von vornherein vermieden werden könnte, ruft bei uns allen, den Arbeitenden selbst und den sie begleitenden Angehörigen, Berater*innen, Gewerkschafter*innen, Forschenden – Ratlosigkeit hervor.“ (Seite 221)

Dieser pessimistischen Feststellung hält der Autor im Resümee allerdings eine kämpferische Ansage entgegen: „Es stellt sich also erstens die Frage, warum man für einen Zugang von Migrant*innen zu Arbeitsmärkten kämpfen sollte, auf denen praktisch nur derartige und vergleichbare Tätigkeiten angeboten werden. Und zweitens, ob man mit Blick auf die konkrete Ausformung von Produktion und Dienstleistungen nicht sogar für eine Abschaffung dieser Art von Arbeit eintreten sollte.“ (Seite 337) Bei einer Buchvorstellung im Rahmen der „Linke Buchtage Berlin“ Mitte Mai 2022 wurde Peter Birke im Hinblick auf die Fleischindustrie noch deutlicher: Die Arbeit dort sei nicht humanisierbar, die Fabriken müssten geschlossen werden.

Peter Birke: „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“, Mandelbaum Verlag, Wien und Berlin 2022, 400 Seiten, 27 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zeitungsbeilage des „Bündnisses Bahn für Alle“ erschienen

Beim „Bündnis Bahn für Alle“ handelt es sich um einen 2006 gegründeten Zusammenhang von globalisierungskritischen Gruppen, Gewerkschaften und Umweltschutzverbänden. Erklärtes Ziel des Bündnisses ist es, die geplante Privatisierung des deutschen Eisenbahnnetzes zu verhindern und dessen Verbleib im Besitz der öffentlichen Hand sicherzustellen. Die formelle Trägerschaft des Bündnisses hat der Verein „Gemeingut in Bürgerinnenhand“. Die Publikationen des Bündnisses können gegen Spende bezogen werden.

In der am 12. Mai 2022 als Beilage zur Tageszeitung taz erschienenen neuen Publikation setzen sich Pascal Zern und Katrin Kusche kritisch mit der Bahnpolitik der derzeitigen Bundesregierung auseinander. Diese habe sich im Koalitionsvertrag für mehr Elektromobilität auf der Straße ausgesprochen – als Ergebnis erhielte die Autoindustrie weitere großzügige Förderungen. Wie die Autor:innen meinen, könne von einer Verkehrsvermeidung oder wenigstens von „einer Verkehrsverlagerung von der Straße und aus der Luft auf den öffentlichen Verkehr plus Fahrrad- und Fußverkehr“ derzeit keine Rede sein. Die privatwirtschaftlich organisierte DB AG kranke „seit ihrer Gründung an dem Zielkonflikt zwischen der Gewinnerzielung einerseits und dem Wunsch nach einem attraktiven, zuverlässigen und bezahlbaren Bahnverkehr für alle Menschen und Güter“. Dieser Konflikt könne nur aufgehoben werden, wenn „die Regierung die DB vom Ziel der Gewinnorientierung befreien und ganz auf einen guten Bahnverkehr ausrichten“ würde.

Weitere Beiträge informieren über den neuesten Stand der beabsichtigten Zerschlagung des Berliner S-Bahn-Netzes sowie über die per Ausschreibung erzielte Beteiligung der DB AG an der Modernisierung des Nahverkehrsnetzes der kanadischen Millionenstadt Toronto. Zu letztgenanntem Milliardenprojekt meint der Autor Carl Waßmuth, dass die versprochenen Gewinne bei den beteiligten Banken anfallen werden, aber „sicher nicht dem Schienenverkehr zugutekommen – nicht in Deutschland und auch nicht in Kanada“.

Quelle:
Bündnis Bahn für Alle, Ausgabe Frühjahr/Sommer 2022
https://bahn-fuer-alle.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jurist will „Miethaie“ vom Berliner Wohnungsmarkt ausschließen

Vor über einem Jahr kassierte das Bundesverfassungsgericht den sogenannten Berliner Mietendeckel. Nun eröffnet ein Jurist in der Hauptstadt eine neue Diskussion. Stefan Klinski, Professor für Wirtschaftsrecht an der dortigen Hochschule für Wirtschaft und Recht, schlägt dem Land Berlin in einem auf eigene Initiative entstandenen 52-seitigen Rechtsgutachten vor, alle Unternehmen vom Immobilienmarkt auszuschließen, „von denen in besonderer Weise Druck auf den Wohnungsmarkt ausgeht“. Die bisher im Eigentum solcher Unternehmen stehenden Mietwohnungen müssten, so die Idee, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes an Dritte (Private oder Unternehmen in anderen Rechtsformen) veräußert werden. Ziel sei es, „den durch einen ausgeprägten Mangel an preiswertem Wohnraum extrem belasteten Berliner Wohnungsmarkt zu entspannen“.

Klinski denkt bei seiner Initiative insbesondere an „Unternehmen, deren eigene Anteile an einem Kapitalmarkt gehandelt werden (typischerweise börsennotierte Aktiengesellschaften, Hedgefonds, Immobilienfonds) sowie Unternehmen verschiedener Rechtsformen mit intransparenten Eigentumsverhältnissen und/oder Gewinnverlagerung in Steueroasen“. Gesetzliche Marktzugangsbeschränkungen, so der Jurist, würde es in anderen Rechtsbereichen – etwa der Energiewirtschaft oder des Personennahverkehrs – schon seit langem geben. Für seinen Vorschlag sehe er weder verfassungsrechtlich noch EU-rechtlich ernstliche Bedenken. Vielmehr erfülle das Konzept die im Artikel 28 der Berliner Verfassung verankerte öffentliche Aufgabe, „die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum auch für Menschen mit geringem Einkommen“ zu fördern. Bei einer Marktzugangsbeschränkung und der Pflicht, sich innerhalb des Übergangszeitraums von den Immobilien zu trennen, handelt es sich laut Klinski zwar um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff der betroffenen Unternehmen, keineswegs jedoch um eine Enteignung nach Art. 14 Grundgesetz (Eigentumsgarantie). Deshalb müsse der Staat auch keine Entschädigungen aufbringen wie im Rahmen einer Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen (vgl. Berliner Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“).

Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU), der auch die Interessen von börsennotierten Konzernen wie Vonovia vertritt, lehnt den Vorschlag erwartungsgemäß ab. Der Berliner Mieterverein hingegen spricht sich für diese Idee aus: „Neben dem Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen sei dies ‚nun ein weiterer interessanter Vorschlag, um kapitalmarktgetriebene Wohnungsunternehmen in die Schranken zu verweisen und deren Expansionsgelüste zu stoppen‘, sagt BMV-Geschäftsführer Reiner Wild.“ (Berliner Zeitung vom 9. Mai 2022).


Quellen:

Stefan Klinski: „Zur Zulässigkeit eines Landesgesetzes zur sozialverträglichen Ordnung des Berliner Wohnungsmarkts, durch das bestimmte Unternehmen vom Mietwohnungsmarkt ausgeschlossen werden“, Rechtsgutachten, Berlin, Februar 2022

https://gesellschaftfuernachhaltigkeit.de/wp-content/uploads/2022/03/Klinski-Gutachten-Wohnungsmarkt-2022-02-11.pdf

ders.: „Wohnungsmarkt ohne Börsendruck. Zur rechtlichen Machbarkeit von Zugangsbeschränkungen für den Wohnungsmarkt“, 25. April 2022, verfassungsblog.de

https://verfassungsblog.de/wohnungsmarkt-ohne-borsendruck/

Ulrich Paul: „Ein Vorschlag, Miethaie vom Berliner Wohnungsmarkt zu vertreiben“, Berliner Zeitung vom 9. Mai 2022

https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/kein-platz-mehr-fuer-deutsche-wohnen-und-co-in-berlin-li.226905

Erik Peter: „Vermieter richtig deckeln“, taz vom 9. Mai 2022

https://taz.de/Neue-Idee-fuer-Berliner-Mietenmarkt/!5850965&s=klinski/

Nicolas Šustr: „Vonovia einfach vom Markt ausschließen“, Neues Deutschland vom 9. Mai 2022

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163620.mietenwahnsinn-vonovia-einfach-vom-markt-ausschliessen.html

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zuhälterei gestern und heute

Wirtschaftskriminalität ist keineswegs nur auf die Oberschicht beschränkt, auch wenn deren Aktivitäten in der Hauptsache zur sozialen Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Kriminelle Bandenbildung in den Ghettos und Armutsvierteln der Unterschicht ist mit Sicherheit ebenso alt wie die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft insgesamt. Dass der österreichische Promedia-Verlag ein Buch zu einem weitgehend unterbelichteten Thema – der sexuellen Ausbeutung des weiblichen Körpers – herausgegeben hat, ist daher vom Grundsatz her zu begrüßen.

