Bereits im Jahr 2015 erschien in BIG Business Crime ein Artikel, der sich mit damals aktuellen Utopien libertärer Vordenker auseinandersetzte (BIG Nr. 2/2015). Im März 2021 berichtete BIG dann über Pläne des US-Bundesstaats Nevada, auf seinem Territorium sogenannte Innovationszonen einzurichten, in denen ohne demokratische Legitimation ganze Städte neu aufgebaut und investierenden Unternehmen die staatlichen Hoheitsrechte übertragen werden sollen (Justiz, Polizei, Schulen). Schon in den 2000er Jahren kursierte die Idee, in „Entwicklungsländern“ staatenlose Enklaven zu bilden, für deren Rechtssicherheit und Verwaltung westliche Partnerländer zu sorgen hätten („Charter Cities“). Solche von vollständiger unternehmerischer Freiheit geprägte Modellstädte gelten als Weiterentwicklung der seit den 1990er Jahren weltweit bekannten Sonderwirtschaftszonen.

In seinem neuen Buch „Privatstädte“ beschreibt der Soziologe und Publizist Andreas Kemper detailliert, wie sogenannte Libertarians oder Anarchokapitalisten nun den nächsten Schritt gehen und die ideologische Begründung für „freie Privatstädte“ und deren praktische Errichtung vorantreiben. Deren Vorhaben, so der Autor, werde mit dem Argument legitimiert, dass die Beschneidung des Eigentums an Produktionsmitteln durch Demokratie und Gerechtigkeitspostulate die gesellschaftliche Stabilität gefährden würde.

Da es aber letztlich auch hier darum gehe, in abgegrenzten räumlichen Gebieten, die nur der Marktlogik unterworfen sind, dem Schutz von Investoren bzw. Kapitaleignern höchste Priorität einzuräumen und zugleich jegliche sozialstaatlichen Leistungen abzuschaffen, spricht Kemper in Anlehnung an den französischen Ökonomen Thomas Piketty von einem „Enklaven-Proprietarismus“. Gemeint ist eine Ideologie, „die das Recht von Eigentümer*innen, ihre Produktionsmittel zu besitzen und möglichst uneingeschränkt zu nutzen, als wichtiger erachtet als alle anderen Rechte“ (Seite 141f.). Die Strategie, Privatstädte zu errichten, bezeichnet der Autor als „Privarismus“ (von lat. privare: rauben) (Seite 8). Denn das Ziel sei es, den Bewohner dieser Städte ihre Rechte wegzunehmen und so einen von demokratischen Verfahren losgelösten Kapitalismus durchzusetzen (ohne Gewerkschaften, allgemeine Wahlen usw.).

Der Autor gliedert seine Darstellung in zwei Teile: Im ersten erläutert er die Ideologie und die Netzwerke der Privatstadt-Bewegung, im zweiten geht er auf die Entwicklung einzelner konkreter Projekte ein. Dabei liegt der Fokus auf Honduras, einem der ärmsten Länder Lateinamerikas. Nach einem rechten Putsch im Jahr 2009 öffnete sich der Staat für die Einrichtung einer von seinem Rechtssystem abgekoppelten Charter City unter der Schirmherrschaft eines reichen westlichen Landes. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland vom 10. Mai 2022 erläuterte Kemper, die Vorstellung sei gewesen, dass die neue Stadt als eine Art Leuchtturm auf den Rest des Landes abstrahlen sollte. Unter dem Einfluss der globalen proprietaristischen Netzwerke hätte sich das Projekt jedoch radikalisiert, so dass bald die Gründung einer Stadt ohne jegliche staatliche Beteiligung und unter rein privatwirtschaftlicher Verwaltung ins Auge gefasst worden sei.

Diese erste Phase endete jedoch 2012, als der dortige Oberste Gerichtshof das Vorhaben als verfassungswidrig einstufte. Diese Niederlage, so Kemper, leitete jedoch eine erfolgreiche zweite Phase der Entwicklung von Privatstädten ein, die bis heute andauere. Im Jahr 2013 wurde die gesetzliche Grundlage für „Sonderzonen für Beschäftigung und Entwicklung“ (Zona de empleo y desarrollo económico – ZEDE) geschaffen, um die Modellstädte zu ermöglichen. Die honduranische Regierung ernannte im Jahr darauf einen international besetzten Aufsichtsrat für die ZEDEs, der klar von Mitgliedern proprietaristischer Netzwerke dominiert wurde. Im Jahr 2020 erfolgte der Startschuss für die Sonderzone Próspera auf der honduranischen Insel Roatán.

