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Verfahren gegen Cum-Ex-AufklÀrer in der Schweiz eingestellt

Das Schweizer Obergericht hat den Prozess gegen den Stuttgarter Anwalt und Cum-Ex-Whistleblower Eckart Seith ĂŒberraschend eingestellt. Schon zu Beginn der Cum-Ex-Ermittlungen hatte Seith wesentlich zur Aufdeckung  des Steuerraubs beigetragen, nachdem er interne Dokumente der Schweizer Bank J. Safra Sarasin an die deutsche Justiz weitergeleitet hatte. WĂ€hrend die deutschen Behörden seinen VorwĂŒrfen nachgingen, verfolgten die Ermittler in der Schweiz dagegen Seith, den Hinweisgeber. „Die Schweizer Behörden warfen ihm vor, durch die Übermittlung der Schweizer Dokumente an deutsche Gerichte wirtschaftlichen Nachrichtendienst betrieben zu haben und andere zur Verletzung des Bankgeheimnisses angestiftet zu haben.“ (Manager Magazin) Er wurde wegen Wirtschaftsspionage und VerstĂ¶ĂŸen gegen das Bankengesetz angeklagt, 2019 verurteile ihn deshalb das Bezirksgericht ZĂŒrich. Das Urteil wurde 2022 vom ZĂŒrcher Obergericht wieder einkassiert, die dortige Oberstaatsanwaltschaft ging jedoch dagegen vor und forderte erneut eine mehrjĂ€hrige Haftstrafe fĂŒr Seith. 

Im Dezember 2024 folgte dann die Kehrtwende. BegrĂŒndung der ZĂŒricher Richter: Das Verfahren wurde eingestellt, denn der zuerst ermittelnde Staatsanwalt sei voreingenommen gewesen.

Die BĂŒrgerbewegung Finanzwende schreibt zu den HintergrĂŒnden:

„Eckart Seith war bereits ein erfolgreicher Wirtschaftsanwalt, als 2013 der Drogerieunternehmer Erwin MĂŒller auf ihn zukam. MĂŒller hatte ohne Kenntnisse der genauen HintergrĂŒnde in einen Fonds der Bank Sarasin investiert, von wo aus dieses Geld fĂŒr illegale CumEx-GeschĂ€fte eingesetzt wurde. Als diese GeschĂ€fte ans Licht der Öffentlichkeit kamen, verlor MĂŒller viele Millionen.

Seith sollte bei der Bank Sarasin erfragen, wo das Geld geblieben war und ihm die verlorenen Millionen zurĂŒckholen. Dies gelang dem Anwalt: Seith wies offensichtliche Fehler in der Beratung der Bank Sarasin nach. Doch nebenbei – und das ist wesentlicher – hat Seith zur AufklĂ€rung dieses unglaublichen Raubs beigetragen.

(…)

Doch von vorne: Seith arbeitete sich, nachdem ihn MĂŒller engagiert hatte, tief in die Materie der hemmungslosen Bereicherung rund um CumEx ein. Der Anwalt kam dank Hinweisgebende an interne Dokumente der CumEx-Bank Sarasin. Diese gewĂ€hrten ihm noch detailliertere Einblicke. Er erkannte immer deutlicher, wie eine Finanzelite enorme Gewinne auf Kosten der Steuerzahlenden erzielen konnte. Die Gewinne wurden allein aus unberechtigten SteuerrĂŒckerstattungen erzielt, obwohl zuvor nie Steuern abgefĂŒhrt worden waren. Der Staat wurde durch CumEx systematisch ausgeraubt.

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)

Seine umfangreichen Informationen bildeten eine wesentliche Grundlage dafĂŒr, dass heute die GeschĂ€fte um CumEx und Co. besser verstanden werden und die Ermittlungen gegen zahlreiche an dem Steuerraub Beteiligte eingeleitet werden konnten.

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Erschreckend ist, dass am Raub Beteiligte durch das fragwĂŒrdige Agieren der Staatsanwaltschaft ZĂŒrich seit Jahren in gewisser Weise UnterstĂŒtzung erfahren haben. Auf der einen Seite unternahm die Staatsanwaltschaft ZĂŒrich nichts, als Seith in ZĂŒrich die Verfehlungen der CumEx-Bank Sarasin offenlegte. Im Gegenteil, seine Anzeige wurde vom zustĂ€ndigen Staatsanwalt unberechtigterweise an die Bank weitergeleitet, sodass diese zum Gegenschlag ausholen konnte. Dazu sagte Seith spĂ€ter:

Das war, als gebe man einem TĂ€ter die Tatwaffe zurĂŒck, die er am Tatort liegen gelassen hat.“

Die SĂŒddeutsche Zeitung kritisierte – noch vor VerkĂŒndung der Verfahrenseinstellung –, dass der Schutz des Finanzstandortes fĂŒr die Schweiz nach wie vor oberste PrioritĂ€t hat, nicht dagegen die Verfolgung von WirtschaftskriminalitĂ€t:

„Bei dem Prozess geht es jetzt auch um die Frage, wie weit die LoyalitĂ€t der Schweiz zu ihren Banken reicht. Auch wenn das strenge Schweizer Bankgeheimnis 2009 angeblich weitgehend abgeschafft und ein automatischer Informationsaustausch zu Steuerdaten mit dem Ausland eingefĂŒhrt wurde, in der Praxis ist das Bankgeheimnis mehrmals verschĂ€rft worden: Wer heute Kundendaten stiehlt oder zugespielt bekommt und veröffentlicht, muss mit bis zu fĂŒnf Jahren GefĂ€ngnis rechnen, das gilt auch fĂŒr Journalisten. Banken, so wirkt es heute noch, stehen fĂŒr die Eidgenossenschaft weiterhin unter Artenschutz. Wer sie angreift, der bekommt die Rache der offiziellen Schweiz zu spĂŒren.“ 

Quellen:

„Prozess gegen Cum-ex-AufklĂ€rer in ZĂŒrich eingestellt“: Manager Magazin (Online) vom 12. Dezember 2024

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/cum-ex-skandal-prozess-gegen-anwalt-in-zuerich-eingestellt-a-90cd7f2f-c980-4074-9375-5ca879db994c

„Der Fall Eckart Seith“: Finanzwende e.V. vom 12. Dezember 2024

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/der-fall-eckart-seith

Meike Schreiber: „Cum-Ex-AufklĂ€rer vor Gericht“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 10. Dezember 2024

MÀchtiger Mann der Wirtschaft: Kanzlerkandidat Merz als Lobbyist 

„Bereits im September wurde CDU-Chef Friedrich Merz als Kanzlerkandidat seiner Partei nominiert. Doch wer ist der Mann, der aktuell die grĂ¶ĂŸten Chancen hat, nĂ€chster deutscher Bundeskanzler zu werden?“ Diese Frage stellt der 2005 gegrĂŒndete Verein LobbyControl in einem Newsletter vom 22. November 2024.

Lobbycontrol setzt sich nach eigener Darstellung „fĂŒr Transparenz, demokratische Beteiligung und klare Schranken bei der Einflussnahme auf Politik und Öffentlichkeit“ ein. Dass sich der Verein mit Friedrich Merz beschĂ€ftigt, ist darum folgerichtig, denn dessen Biografie weist ihn deutlich als Vertreter wirtschaftlicher Interessen aus.

Wir zitieren aus dem Newsletter:

„WĂ€hrend seiner ersten Jahre als Bundestagsabgeordneter verdiente er nebenher krĂ€ftig in der Wirtschaft hinzu. (
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Im Jahr 2009 wechselte Merz vollstĂ€ndig die Seiten und nutzte seine politischen Kontakte fĂŒr zahlreiche Anschlussjobs in Unternehmen und als Wirtschaftsanwalt. Seine ÄmterhĂ€ufung von Aufsichtsrats- und Beiratsposten machte ihn zum MillionĂ€r. Bei der Kanzlei Mayer Brown war Merz von 2005 bis 2021 als Anwalt tĂ€tig – und nahm dort auch Mandate an, bei denen ihm seine politischen Kontakte zugute kamen.

So trat er 2006 als Anwalt auf einer Sitzung der CDU-Landesgruppe NRW im Bundestag auf, um das Kohleunternehmen RAG bei dem anstehenden Börsengang zu vertreten. Doch er war zu der Zeit selbst noch Mitglied eben dieser Landesgruppe. Das ist ein klarer Interessenkonflikt, den unter anderem der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim scharf kritisierte. (
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In der Kritik stand Merz auch wegen seines Aufsichtsratsmandats bei der Bank HSBC Trinkaus und Burkhardt von 2010-2019 – und zwar gleich doppelt: Zum einen beriet er gleichzeitig den Bankenrettungsfonds Soffin, was zur Frage nach einem weiteren Interessenkonflikt fĂŒhrte. Außerdem war HSBC in die Cum-Ex-GeschĂ€fte verwickelt, durch die dem Staat Milliardeneinnahmen durch Steuertricks verloren gingen. Merz wird vorgeworfen, er mĂŒsse als Aufsichtsrat von den GeschĂ€ften gewusst haben, ohne sie zu verhindern – er selbst streitet dies ab.

Merz war in gleich mehreren Lobbynetzwerken aktiv: Er war 2005 GrĂŒndungsmitglied des Fördervereins der arbeitgeberfinanzierten PR- und Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die INSM fĂ€llt immer wieder durch fragwĂŒrdige Kampagnen auf. Außerdem war er von 2009 bis 2019 Vorsitzender der Atlantik-BrĂŒcke, einem exklusiven transatlantischen Lobbynetzwerk, in dem vor allem Konzernchefs, aber auch Spitzenpolitiker:innen und Journalist:innen Mitglied sind. (
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FĂŒr einiges Aufsehen und Kritik sorgte Merz’ LobbytĂ€tigkeit fĂŒr den Finanzkonzern Blackrock, die er 2016 annahm. Zu seinen Aufgaben zĂ€hlte laut dem Unternehmen auch, Kontakte zu Behörden und Regierungen zu pflegen. Diesen Lobbyjob gab er Anfang 2020 auf – er endete also kurz nachdem sich Merz das zweite Mal fĂŒr den Parteivorstand beworben hatte.

Merz hatte zudem jahrelang Spitzenpositionen im ‚Wirtschaftsrat der CDU‘. Der Wirtschaftsrat ist aber kein Parteigremium, sondern ein mĂ€chtiger Lobbyverband, der Konzernen privilegierte ZugĂ€nge in die CDU ermöglicht. (
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Weil der Lobbyverband Wirtschaftsrat dauerhaft im Parteivorstand sitzt, steht die CDU nun vor Gericht. Pikant dabei: Merz hatte selbst jahrelang Spitzenfunktionen im Wirtschaftsrat inne – und muss nun als Parteichef dessen Sonderrolle im Parteivorstand rechtfertigen.
Der Wirtschaftsrat hat einen Dauergaststatus im Parteivorstand – mit Rederecht. Solche Privilegien fĂŒr die Wirtschaftslobby sind undemokratisch, weil andere gesellschaftliche Gruppen nicht die gleichen ZugĂ€nge haben. Und es ist auch noch rechtswidrig. (
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Ähnlich wie der Wirtschaftsrat wettert Merz u.a. gegen verstĂ€rkten Klimaschutz: Höhere Klimaziele wĂŒrden zu einer Zerstörung der ‚freiheitlichen Lebensweise‘ und der ‚marktwirtschaftlichen Ordnung‘ fĂŒhren. Teile des Wirtschaftsrats fungieren dabei als TĂŒröffner fĂŒr Kreise, die die Rolle der fossilen Industrie an der Klimakrise herunterspielen oder sogar ganz infrage stellen. (
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Merz streitet regelmĂ€ĂŸig ab, dass er Lobbyist gewesen sei. GegenĂŒber der Zeit behauptete er, als er auf seine TĂ€tigkeit fĂŒr Blackrock angesprochen wurde: ‚Ich habe nie ein Lobbymandat angenommen.‘ Diese Argumentation wiederholte er auch im Podcast Hotel Matze. Er sei nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag lediglich in seinen Beruf als Anwalt zurĂŒckgekehrt. Dabei ließ er aus, dass er nebenbei noch zahlreiche weitere Aufsichts- und Beiratsfunktionen bei Konzernen und gleich mehrere Funktionen in Lobbynetzwerken hatte. FĂŒr Blackrock habe er keine Kontakt in die Politik gepflegt. Diese Aussage irritiert angesichts seiner Aufgabenbeschreibung, die genau solche Kontakte vorsah. (
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Merz als ‚Mann der Wirtschaft‘ wurde durch zahlreiche Aufsichtsratsposten zum MillionĂ€r – und war zugleich jahrelang als Lobbyist in verschiedenen Funktionen tĂ€tig. Das gefĂ€hrdet seine UnabhĂ€ngigkeit, wenn es um die AbwĂ€gung verschiedener gesellschaftlicher Interessen geht.“