Der Autor Manfred Paulus – ein pensionierter deutscher Polizeibeamter – liefert darin allerdings keine soziologische Analyse der kriminellen oder auch weniger kriminellen Geschäftszweige Zuhälterei und Prostitution. Sein Anliegen ist eher, einen Nachweis für die These zu erbringen, dass Zuhälterei eine Gefahr für die (bürgerliche) Gesellschaft sei und die gegenwärtige Gesetzeslage viel zu human sei, um mit dieser Gefahr fertig zu werten.

Statistisches Material findet man in dem Band kaum; das Buch ist eher eine Schilderung ausgewählter Kriminalfälle. Wobei diese meist wenig bekannten Fakten oft nicht uninteressant sind. Sehr zu empfehlen ist beispielsweise das Kapitel über die Geschichte der Zuhälterei. Obwohl die Quellenlage eher dürftig ist, weist der Autor anhand griechischer und römischer Quellen nach, dass es diesen Geschäftszweig bereits in der Hochantike gab. Die Herrscher des christlichen Frühmittelalters bemühten sich dann zwar nach Kräften, das in ihren Augen sündhafte Treiben zu unterdrücken. Aber schon zur Zeit Karls des Großen ist die Existenz städtischer Bordelle überliefert. Und zur Zeit der Renaissance praktizierten sogar hohe katholische Würdenträger nebenberuflich die Tätigkeit eines Zuhälters. Wie der Autor weiter schreibt, hätten allein in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts zwischen 100.000 und 200.000 Frauen hauptberuflich „angeschafft“ –  kurz vor dem 1. Weltkrieg waren es 300.000.

Der Autor weist durchaus zutreffend immer wieder darauf hin, dass es sich bei den in Bordellen und auf dem Straßenstrich arbeitenden Frauen um die eigentlichen Leidtragenden der von ihm angeprangerten Verhältnisse handelt. Eine Analyse der sozialen Verhältnisse, die Frauen in die Prostitution trieb und immer noch treibt, wird von ihm jedoch peinlich vermieden. Die Schuldigen sind immer kriminelle Zuhälter. Nun handelt es sich bei diesen Leute zumeist wohl um ausgesprochen unsympathische Figuren. Der Autor thematisiert in diesem Zusammenhang Überschneidungen zwischen verschiedenen kriminellen Gewerben und der Internationalisierung krimineller Strukturen. Von eher historischem Interesse ist die von ihm vorgenommene Analyse der sich zum Teil krass unterscheidenden „Milieus“ deutscher Großstädte im 20. Jahrhundert.

Der Autor weist (eher moralisierend) immer wieder darauf hin, dass die meisten „Kiezgrößen“ – so sie die immer wieder ausbrechenden kriminellen Bandenkämpfe überlebten – später im Elend starben. Die Schlussfolgerung, dass es sich bei Zuhälterei zum Teil wohl auch um Armutskriminalität handelt, findet sich im Buch allerdings an keiner Stelle. Dafür dokumentiert der Autor eine absurd anmutende Episode, wie der Besitzer eines Eros-Centers in Ulm sich kurz vor der Jahrtausendwende per Adoption in den deutschen Hochadel einkaufte.

Interessant sind die am Ende des Buches dokumentierten Auszüge aus Gesetzestexten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Die vom Autor immer wieder nahegelegte Verschärfung von Gesetzen hat in der Vergangenheit übrigens keineswegs zum Verschwinden von Prostitution und Zuhälterei, von Menschenhandel und Sexsklaverei geführt. Der Autor weist in einem anderen Zusammenhang selbst darauf hin, dass diese kriminellen Strukturen auch in Ländern mit heftig repressiver Gesetzeslage weiter blühen und gedeihen.

Manfred Paulus: Zuhälterei gestern und heute.
Über Hurenwirte, Kiezkönige und die Sexsklaverei der Mafia, Promedia Verlag, Wien 2022, 224 Seiten, ISBN 978-3-85371-500-0

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Cum-Ex als Form der Elitenkriminalität – und der Staat schaut zu

Das Buch erschien zum richtigen Zeitpunkt: nur wenige Wochen vor Beginn des lang erwarteten Strafprozesses gegen Steueranwalt Hanno Berger. Dieser – eine zentrale Figur im Cum-Ex-Skandal – steht nach neun Jahren Flucht seit Anfang April 2022 in Bonn vor Gericht.

Allerdings waren die Machenschaften um Cum-Ex schon vor etwa 30 Jahren bekannt. Insider der Finanzszene wussten bereits damals, dass sich Banken und Anleger am Fiskus bereichern, indem sie sich Steuern rückerstatten ließen, die sie zuvor überhaupt nicht bezahlt hatten. Vor nunmehr 20 Jahren befasste sich das Bundesfinanzministerium mit dem Komplex, unternahm aber (wohl unter dem Einfluss der Bankenlobby) trotz vorliegender Hinweise vorerst nichts. Erst weitere zehn Jahre später, im Herbst letzten Jahres, veröffentlichte der Investigativjournalist Oliver Schröm eine erste umfangreiche und spannend geschriebene Monografie („Die Cum-Ex-Files“, erschienen im Ch. Links Verlag) über den Megabetrug.

Massimo Bognanni, der vor zwei Jahren bereits an einer preisgekrönten TV-Dokumentation zu Cum-Ex mitgearbeitet hatte, legte jetzt nach. Bognanni weist in dem neuen Buch ebenfalls nach, um was es bei dem Steuerbetrug in Milliardenhöhe letztlich geht: um organisierte Kriminalität zu Lasten des Gemeinwohls. Es ist zu hoffen, dass die beiden Bücher dazu beitragen, den bislang ausgebliebenen öffentlichen Proteststurm gegen diese Form der Wirtschaftskriminalität zu entfachen.

Bognanni versucht erst gar nicht, die Cum-Ex-Praxis in ihrer Komplexität zu beschreiben. Er belässt es bei der leicht nachvollziehbaren Einsicht, dass Geschäfte nicht legal oder moralisch vertretbar sein können, bei denen der Staat Steuern erstattet, die nie gezahlt wurden. Der Autor konzentriert sich auf zwei Erzählstränge. Zum einen dokumentiert er das „jahrzehntelange Versagen des Staates und seiner Institutionen“ (Seite 5), zum anderen folgt er Schritt für Schritt der Aufklärung des Skandals und damit der Arbeit der eigentlichen „Heldin“ des Buches – der Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker. Diese hat durch ihre unermüdliche Arbeit und auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen eine Reihe von Tätern vor Gericht gebracht.

Die Verstrickungen des Staatsapparates in die „Steuerbetrugsindustrie“ (Seite 9) belegt der Autor anhand mehrerer Beispiele. So begann erst im Oktober 2014 eine ernstzunehmende Ermittlung gegen Cum-Ex. In elf Ländern und mit mehr als tausend Beamten wurde damals eine Großrazzia veranstaltet – mit Brorhilker als leitender Staatsanwältin. Der Staat hätte jedoch schon 1992 tätig werden können. Ein hessischer Börsenaufseher hatte in einem Artikel für den vielbeachteten Frankfurter Finanzmarktbericht festgestellt, dass es bei Banken offenbar gängige Praxis war, mehrere Steuerbescheinigungen für ein und dieselbe Aktie auszustellen. Der Börsenaufseher durchschaute damit „ein perfides System“, so Bognanni. „Denn wer Steuerbescheinigungen ausstellen kann, der kann quasi Geld drucken.“ (Seite 23)

Das Bundesfinanzministerium unter Leitung von Theo Waigel (CSU) sah jedoch keinen Anlass, etwas zu unternehmen. Eine grundsätzliche Lösung des Problems, so das Ministerium damals, hätte in „gewissen Zeiträumen“ zu einem Verbot des Handels sowohl von Aktien als auch im Rahmen von Termingeschäften führen müssen. Angeblich wären eine weitgehende Verlagerung der Geschäfte ins Ausland und damit ein „gravierender Schaden für den Finanzplatz Deutschland“ die Folgen gewesen (Seite 25). Im gleichen Zusammenhang sah die Frankfurter Finanzbehörde nach Absprache mit dem Oberstaatsanwalt von Ermittlungsverfahren gegen mehrere Makler ab, die unter dem Verdacht standen, doppelte Steuerbescheinigungen produziert zu haben – mit dem schlichten Verweis auf fehlendes Personal bei der Steuerfahndungsstelle (Seite 28f.).

