Im Herbst des vergangenen Jahres schlug Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor, Angehörige sogenannter Clanstrukturen künftig unabhängig von einer strafrechtlichen Verurteilung abschieben zu können. Der Vorstoß sorgte für Furore und kritische Stimmen wiesen darauf hin, dass völlig unschuldige Menschen ins Visier genommen würden, bloß weil sie mit mutmaßlich oder tatsächlich kriminell agierenden Personen in verwandtschaftlichen Beziehungen stünden. Das gesellschaftliche Umfeld für solche Forderungen ist derzeit jedoch günstig. Denn für die Mainstream-Medien und den Großteil der deutschen Kriminalistik scheint die Sache seit Jahren klar zu sein: „Clan“-Mitglieder schotten sich ab, leben demnach in sozialen Parallelstrukturen, verachten das staatliche Gewaltmonopol und erklären ganze Stadtteile zu No-Go-Areas. Kurz: „Islamisch-arabische Familienverbände“ bilden die Hauptgefahr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland und zersetzen den Rechtsstaat.

Einen völlig anderen Blick wirft ein im Oktober 2023 veröffentlichter Sammelband auf die Debatte – denn er präsentiert vor allem die Perspektive der Betroffenen. Die Prämisse des Buches ist, dass „Clankriminalität“ als Konzept zu begreifen ist, das von Politik, Justiz, Polizei und Medien konstruiert wurde, um die Betroffenen rassistisch kriminalisieren und stigmatisieren zu können. Werden ethnisch homogene und zugleich kriminell aktive „Clans“ herbeiphantasiert und Ängste geschürt, so ein Fazit des Buches, lassen sich staatliche Kontrolle, Überwachung und erweiterte Befugnisse für Polizei und Justiz leicht legitimieren. 

In 20 analytischen Beiträgen bietet der Band eine kritische Bestandsaufnahme der laufenden Diskussion und überprüft dabei die zentralen Annahmen, die dem Etikett „Clankriminalität“ zugrunde liegen. Daneben dokumentieren Erfahrungsberichte Betroffener die von ihnen erlebte Polizeipraxis (Großrazzien bei Gewerbetreibenden, Hausdurchsuchungen) oder diskriminierende Erfahrungen vor Gericht. 

Die Herausgeber:innen stellen einleitend fest, dass die Verknüpfung von Kriminalität mit ethnischen Zugehörigkeiten den titelgebenden „Generalverdacht“ gegen hunderttausende Menschen geschaffen habe, was empirisch falsch und zugleich „brandgefährlich“ sei. Denn auch die Anschläge der extremen Rechten (zum Beispiel in Hanau) folgen politisch-medialen Kampagnen, basieren auf völkischen Vorstellungen und haben „aus Menschen potenzielle Terrorist*innen, ‚Clanmitglieder‘, Islamist*innen und Staatsfeinde gemacht“. (Seite 137) 

Eines der fünf Kapitel des Sammelbandes beschreibt ausführlich die Geschichte der „Clan“-Kriminalisierung. Danach wurden vor allem Menschen, die dem Bürgerkrieg im Libanon entkamen, in den 1990er Jahren in Deutschland systematisch diskriminiert. Ein Mittel war die Praxis der Kettenduldungen, das heißt die wiederholte, befristete Aussetzung der Abschiebung. Den daraus folgenden engen Familienzusammenhalt erklärt der Mitherausgeber Mohammed Ali Chahrour so: „Wer ohne Schutz und Zugehörigkeit lebt, wem Identität und Daseinsberechtigung abgesprochen werden, dem bleibt nur die Familie. (…) Wenn Menschen keinen Schutz durch Institutionen erfahren, dann kann nur noch der engste Kreis der Nächsten jenes Gefüge von Verantwortung und Solidarität bieten, jene Umwelt, die es zum Überleben schlichtweg braucht.“ (Seite 43) 

Die These liegt nahe, dass „Clankriminalität“ vornehmlich als politischer Kampfbegriff zu werten ist – ein Aspekt, dem sich ein weiteres Kapitel widmet. Die Kriminologin und Juristin Laila Abdul-Rahman bestreitet dabei aus wissenschaftlicher Sicht die behauptete besondere Gefährlichkeit des Phänomens. Die amtlich registrierten Straftaten und Tatverdächtigen unterschieden sich kaum von der Allgemein- und insbesondere der Jugendkriminalität. Nur sieben Prozent der Verfahren wegen Organisierter Kriminalität richteten sich bundesweit gegen „Clan-Gruppierungen“. (Seite 117) Familien selbst würden zum Problem gemacht, die es zu bekämpfen gelte: „Somit kommt es am Ende kaum noch darauf an, wer tatsächlich Straftaten begeht, sondern eher darauf, ob man herkunftsbedingt einer Familie angehört, die dem Konstrukt der ‚Clankriminalität‘ zugeordnet wird.“ (Seite 118) Auch andere Beiträge des Bandes stellen sich der emotional aufgeladenen Debatte und dem Aufbau des Feindbildes „arabische Clans“ mit weiteren empirischen Daten entgegen. So kontrastiere der hohe Verfolgungsdruck mit den maximal 0,6 Prozent, die die „Clankriminalität“ an allen Straftatermittlungen ausmache. (Seite 14) 

Die Juristin Mitali Nagrecha zieht gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Anthony Obst die Verbindung zum sogenannten Sozialbetrug, das heißt dem gesetzeswidrigen Bezug von Sozialleistungen. Detailliert weisen die Autor:innen in ihrem Artikel die verbreitete Darstellung zurück, nicht-deutsche und nicht-weiße Täter würden mittels großflächiger Betrugsnetzwerke zu Reichtum gelangen, indem sie das Sozialleistungssystem missbrauchten. (Seite 231) Es handele sich dabei um ein Mediennarrativ, das nicht ohne politische Wirkung sei und nicht nur von der AfD für ihr rassistisches Programm ausgeschlachtet würde. Einmal mehr wird auch in diesem Beitrag deutlich, wie konstruierte Delikte empirisch nicht zu belegen sind. Denn der häufig skandalisierte „Sozialbetrug mit Clan-Bezug“ lässt sich anhand offizieller polizeilicher Statistiken schlicht nicht begründen. Das heißt: er kommt eher selten vor. (Seite 240) 

Das umfangreiche Buch setzt einen dringend notwendigen Kontrapunkt zum herrschenden – weitgehend rassistisch geprägten  – Diskurs über „Clankriminalität“ und versorgt die interessierte Leserschaft mit breit gefächertem und wissenschaftlich fundiertem Wissen, um sich dadurch gut gewappnet in die Auseinandersetzungen um die „Innere Sicherheit“ und die aktuelle deutsche Migrationspolitik einzumischen.

 

Mohammed Ali Chahrour/Levi Sauer/Lina Schmid/Jorinde Schulz/Michèle Winkler (Hrsg.):

Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird.
Hamburg, Nautilus Flugschrift, 320 Seiten, 2023, 22 Euro