Quelle:

Christina Deckwirth: „Friedrich Merz: Kanzlerkandidat mit Lobbykontakten“, Newsletter von LobbyControl vom 22. November 2024

https://www.lobbycontrol.de/aus-der-lobbywelt/friedrich-merz-kanzlerkandidat-mit-lobbykontakten-118722/?mtm_campaign=2024-11-27&mtm_kwd=merz-2

Weitere Informationen zu Friedrich Merz unter:

https://lobbypedia.de/wiki/Friedrich_Merz

Vgl. auch die BIG-Nachricht vom 22. Dezember 2020: „Wer ist Friedrich Merz?“

https://big.businesscrime.de/nachrichten/wer-ist-friedrich-merz/

 

 

Shell gewinnt vor Gericht gegen UmweltschĂŒtzer

Am 12. November 2024 hat ein Berufungsgericht in Den Haag eine Klage der Umweltschutzorganisation „Milieudefensie“ (Umweltverteidigung) gegen den Ölkonzern Shell zurĂŒckgewiesen. Damit wurde ein Urteil von 2021 gekippt, nach dem der Konzern seine Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um mindestens 45 Prozent im Vergleich zu 2019 reduzieren mĂŒsse. Darunter fallen auch die Emissionen der Zulieferer und Kunden. Shell wurde also auch fĂŒr deren KlimaschĂ€den verantwortlich gemacht. „Die Aktivistinnen und Aktivisten stĂŒtzen sich bei dem Prozentsatz auf wissenschaftliche Studien, die genau voraussagen, um wieviel Prozent die Emissionen sinken mĂŒssen, damit die globale ErwĂ€rmung nicht ĂŒber 1,5 Grad Celsius steigt.“ (junge Welt)

2021 hatte ein Richter in der ersten Instanz geurteilt, dass die KlimaverĂ€nderung Menschenrechte, wie das Recht auf Leben, in Gefahr bringe. Deshalb könnten einzelne Konzerne auch privatrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden ‒ ein Urteil, das international fĂŒr Aufsehen gesorgt hatte (vgl. junge Welt).

Die Umweltorganisation „Milieudefensie“ kann als KlĂ€gerin noch vor dem Obersten Gerichtshof der Niederlande Revision einlegen.

Es folgen AuszĂŒge aus Medienberichten ĂŒber den juristischen Sieg von Shell (und damit der gesamten Öl- und Gasindustrie):

SĂŒddeutsche Zeitung vom 13. November 2024:

„Das Urteil von Den Haag reiht sich ein in weitere gute Nachrichten fĂŒr die Öl- und Gasindustrie. Gewinne und Börsenkurse stiegen hoch wie nie. Donald Trumps Wahl dĂŒrfte das Umfeld von Big Oil in den USA weiter verbessern. Und auf der Weltklimakonferenz in Aserbaidschans Hauptstadt Baku nutzte PrĂ€sident Ilham Alijew  seine Willkommensrede am Dienstag zum Frontalangriff auf den Westen. Aserbaidschan ist quasi der Geburtsort des Öl- und GasgeschĂ€fts, schon vor Jahrhunderten wurde hier nach den fossilen Brennstoffen gegraben. (
) Alijew verbat sich am Rednerpult vor Vertretern von fast 200 Staaten jegliche Kritik. (
) Dabei sei es doch die EuropĂ€ische Union gewesen, die angesichts der Energiekrise vor zwei Jahren gebeten habe, die Erdgas-Lieferungen bis 2027 zu verdoppeln. (
) Damit stimmt Alijew ein in den Chor aus Staaten- und Konzernlenkern, die das Ende von Öl und Gas trotz der weltweiten ErderwĂ€rmung noch in weiter Ferne sehen. BestĂ€tigt wird das von Zahlen der Umweltorganisation Urgewald, die zusammen mit 34 Partnern GeschĂ€ftsberichte und Prognosen von fast 1800 Unternehmen weltweit analysiert und am Dienstag veröffentlicht hat. Darin kommen sie zu dem Ergebnis, dass noch nie soviel Öl und Gas produziert wurde wie 2023. Mit 55,5 Milliarden Barrel Öl-Äquivalenten – alle fossile Brennstoffe eingerechnet – seien auch die Höchstwerte von  vor der Corona-Pandemie ĂŒbertroffen worden. (
) 95 Prozent der  Öl- und Gasfirmen befĂ€nden sich weiter auf Expansionskurs, suchten neue Vorkommen oder erschließen sie bereits. Darunter Shell sowie andere europĂ€ische Konzerne wie Total Energies, BP, Eni, Equinor oder OMV. Viele Milliarden Euro wĂŒrden in die Ausweitung der GeschĂ€fte fließen, berichtet Urgewald. Die grĂ¶ĂŸten Förderer fossiler Brennstoffe sind demnach Staatsfirmen aus Saudi-Arabien, Iran, Russland, China, gefolgt von den US-Konzernen Exxon Mobil und Chevron. Shell ist Nummer zehn.“

Deutschlandfunk vom 12. November 2024:

„Es scheint gerade alles gegen den Klimaschutz zu laufen: Die mit ehrgeizigen Klimazielen gestartete Bundesregierung ist schachmatt. Der Klimaleugner Trump ĂŒbernimmt das Ruder in den USA. Klimaschutz ist fĂŒr viele zum Unwort geworden. Und jetzt gibt auch noch ein Gericht in Den Haag dem Ölmulti Shell recht. Die Ölkonzerne haben eine gewaltige wirtschaftliche Macht – Shell hat sich natĂŒrlich die besten AnwĂ€lte geholt. Bessere als vor drei Jahren, als der Konzern vor dem Bezirksgericht in Den Haag eine historische Niederlage kassierte. (
) Das hĂ€tte bedeutet, dass Shell seine Öl- und Gasproduktion mehr oder weniger hĂ€tte beenden mĂŒssen. Das Gegenteil ist bei Shell passiert – und nicht nur dort: alle Ölmultis weiten ihre Produktion aus. Denn mit Öl und Gas kann man gerade sehr viel Geld verdienen. So viel Geld, dass man die Rendite sogar ganz offen und kaltschnĂ€uzig ĂŒber den Klimaschutz stellt, wie es der BP-Chef getan hat.

Doch das neue Urteil, der vermeintliche Sieg von Shell, bedeutet nicht, dass hier ein Gericht eingeknickt ist. Es bedeutet vor allem, dass man sich die Rechtsgrundlage genauer anschauen muss. Wer entscheidet darĂŒber, was private Unternehmen tun oder lassen dĂŒrfen, auf welcher Grundlage – und vor allem mit welcher BegrĂŒndung? Die BegrĂŒndung fĂŒr den – je nach Sicht – drastischen oder historischen Schritt der ersten Instanz, einem einzelnen Unternehmen handfeste CO2-Vorschriften zu machen, hat die Vorsitzende Richterin im Berufungsprozess zurĂŒckgewiesen. Das konnte sie, weil der Staat beziehungweise staatliche Organisationen es versĂ€umt haben, den Ölmultis klare Grenzen zu setzen. An ihnen ist es aber, jetzt zu handeln.“

Junge Welt vom 13. November 2024:

„‚Gerade Produkte von Unternehmen wie Shell haben ein Klimaproblem hervorgebracht‘, begann das Berufungsgericht laut dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk NOS am Dienstag seine UrteilsbegrĂŒndung. Deshalb sei der Konzern verpflichtet, mehr zu tun als nur das, was gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Gerichtshof stellte jedoch in der Folge ĂŒberraschend fest, es sei aber nicht erwiesen, ob es einen positiven Effekt auf die Umwelt und den Klimawandel habe, wenn Shell das Erreichen konkreter Prozentzahlen auferlegt bekĂ€me. Die bauernschlaue BegrĂŒndung: Wenn Shell weniger Öl und Gas verkaufen dĂŒrfte, wĂŒrde eben die Konkurrenz freudig die LĂŒcke fĂŒllen. In Sachen Klimawandel Ă€ndert sich also ĂŒberhaupt nichts. Die Nachfrage nach Benzin und Diesel fĂŒr Kraftfahrzeuge oder nach Gas fĂŒr die Heizung könne nicht von einem Gericht gedrosselt werden, widersprach der Gerichtshof dem Urteil aus der ersten Instanz.“

Taz (Marie Gogoll) vom 12. November 2024:

„Shell ist nicht an das Pariser Klimaabkommen gebunden, urteilte ein Gericht – zu Recht. Denn fĂŒr die Einhaltung mĂŒssen die Regierungen sorgen. (
) Shell hat recht: WĂŒrde Shell weniger Öl liefern, wĂŒrden Wohnungen eben mit dem Öl von einem anderen Konzern geheizt. WĂŒrde Shell Tankstellen dichtmachen, fĂŒhren die Leute halt zu Aral. So argumentierte der Konzern schon vor dem Prozess. (
) UrsprĂŒnglich hatte die NGO die Klage damit untermauert, dass der Konzern sich an die Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommens halten mĂŒsse. Aber dieses Abkommen haben nun mal Regierungschef*innen unterschrieben, keine CEOs. Und das ist der entscheidende Punkt. (
)

Mit der BemĂŒhung, Unternehmen zu verklagen, versuchen NGOs wie Milieudefensie, eine LĂŒcke zu fĂŒllen, die die politischen EntscheidungstrĂ€ger*innen offen lassen. NĂ€mlich die, Klimaschutzverpflichtungen direkt fĂŒr Konzerne festzulegen und durchzusetzen. Und zwar nicht nur fĂŒr einen, sondern fĂŒr alle.

Zum Beispiel mithilfe einer Steuer auf die Förderung fossiler Brennstoffe. Regierungen mĂŒssten dafĂŒr sorgen, dass die nicht an Verbraucher*innen weitergegeben wird. Dann könnte eine solche Steuer den sozial gerechten Ausstieg aus fossiler Energie und den Umstieg auf erneuerbare beschleunigen. Und die Unternehmen ließen sich dann auch auf juristischem Wege dazu verpflichten.“

Taz (Tobias MĂŒller) vom 12. November 2024:

„Laut dem Gericht hat Shell, wie andere Unternehmen auch, durchaus eine Verpflichtung, die negativen Folgen des durch CO₂-Ausstoß entstandenen Klimawandels zu begrenzen. Das ‚Menschenrecht auf den Schutz vor gefĂ€hrlichem Klimawandel‘ gelte nicht nur fĂŒr BĂŒrger gegenĂŒber ihren Regierungen, sondern auch gegenĂŒber Unternehmen, zumal solchen, deren AktivitĂ€ten zu den Problemen beitragen. Auch durch EU-Gesetzgebung sei Shell gezwungen, ‚immer weniger Treibhausgase auszustoßen‘, so die vorsitzende Richterin de Carla Joustra. Daraus lasse sich allerdings keine Reduzierung um 45 Prozent oder einen anderen konkreten Anteil ableiten. (
)

Es gilt als sicher, dass HauptklĂ€ger Milieudefensie, der niederlĂ€ndische Zweig von Friends of the Earth, nun höchstinstanzlich in Revision geht. FĂŒr Milieudefensie ist Shell ‚einer der grĂ¶ĂŸten Klimaverschmutzer der Welt‘. Mit dem 2019 begonnenen Prozess legte man den Grundstein fĂŒr die Strategie, große Unternehmen mit besonders schlechter Emissionsbilanz persönlich fĂŒr ihren Beitrag zur ErderwĂ€rmung verantwortlich zu machen und gegebenenfalls eine Reduzierung gerichtlich einzufordern. Diese Strategie hat man inzwischen auf mehrere andere große Akteure angewendet. Im Januar kĂŒndigte man einen Prozess gegen die grĂ¶ĂŸte niederlĂ€ndische Bank ING an, der man vorwirft, ĂŒbermĂ€ĂŸig viel mit stark verschmutzenden Unternehmen zusammenzuarbeiten.“

Neues Deutschland vom 12. November 2024:

„Zu Beginn des neuen Prozesses hatte es so ausgesehen, als könnte das Urteil wieder zugunsten der KlĂ€gerin Milieudefensie ausfallen. Das Gericht bekrĂ€ftigte, dass der Schutz vor dem Klimawandel ein Menschenrecht sei. ‚Es sind gerade die Produkte von Unternehmen wie Shell, die ein Klimaproblem geschaffen haben‘, so das Gericht. Shell sei verpflichtet, mehr gegen den Klimawandel zu tun, als es das Gesetz vorschreibe.