Neben Ex-Bundesfinanzminister Theo Waigel zeigten sich auch seine Amtsnachfolger Steinbrück (SPD), Schäuble (CDU) und Scholz (SPD) wenig geneigt, den Cum-Ex-Geschäften einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Unter der Ägide von Peer Steinbrück etwa wurde im Jahr 2009 zwar eine Meldepflicht eingeführt, die jede Bank verpflichtete, „dem Bundeszentralamt für Steuern zu melden, wenn die technischen Voraussetzungen für Cum-Ex-Deals gegeben waren“. (Seite 240) Offensichtlich wurde eine dann akribisch erstellte Liste mit über fünfhundert Einträgen von der Behörde aber nicht überprüft, auch nicht in Stichproben. Die Aufstellung der Verdachtsfälle wurde an das Finanzministerium weitergereicht. Was dort damit geschah, blieb jedoch völlig unklar. Bei Staatsanwältin Brorhilker, die die Liste dringend gebraucht hätte, landeten die Informationen jedenfalls erst im Juni 2020.

Ein weiterer Fall für das dubiose Verhalten der Behörden waren die Cum-Ex-Geschäfte der einst mächtigen landeseigenen WestLB, die bestens mit der NRW-Politik vernetzt war. Im Mai 2007 meldete sich ein Whistleblower aus dem Innern der Finanzindustrie bei der BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht), um auf Praktiken der Landesbank aufmerksam zu machen, die auf Cum-Ex-Geschäfte hinwiesen. Die BaFin recherchierte selbst – jedoch ausgerechnet bei der WestLB. „Der Bauer fragt den Fuchs“, kommentiert Bognanni (Seite 79). Im Frühjahr 2021 enthüllten Journalisten schließlich, dass die BaFin ihre im Jahr 2007 erhaltenen Informationen wegen ihrer Verschwiegenheitspflicht nach dem Kreditwesengesetz, so die Darstellung der BaFin, nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben hatte. Die jedoch bestreitet ausdrücklich, dass es je eine Verschwiegenheitspflicht für mutmaßliche Steuerhinterzieher gegeben habe (Seite 82).

Nach all den unglaublichen Vorgängen im Umkreis des Cum-Ex-Komplexes stellt Bognanni in seinem Epilog nüchtern fest, dass der Skandal noch lange nicht vorbei sei. Auch würde Staatsanwältin Brorhilker, die sich seit 2013 mit superreichen Investoren und abgebrühten Wirtschaftsanwälten herumschlagen muss, noch Jahrzehnte brauchen, ihre Ermittlungen abzuschließen. Nach Meinung des Rezensenten kann das als Beleg dafür gewertet werden, dass die staatlichen politischen Entscheider das Entstehen einer Betrugsindustrie erst ermöglicht haben.

Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Staatsanwaltschaften, wie Anne Brorhilker dem Buchautor anvertraute, auf Insiderwissen angewiesen sind, um die immer neuen Steuerbetrugsmodelle verstehen und damit den mafiösen Netzwerken auf die Spur kommen zu können. Ohne Whistleblowing erscheint eine Aufklärung nämlich kaum möglich. Dem Optimismus Bognannis, der Staat könne selbst gegenüber einer global agierenden Steuermafia wehrhaft sein, denn es brauche nur „die richtigen Menschen an der richtigen Stelle“ (Seite 6), ist trotz des beeindruckenden Engagements einzelner Staatsanwält*innen, Journalisten und anderer Aktivist*innen nicht zuzustimmen.

Was Bognanni nicht leistet, ist eine Analyse des politischen und ökonomischen Systems, welches Geschäfte wie Cum-Ex immer wieder hervorbringt beziehungsweise sie ermöglicht. Eine solche Analyse zu liefern war aber auch nicht Anliegen des Autors. Er liefert lediglich die detaillierte und lebendige Beschreibung des Cum-Ex-Komplexes als Form organisierter Kriminalität und der korrupten Rolle staatlicher Institutionen und Repräsentanten. Und dies ist ihm bestens gelungen.

Massimo Bognanni: Unter den Augen des Staates. Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2022, dtv, 285 Seiten, 20 Euro

 

 

 

 

 

Schmähpreis „Goldene Abrissbirne“ verliehen

Die seit längerer Zeit laufende Demontage medizinischer Infrastruktur wurde seit Ausbruch der Pandemie kaum gebrochen fortgesetzt – wir haben in BIG Business Crime darüber berichtet.

Das „Bündnis Klinikrettung“ nahm den diesjährigen Weltgesundheitstag (7. April 2022) zum Anlass, dem baden-württembergischen Minister für Soziales, Gesundheit und Integration Manfred Lucha (Bündnis90/Die Grünen) den Schmähpreis „Goldene Abrissbirne“ zu verleihen. Die Aktivist:innen begründen die Preisverleihung damit, dass die Schließung von Krankenhausstandorten „an vielen Orten Deutschlands gefährliche Löcher in die Versorgung reißen“ und dass „in Baden-Württemberg besonders forsch und rücksichtslos vorgegangen“ würde.

In der Begründung heißt es weiter, dass der Minister seit seinem Amtsantritt „im Schnitt 4,3 Kliniken jährlich dichtmachen“ ließ. „Während von Lucha sage und schreibe 3,5 Milliarden Euro für neue Zentralkliniken eingeplant sind, wird kleineren Krankenhäusern die notwendige Finanzierung versagt. Neben der Versorgung fallen dadurch medizinische Ausbildungsstätten, Arbeitsplätze und funktionierende Infrastrukturen weg, von den Umweltschäden durch die Bauwut ganz zu schweigen.“

Abschließend kündigen die Aktivist:innen weitere Aktionen an: „Solange die Schließungen im Krankenhaussektor derart dicht aufeinander erfolgen wie im Moment, behalten wir uns vor, weitere Schmähpreisverleihungen ebenfalls in kurzen Abständen folgen zu lassen.“

Quellen:

Jorinde Schulz „Erster Schmähpreis für Klinikschließer, die ‚Goldene Abrissbirne‘ geht an Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha“
https://www.gemeingut.org/erster-schmaehpreis-fuer-klinikschliesser-die-goldene-abrissbirne-geht-an-baden-wuerttembergs-gesundheitsminister-manfred-lucha 

Wegen Klinikschließungen: Lucha erhält die „Goldene Abrissbirne“
https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/schmaehpreis-goldene-abrissbirne-fuer-bw-gesundheitsminister-lucha-100.html 

 

 

 

Wer nicht zahlen kann, muss in Haft

Der promovierte Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Ronen Steinke, zeigt in seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ systematische Ungerechtigkeiten im Strafsystem auf – und spricht deshalb von einer „neuen Klassenjustiz“. Während einkommensarme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, mit harten Strafen rechnen müssen, werden Verfahren wegen Wirtschaftskriminalität häufig eingestellt oder es wird milde geurteilt. Für sein Buch recherchierte der Autor bei allen relevanten Akteur:innen, das heißt bei Staatsanwält:innen, Rechtsanwält:innen, Richter:innen und Verurteilten. Dabei geht der Autor die einzelnen Stationen der rechtlichen Verfahren durch. Er beschreibt die Rolle der Anwält:innen, untersucht Urteile (zum Beispiel die Bedeutung verhängter Geldstrafen) und analysiert die Auswirkungen der Untersuchungshaft und anschließender Gefängnisaufenthalte. Danach folgen Kapitel zur Wirtschafts- und „Elendskriminalität“; am Schluss seines Buches stellt er Forderungen auf, wie es gerechter zugehen könnte.