Kemper illustriert an diesem Beispiel die Demokratiefeindlichkeit der Privatstadt-Pläne. So sei in Próspera „eine Form von Ständedemokratie“ vorgesehen (Seite 100). Nur drei von neun Mitgliedern des für die Verwaltung zuständigen Gremiums sollen von den Bewohnern gewählt werden, die Mehrzahl der Stimmen soll den Land- und Grundbesitzern vorbehalten bleiben. In anderen ZEDEs scheint gar kein Wahlrecht geplant zu sein.*

Kemper geht auch auf die Verbindungen des Proprietarismus mit deutschen Akteuren und Institutionen ein. So trat der deutsche Unternehmer Titus Gebel, einer der Vordenker der Bewegung, im April 2019 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des Landes Hessen und des Verlags DIE ZEIT auf. Bei der „5. Jahrestagung Öffentliches Bauen“ durfte er den Eröffnungsvortrag halten und über seine Vorstellung von „Freien Privatstädten“ sprechen. Auch wird er mit den Worten zitiert: „Wenn Sie einen Sicherheitsdienstleister haben und sich sonst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern können – wozu brauchen Sie dann noch Demokratie?“ (Seite 86) Verschiedene Universitäten trugen ebenfalls zur Propagierung des Privatstädte-Konzepts bei. Die TUM international GmbH, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Technischen Universität München, organisierte zum Beispiel im Jahr 2019 eine Investorenkonferenz zur Finanzierung des demokratiefreien Privatstadtprojekts auf der Insel Roatán.

Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass das international renommierte britische Architekturbüro Zaha Hadid Architects für das Próspera-Projekt Wohngebäude entwarf. Nicht ganz zufällig, denn der deutsche Architekt und Hochschullehrer Patrik Schumacher, Teilhaber des Büros in London, setzt sich konsequent für eine Radikalisierung des Neoliberalismus ein und hält Sozialwohnungen und Maßnahmen für billiges Wohnen „für schädliches Teufelszeug“, wie es in einem von Kemper wiedergegebenen Zitat heißt (Seite 95). Selbstredend hält er Datenschutz für völlig übertrieben, spricht sich gegen Arbeitsrechte aus und bezeichnet sich selbst als Sympathisant des Anarcho-Kapitalismus. Da aus dessen Sicht der Ausgleich von sozialen Unterschieden einen unzulässigen Eingriff ins Marktgeschehen darstellt, benötigt der Proprietarismus die Rassen- und Klassenbiologie zu seiner eigenen Rechtfertigung, wie Kemper schon zu Beginn seines Buches auf mehreren Seiten ausführt. Ein wichtiger Hinweis, weil der Autor damit auch die in Deutschland fortwirkende Relevanz der sogenannten Sarrazin-Debatte von vor über zehn Jahren unterstreicht.

Die von den Privatstädte-Propagandisten vorgetragene radikal individualistische Konzeption von Freiheit versteht der Autor letztlich als Ausdruck der Verachtung der Superreichen gegenüber den Armen der Welt. Sie wendet sich gegen jede Idee von Gemeinwohl und sozialen Grundrechten, setzt dagegen auf die langfristige Abschaffung aller bekannten demokratischen Standards. Bislang beziehen sich die Ideen für Privatstädte zwar auf Länder des globalen Südens, die Investitionen mit weitreichenden Konzessionen anlocken wollen. Aber aus diesen Enklaven könnte perspektivisch ein weltweites Netz aus Privatstädten entstehen. „Im Kleinen“ wird quasi unter Laborbedingungen erprobt, was zukünftig auch in Europa Raum greifen soll.

Andreas Kemper hat mit seinen akribisch zusammengetragenen Informationen ein deutliches Signal gesetzt, das eindrücklich vor dem bislang noch zu wenig beachteten „a-sozialen“ Treiben der selbsternannten Anarchokapitalisten warnt.

* Im April 2022 hat das Parlament von Honduras die Gesetze zur Schaffung von Investorenstädten jedoch rückgängig gemacht. Damit können nun keine neuen ZEDEs mehr errichtet werden. Allerdings scheinen die an den bereits existierenden Projekten beteiligten Investoren ihre Rechte umfassend durch Abkommen mit der honduranischen Regierung abgesichert zu haben. Bereits getätigte Investitionen im Próspera-Projekt beispielsweise sollen von der Entscheidung des Nationalkongresses über die Abschaffung der ZEDEs unberührt bleiben (vgl. Armin Rothemann: „Gegen rechtsfreie Ministaaten“, taz am 22. April 2022).

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus, Unrast-Verlag, Münster 2022, ISBN 978-3-897771-175-4, 184 Seiten, 14 Euro