Allerdings soll dies ohne konkrete gerichtliche Auflagen geschehen. Denn allein Shell zu verpflichten, den Verkauf von Öl und Gas zu stoppen, um Emissionen einzusparen, sei sinnlos. Diese LĂŒcke wĂŒrde von der Konkurrenz sofort wieder gefĂŒllt werden. ‚Es ist unwahrscheinlich, dass die fossilen Brennstoffe den Endverbraucher nicht trotzdem erreichen. Es ist möglich, dass das Öl und Gas ĂŒber andere ZwischenhĂ€ndler verkauft wird‘, so das Gericht.

Zudem Ă€ußerte die Vorsitzende Richterin Carla Joustra die Sorge des Gerichts, dass eine mögliche Reduzierung von Erdgas zu einem weltweiten Anstieg der Nutzung von Kohle fĂŒhren könnte. Das sei noch schlechter fĂŒr das Klima. Weiter tue Shell bereits, was Milieudefensie fordere, so die EinschĂ€tzung des Gerichts. (
) Nach Angaben von Juristinnen und Juristen ist dieser Fall weltweit einzigartig. Bereits im Jahr 2015 hatte eine andere niederlĂ€ndische Umweltorganisation vor Gericht gewonnen, mit einer Klage gegen den Staat und dessen Kohlendioxidausstoß. Dies hatte auch international Ă€hnliche FĂ€lle nach sich gezogen. Im Fall von Shell geht es nicht um einen Staat, sondern um einen Konzern – was noch mehr Möglichkeiten fĂŒr internationale Klagen biete.“

FAZ vom 12. November 2024:

„Das Haager Shell-Urteil ist nur ein Zwischenschritt. Noch ist auch in den Niederlanden das letzte Wort nicht gesprochen, zumal Ă€hnliche Umweltprozesse in vielen Staaten gefĂŒhrt werden. Es ist im Ergebnis richtig, einen Konzern nicht durch eine gerichtliche Entscheidung auf eine bestimmte Menge von schĂ€dlichen Emissionen zu verpflichten. (
) Das Ă€ndert aber nichts daran, dass die Unternehmen – und zwar alle – sich an die nationalen, europarechtlichen und völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der natĂŒrlichen Lebensgrundlagen halten mĂŒssen. Die mĂŒssen auch durchgesetzt werden, soweit sie verbindlich sind. Und natĂŒrlich kann dann wieder die Justiz ins Spiel kommen.

Der Schutz der Umwelt darf jedoch nur auf demokratischem und rechtsstaatlichem Wege erfolgen – drastische Maßnahmen nicht ausgeschlossen. Im Wege eines selbst erklĂ€rten Widerstandsrechts gegen demokratische Entscheidungen wird er nicht gelingen. Und auch nicht ĂŒber den Weg politisierter VerbĂ€nde, vor deren Karren sich Parlamente und Justiz nicht spannen lassen sollten. Lobbyarbeit fĂŒr natĂŒrliche Lebensgrundlagen ist Teil einer blĂŒhenden Zivilgesellschaft, aber auch fĂŒr Umweltschutzmaßnahmen muss man Mehrheiten haben und sich im Rahmen der Verfassung halten. Auch Urteile wie das neue aus Den Haag tragen dazu bei, das Thema hochzuhalten. Es ist wichtig, aber nicht das einzige.

Dabei wĂ€chst der juristische Druck auf die Konzerne. Mehr als 80 Klagen wurden bereits gegen die weltweit grĂ¶ĂŸten Öl-, Gas- und Kohleunternehmen eingereicht – darunter BP, Chevron, Eni, Exxon Mobil, Shell und Total Energies. Shell allein muss sich auf der ganzen Welt mehr als 40 Klimaklagen stellen.“

Handelsblatt vom 12. November 2024:

„Jetzt ist es offiziell: Die Zeiten der grĂŒnen Wende sind vorbei. Zumindest in der Ölindustrie. Was vor drei Jahren noch als großer Sieg der Klimaaktivisten gefeiert wurde, hat ein Zivilgericht im niederlĂ€ndischen Den Haag am Dienstag wieder aufgehoben. (
) Steigende Kosten, Stellenabbau und sinkende Wachstumsraten haben die öffentliche Debatte bestimmt, der Kampf gegen den Klimawandel gerĂ€t dabei immer mehr ins Hintertreffen. Sehr zur Freude von Big Oil. Die großen Öl- und Gaskonzerne dieser Welt verbuchen Milliardengewinne, wĂ€hrend Klimawissenschaftler das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung ausrufen.

Nach dem Ende der Coronapandemie sind die Ölpreise so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Shell, BP, Exxon Mobil und Co. nutzen die Gunst der Stunde und fördern so viel Erdöl wie möglich. Unter dem neuen US-PrĂ€sidenten Donald Trump dĂŒrfte sich die Freude der Förderer noch weiter steigern.“

Quellen:

Thomas Hummel: „Gute Zeiten fĂŒr Shell und Co.“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 13. November 2024

Dorothee Holz: „Das Gericht ist nicht eingeknickt“, Deutschlandfunk vom 12. November 2024

https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-urteil-shell-100.html

Gerrit Hoekman: „Shell siegt vor Gericht“, junge Welt (Online) vom 13. November 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/487764.kohlendioxidausstoß-shell-siegt-vor-gericht.html?

Marie Gogoll: „Shell hat recht“, taz (Online) vom 12. November 2024

https://taz.de/Oel-Konzern-muss-CO-Ausstoss-nicht-senken/!6045610&s/

Tobias MĂŒller: „Verantwortung fĂŒrs Klima: ja. Konkrete Auflagen: nein“, taz (Online) vom 12. November 2024

https://taz.de/Revisionsurteil-im-Shell-Prozess/!6045617&s/

Sarah Tekath: „Klimaschutz: Shell muss Schadstoffe doch nicht reduzieren“, Neues Deutschland (Online) vom 12. November 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186699.klimaschutzprozess-shell-klimaschutz-shell-muss-schadstoffe-doch-nicht-reduzieren.html?sstr=shell

Reinhard MĂŒller: „Haager Shell-Urteil: Guter Umweltschutz geht nur demokratisch“, FAZ (Online) vom 12. November 2024

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/shell-urteil-in-den-haag-guter-klimaschutz-110106791.html

Kathrin Witsch: „Das Motto lautet ab sofort wieder – ‚Drill, Baby, drill‘“, Handelsblatt (Online) vom 12. November 2024

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/shell-das-motto-lautet-ab-sofort-wieder-drill-baby-drill/100087840.html

 

 

Bayer AG und andere deutsche Firmen setzen auf Trump

Am 5. November 2024 wird in den USA ĂŒber die PrĂ€sidentschaft und die Zusammensetzung beider Kammern des Kongresses neu entschieden (alle 435 Sitze im ReprĂ€sentantenhaus, ein Drittel der Senatssitze). Ein auch fĂŒr deutsche Unternehmen wichtiger Tag, denn fĂŒr sie stellen die Vereinigten Staaten der wichtigste Exportmarkt dar:

„Fast 6.000 deutsche Unternehmen schaffen in den Staaten rund 900.000 ArbeitsplĂ€tze. Die USA liegen auf dem ersten Platz der deutschen Direktinvestitionen weltweit. Dabei schĂ€tzen Unternehmen insbesondere die GrĂ¶ĂŸe des US-Marktes und die stabilen wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen, so die Ergebnisse des AHK World Business Outlook FrĂŒhjahr 2024.“ (DIHK)

Nach Angaben der Wirtschaftswoche haben Ökonomen, unter anderem vom ifo-Institut, bereits vor Wochen davor gewarnt, „dass ein Wahlsieg Trumps erhebliche Folgen fĂŒr die ohnehin bedrĂ€ngte deutsche Industrie haben könnte. Sollte er nach einer RĂŒckkehr ins Weiße Haus sein Wahlversprechen höherer Einfuhrzölle umsetzen, könnten die deutschen Ausfuhren in die USA um knapp 15 Prozent sinken. Trump hat einen Zollsatz von 60 Prozent auf US-Importe aus China und von 20 Prozent auf Importe aus der restlichen Welt angekĂŒndigt. Das wĂŒrde deutsche Produkte in den USA viel teurer machen. Besonders getroffen wĂŒrden Auto- und Pharmaindustrie.“ (Wirtschaftswoche)

Es ĂŒberrascht aber nur auf den ersten Blick, dass deutsche Firmen im US-Wahlkampf mehrheitlich fĂŒr Donald Trump und fĂŒr Kandidaten der US-Republikaner spenden. Das gilt offenbar auch fĂŒr den Chemie- und Pharmariesen Bayer. Vor allem stoße sich der Konzern an der Gesundheitspolitik der Demokraten, deren Ziel unter anderem sei, die Lebenshaltungskosten der US-Amerikaner zu senken. In konservativen deutschen Medien werde dies als wirtschaftspolitischer Populismus kritisiert, der unter anderem auch Maßnahmen gegen die hohen Lebensmittelpreise vorsehe (vgl. German Foreign Policy).

Zitat German Foreign Policy:

„Bereits im Rahmen des Inflation Reduction Acts (IRA) hatte die Biden-Administration der staatlichen Gesundheitsagentur Medicare das Mandat erteilt, mit Pharmakonzernen Arzneimittelrabatte auszuhandeln. Mitte August gaben Joe Biden und Kamala Harris als Ergebnis der jĂŒngsten Verhandlungsrunde erhebliche Preissenkungen fĂŒr zehn gebrĂ€uchliche Medikamente bekannt. Bayer etwa musste einen Abschlag von 517 auf 197 Dollar fĂŒr eine Monatsration seines BlutverdĂŒnners Xarelto hinnehmen. ‚Wir haben Big Pharma besiegt‘, resĂŒmierte Biden bei einer Wahlveranstaltung in Maryland.“

Bayer setzt sich auch fĂŒr Trump ein, um besser vor Glyphosat-Klagen geschĂŒtzt zu sein und von der angekĂŒndigten Deregulierung im Umweltbereich zu profitieren. „2017 hatte Trump in einer seiner ersten Amtshandlungen die Chefin der US-amerikanischen Umweltbehörde EPA abgelöst. Nicht zuletzt setzt der Agrarriese – wie auch BASF, Fresenius und andere – in Sachen Unternehmenssteuer auf die Republikaner. Sie haben eine Senkung von 21 auf 15 Prozent angekĂŒndigt. Die Demokraten wollen den Satz hingegen auf 28 Prozent anheben.“ (German Foreign Policy)

Zitat German Foreign Policy:

„Deutsche Firmen spenden im US-Wahlkampf mehrheitlich fĂŒr Donald Trump und fĂŒr Kandidaten der US-Republikaner. Am deutlichsten bezogen die DAX-Konzerne Covestro und Heidelberg Materials Stellung; sie verteilten ĂŒber 80 Prozent ihres Wahlkampfbudgets auf republikanische Kandidaten. Nur die Allianz und SAP zogen die Demokraten den Republikanern vor. Am meisten Geld gab T-Mobile aus. Der Konzern betrieb bisher mit ĂŒber 800.000 US-Dollar politische Landschaftspflege. BASF investierte 328.000, Fresenius 204.000, Siemens 203.000, Bayer 195.000 US-Dollar. Auch die deutsche Politik umwirbt US-Republikaner – und zwar solche, die im Falle eines Sieges von Trump mĂ€ĂŸigend auf den angekĂŒndigten protektionistischen Kurs einwirken könnten. Das Wirtschaftsministerium ĂŒberprĂŒft prophylaktisch die amerikanisch-deutschen Lieferketten und sucht nach alternativen Bezugsquellen fĂŒr bestimmte Produkte, wĂ€hrend die Unternehmen sich darauf einstellen, eventuell mehr vor Ort in den USA produzieren zu mĂŒssen. Die EU trifft ebenfalls bereits Vorkehrungen fĂŒr einen Regierungswechsel. Sie stellt sich auf harte Verhandlungen ein und will auf Importzölle mit Gegenmaßnahmen reagieren.“

Quellen:

„Deutsche Firmen unterstĂŒtzen Trump“, German Foreign Policy, 22. Oktober 2024
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9729 

„Deutsche Wirtschaft wĂŒrde von Harris-Sieg mehr profitieren, sagen Experten“, Wirtschaftswoche (Online) vom 20. Oktober 2024
https://www.wiwo.de/politik/ausland/us-wahlen-deutsche-wirtschaft-wuerde-von-harris-sieg-mehr-profitieren-sagen-experten/30046782.html 

„Harris gegen Trump: Auswirkungen der US-Wahl auf die deutschen Unternehmen“, Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), 23. Oktober 2024
https://www.dihk.de/de/aktuelles-und-presse/tdw/harris-gegen-trump-auswirkungen-der-us-wahl-auf-die-deutschen-unternehmen-123202 

RĂŒstungsindustrie will Waffen als „nachhaltig“ einstufen lassen

„Stellen Sie sich vor, Sie wollen Geld anlegen und lassen sich dazu bei Ihrer Bank beraten. Sie entscheiden sich fĂŒr einen Fonds mit Nachhaltigkeitszertifikat. SpĂ€ter stellen Sie fest, dass dieser nachhaltige Fonds nicht nur Aktien von Gas- und Atom-Konzernen enthĂ€lt, sondern auch von Waffenherstellern. Und das ganz legal. Verkehrte Welt? Wenn es nach der Bundesregierung geht, könnte dies bald NormalitĂ€t sein.“

Das sagt Aysel Osmanoglu, Vorstandssprecherin der GLS-Bank, nach eigenen Angaben die erste sozial-ökologische Bank Deutschlands. Sie verweist damit auf eine massive Lobbykampagne der RĂŒstungsindustrie, ĂŒber die aktuell die tageszeitung (taz) und der Verein LobbyControl auf Basis einer gemeinsamen Recherche berichten: „Denn weil Europa mehr fĂŒr Sicherheit und AufrĂŒstung machen will, ist der RĂŒstungslobby ein Coup gelungen: Investitionen in RĂŒstung sollen als ‚nachhaltige‘ Geldanlagen anerkannt werden – wegen ihres angeblichen Beitrages zum Frieden.“ (Newsletter LobbyControl)

Die ZugĂ€nge zu „nachhaltigen“ Fonds an den privaten FinanzmĂ€rkten waren fĂŒr die RĂŒstungsindustrie bislang weitgehend verwehrt. In Zeiten der geforderten „KriegstĂŒchtigkeit“ jedoch sieht die RĂŒstungslobby ihre große Chance, neue KanĂ€le zu mehr Investitionen zu sichern. Sie argumentiert bereits seit Jahren damit, dass Krieg das Gegenteil von Umweltschutz sei und folglich RĂŒstung als Garant der Sicherheitspolitik einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leiste (vgl. Newsletter LobbyControl). Durchaus mit Erfolg, denn im European Defense Industrie Programme (EDIP), dem sogenannten Verteidigungsprogramm der EU vom MĂ€rz 2024, lĂ€sst sich nachlesen:

„Die Verteidigungsindustrie der Union trĂ€gt entscheidend zur Resilienz und Sicherheit der Union und damit zu Frieden und sozialer Nachhaltigkeit bei.“ (zit. n. Nachdenkseiten)

LobbyControl ergÀnzt:

„Eine Klassifizierung der RĂŒstungsindustrie als nachhaltig hĂ€tte weitreichende Folgen. Aktien der Hersteller von Panzern, Raketen oder gar Nuklearwaffen könnten sich in nachhaltigen Aktienpaketen und Fonds verstecken, ohne dass Anleger:innen sich dessen bewusst sind.

Christian Klein, Professor fĂŒr nachhaltige Finanzwirtschaft an der Uni Kassel, betont, dass dies nicht im Interesse von deutschen Anleger:innen ist: ‚Wir wissen aus unserer Forschung, dass zumindest deutsche Kleinanleger und Kleinanlegerinnen ,RĂŒstung’ als das Gegenteil von ,nachhaltig’ empfinden.

Es besteht also die Gefahr, dass durch die PlĂ€ne der Kommission, Menschen zu Investitionen in RĂŒstung gebracht werden, die das eigentlich explizit nicht möchten.‘“ (Aurel Eschmann)

Die taz blickt zurĂŒck:

„Die Umsetzung der Pariser Klimaziele von 2015 hat die EU-Politik in vielen Bereichen durchdrungen. 2018 hat die EU einen Aktionsplan fĂŒr ein nachhaltiges Finanzwesen ins Leben gerufen. Der mĂŒndete in einer Verordnung â€šĂŒber nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor‘. Diese Verordnung hat Transparenzpflichten und Kriterien fĂŒr Geldanlagen festgelegt, mit denen Greenwashing in der Finanzwelt verhindert werden soll. Die EU will damit sowohl die Verbraucher*innen als auch das Klima schĂŒtzen. Als die Kommission 2022 Erdgas und Atomstrom als nachhaltig einstufte, gab es unter UmweltverbĂ€nden einen Aufschrei. Auch aus der taz kam der ‚Greenwashing‘-Vorwurf.

Bei anderen Branchen ist die EU-Kommission da bislang deutlich hĂ€rter: Tabak, GlĂŒcksspiel und RĂŒstung gelten bis heute nicht als nachhaltig und sind fĂŒr ESG-Fonds eigentlich Tabu – bis jetzt.“

Die Einstufung der RĂŒstungsindustrie als „nachhaltige“ Branche ist zwar noch nicht beschlossen, ihre Aufnahme in die EU-Taxonomie (Verordnung zur Definition von Nachhaltigkeit) könnte aber in den kommenden Monaten erfolgen.

Quellen:

Anton Dieckhoff: „Wie RĂŒstung nachhaltig werden soll“, taz (Online) vom 8. Oktober 2014

https://taz.de/Waffenlobby-in-der-EU/!6041646/

Aurel Eschmann: „Einfluss der Waffenlobby: EU-Kommission will RĂŒstungsanlagen als nachhaltig erklĂ€ren“, LobbyControl e.V., 8. Oktober 2024

https://www.lobbycontrol.de/lobbyismus-in-der-eu/waffenlobby-ruestung-soll-als-nachhaltig-eingestuft-werden-117574/

„GrĂŒne Bomben und Raketen“, Newsletter von LobbyControl e.V. vom 8. Oktober 2013

Aysel Osmanoglu: „Verdrehte Nachhaltigkeit: Erst Gas und Atomkraft, nun Waffen?“, Table.Briefings, 6. September 2024

https://table.media/esg/standpunkt/verdrehte-nachhaltigkeit-erst-gas-und-atomkraft-nun-waffen/

Ralf Wurzbacher: „Von Herzen, Rheinmetall“, NachDenkSeiten, 11. Oktober 2024

https://www.nachdenkseiten.de/?p=122927

Tesla: Kranke unter Druck

In den letzten Tagen machte Tesla wieder einmal Schlagzeilen – dieses Mal wegen unangekĂŒndigter Hausbesuche bei hĂ€ufig krankgeschriebenen BeschĂ€ftigten des Tesla-Werks in GrĂŒnheide bei Berlin. Konzernchef Elon Musk will sich selbst ĂŒber die Lage informieren, wie er ankĂŒndigte. Der Werksleiter wiederum beteuerte, dass Hausbesuche nichts Außergewöhnliches und auch bei anderen Unternehmen ĂŒblich seien. Es solle nur an die Arbeitsmoral der Belegschaft appelliert werden. Teilweise habe der Krankenstand bei ĂŒberdurchschnittlich hohen 15 Prozent oder noch höher gelegen.

Nach Ansicht von Experten fĂŒr Arbeitsrecht sind Hausbesuche durchaus erlaubt, somit ist das Verhalten von Tesla legal (auch wenn die Praxis von den Mitarbeitern als Eingriff in ihre PrivatsphĂ€re erlebt wird).

„In den vergangenen Tagen gab es ĂŒber Teslas Kontrollbesuche eine große öffentliche Diskussion. Dirk Schulze, Bezirksleiter der IG-Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen bezeichnete das Vorgehen der FĂŒhrung in GrĂŒnheide als abwegig. Christian Görke, parlamentarischer GeschĂ€ftsfĂŒhrer der Linken im Bundestag sagte dem ‚Redaktionsnetzwerk Deutschland‘ mit Blick auf Musk: ‚Der reichste Mann der Welt muss endlich merken, dass wir hier nicht im Wilden Westen sind.‘

Zuletzt schaltete sich der deutsche MilliardĂ€r Carsten Maschmeyer ein. ‚Bodenlos‘ nannte der aus der Fernsehsendung ‚Höhle der Löwen‘ bekannte Unternehmer die VorgĂ€nge bei Tesla am Freitagmorgen im Kurznachrichtendienst X. ‚Kontrollbesuche des Arbeitgebers helfen wirklich niemandem! […] Das ist ein bedenklicher Vorstoß in die PrivatsphĂ€re der Angestellten.‘” (Handelsblatt vom 27. September 2024)

IG-Metall-Vertreter Dirk Schulze berichtet, dass BeschĂ€ftigte aus fast allen Bereichen des Werks ĂŒber eine extrem hohe Arbeitsbelastung klagen. Bei fehlendem Personal wĂŒrden die Kranken unter Druck gesetzt und die noch Gesunden mit zusĂ€tzlicher Arbeit ĂŒberlastet (vgl. Handelsblatt vom 26. September 2024).

Weitere AuszĂŒge aus Zeitungskommentaren:

„Was eine solche Serie von Hausbesuchen wie jetzt bei Tesla aber in jedem Fall bewirkt, ist EinschĂŒchterung. Eine Kultur des Misstrauens, von der man im Falle Teslas nicht zum ersten Mal hört. Eine ungewöhnliche hohe Arbeitslast verbunden mit einem Klima der Angst am Arbeitsplatz kann dazu beitragen, dass Menschen zusammenbrechen.“ (SĂŒddeutsche Zeitung)

„TatsĂ€chlich gibt es auch woanders Ausreißer aus der Statistik, und zwar immer da, wo die Arbeitsbedingungen besonders problematisch sind, wie in der Altenpflege oder im Sozial- und Erziehungsdienst. Auch das Fehlen tariflicher Regelungen und Versuche, Gewerkschaften aus dem Betrieb herauszuhalten spielen eine Rolle. Tesla verweigert den knapp 12.000 BeschĂ€ftigten in GrĂŒnheide bislang einen Tarifvertrag.“ (junge Welt)

„Ja, bei Tesla gibt eine Menge zu tun. Immerhin ist bei der jĂŒngsten Betriebsratswahl die Gewerkschaft sehr gestĂ€rkt worden. Aber ein Arbeitgeber wie Elon Musk arbeitet mit allen Tricks, um Mitbestimmung zu torpedieren. Vor der jĂŒngsten Betriebsratswahl wurden an die BeschĂ€ftigten Buttons verteilt mit der Aufschrift: ‚No union needed‘, zu Deutsch: Wir brauchen keine Gewerkschaft. Tesla ist ein Beispiel fĂŒr einen großen Missstand.“ (Frankfurter Rundschau)

„Mögliche Ursachen gibt es viele. Die Unfall- und Verletzungsgefahr bei Tesla ist bekanntermaßen hoch. die Bezahlung schlecht, und CEO Elon Musk hasst und bekĂ€mpft Arbeitnehmervertretungen wie die Pest. Wer unter schlechten Bedingungen arbeitet, sich schlecht ernĂ€hrt, lange und mĂŒhsame An- und Abfahrtswege hat, ist schon mal tatsĂ€chlich öfter krank als zum Beispiel der Autor dieser Zeilen, der, um 11 Uhr morgens noch im bequemen Nachtgewand an seinem Schreibtisch aus Palisander sitzend, zur Arbeit kolumbianischen Hochlandkaffee und MĂŒsli aus dem Bioladen mit im Garten selbst gepflĂŒckten Himbeeren nascht (dies fĂŒr die zahllosen Interessierten nur am Rande zum Making-of).