 „Je teurer der Verteidiger, desto unschuldiger der Angeklagte“*

Die Erfolgsaussichten von angeklagten Personen hängen wesentlich davon ab, welcher Anwalt bzw. welche Anwältin zur Verteidigung zur Verfügung steht – oder ob sich überhaupt einer oder eine finden und finanzieren lässt. „Anwälte haben einen langen Atem, solange jemand das Geld hat, für ihre Zeit zu zahlen“, schreibt Steinke. Die privaten Anwälte beantragen im Gerichtssaal in 30,8 Prozent der Fälle einen Freispruch für ihre Mandanten. Pflichtverteidiger:innen tun das nur in 11,6 Prozent der Fälle. Auf diese sind Ärmere aber angewiesen. Pflichtverteidiger:innen werden jedoch von der Staatskasse finanziell kurzgehalten. Und Gerichte bestellen ihre „Lieblingsanwälte“, wenn vermieden werden soll, dass arme Menschen von „bissigen“ und engagierten Strafverteidiger:innen vertreten werden.

„Je vermögender man ist, desto billiger kommt man davon“

Zwischen den Strafverfolgungs- und Finanzbehörden steht das Steuergeheimnis. Meistens gibt das Finanzamt keine Auskünfte zu Einkommensverhältnissen von Angeklagten. Darum fallen Geldstrafen für Reiche oft zu niedrig aus. Deren finanzielle Verhältnisse werden offensichtlich sehr zurückhaltend eingestuft.

Früher ermittelten in Berlin die Sozialen Dienste der Justiz die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Straftätern. Diese Dienstleistung wurde mittlerweile eingespart; jetzt schätzen die Gerichte „ins Blaue hinein“.

„Gefängnisstrafen wegen Schwarzfahrens, jährlich: 7.000. Gefängnis wegen Cum-ex-Milliardenbetrug: 1“

 Fußballfunktionär Uli Hoeneß saß wegen Betrugs am Fiskus in Höhe von mehreren Millionen Euro als einer der wenigen Reichen tatsächlich im Gefängnis. Er überwies fünf Millionen Euro Kaution und kam aus der U-Haft wieder frei. Das ihn betreffende Urteil lautete: Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen sieben „tatmehrheitlicher“ Fälle der Steuerhinterziehung in Höhe von 28,4 Millionen Euro. Als Vergleich zieht der Autor eine Strafe für eine Hartz IV-Empfängerin in Osnabrück heran, die den Fiskus um 84.000 Euro geschädigt hatte. Sie erhielt eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Buches war im Übrigen erstmals ein deutscher Banker im Rahmen des seit Jahren bekannten Cum-Ex-Skandals zu einer Haftstrafe verurteilt worden.

„Anteil der Wirtschaftskriminalität an der Gesamtzahl aller Delikte: 0,9 Prozent, Anteil der Wirtschaftskriminalität am Gesamtschaden: 44,9 Prozent“

Wohlhabende rechnen ihre Geldstrafen zudem als Spesen ab, zahlen fast nie selbst. Konzerne wie VW setzen die Geldstrafen als Betriebsausgaben von der Steuer ab. Deshalb tragen letztlich alle Steuerzahler:innen den Schaden. Wirtschaftsdelinquenten haben daher gute Karten, weil sie sich freikaufen (lassen) können. „Je größer der Konzern, desto lauter ist sein Lachen über diese Sümmchen“, fasst Steinke den skandalösen Zustand zusammen.

Oftmals liefern sich die Anwälte Materialschlachten, die die Justiz verzweifeln lassen. Aus Bequemlichkeit lässt sich das Gericht dann auf eine gütliche Einigung ein und verfügt lediglich Geldauflagen. „Spätestens seit den 2000er-Jahren gelten Deals mit Tatverdächtigen als  ‚unverzichtbares Instrument‘ zur Bewältigung komplexer Wirtschaftsstrafverfahren, sprich: als leider alternativlos.“ So musste Deutsche-Bank-Manager Josef Ackermann für die Einstellung eines Verfahrens im Jahr 2006 (Mannesmann-Prozess) nur ein Bußgeld in Höhe von etwa vier Monatsgehältern zahlen, also 3,2 Millionen Euro. Der Top-Manager konnte so eine Vorstrafe vermeiden.

Das Buch schließt mit einer Reihe konkreter Vorschläge des Autors, die das deutsche Justizsystem ein wenig gerechter machen könnten. So fordert er etwa Pflichtverteidiger für alle sowie die Entkriminalisierung von Drogen- und Schwarzfahrdelikten. Die Einkommen von solventen Tätern sollten zudem nicht geschätzt, sondern tatsächlich ermittelt werden. Zu beenden sei auch das Vorgehen von Unternehmen, die Prozesskosten ihrer delinquenten Manager:innen zu übernehmen und dann sogar von der Steuer abzusetzen. 

Es ließen sich sicherlich auch einige noch radikalere Forderungen aufstellen. Und dass die Klassenjustiz nicht so neu ist, wie der Untertitel des Buches behauptet, darf auch festgehalten werden. Dennoch ist das Buch lesens- und empfehlenswert!

*Alle Zwischenüberschriften sind als Zitate aus dem Buch übernommen.

Ronen Steinke „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ Berlin 2022, Berlin Verlag, 20 Euro

 

Die dubiosen Stiftungen des umstrittenen Immobilienkonzerns Akelius

Im vergangenen Jahr verkaufte der schwedische Wohnimmobilienkonzern Akelius für etwa 9,1 Milliarden Euro fast 29.000 Wohnungen an seinen skandinavischen Konkurrenten Heimstaden – allein rund 14.000 davon in Berlin und etwa 3.600 in Hamburg. Wer aber ist Akelius? Das börsennotierte Unternehmen galt seit den ersten Akquisitionen in Berlin im Jahr 2006 als einer der größten Mietpreistreiber in der Hauptstadt und betrieb eine aggressive Aufwertungsstrategie. So mussten für Wohnungen nach Luxussanierungen oft bis zu 40 Euro pro Quadratmeter bezahlt werden.

Laut Information der „Vernetzung der Akelius-Mieter*innen Berlin“ werden rund sechs Milliarden Euro der aus dem Megadeal stammenden Einnahmen an drei vermeintlich gemeinnützige Akelius-Stiftungen auf den Bahamas weitergereicht – in Form einer Dividendenausschüttung, wie auf der jährlichen Hauptversammlung des Konzerns am 8. April 2022 in Stockholm bekanntgegeben wurde.

Die Initiative der Mieter:innen von Akelius veröffentlichte deshalb im April 2022 eine umfangreiche Recherche – unter anderem zur Frage nach der Funktion der Stiftungen im Rahmen der Konzernstruktur. Der Konzern ist im Besitz von drei Privatstiftungen auf den Bahamas, die sämtliche Stimmrechte und etwa 94 Prozent der Aktien halten. Vor allem wird in dem Bericht die Behauptung des Akelius-Konzerns überprüft, seine Hauptanteilseignerin, die Akelius Foundation, sei eine gemeinnützige Stiftung. Die Eigentümerstruktur, so ein Fazit der Analyse, diene „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ der Steuervermeidung.

Es folgt ein längerer Auszug aus dem Bericht: „Die Akelius Foundation ist die größte und wichtigste der drei Stiftungen. Sie hält rund 80 Prozent der Anteile an Akelius Residential (der zentralen schwedischen Aktiengesellschaft – die Redaktion), was einem Wert von rund 12 Milliarden Euro entspricht. (…) Über den Aktienanteil (…) hält die Stiftung eine deutliche Mehrheit der Stimmrechte. Sie fungiert damit als die maßgebliche Kontroll- und Weisungsinstanz. Durch die Mitglieder des Stiftungsrats und die beiden Kontrolleure (…) ist die Akelius Foundation schon allein personell eng mit dem Akelius-Konzern verbunden. Darüber hinaus ist die Akelius Foundation alleinige Inhaberin der beiden Firmen Akelius Invest Ltd. und Akeliusfonder Ltd., beide mit Sitz auf den Bahamas. Beide Firmen ermöglichen Finanzanlagen, die über Anleihen und Kredite ausschließlich in den Akelius-Konzern investiert werden. Es ist unklar, ob die Stiftung dies auch nutzt, um eigenes Geld zu reinvestieren. Es handelt sich dabei um ein steueroptimiertes Wachstumsmodell. Das heißt zum Beispiel: Akelius Invest gibt Kredite an die jeweiligen nationalen Akelius-Bestandshalter, wodurch diese ihre Gewinne kleinrechnen können (in Deutschland die Akelius GmbH).

Roger Akelius (der Firmengründer – die Redaktion) und der Akelius-Konzern formulieren für die Akelius-Stiftung einen Anspruch auf ‚Gemeinnützigkeit‘. Dieser Anspruch ist aufgrund der hier vorgestellten Analyse zurückzuweisen – sowohl mit Blick auf die engere Verwendung des Begriffs im Sinne der steuerlich anerkannten Gemeinnützigkeit als auch mit Blick auf das allgemeine Verständnis einer Gemeinwohlorientierung. Eine wohltätige Stiftung ist sie nur in einem Sinn, nach der eine Person oder Firma wohltätig ist, die ohne jede Verpflichtung einen selbst bestimmten Teil ihres Einkommens oder ihrer Gewinne einem guten Zweck spendet. Der Aufsichtsrat der Akelius Foundation besteht nahezu ausschließlich aus Personen, die im Akelius-Konzern wichtige Funktionen übernehmen. Die Stiftung agiert weitgehend intransparent und veröffentlicht selbst keine oder nur minimale Berichte zur eigenen Tätigkeit oder zu den ausgezahlten Fördergeldern. Im Vergleich mit anderen Stiftungen ist der Anteil an den ausgeschütteten Gewinn, den die Akelius Foundation für wohltätige Zwecke ausgibt, gering.

Die Akelius Foundation muss auf Grundlage der hier zusammengetragenen Informationen als Privatstiftung betrachtet werden. Ihre Hauptfunktion ist nicht Wohltätigkeit, sondern Gewinnoptimierung, was in der Außendarstellung der Stiftung nicht transparent gemacht wird.“ (Seite 3f.)

Zur Frage des Verkaufs der Akelius-Bestände an den Konzern Heimstaden im Herbst des letzten Jahres bemerkt der Bericht: „Was passiert mit dem ganzen Geld? Auf der jährlichen Hauptversammlung am 8.4.2022 soll eine Dividendenausschüttung an die drei Akelius-Privatstiftungen in Höhe von rund 6 Milliarden Euro beschlossen werden. Damit wird ein großer Teil der durch den Verkauf erzielten Summe ins Steuerparadies Bahamas verschoben. Die Gewinne werden vermutlich steuerfrei ausgeschüttet – die sonst übliche Kapitalertragssteuer (in Schweden 30 %) wird durch die Finanzkonstruktion des Konzerns vermieden. Ebenfalls auf der Tagesordnung der Hauptversammlung steht eine Kapitalerhöhung. Damit sollen rund 4 Milliarden Euro von den Stiftungen wieder in den Konzern reinvestiert werden.“ (Seite 5)

Mittels der Investitionen soll der Bestand offenbar wieder auf 50.000 Wohnungen ausgebaut werden. Keine guten Aussichten für die neuen Mieter:innen des Konzerns. Auch sie müssen mit der berüchtigten Mieterhöhungs- und Aufwertungsstrategie des Konzerns rechnen.

Anmerkung:
Akelius ist nicht nur wegen seiner Steuervermeidungsstrategien bekannt. Der Konzern stand vor allem in Berlin auch in der Kritik, weil er mittels sogenannter Share Deals die Grunderwerbssteuer umging. Die SPD-Politikerin und heutige Staatssekretärin im Bundesbauministerium, Cansel Kiziltepe, hatte Akelius bereits im Jahr 2020 wegen „fragwürdiger Share Deals“ im Berliner Bezirk Neukölln angezeigt und die Steuerfahndung alarmiert (Der Spiegel vom 4. September 2020).

Quellen:

Vernetzung der Akelius-Mieter*innen Berlin: „Bluewashing und Steuervermeidung: Die Akelius Foundation im Akelius-Konzern“, Oktober 2021 (mit Aktualisierungen im März 2022)
https://www.akelius-vernetzung.de/wp-content/uploads/2022/04/Bluewashing_Steuervermeidung_Akelius_Foundation.pdf

Gareth Joswig: „6 Milliarden für die Bahamas“, taz vom 8. April 2022
https://taz.de/Akelius-schuettet-Dividende-aus/!5843609&s=akelius/

Nicolas Šustr: „Konzentration auf Berliner Wohnungsmarkt“, Neues Deutschland vom 28. September 2021
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157086.betongold-konzentration-auf-berliner-wohnungsmarkt.html?sstr=akelius

David Böcking: „Bundestagsabgeordnete zeigt Wohnungskonzern Akelius an“, Der Spiegel vom 4. September 2020
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/cansel-kiziltepe-spd-abgeordnete-zeigt-berliner-immobilieninvestor-an-a-b32e9fd4-cce3-4f29-b63a-69fb94f9592a

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachhaltigkeit in der Finanzbranche: Druck von links und rechts

Mitte März 2023 stellte der im Regierungsauftrag tätige Expertenrat für Klimafragen in einem Bericht zur Emissionsbilanz des Bundes fest, Deutschland werde – bleibe es beim bisherigen Tempo im Klimaschutz – seine Klimaziele bis 2030 um etwa 40 Prozent verfehlen. Diese Feststellung sei eine „schallende Ohrfeige“ für die Klimapolitik der Bundesregierung, ließ der Chef von Greenpeace daraufhin wissen (Süddeutsche Zeitung vom 14. April 2023). Um die politisch Verantwortlichen endlich zu mehr Klimaschutz zu bewegen, kündigten Aktivisten der „Letzten Generation“ an, ab dem 19. April die Bundeshauptstadt mittels Protestveranstaltungen, Klebeaktionen und weiteren Blockaden teilweise lahmzulegen.

Vertreter:innen der politischen Klasse zeigen sich über den „zivilen Ungehorsam“ von  Akteuren, wie denen der „Letzten Generation“, regelmäßig empört und lassen durchblicken, dass sie für Rechtsbrüche jeglicher Art kein Verständnis aufbringen würden. „Gar nicht zum Lachen ist dem Justizminister. Marco Buschmann sieht einmal mehr das Abendland untergehen, denn die Kleber erinnern ihn an die Weimarer Zeit, als sich ‚Menschen am linken und rechten politischen Rand selbst ermächtigt fühlten, sich über die Rechtsordnung zu stellen‘.“ (junge Welt vom 22. April 2023)

Starke Worte angesichts der sehr gemäßigten Forderungen und des alles andere als militante Auftretens der Aktivisten. Von einer angeblichen Demokratiefeindlichkeit findet sich bei ihnen keine Spur. So heißt es auch auf der Webseite der „Letzten Generation“: „Rasend eskaliert die Klimakrise und an so vielen Tagen bleibt nichts als dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man die Zerstörung sieht und dazu das Nichtstun unserer Regierung. (…) Sie schützt Wirtschaftsprofite statt unserer Lebensgrundlagen, bricht ihre eigenen Versprechen und unsere demokratische Verfassung.“ Und in einem „Brief an die Bundesregierung“ vom April 2023 unterstreichen die Aktivisten, dass es „beim Abwenden einer Klimakatastrophe auch um den Erhalt unserer Demokratie, unseres Rechtsstaats und den Erhalt der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gehe.