Ein weiterer Faktor könnte in einer miesen Identifikation mit dem Arbeitgeber liegen. Man stelle sich vor, der eigene Boss negiert jede Form der Regulierung, kommt mit der Rakete ins BĂŒro, teilt viele Charaktermerkmale mit griechischen Göttern, WaschbĂ€ren sowie Donald Trump, hofiert Faschisten, gilt als libertĂ€rer Rechtsaußen und ist ein pathologisch gekrĂ€nkter Feind jedes zivilen Sozialbegriffs. (…)

Da ziehe ich doch jeden Tag mit der Tesla-Hymne auf den Lippen frohgemut ins Werk. Nein, wer hier kontrolliert, weiß schon selbst, dass im eigenen System was faul ist; es ist im Grunde ein Offenbarungseid des schlechten Gewissens. Angesichts der exemplarischen Mischung aus Argwohn, öffentlich geschĂŒrtem Generalverdacht und Hilflosigkeit können sich die EmpfĂ€nger:innen von BĂŒrgergeld ja ebenfalls schon mal auf was gefasst machen. Kontrolle ist gut, mehr Kontrolle ist besser. Das Prinzip ist Ă€hnlich wie in einer Diktatur: Ohne Druck, Angst und einen umfangreichen Kontrollapparat droht das System aufgrund seiner immanenten SchwĂ€chen sonst schnell instabil zu werden.“ (taz)

Quellen:

Claus-JĂŒrgen Göpfert: „Nach der Landtagswahl in Brandenburg steht fest: Kohleausstieg ‚darf tatsĂ€chlich erst 2038 erfolgen‘“, Interview mit Katja Karger (DGB Berlin-Brandenburg), Frankfurter Rundschau (Online) vom 1. Oktober 2024

https://www.fr.de/wirtschaft/nach-der-landtagswahl-in-brandenburg-steht-fest-kohleausstieg-darf-tatsaechlich-erst-2038-erfolgen-93331221.html

Sönke Iwersen/Michael VerfĂŒrden: „Elon Musk nennt Krankenstand im Tesla-Werk in GrĂŒnheide ‚verrĂŒckt‘“, Handelsblatt (Online) vom 27. September 2024

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/hausbesuche-elon-musk-nennt-krankenstand-im-tesla-werk-in-gruenheide-verrueckt/100073726.html

Dies.: „Tesla-Werksleiter verteidigt Hausbesuche bei krankgeschriebenen Mitarbeitern“, Handelsblatt (Online) vom 26. September 2024

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/tesla-gruenheide-tesla-werksleiter-verteidigt-hausbesuche-bei-krankgeschriebenen-mitarbeitern/100073080.html

Uli Hannemann: „Dein Chef prĂŒft, ob du krank bist“, taz (Online) vom 25. September2024

Susanne KnĂŒtter: „Hausbesuche vom Chef“, junge Welt (Online) vom 27. September 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/484606.tesla-in-grĂŒnheide-hausbesuch-vom-chef.html?https://taz.de/Wie-Tesla-mit-Krankmeldungen-umgeht/!6035705/2

Ronen Steinke: „Wenn der Chef klingelt…“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 28./29. September 2024

Cum-Ex/Cum-Cum: Neues Gesetz lÀsst Steuerkriminelle jubeln

„Die Aufarbeitung steht noch ganz am Anfang – und könnte dennoch schon bald enden.“ Die BefĂŒrchtung des Handelsblatts zielt auf die geplante VerkĂŒrzung von Aufbewahrungspflichten von steuerlich relevanten Unterlagen von zehn auf acht Jahre. Die bevorstehende Änderung ist Teil des am 26. September im Bundestag beschlossenen „Vierten BĂŒrokratieentlastungsgesetzes“, das laut Webseite des Bundesjustizministeriums „die Wirtschaft, die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger und die Verwaltung von ĂŒberflĂŒssiger BĂŒrokratie“ entlasten soll.

Die Belege sind aber wichtige Beweismittel bei Verfahren zu Cum-Ex- und Cum-Cum-AktiengeschĂ€ften. Die ehemalige StaatsanwĂ€ltin und jetzige GeschĂ€ftsfĂŒhrerin der NGO Finanzwende, Anne Brorhilker, warnt davor, dass auf Basis des Gesetzes viele der TĂ€ter ungeschoren davonkĂ€men und Milliarden an Steuergeldern unwiderruflich verloren seien: „Sobald das Gesetz in Kraft ist, werfen die ihre Schredder an.” (Finanzwende)

Der Schaden durch Cum-Ex-GeschĂ€fte wird nach Expertenmeinung gewöhnlich auf zehn Milliarden Euro geschĂ€tzt, die SteuerausfĂ€lle fĂŒr den deutschen Staat durch Cum-Cum-Deals auf ĂŒber 28 Milliarden. Diese Zahl, betont Brorhilker, sei vermutlich noch zu niedrig gegriffen. Denn gerade bei Cum-Cum sei bisher nur die Spitze des Eisbergs bekannt – „und den Rest werden wir mit diesem Gesetz vielleicht nie kennenlernen“. (Finanzwende) ZurĂŒckgefordert hat der Fiskus bislang nur wenige Hundert Millionen Euro.

Dass die Aufbewahrungsfristen kĂŒrzer seien als die VerjĂ€hrungsfristen, hĂ€lt Brorhilker ohnehin fĂŒr unsinnig. Diese Fristen nun noch zu verkĂŒrzen, fĂŒr vollkommen absurd.

Tagesschau.de schreibt:

„Das Pikante: Erst vor wenigen Jahren hatte der Bund die VerjĂ€hrungsfristen fĂŒr besonders schwere Steuerhinterziehung noch von zehn auf 15 Jahre angehoben. Mit der Regelung sollte Ermittlern die nötige Zeit verschafft werden, die hochkomplexe Verfolgung der SteuerstraftĂ€ter aufzunehmen.

Florian Köbler, Vorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, sieht durch den Gesetzesentwurf auch die Gefahr, dass das Vertrauen in die Steuergerechtigkeit untergraben wird. Die Gewerkschaft vertritt die Interessen von Finanzbeamten und Steuerfahndern. ‚Der Gesetzgeber öffnet StraftĂ€tern TĂŒr und Tor. Er verspielt leichtfertig die Mittel des Rechtsstaats. Ohne Not und ohne Sinn. Ein Geschenk an Kriminelle‘, sagt Köbler.“

Die Bundesregierung möchte die Wirtschaft mit der Gesetzesnovelle mit rund 944 Millionen Euro jĂ€hrlich entlasten. Den Großteil, 626 Millionen Euro, soll dabei die VerkĂŒrzung der Aufbewahrungsfristen fĂŒr Buchungsbelege und Rechnungen ausmachen. Das Einsparpotential ergibt sich nach Auffassung der Bundesregierung vor allem aus geringen Mietkosten fĂŒr LagerrĂ€ume, in denen die Unterlagen aufbewahrt werden (vgl. SĂŒddeutsche Zeitung). Florian Köbler von der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG) glaubt dagegen nicht an die Einsparung. „Das Gros der Wirtschaftsunternehmen habe der DSTG bestĂ€tigt, dass sie ihre Belege bereits digital aufbewahren wĂŒrde. Und das koste vergleichsweise wenig: Bei einem Unternehmen mit digitaler Aufbewahrung werde die Einsparung im Gesetz auf zwölf Euro im Jahr berechnet, so die DSTG. Dies stehe in keinem VerhĂ€ltnis zum potenziellen Schaden.“ (SĂŒddeutsche Zeitung)

Finanzwende hat im Internet eine Petition gestartet und vor dem Berliner Reichstag gegen das Gesetz protestiert. Im Bundesrat soll das Gesetz Mitte Oktober die letzte HĂŒrde nehmen, bevor es in Kraft treten kann.

Quellen:

Massimo Bognani: „Ein Geschenk an Kriminelle“, tagesschau.de vom 19. September 2024

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/buerokratieentlastungsgesetz-100.html

„Neues Gesetz fĂŒr BĂŒrokratie-Entlastung gefĂ€hrdet AufklĂ€rung von CumCum-Delikten“, Pressemitteilung  von Finanzwende e.V. vom 20. September 2024

https://www.finanzwende.de/presse/neues-gesetz-fuer-buerokratie-entlastung-gefaehrdet-aufklaerung-von-cumcum-delikten

Volker Votsmeier: „Neues Gesetz könnte Milliarden-RĂŒckforderungen gefĂ€hrden“, Handelsblatt (Online) vom 20. September 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-cum-geschaefte-neues-gesetz-koennte-milliarden-rueckforderungen-gefaehrden/100070984.html

Markus Zydra: „‚Es ist ein Geschenk an Kriminelle‘“‚ SĂŒddeutsche Zeitung vom 24. September 2024

 

 

 

JustizaffÀre um die ehemalige StaatsanwÀltin Brorhilker

Die beiden Investigativ-Journalisten Sönke Iwersen und Volker Votsmeier beschreiben in einem ausfĂŒhrlichen Artikel des Handelsblatts, wie der Chef der Staatsanwaltschaft Köln sowie der Justizminister in NRW versuchen, das Ansehen der ehemaligen OberstaatsanwĂ€ltin Anne Brorhilker, die zwischen 2013 und Mai 2024 im Justizskandal um Cum-Ex ermittelte, systematisch zu beschĂ€digen. Brorhilker hatte im April 2024 um die Entlassung aus ihrem DienstverhĂ€ltnis gebeten. Als Grund fĂŒhrte sie in einem viel beachteten Interview mit dem WDR an, sie sei ĂŒberhaupt nicht damit zufrieden, wie in Deutschland FinanzkriminalitĂ€t verfolgt werde.

Zitat Handelsblatt:

„Sie war die StaatsanwĂ€ltin, die Steuerhinterzieher aus der Finanzindustrie am meisten fĂŒrchteten. Dann bat Anne Brorhilker plötzlich um ihre Entlassung. Nun tritt ihr Vorgesetzter nach. Eine JustizaffĂ€re nimmt ihren Lauf. (
) Deutschlands bekannteste StaatsanwĂ€ltin in Sachen Steuerhinterziehung war nach EinschĂ€tzung ihres Vorgesetzten offenbar eine ziemliche Niete. ‚Inhaltlich unzulĂ€nglich‘, nennt Stephan Neuheuser, Chef der Staatsanwaltschaft Köln, die Arbeit von Anne Brorhilker. Ihre BerichtsentwĂŒrfe seien ‚regelmĂ€ĂŸig deutlich ĂŒberarbeitungsbedĂŒrftig‘ gewesen. Schon Neuheusers VorgĂ€nger habe mit Brorhilker sprechen mĂŒssen, weil sie ihr ‚obliegende zentrale Pflichten nicht erfĂŒllte‘.