Darüber, wie der Rechtsstaat mit „zivilem Ungehorsam“ umzugehen hat, wird derzeit auch einmal mehr im juristischen Fachdiskurs verhandelt. So pocht Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg, auf den Rechts- und Gesetzesgehorsam der Staatsbürger:innen. Die „Letzte Generation“ stellt für ihn eine Protestbewegung dar, „die letzten Ende keine Rücksicht auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen bereit ist, die auch Ausdruck einer Negation des Rechtsstaats zur Durchsetzung partikularer Interessen unter dem Mantel vorgeblich grundrechtlich geschützter Freiheit ist“. (Schwarz, Seite 275) Beim „zivilen Ungehorsam“ gehe es in Wahrheit gerade nicht um die Beseitigung etwaiger Mängel, sondern um die „undemokratische, weil nicht im Parlament beschlossene Durchsetzung individueller Vorstellungen“. (Schwarz, Seite 279f.) Er warnt gar vor der „Kapitulation des Rechtsstaats vor der Macht der Straße“. (Seite 276)

In Erwiderung dazu stellt dagegen Lorenz Leitmeier, Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, fest:

„Tatsächlich wird die existenzielle Dimension der Klimakrise verschleiert oder gar geleugnet, wenn man plump die Mehrheit-ist-Mehrheit-Regel bemüht, um die Spannung zwischen Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam einseitig aufzulösen. Die ‚bestimmten Ziele‘, von denen Schwarz spricht, sind nämlich keine Privatinteressen einer Minderheit mit ‚Verhinderungsstrategie‘ – es sind rechtlich verbindliche Ziele: Bekanntlich wurde in Paris am 12.12.2015 im Rahmen der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) ein Abkommen geschlossen (Pariser Abkommen), das die EU am 5.10.2016 mit dem Beschluss (EU) 2016/18414 umsetzte, woraufhin es am 4.11.2016 in Kraft trat.“ (Leitmeier, Seite 71)

Auch die Bundesrepublik habe das Pariser Abkommen unterzeichnet und ratifiziert, so dass eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zu einem gewissen Verhalten vorliege. Der Jurist und Journalist Ronen Steinke betont in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung ebenfalls, dass die Bundesregierung selbst gegen verbindliches Recht verstoße – was nicht wegzudiskutieren sei. Das Klima-Abkommen von Paris, wonach die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, sei nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag unmittelbar geltendes Bundesrecht. „Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgericht“, konstatiert Steinke bissig, „haben der Regierung, die dies nicht ganz ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss vom März 2021 die Lage noch einmal deutlich auseinandergesetzt – Verfassungsrecht für Dummies, quasi: Das Abkommen ist verbindlich, dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht Recht.“

In dieser Situation würden die Klima-Aktivisten sich entscheiden, ihrerseits Recht zu brechen. „Sie tun das mit einer, rechtlich betrachtet, eigentlich ungewöhnlich bescheidenen Forderung. Sie wollen nur, dass sich die mächtigsten Menschen im Staatsapparat an die rechtlichen Pflichten halten, die für diese gelten.“ Die Täter verlangten nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. „Rein rechtlich ist es hier so, als zwänge jemand den Bundeskanzler bloß dazu, an eine Fußgängerampel nicht mehr über Rot zu gehen.“

Steinke verweist zum Schluss seines Artikels auf den dynamischen Charakter der Rechtsentwicklung. Wenn die Bürger keine Hoffnung mehr haben könnten, dass der Staat ein Unrecht stoppe, habe das rechtliche Folgen. Bei einer Aussichtslosigkeit behördlichen Einschreitens könne ausnahmsweise doch einmal ein rechtfertigender Notstand nach Paragraf 34 StGB denkbar sein, so habe es zum Beispiel das Oberlandesgericht Naumburg vor einer Weile festgestellt. „Mit dieser Begründung hat es Tierschützer freigesprochen, die mit ‚zivilem Ungehorsam‘ auf illegale Zustände in der Massentierhaltung hingewiesen hatten, die den Behörden seit Jahren egal waren. Und das heißt: Je länger die Klima-Aktivisten mit ihrer Verzweiflung tatsächlich recht behalten, desto eher erwächst für ihren ‚zivilen Ungehorsam‘ irgendwann doch eine auch rechtliche Legitimation.“

Quellen:

Felix Bartels: „Döpfner des Tages: Marco Buschmann“, junge Welt (Online) vom 22. April 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/449346.döpfner-des-tages-marco-buschmann.html?sstr=letzte%7Cgeneration

Michael Bauchmüller: „Klima-Experten warnen Regierung“, Süddeutsche Zeitung vom 18. April 2023 (Printausgabe)

„Brief an die Bundesregierung, April 2023“, verfasst von „Die Bürger:innen der Letzten Generation“

https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/

 

Dr. Lorenz Leitmeier: „Ziviler Ungehorsam und autoritärer Legalismus?“, in: HRRS – Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, März 2023, Seite 70-73 (PDF-Ausgabe)

https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/23-03/index.php?sz=6

Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz: „Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam“, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 5/2023, Seite 275-280

https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160031/2023/NJW_2023_05_Forum_Schwarz.pdf

Ronen Steinke: „Alles, was Recht ist“, Süddeutsche Zeitung vom 21. April 2023 (Printausgabe)

Bandenherrschaft: Politik und Kriminalität

 

Der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift iz3w („Informationszentrum 3. Welt“) widmet sich dem Thema „Banden und Rackets“, also der Schnittstelle von Politik und Kriminalität. Nachfolgend ein Auszug aus dem Einleitungstext des Hefts: „Die basale Bedeutung von Racket ist Gewaltkriminalität wie zum Beispiel Schutzgelderpressung. In der Racket-Theorie meint es den Umbau des Staates zum Anhängsel einer Clique oder einer völkisch-faschistischen Gruppe, wie es die NSDAP war. Der Racket entsteht innerhalb der liberalen Ordnung und kann diese ergänzen, beseitigen oder ersetzen. Die Konkurrenz der Kapitale führt zu einer Konzentration von Reichtum; und auch kriminelle oder rechtsextreme Netzwerke kämpfen dabei um die Vorherrschaft. Dabei kann sich die liberale, konkurrenzbasierte und rechtlich vermittelte Gesellschaftsordnung aufheben. Das Kapital bildet Banden.“ (Seite 17)

Der Themenschwerpunkt umfasst acht Beiträge: Der Autor Thorsten Fuchshuber analysiert den Racket-Begriff in der Kritischen Theorie bei Max Horkheimer (vgl. auch die Rezension seines Buches zum Thema unter http://big.businesscrime.de/rezensionen/kampf-um-die-beute/). In weiteren Beiträgen werden aktualisierte Formen einer Racket-Herrschaft anhand der „postsozialistischen Korruptionsgesellschaft im Kosovo“ und von Viktor Orbáns „Staat der Seilschaften“ beschrieben.

Weiterhin schildern zwei Anthropologen, wie Justiz, Wirtschaft und Verwaltung im Norden Malis zum Teil von islamistischen, teilweise aber auch von lokal agierenden Stammesmilizen dominiert werden. Ein Afrikanist beleuchtet unter anderem die Rolle islamistischer Gruppen in Nigeria. Eine Mitarbeiterin von medico international geht auf den Zusammenhang von Hilfsgeldern und Korruption in Haiti ein. Und schließlich berichtet eine Politologin in einem Interview über ihre Forschungen zu neuen Formen der organisierten Kriminalität in Mexiko.

Für Winfried Rust, Mitarbeiter im iz3w, entstehen kriminelle Banden „im Vakuum der krisenhaften ökonomischen Umbrüche“ (Seite 18). Wir zitieren nachfolgend Auszüge aus seinem Artikel „Bildet keine Banden!“:

„Das Thema Banden ist relevant, weil es die bürgerliche Gesellschaft wie ein Schatten verfolgt und Leid und Tod mit sich bringt. Weltweit zeigt sich ein Machtzugewinn bandenartiger Strukturen innerhalb und jenseits der staatlichen Gewaltmonopole. Gerade in Ländern des Globalen Südens wird heute in ganzen Regionen Herrschaft von Banden ausgeübt, oft durch brutale Gewalt. (…) Das 21. Jahrhundert ist eine Zeit krisenhafter Ökonomie, Staatlichkeit und Gesellschaftlichkeit. Dabei versuchen Kriminelle und Banden, jedes sich öffnende Vakuum von Herrschaft und Gelderwerb zu füllen. Das 21. Jahrhundert ist außerdem von einer Krise der liberalen Demokratie und der Moderne geprägt. Die Krise gebiert die konformistische Revolte. Der antimoderne Reflex reicht von den neurechten und rechtspopulistischen Bewegungen in Europa oder den USA bis hin zu der islamistischen Bewegung oder anderen fundamentalistischen und autoritären Strömungen weltweit. Die entsprechende Organisationsform ist nicht selten die Bande oder der Racket, die versuchen, ins Vakuum der Transformationen vorzustoßen.“ (Seite 18ff.)