Neuheusers Worte stammen aus einer Antwort von Benjamin Limbach auf eine Anfrage an die nordrhein-westfĂ€lische Landesregierung. Die FDP-Fraktion legte dem NRW-Justizminister von den GrĂŒnen am 23. November 2023 einen 25-seitigen Fragenkatalog vor. Hintergrund war ‚das beherrschende rechtspolitische Thema in Nordrhein-Westfalen‘, schrieben die Abgeordneten Henning Höne, Marcel Hafke und Werner Pfeil: die Aufarbeitung der SteueraffĂ€re Cum-Ex, in der Brorhilker federfĂŒhrend ermittelte.“

Der StaatsanwĂ€ltin wurde schon zuvor das Leben schwer gemacht. Justizminister Benjamin Limbach (BĂŒndnis 90/Die GrĂŒnen) hatte im September 2023 angekĂŒndigt, Brorhilkers Abteilung aufzuspalten. Die HĂ€lfte ihrer FĂ€lle sollte sie an einen Kollegen abgeben, dem allerdings die Expertise in Steuerstrafsachen fehlte. Nach öffentlichen Protesten revidierte der Minister seine Entscheidung.

Zitat Handelsblatt:

„Die Abgeordneten fragten nun, wie Limbach ĂŒberhaupt auf die Idee kommen konnte, seine eigene KoryphĂ€e in Sachen Cum-Ex zu demontieren. Denn alles schien doch auf bestem Weg. Brorhilker hatte Steueranwalt Hanno Berger hinter Gitter gebracht, einen der grĂ¶ĂŸten Strippenzieher in der Cum-Ex-AffĂ€re. Mit seiner Revision scheiterte Berger vor dem Bundesgerichtshof. Auch gegen mehrere Manager der Privatbank M.M. Warburg hatte Brorhilker SchuldsprĂŒche erreicht.

Aktuell lief der Prozess gegen den EigentĂŒmer Christian Olearius, dessen NĂ€he zum heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz den Cum-Ex-Skandal bis ins Kanzleramt trug. Im FrĂŒhjahr 2024 folgten in Bonn weitere SchuldsprĂŒche. Das Gericht verurteilte zwei Londoner Investmentbanker zu mehrjĂ€hrigen Haftstrafen. Außerdem traf es Yasin Qureshi, gestĂ€ndiger Ex-Vorstand der Varengold Bank.“

Die Zahlen, fĂŒhrt das Handelsblatt aus, wĂŒrden fĂŒr sich sprechen. „Allein mit den Erkenntnissen aus ihren Ermittlungen und den Informationen der Whistleblower konnten Staatsanwaltschaft Köln und Steuerbehörden 2016 schon Steuern in dreistelliger Millionenhöhe zurĂŒckholen und weitere Auszahlungen durch das Bundeszentralamt fĂŒr Steuern unterbinden. Brorhilkers Cum-Ex-Projekt ist keine Belastung fĂŒr die Behörden. Es ist ein Profit-Center.“

WĂ€hrend der Ermittlungen Brorhilkers klagte die Staatsanwaltschaft Köln 16 MĂ€nner und eine Frau an. Alle Angeklagten wurden verurteilt, teils zu hohen Haftstrafen. „Kein Ermittler hat eine bessere oder auch nur vergleichbare Bilanz“, resĂŒmiert das Handelsblatt. Der frĂŒhere SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans nannte Brorhilker gar einen „Leuchtturm in der BekĂ€mpfung organisierter SteuerkriminalitĂ€t“. Auch international wurde die Arbeit der StaatsanwĂ€ltin bewundernd zur Kenntnis genommen. Andere Kenner ihrer Arbeit werten ihre nachtrĂ€gliche Demontage schlicht als UnverschĂ€mtheit. Das sei ĂŒble Nachrede, eine Schmutzkampagne, sagte etwa der ehemalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU). Stefan Weismann, PrĂ€sident des Landgerichts Bonn, bestĂ€tigte, dass Brorhilker eine Top-Ermittlerin gewesen sei und ihre Arbeit in der Sache hervorragend. Sven Wolf (SPD), Mitglied des Rechtsausschusses im NRW-Landtag, hĂ€lt den Abgang Brorhilkers fĂŒr ein „ganz schlechtes Signal“, denn sie habe diese Behörde „zur Speerspitze im Kampf gegen Steuerkriminelle“ gemacht.

Erstaunlich erscheint deshalb, dass die Antworten des Justizministeriums auf die Anfrage der FDP im NRW-Landtag von einer auffĂ€lligen GeringschĂ€tzung Brorhilker seitens ihres Vorgesetzten zeugen. Denn zur Beantwortung der Fragen der Parlamentarier ließ sich Justizminister Limbach nach eigenen Angaben von dem Leiter der Staatsanwaltschaft Köln informieren. Der „zeichnete von Brorhilker das Bild einer Minderleisterin“.

Zitat Handelsblatt:

„SchriftsĂ€tze aus ihrer Abteilung seien ‚oft unvollstĂ€ndig und unklar‘ gewesen, berichtete Neuheuser an Limbach. Er habe ‚einen Verwaltungsvorgang eingesehen‘ und erfahren, ‚dass diese SchwĂ€chen bereits lĂ€nger bestanden‘. Brorhilkers Berichte hĂ€tten ein VerstĂ€ndnis fĂŒr die Besonderheit der Cum-Ex-Verfahren vermissen lassen. Sie sei ‚in dringenden FĂ€llen‘ kurzfristig nicht erreichbar gewesen. Vielmals hĂ€tte Brorhilkers Vertreterin die Kastanien aus dem Feuer holen mĂŒssen.“

Nachforschungen in der Finanzbranche, der Politik und in der Justiz ergeben fĂŒr die Redakteure des Handelsblatts „das Bild einer Schlangengrube“. Jahrelang sei Brorhilker von ihrer eigenen Behörde und dem ĂŒbergeordneten Justizministerium behindert und angefeindet worden. „Ihre Ă€rgsten Feinde“, zitiert das Blatt einen Insider, „waren selbst StaatsanwĂ€lte und Ministerialbeamte.“

Die FDP-Fraktion, so die Zeitung, werde das Thema in der nÀchsten Plenarsitzung des Landtags auf die Agenda setzen. Es bestehe die Idee, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen, damit auch die zu Wort kommen könnten, die bisher weder im Plenum noch im Rechtsausschuss dazu die Gelegenheit gehabt hÀtten.

Brorhilker betont selbst immer wieder, dass fĂŒr sie auch nach Ausscheiden aus dem BeamtenverhĂ€ltnis das Dienstgeheimnis gelte. Sie könne weder jetzt noch in Zukunft ĂŒber das sprechen, was sich in der Staatsanwaltschaft und dem Justizministerium zugetragen habe.

Quelle:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Wie Politiker und Vorgesetzte Deutschlands erfolgreichste StaatsanwĂ€ltin demontierten“, Handelsblatt (Online) vom 31. August 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex-wie-politiker-und-vorgesetzte-deutschlands-erfolgreichste-staatsanwaeltin-demontieren-01/100061787.html

 

 

Lohnbetrug billigend in Kauf genommen

Schwarzarbeit und illegale BeschĂ€ftigung zu bekĂ€mpfen ist Aufgabe der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), angesiedelt beim Zoll. Nach Angaben der Bundesregierung auf eine Anfrage von Die Linke im Bundestag sind Unternehmenskontrollen zur BekĂ€mpfung von MindestlohnverstĂ¶ĂŸen im Jahr 2023 um rund 20 Prozent auf etwa 42.600 zurĂŒckgegangen. Statt der veranschlagten 11.250 Beamten ermittelten im vergangenen Jahr nur 8.900 Fahnder gegen die LohndrĂŒcker, etwa 2400 Stellen blieben unbesetzt. Im Jahr 2022 betrug die LĂŒcke nur knapp 1980 Dienststellen, berichtet die Augsburger Allgemeine Ende Juli. Trotz der geringeren Anzahl an Kontrollen wurden aber deutlich mehr VerstĂ¶ĂŸe festgestellt und Verfahren wegen Mindestlohnbetrugs eingeleitet – etwa ein Viertel mehr als im Vorjahr.

Die Linken-Arbeitsmarktexpertin Susanne Ferschl kommt dennoch zum Schluss, dass durch die Minderbesetzung der Behörde insbesondere durch das Finanzministerium „Lohnbetrug billigend in Kauf genommen“ werde. Betrug bei Löhnen, Steuern und Sozialabgaben sei aber kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.

„SchĂ€tzungen von Ökonomen gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der jĂ€hrlichen Wirtschaftsleistung an Recht und Gesetz vorbei erbracht werden. Das entspricht einem Wert von rund 500 Milliarden Euro. Das wiederum deckt sich mit der GrĂ¶ĂŸenordnung des Bundeshaushalts. Durch die Schattenwirtschaft entgehen dem Staat Steuereinnahmen und den Sozialkassen BeitrĂ€ge. Der Zoll selbst beziffert die aufgedeckten SchĂ€den auf 615 Millionen Euro, die Dunkelziffer dĂŒrfte deutlich darĂŒber liegen.“ (Augsburger Allgemeine)

Besonders die Baubranche steht dabei im Fokus der Fahnder. Die SĂŒddeutsche Zeitung (SZ) beschreibt eindrucksvoll die skandalöse Situation:

„Es ist ein unscheinbarer Eingang. Doch hier, direkt neben einer Bahnstrecke in Frankfurt am Main, hinter einem alten metallenen Rolltor, gibt es einen Einblick in die RealitĂ€ten des deutschen Niedriglohnsektors. Vor Jahrzehnten hat eine Baufirma an dieser Stelle UnterkĂŒnfte fĂŒr ihre Angestellten errichtet. Auf den ersten Blick erinnern die GebĂ€ude an holzvertĂ€felten Garagen. Das Unternehmen ist lĂ€ngst pleitegegangen, die Anlage schimmelt seitdem vor sich hin, vermietet wird sie trotzdem noch. 800 Betten gibt es in den Baracken und dem Ă€hnlich heruntergekommenen Wohnblock daneben, drei bis vier pro Zimmer. Es ist das Zuhause von Hunderten auslĂ€ndischen Bauarbeitern, die allermeisten von ihnen aus RumĂ€nien. (
)

Alle, die hier wohnen, verdienen weit unter dem Tariflohn, teilweise auch unter dem Mindestlohn. In der Baubranche mit ihren vielen Subunternehmern kommt das hĂ€ufiger vor. Doch das Problem des Lohnbetrugs geht weit ĂŒber die Baustellen hinaus: Mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wurden 2021 unter Mindestlohn bezahlt (
). Immerhin fast fĂŒnf Prozent der arbeitenden Bevölkerung – ein Wert, der deutlich ĂŒber dem EU-Durchschnitt liegt.“

GegenĂŒber der SZ stellt der Wirtschaftssoziologe von der UniversitĂ€t Duisburg, Gerhard Bosch, einen „politischen Unwillen“ bei der Verfolgung von Lohn- und Sozialversicherungsbetrug fest. „Manche meinen“, so Bosch, „das sei ein Standortvorteil, wenn man nicht so genau hinschaut“. Auch Finanzminister Lindner (FDP) beklagte wiederholt, in Deutschland werde zu viel am Fiskus vorbei gearbeitet. Die Augsburger Allgemeine kommentiert spöttisch: „Zuletzt hat sich der Fokus auf BĂŒrgergeldbezieher verschoben, die StĂŒtze kassieren und sich nebenher schwarz etwas hinzuverdienen. Die Ampel-Koalition hat sich darauf verstĂ€ndigt, ihnen die Leistung um 30 Prozent zu kĂŒrzen, wenn ein Sozialbetrug aufgedeckt wird.“

Quellen:

Christian Grimm: „Zoll fehlen ĂŒber 2000 Beamte im Kampf gegen Schwarzarbeit“, Augsburger Allgemeine (Online) vom 30. Juli 2024

https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/schattenwirtschaft-zoll-fehlen-ueber-2000-beamte-im-kampf-gegen-schwarzarbeit-102924229

 

„Drill, baby, drill“

Schwarzarbeit und illegale BeschĂ€ftigung zu bekĂ€mpfen ist Aufgabe der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), angesiedelt beim Zoll. Nach Angaben der Bundesregierung auf eine Anfrage von Die Linke im Bundestag sind Unternehmenskontrollen zur BekĂ€mpfung von MindestlohnverstĂ¶ĂŸen im Jahr 2023 um rund 20 Prozent auf etwa 42.600 zurĂŒckgegangen. Statt der veranschlagten 11.250 Beamten ermittelten im vergangenen Jahr nur 8.900 Fahnder gegen die LohndrĂŒcker, etwa 2400 Stellen blieben unbesetzt. Im Jahr 2022 betrug die LĂŒcke nur knapp 1980 Dienststellen, berichtet die Augsburger Allgemeine Ende Juli. Trotz der geringeren Anzahl an Kontrollen wurden aber deutlich mehr VerstĂ¶ĂŸe festgestellt und Verfahren wegen Mindestlohnbetrugs eingeleitet – etwa ein Viertel mehr als im Vorjahr.

Die Linken-Arbeitsmarktexpertin Susanne Ferschl kommt dennoch zum Schluss, dass durch die Minderbesetzung der Behörde insbesondere durch das Finanzministerium „Lohnbetrug billigend in Kauf genommen“ werde. Betrug bei Löhnen, Steuern und Sozialabgaben sei aber kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.

„SchĂ€tzungen von Ökonomen gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der jĂ€hrlichen Wirtschaftsleistung an Recht und Gesetz vorbei erbracht werden. Das entspricht einem Wert von rund 500 Milliarden Euro. Das wiederum deckt sich mit der GrĂ¶ĂŸenordnung des Bundeshaushalts. Durch die Schattenwirtschaft entgehen dem Staat Steuereinnahmen und den Sozialkassen BeitrĂ€ge. Der Zoll selbst beziffert die aufgedeckten SchĂ€den auf 615 Millionen Euro, die Dunkelziffer dĂŒrfte deutlich darĂŒber liegen.“ (Augsburger Allgemeine)

Besonders die Baubranche steht dabei im Fokus der Fahnder. Die SĂŒddeutsche Zeitung (SZ) beschreibt eindrucksvoll die skandalöse Situation:

„Es ist ein unscheinbarer Eingang. Doch hier, direkt neben einer Bahnstrecke in Frankfurt am Main, hinter einem alten metallenen Rolltor, gibt es einen Einblick in die RealitĂ€ten des deutschen Niedriglohnsektors. Vor Jahrzehnten hat eine Baufirma an dieser Stelle UnterkĂŒnfte fĂŒr ihre Angestellten errichtet. Auf den ersten Blick erinnern die GebĂ€ude an holzvertĂ€felten Garagen. Das Unternehmen ist lĂ€ngst pleitegegangen, die Anlage schimmelt seitdem vor sich hin, vermietet wird sie trotzdem noch. 800 Betten gibt es in den Baracken und dem Ă€hnlich heruntergekommenen Wohnblock daneben, drei bis vier pro Zimmer. Es ist das Zuhause von Hunderten auslĂ€ndischen Bauarbeitern, die allermeisten von ihnen aus RumĂ€nien. (
)

Alle, die hier wohnen, verdienen weit unter dem Tariflohn, teilweise auch unter dem Mindestlohn. In der Baubranche mit ihren vielen Subunternehmern kommt das hĂ€ufiger vor. Doch das Problem des Lohnbetrugs geht weit ĂŒber die Baustellen hinaus: Mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wurden 2021 unter Mindestlohn bezahlt (
). Immerhin fast fĂŒnf Prozent der arbeitenden Bevölkerung – ein Wert, der deutlich ĂŒber dem EU-Durchschnitt liegt.“

GegenĂŒber der SZ stellt der Wirtschaftssoziologe von der UniversitĂ€t Duisburg, Gerhard Bosch, einen „politischen Unwillen“ bei der Verfolgung von Lohn- und Sozialversicherungsbetrug fest. „Manche meinen“, so Bosch, „das sei ein Standortvorteil, wenn man nicht so genau hinschaut“. Auch Finanzminister Lindner (FDP) beklagte wiederholt, in Deutschland werde zu viel am Fiskus vorbei gearbeitet. Die Augsburger Allgemeine kommentiert spöttisch: „Zuletzt hat sich der Fokus auf BĂŒrgergeldbezieher verschoben, die StĂŒtze kassieren und sich nebenher schwarz etwas hinzuverdienen. Die Ampel-Koalition hat sich darauf verstĂ€ndigt, ihnen die Leistung um 30 Prozent zu kĂŒrzen, wenn ein Sozialbetrug aufgedeckt wird.“

Quellen:

Christian Grimm: „Zoll fehlen ĂŒber 2000 Beamte im Kampf gegen Schwarzarbeit“, Augsburger Allgemeine (Online) vom 30. Juli 2024

https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/schattenwirtschaft-zoll-fehlen-ueber-2000-beamte-im-kampf-gegen-schwarzarbeit-102924229

 Leonard Scharfenberg: „Außer Kontrolle“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 17./18. August 2024

 

Union-Busting und dunkle GeschÀfte beim Discounter

Vor fast zehn Jahren, im Dezember 2004, stellte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di das „Schwarzbuch Lidl“ vor und erntete ein beeindruckendes Medienecho. Nahezu die gesamte Tagespresse berichtete damals ĂŒber skandalöse Arbeitsbedingungen, systematische Schikanen, unbezahlte Mehrarbeit sowie Maßnahmen, die Wahl von BetriebsrĂ€ten zu verhindern. Zwei Jahre spĂ€ter veröffentlichten Journalisten das „Schwarzbuch Lidl Europa“. Danach trat Lidl selbst in BilliglohnlĂ€ndern SĂŒd- und Osteuropas als LohndrĂŒcker auf und machte damit einheimischen EinzelhĂ€ndlern das Leben schwer.

Die gewerkschafts- und betriebsrĂ€tefeindliche Haltung des Konzerns bekamen vor wenigen Monaten auch die ĂŒber 200 BeschĂ€ftigten im Lager von Lidl in der Ruhrgebietsstadt Herne zu spĂŒren.

„39 Lager und Verteilzentren sorgen bundesweit fĂŒr die Belieferung der mehr als 3000 Filialen. Nur in vier dieser Verteilzentren werden die BeschĂ€ftigten von einem Betriebsrat unterstĂŒtzt. Beim Rest: gĂ€hnende Leere, was die gesetzliche Interessenvertretung der Belegschaft betrifft. Und in den Filialen: ĂŒberhaupt kein Betriebsrat. Nirgends. Wenn man weiß, dass in Betrieben ohne Betriebsrat die Löhne meist niedriger, die Arbeitsbedingungen schlechter und das Betriebsklima unangenehmer ist als in Betrieben mit Betriebsrat, dann kann die Frage, ob sich Lidl lohnt, fĂŒr die Lidl-BeschĂ€ftigten also mit einem ‚nicht wirklich‘ beantwortet werden.“ (Albrecht Kieser)

Der EigentĂŒmer des Konzerns, Dieter Schwarz, installierte 2022 in Herne einen neuen Betriebsleiter, der prompt versuchte, den dort bestehenden Betriebsrat zu liquidieren.

„2022 wurde er offenbar in Herne als Mann fĂŒrs Grobe benötigt, da Lidl dort ein neues, erheblich grĂ¶ĂŸeres Lager baut. ‚Von Anfang an stellte der neue Chef klar, dass kritische Nachfragen zum Umzug weder vom Betriebsrat noch von der Gewerkschaft erwĂŒnscht sind‘, sagt Azad Tarhan, ver.di-SekretĂ€r fĂŒr den Handel im Bezirk Mittleres Ruhrgebiet. In den neuen Hallen, direkt gegenĂŒber des heutigen Lagers, sollen zukĂŒnftig mindestens 400 Menschen mit neuester Technik arbeiten. Der Umzug beginnt voraussichtlich im September. ‚Ab 2026 wird es dann wohl ein großes Frischelager mit KĂŒhlbereich im neuen GebĂ€ude geben. Solche gravierenden VerĂ€nderungen bringen auch immer VerĂ€nderungen fĂŒr die bestehenden BeschĂ€ftigten mit sich‘, erlĂ€utert Azad Tarhan. Arbeit bei KĂŒhlschranktemperaturen ertrage nicht jede*r. Auch weitere Änderungen, zum Beispiel bei Arbeitszeiten und der Wochenendarbeit wolle Lidl zu Lasten der BeschĂ€ftigten durchsetzen.“ (Gudrun Giese)

Zu den Versuchen, den Betriebsrat in Herne einzuschĂŒchtern, gehörten auch Unterstellungen gegen dessen Vorsitzenden, der angeblich die GeschĂ€ftsfĂŒhrung, den Abteilungsleiter sowie Kolleg*innen beleidigt und beschimpft haben soll. Der Beschuldigte wurde gekĂŒndigt, eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung folgte. Das Arbeitsgericht lehnte Ende des letzten Jahres den KĂŒndigungsversuch erstinstanzlich ab. Das Verfahren befindet sich aktuell offensichtlich in der zweiten Instanz.

Ver.di-SekretĂ€r Tarhan startete auf Campact eine Petition. Darin wird die sofortige RĂŒcknahme aller KĂŒndigungen und Klagen gegen Betriebsratsmitglieder, ein Beenden des Union-Busting und der gewerkschaftsfeindlichen Propaganda gefordert.

Auch aus einem anderen Grund macht Lidl aktuell von sich reden. Einem Bericht des Manager Magazins zufolge soll der Konzern jahrzehntelang in vielen Filialen mit illegalen Tricks seine VerkaufsflĂ€chen vergrĂ¶ĂŸert haben, um den Umsatz zu steigern und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Nach Angaben eines ehemaligen Managers des Konzerns habe Lidl bis Ende der 2000er-Jahre deutschlandweit und ohne Genehmigung der Behörden in 300 bis 400 Filialen LagerflĂ€chen zu VerkaufsflĂ€chen umgewidmet. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter sprach sogar von 550 MĂ€rkten. Die Lager seien zum Teil nur mit einfachen TrennwĂ€nden von den VerkaufsrĂ€umen abgetrennt gewesen und teils ĂŒber Nacht entfernt worden. Die in den PlĂ€nen als Lager ausgewiesenen FlĂ€che habe also insgeheim als Ausbaureserve gedient. „Laut Insidern“, heißt es in der Wirtschaftszeitschrift, „soll der Umsatz in den betroffenen Filialen durch das Manöver um 10 bis 20 Prozent gestiegen sein. SchĂ€tzungen zufolge könnte Lidl so mehr als 2,5 Milliarden Euro zusĂ€tzlich erlöst haben“.

In mehreren FĂ€llen seien die BetrĂŒgereien bereits aufgeflogen. Offensichtlich zeigen sich die zustĂ€ndigen Ämter aber weitgehend desinteressiert, die VerstĂ¶ĂŸe aufzuklĂ€ren: „Die Strafen, die Lidl dort zahlen musste, wo Behörden die Trickserei bemerkten, wirken im Vergleich zu den Mehrerlösen wie Peanuts.“ Die Stadt Herne etwa habe lediglich Bußgelder von rund 4.500 bis 7.600 Euro fĂŒr Erweiterungen in drei Filialen verhĂ€ngt, die in den Jahren 2000 bis 2006 aufgeflogen waren. In Leipzig habe der Konzern 2006 wegen den illegal vorgenommenen baulichen VerĂ€nderungen zur VergrĂ¶ĂŸerung der VerkaufsflĂ€che in vier MĂ€rkten insgesamt nur 20.000 Euro Strafe zahlen mĂŒssen. Vier Kommunen legalisierten im Nachhinein sogar die Erweiterungen.

„Dass Lidls Manöver“, so das Manager Magazin weiter, „so lange unentdeckt blieb, hat offenbar noch einen anderen Grund. Wie es scheint, hat Hauptkonkurrent Aldi den Trick kopiert. (
) Kein Wunder, dass der Erzrivale womöglich wenig Interesse hatte, die Schwarz-MĂ€rkte zu enttarnen.“ 

Einen RĂŒckblick auf die kriminellen und beschĂ€ftigtenfeindlichen Praktiken einer anderen Handelskette bietet ein Podcast des Handelsblatts. In zwei Folgen werden Aufstieg und Abstieg Anton Schleckers nachgezeichnet – sein „Weg vom Metzger zum Kopf eines Drogen-Imperiums“. Im Jahr 2012 folgte die Insolvenz: „Anton Schlecker, seine Frau Christa und seine Kinder kamen wegen Insolvenzverschleppung, Untreue und Bankrott vor Gericht. 2017 wurde Anton Schlecker zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, seine Kinder kamen ins GefĂ€ngnis.“ Auch Schlecker versuchte systematisch, die GrĂŒndung von BetriebsrĂ€ten zu verhindern. Das GeschĂ€ftsmodell war offenkundig auf eine besonders intensive Ausbeutung der sogenannten Schlecker-Frauen getrimmt.