Quelle:

„Verbrechen lohnt sich – Rackets & Bandenherrschaft“, iz3W, Ausgabe 389, März/April 2022
https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/389_rackets

 

 

 

 

Schatzkammer von Kriminellen in der Schweiz offenbart

Nach Mitteilung der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) wurden ihr vor etwa einem Jahr von einem anonymen Informanten geheime Unterlagen zu etwa 18.000 Konten der zweitgrößten Schweizer Bank „Credit Suisse“ (CS) mit einem Umfang von etwa 100 Milliarden Dollar zugespielt. Wie die Autoren der SZ nach erfolgter Sichtung schreiben, „konnte die Öffentlichkeit (noch nie) einen so tiefen Einblick in das Innerste der Schweizer Finanzwelt nehmen“. Die Auswertung des Datenleaks habe ergeben, dass sich unter den insgesamt 30.000 Konteninhabern kriminelle Personen befänden.

In der den Daten beigefügten und von der SZ nur auszugsweise dokumentierten Erklärung des oder der anonymen Lieferant*innen heißt es: „Ich glaube, dass das Schweizer Bankgeheimnis unmoralisch ist. Der Vorwand, die finanzielle Privatsphäre zu schützen, ist lediglich ein Feigenblatt, um die schändliche Rolle der Schweizer Banken als Kollaborateure von Steuerhinterziehern zu verschleiern. (…) Ich bin sicher, dass einige der Konten (…) aus legitimen Gründen existieren oder den Steuerbehörden im Einklang mit der relevanten Gesetzgebung angezeigt wurden. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass eine signifikante Zahl dieser Konten mit der einzigen Absicht gegründet wurden, das Vermögen der Kontoinhaber vor Steuerbehörden zu verstecken und/oder Steuern auf Kapitalerträge zu vermeiden.“

Die SZ schreibt: „Zu den Kontoinhabern, die durch diese Recherche bestätigt werden konnten, zählen etliche ehemalige Staats- und Regierungschefs, zahlreiche Minister und andere hochrangige Politiker sowie deren nahe Verwandte, dazu Kardinäle, Menschenhändler, Oligarchen, wegen Korruption verurteilte Manager, prominente Superreiche, Sportstars und mehrere Monarchen. (…) Unter den Staats- und Regierungschefs, die in den Daten zu finden sind, sind der amtierende jordanische König Abdullah II., der 2021 gestorbene algerische Autokrat Abdelaziz Bouteflika sowie der armenische Ex-Präsident Armen Sarkissian. Eine von Abdullah II. beauftragte Anwaltskanzlei bestätigte die Existenz von Konten bei der Credit Suisse.“

In dem Artikel heißt es weiter: „Ein auf den Philippinen verurteilter Menschenhändler und ein ägyptischer Mörder finden sich ebenso in den Daten wie mutmaßlich in krumme Geschäfte verwickelte Kardinäle und der 2008 wegen Bestechung verurteilte frühere Siemens-Manager Eduard Seidel.“

Gemäß Mitteilung auf der Homepage www.finanzen.ch wies die CS in einer ersten Stellungnahme alle Vorwürfe über „angebliche Geschäftspraktiken der Bank entschieden zurück“. Die Sachverhalte würden auf veralteten, unvollständigen, selektiven und aus dem Zusammenhang gerissenen Informationen beruhen.

Die SZ hat nach eigenen Angaben die Credit-Suisse-Daten zusammen mit dem „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP) sowie 46 Medienpartnern aus aller Welt ausgewertet. In der Schweiz registrierte Medien hatten gemäß www.finanzen.ch auf eine Teilnahme verzichtet. Nach der aktuellen Schweizer Gesetzeslage droht Journalist*innen eine Haftstrafe, wenn sie über geleakte Bankdaten berichten.

Quellen:

Johannen Korsch, Vinzent-Vitus Leitgeb und Carolin Lenk: „Suissse Secrets“, Stand vom 20. Februar 2022, 18.00 Uhr
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/suisse-secrets-podcast-leak-credit-suisse-1.5532656 

„‘CS-Leaks‘ belastet CS-Aktie: Credit Suisse soll Kriminelle als Kunden akzeptiert haben – Bank im Visier der Finma“, Stand vom 21. Februar 2022, 12.58 Uhr
https://www.finanzen.ch/nachrichten/aktien/cs-leaks-belastet-cs-aktie-credit-suisse-soll-kriminelle-als-kunden-akzeptiert-haben-bank-im-visier-der-finma-1031210733 

Konzerne, Pandemie, Profite

Über die Entwicklung des Reichtums in Zeiten des grassierenden Coronavirus berichtete BIG zuletzt am 25. Januar 2022 („Goldrausch für Superreiche“). Am 12. Februar stellte die junge Welt fest, dass die Pandemie auch „das Gewinnstreben der größten französischen Unternehmen im vergangenen Jahr erfolgreich angeheizt zu haben“ scheint.

Die Profite der 40 wichtigsten an der Pariser Börse notierten französischen Aktiengesellschaften bewegten sich Ende des letzten Jahres mit 137 Milliarden Euro auf Rekordniveau. Rund die Hälfte des Profits, so die junge Welt mit Bezug auf eine Pariser Wirtschaftsagentur, fließt als Dividenden an die jeweiligen Großaktionäre. Die andere Hälfte wird vor allem in Aktienrückkäufe investiert. Ermöglicht wird diese Unternehmensstrategie offensichtlich durch die Covid-Politik der Regierung Macron. Rund 80 Milliarden Euro pumpte diese laut junge Welt zur Finanzierung pandemiebedingter Teilzeitarbeit und Kreditsicherung in die Wirtschaft des Landes.

Hauptprofiteur war der Erdölgigant Total Energies. Dieser konnte im Jahr 2021 den Gewinn des Vorjahres von 7,3 auf 15 Milliarden Euro mehr als verdoppeln. Das Handelsblatt bestätigt, dass mit Ausnahme von Exxon Mobil und BP „alle Supermajors“ ihre Dividende deutlich erhöhen konnten. Seit einem Jahr stiegen die Kurse der Ölkonzerne kräftig. Fast alle Unternehmen hätten den massiven Kursabsturz bei Ausbruch der Coronapandemie mittlerweile kompensieren können. Der Grund läge vor allem „an der neu entdeckten Ausgabendisziplin“:

„2020 verbrachten die Unternehmen mit aggressiven Kostensenkungen, kündigten Zehntausende Entlassungen an und kürzten in einigen Fällen ihre Dividenden. Damit waren sie gut für 2021 gerüstet, als sich der Einbruch in eine bemerkenswerte Rallye verwandelte.“ (Handelsblatt vom 11. Februar 2022)

Nach Einschätzung des Chefs von Total Energies würden die Ölpreise hoch bleiben, wie das Handelblatt berichtet. Die Situation in Frankreich sei so angespannt, dass der Ölkonzern am 10. Februar ankündigte, Kunden einen Gutschein über je 100 Dollar auszuzahlen, um bei der Bewältigung hoher Energierechnungen zu helfen. Ein Kostenfaktor in Höhe von 50 Millionen Euro, „also mickrige 0,4 Prozent des Nettogewinns“, wie die junge Welt kommentierte.

Ein Zitat aus der jungen Welt zur Gewinnverteilung (die eine Hälfte des Profits wird als Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet, die andere in den Aktienkauf investiert):

„Bereits 2009 hatte der damalige, rechtskonservative Präsident Nicolas Sarkozy – heute einer der Berater Macrons und von französischen Medien zur ‚grauen Eminenz‘ hinter dem aktuellen Staatschef erklärt – eine andere Verteilung der Gewinne angemahnt: Seiner Meinung nach sollten sie ‚gedrittelt‘ werden – ein Drittel für das Unternehmen, eines für die Beschäftigten, eines für die Aktionäre. Jean-Luc Mélenchon, Führer der parlamentarischen Linken und Präsidentschaftskandidat für die Wahl am 10. April, sieht das pragmatischer: Auf Wahlkampfreise im westfranzösischen Tours kündigte er in der vergangenen Woche drastische Maßnahmen für den Fall seines Einzugs in den Élysée-Palast an: ‚Total hat die größten jemals von einem französischen Unternehmen gemachten Gewinne kassiert – wir brauchen sie ihnen nur wegzunehmen.‘

Mélenchons Generalangriff auf die Steuerpolitik Macrons, der den großen Konzernen zu Beginn seiner Regierungszeit als Unternehmenssteuer eine ‚Flat-Tax‘ von lediglich 30 Prozent gönnte, unterstützt auch der kommunistische Kandidat Fabien Roussel in einer Mitteilung: ‚Die Unternehmer müssen gezwungen werden, mit dem Geld Ausbildung und Weiterentwicklung zu fördern und auf umweltfreundliche Produktion umzustellen.‘“

Auch die größten börsennotierten Konzerne Deutschlands wollen laut Handelsblatt für den Rückkauf eigener Aktien so viel Geld ausgeben wie nie zuvor. Darunter auch solche, die bis vor kurzem noch Coronahilfen kassierten (vgl. Handelsblatt vom 14. Januar 2022). Zur Erklärung: Der Rückkauf von Aktien verknappt das Angebot und pusht deshalb den Kurs. Selbst das wirtschaftsliberale Handelsblatt kommentierte kritisch:

„Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat seit Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 insgesamt 52 Milliarden Euro für zusätzliche Leistungen infolge der Coronakrise ausgegeben. Allein für Kurzarbeit stellte sie 42 Milliarden Euro bereit, wie eine Auswertung der BA zum Jahreswechsel zeigt. Hohe Dividenden von Unternehmen, die Coronahilfen in Anspruch genommen haben, stoßen vielfach auf Kritik – erst recht gilt das für Aktienrückkäufe. Sie zeigen schließlich, dass ein Unternehmen zu viel Geld hat und nicht zu wenig. Rechtlich ist Adidas Wechselstrategie – Aktienrückkäufe, dann Staatshilfen, dann wieder Rückkäufe – aber nicht zu beanstanden. Gelder für Kurzarbeit sind keine Steuermittel, sondern fließen aus den BA-Kassen, in die das Unternehmen und die Mitarbeiter jeden Monat einzahlen.“ (Handelsblatt vom 14. Januar 2022)

Quellen:

Hansgeorg Hermann: „Konzerne im Profitrausch“, junge Welt vom 12. Februar 2022

https://www.jungewelt.de/artikel/420525.krisengewinnler-konzerne-im-profitrausch.html

Ulf Sommer: „Neuer Rekord: Dax-Konzerne kaufen für fast 18 Milliarden Euro eigene Aktien zurück“, Handelsblatt vom 14. Januar 2022

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/adidas-sap-und-andere-neuer-rekord-dax-konzerne-kaufen-fuer-fast-18-milliarden-euro-eigene-aktien-zurueck/27968326.html

Kathrin Witsch: „Big Oil schreibt Milliardengewinne – eine schlechte Nachricht für Verbraucher“, Handelsblatt vom 11. Februar 2022

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/oel-und-gas-big-oil-schreibt-milliardengewinne-eine-schlechte-nachricht-fuer-verbraucher/28060918.html

 

Investigativ-Journalist Schröm zum Cum-Ex-Skandal

Seit 2013 klärt der Investigativ-Journalist Oliver Schröm die Öffentlichkeit über die kriminellen Cum-Ex-Geschäfte auf. Am 1. Februar 2022 sprach er im Rahmen eines Livestreams mit Daphne Weber von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über das Thema. Einige seiner Aussagen sind im Folgenden zusammengefasst.

Zur Frage, welche Banken in Cum-Ex-Geschäften involviert waren:

Eigentlich sei jede Bank involviert gewesen, selbst „irgendwelche Sparkassen im Hinterland“. „Natürlich auch die großen Banken, die großen Investmentbanken, die amerikanischen Banken. Aber zum Beispiel auch die Commerzbank.“ Und es sei ziemlich makaber, dass Letztere nach der Finanzkrise Milliardenzuschüsse vom Bund bekommen und gleichzeitig Cum-Ex-Geschäfte betrieben habe. Sie habe sich quasi vom Staat zwei Mal Milliardenbeträge auszahlen lassen. Es sei eigentlich unfassbar, dass eine Landesbank den Bund ausraube.

Zur Frage, ob es sich um einzelne oder viele Täter handelt:

Allein in Köln sei eine Staatsanwaltschaft dabei,  gegen mittlerweile über tausend Personen zu ermitteln. Weitere Beschuldigte gäbe es in Frankfurt und München. Es handele sich dabei um die „Spitze des Eisbergs“. „Bislang wird eigentlich nur gegen die Möglichmacher von Cum-Ex ermittelt. Also gegen Banker, gegen Anwälte, gegen Broker. Wer bisher strafrechtlich außen vor ist, das sind die Investoren, also die Privatinvestoren, also die Carsten Maschmeyers. Der Grund ist ganz einfach: Es ist eine Frage der Kapazitäten. Man kann nicht von Einzelnen sprechen, es waren sehr, sehr viele.“

 

Zum Hamburger Untersuchungsausschuss zur Rolle der Hamburger Privatbank Warburg:

 

Der Untersuchungsausschuss sei vor über einem Jahr eingesetzt worden, habe aber bisher einen „Dornröschenschlaf“ geführt. Auch medial hätte der Ausschuss bisher wenig Aufmerksamkeit erregt. „Ein Skandal im Skandal ist: Als die Entscheidung gefällt wurde, dass man die Gelder nicht zurückhaben will*, hat diese Bank insgesamt 45.500 Euro an die SPD gespendet – und zwar an den Wahlkreis von Johannes Kahrs. Als das publik wurde jetzt im Ausschuss, ist herausgekommen, dass in dem Gremium, das über die Annahme des Geldes entschieden hat, just der Ausschuss-Vorsitzende saß wie auch der Obmann der SPD im Untersuchungsausschuss. Also die haben damals zugestimmt, diese Gelder entgegenzunehmen, und zwar im Jahr 2017, da wurde schon seit anderthalb Jahren gegen die Bank ermittelt. Wie man quasi Gelder entgegennehmen kann, Spenden von einer Bank, die wegen schwerster Steuerhinterziehung im Fokus der Staatsanwaltschaft steht, ist mir ein Rätsel. Und noch seltsamer ist, dass genau zwei Personen, die in dieser Entscheidung eingebunden waren, jetzt im Ausschuss sitzen und (…) sich quasi selber aufklären sollen.“

Zur Frage, ob noch weitere Enthüllungen im Cum-Ex-Zusammenhang zu erwarten sind:

Die Aufarbeitung von Cum-Ex habe erst so richtig Fahrt aufgenommen. „Es gab jetzt zwei Urteile letztes Jahr, und es wird schon in zwei Wochen ein weiteres Urteil in Köln geben. Und dann wird es Anklagen hageln. (…) Die Strafermittlungsbehörden machen ihren Job – und das finde ich auch ziemlich beeindruckend. Weil, die haben teilweise über zehn Jahre an diesen Fällen gearbeitet und jetzt zur Anklage gebracht. (…) Da geht es jetzt Schlag auf Schlag.“ Es sei jetzt auch wirklich Eile geboten, weil teilweise Verjährung drohe.

Zum Auftreten von Olaf Scholz (SPD) vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss:

Der Auftritt von Scholz am 30. April 2021 sei peinlich gewesen. Schröm selbst habe eine Strichliste geführt. „Er hat über 40-mal geantwortet: ‚Ich kann mich nicht erinnern.‘ (…) Sein Auftritt war eine einzige Amnesie.“ Schröm bedauere es sehr, dass solche Anhörungen in Deutschland nicht wie in den USA live übertragen würden.

* Die Hamburger Finanzverwaltung verzichtete nach einem Gespräch zwischen dem damaligen Ersten Bürgermeister Scholz und dem Chef der Warburg-Bank auf eine Rückzahlung von Geldern, die die Bank sich zuvor durch illegale Cum-Ex-Geschäfte hatte erstatten lassen.

Quelle:

„Der Cum-Ex-Clan. Der Steuerraub der Reichen und die Politik“, Daphne Weber im Gespräch mit Oliver Schröm, Rosa-Luxemburg-Stiftung: Ausnahme&Zustand#39‚ 1. Februar 2022

Das Gespräch ist in der Mediathek der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu finden:

https://www.rosalux.de/ausnahmeundzustand