Als einer der bekanntesten SprĂŒche der im operativen GeschĂ€ft aktiven Ehefrau des FirmengrĂŒnders, Christa Schlecker, gilt: „Mitarbeiter sind wie Möbel. Wenn sie einem lĂ€stig werden, wirft man sie einfach raus!“

Quellen:

Albrecht Kieser: „Lidl lohnt sich nur fĂŒr Dieter Schwarz“, Soz Nr. 03/2024

https://www.sozonline.de/2024/03/betriebsratsmobbing/

Gudrun Giese: „Team Lidl – nur leere Worte“, ver.di-Publik, 21. MĂ€rz 2024

https://publik.verdi.de/ausgabe-202402/team-lidl-nur-leere-worte/

„Stoppt Union-Busting im Lidl Lager Herne – BetriebsrĂ€te schĂŒtzen!“,

https://weact.campact.de/petitions/stoppt-union-busting-im-lidl-lager-herne-kundigungen-und-klagen-gegen-betriebsrate-zurucknehmen

Tobias Bug: „Aus Lager mach Laden“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 22./23. Juni 2024

Martin Mehringer: „Schwarz-Markt“, Manager Magazin, Juli 2024

Handelsblatt Crime: „Der Fall Schlecker: Teil 1 – der Aufstieg“, Podcast vom 16. Juni 2024. https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-der-fall-schlecker-teil-1-der-aufstieg/29851740.html

Handelsblatt Crime: Der Fall Schlecker: Teil 2 – der Abstieg, Podcast vom 30. Juni 2024. https://www.handelsblatt.com/audio/crime/der-fall-schlecker-teil-2-der-abstieg/29874088.html

 

 

 

 

 

 

Nachschlag: Anne Brorhilker im Handelsblatt-Interview

Nach ihren Interviews vom 27. Juni mit der Wochenzeitung Die Zeit und vom 4. Juli mit der SĂŒddeutschen Zeitung fĂŒhrte Ex-StaatsanwĂ€ltin Anne Brorhilker auch ein lĂ€ngeres GesprĂ€ch mit dem DĂŒsseldorfer Handelsblatt: ĂŒber ihre „erstaunlichen Erfahrungen mit der Finanzelite“ und der deutschen Justiz.

Hier folgen einige Zitate.

Brorhilker auf die Frage, ob sie mehr Beamte im Kampf gegen Cum-Ex fordern wĂŒrde:

„Mehr und besser ausgebildet. Wenn man als Staat eine Kontrolle haben möchte, mĂŒsste man erst mal ganz genau wissen, was die Banken da machen. Dieses ganze Geplapper erst mal ĂŒbersetzen. Normalerweise sitzt da ein Finanzbeamter, der völlig alleingelassen ist und der jetzt konfrontiert wird mit einer teuren Anwaltskanzlei und 1000 Seiten Gutachten, vollgestopft mit Fremdwörtern. Wie soll der das in seinem Alltag schaffen neben Dutzenden anderen FĂ€llen?

(
)

Der Staat muss ernst nehmen, welche Interessen da auf der anderen Seite im Hintergrund stehen. Wie wichtig dieser Bereich, also steuergetriebene GeschĂ€fte, fĂŒr Banken ist. Weil sie einen erheblichen Teil ihrer Profite mit solchen Tax-Trades erzielen. GeschĂ€fte, die einfach darauf abzielen, den Staat auszuplĂŒndern. Wenn wir das so behandeln wie normale EinkommensteuererklĂ€rungen, können wir das nicht abwehren.

Brorhilker auf den Hinweis des Handelsblatts, betroffene Banken, WirtschaftsprĂŒfer und Kanzleien hĂ€tten gegenĂŒber der Redaktion immer wieder behauptet, sie wĂŒrden „vollumfĂ€nglich“ mit den Behörden zusammenarbeiten.

„Meine Erfahrung ist anders. Im Gegenteil: Es wurde hĂ€ufig alles getan, um unsere Arbeit zu erschweren und in die LĂ€nge zu ziehen. Wir haben etwa hĂ€ufig erlebt, dass Dokumente ins Ausland geschafft wurden und angeblich nicht mehr nach Deutschland zurĂŒckgeholt werden konnten. In einem Fall kamen rund 100 AnwĂ€lte einer Kanzlei herbeigeeilt. Die haben sich uns teilweise in den Weg gestellt und die Durchsuchung aktiv gestört. Einmal habe ich einen bewaffneten Polizisten zur Hilfe geholt. GrundsĂ€tzlich gilt außerdem, dass bei Durchsuchungen maximal drei AnwĂ€lte erlaubt sind. Das habe ich ihnen klargemacht.“

Brorhilker zur AnkĂŒndigung des ehemaligen NRW-Justizministers Biesenbach vom 17. September 2019, „Anklagen im Akkord“ folgen zu lassen (das Handelsblatt hat mitgezĂ€hlt: Bislang sind es zwölf):

„Also, von mir hĂ€tten Sie so etwas nicht gehört. Ich glaube, da war der Wunsch Vater des Gedankens. Ermittlungen in komplexen und sehr umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren sind immer langwierig, und die Beschuldigten haben oft exzellente finanzielle Möglichkeiten fĂŒr massive Konfliktverteidigung.

(
)

Eine sehr laute und destruktive Art, Mandanten zu verteidigen. Angriffe auf die Staatsanwaltschaft, auf das Gericht. Eine Flut von AntrĂ€gen, Medienstrategien. Sie legt es darauf an, von der Sache abzulenken und auf NebenkriegsschauplĂ€tze auszuweichen. Das frisst unglaublich viele Ressourcen, und darauf zielt die Strategie ab. Da kann man als Staatsanwalt oder als Richter so eingearbeitet sein, wie man will. Das Verfahren wird in die LĂ€nge gezogen.“

Brorhilker zur Frage, ob unter diesen UmstĂ€nden nicht vollkommen unrealistisch erscheint, die noch offenen 130 Ermittlungsverfahren mit 1.700 Beschuldigten jemals abzuschließen:

„Die Zahl mag auf den ersten Blick hoch erscheinen. Aber warum eigentlich? Weil man sich nicht vorstellen kann, dass so viele Banker und Berater beteiligt waren? Die Steuerhinterziehung mit Cum-Ex-GeschĂ€ften hatte industriellen Charakter, das haben auch die Strafgerichte festgestellt. Das waren eben nicht wenige schwarze Schafe. Außerdem kann man nicht einfach so Ermittlungen einleiten. DafĂŒr braucht es einen begrĂŒndeten Anfangsverdacht. Den hat die Staatsanwaltschaft in jedem Fall sorgfĂ€ltig geprĂŒft. Bei Beschwerden, die hĂ€ufig eingelegt wurden, ist dies von Gerichten ĂŒberprĂŒft und bisher in allen FĂ€llen bestĂ€tigt worden.

Brorhilker zur Aussicht, dass die Welle von Anklagen jemals kommt:

„Die Voraussetzungen dafĂŒr sind geschaffen. Man darf nicht vergessen, dass die Staatsanwaltschaft Köln zahlreiche Banken erst 2021 und 2022 durchsucht hat. Meist dauert es eine Zeit, bis die beschlagnahmten Daten ausgewertet werden können, auch weil sich die Banken dagegen mit HĂ€nden und FĂŒĂŸen wehren.

(
)

Drehen wir das doch mal um. Was wĂ€re denn, wenn es hier um DrogenkriminalitĂ€t ginge? Wenn ein HĂ€ndler bei der Vernehmung sagt: ‚Ich hatte mit denen und denen und denen zu tun, und die haben das Zeug abgenommen. Hier sind dazu meine Unterlagen.‘ Soll der Staatsanwalt dann sagen: ‚Nein, 100 Abnehmer sind uns zu viel, dafĂŒr haben wir keine KapazitĂ€ten?‘ Was wĂŒrde das wohl fĂŒr einen öffentlichen Aufschrei geben, wenn der Staat sich weigert, dem nachzugehen?“

Brorhilker zur Weigerung der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Cum-Ex zu ermitteln, obwohl sich mehrere FĂ€lle direkt vor ihrer HaustĂŒr abspielten:

„Das liegt sicherlich nicht an mangelnder fachlicher Expertise. Es ist daher zu vermuten, dass andere GrĂŒnde dafĂŒr ausschlaggebend waren. Ich befĂŒrchte, es hat mit einer zu großen NĂ€he zwischen Politik und Banken in Hamburg zu tun.“

Brorhilker zu der Tatsache, dass Steuerhinterziehung seit einigen Jahren nicht mehr als Verbrechen gilt, sondern als milder Betrug:

„Ich halte das nicht fĂŒr sinnvoll. Bei organisierter Steuerhinterziehung entstehen unfassbar hohe SchĂ€den fĂŒr uns alle. Es ist deshalb ungerecht, derart schwere FĂ€lle – anders als beim Betrug – nicht als Verbrechen einzustufen. Der Gesetzgeber sollte das Ă€ndern. Auch, damit Einstellungen gegen Geldbuße bei derart schweren FĂ€llen organisierter Steuerhinterziehung nicht mehr möglich sind.“

Brorhilker zu den sogenannten Cum-Cum-GeschÀften:

„Hier ist leider bisher viel zu wenig passiert. Dabei sind die SchĂ€den aus Cum-Cum-GeschĂ€ften nach SchĂ€tzungen ungefĂ€hr dreimal so hoch wie bei Cum-Ex. Sowohl der Bundesfinanzhof als auch das Bundesfinanzministerium haben lĂ€ngst klargestellt, dass auch diese GeschĂ€fte rechtswidrig sind. Ich wĂŒrde mir hier mehr Anstrengungen von den FinanzĂ€mtern wĂŒnschen, das Geld fĂŒr uns alle zurĂŒckzuholen.“

Quelle:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „‚Die Banken wehren sich mit HĂ€nden und FĂŒĂŸen‘“, Interview mit Anne Brorhilker, Handelsblatt (Online) vom 10. Juli 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/interview-anne-brorhilker-die-banken-wehren-sich-mit-haenden-und-fuessen/100049880.html

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Kampf gegen Cum-Ex: Anne Brorhilker in aktuellen Interviews

Anne Brorhilker, ehemalige Chefermittlerin im Cum-Ex-Steuerskandal, wechselte im April 2024 zur NGO Finanzwende und begrĂŒndete ihren Schritt öffentlichkeitswirksam. Unter anderem kritisierte sie massive strukturelle Defizite bei der BekĂ€mpfung der FinanzkriminalitĂ€t. In aktuellen Interviews mit Die Zeit und der SĂŒddeutschen Zeitung (SZ) Ă€ußert sie sich zur Frage, was sich in Deutschland in Sachen Cum-Ex Ă€ndern sollte.

Die Ermittler mĂŒssten in die Lage versetzt werden, Fachkompetenz aufzubauen, so Brorhilker gegenĂŒber der Wochenzeitung Die Zeit. Bei ihr hĂ€tte es Jahre gebraucht, bis sie sich in die hochkomplexen VorgĂ€nge der Cum-Ex-GeschĂ€fte eingearbeitet hĂ€tte. Das könne ein Ermittler nicht mal so neben dem AlltagsgeschĂ€ft schaffen. Es brauche dafĂŒr Spezialisten. Das Fachwissen könne auch nicht jede Staatsanwaltschaft, Steuerfahndung oder Polizei einzeln aufbauen.

Brorhilker in Die Zeit auf die Frage, was sie fordere:

„Dass nicht mehr jeder in seinem Bundesland und in seiner Behörde relativ allein vor sich hin wurschtelt, sondern dass KrĂ€fte gebĂŒndelt werden und man ĂŒber lĂ€ngere Zeit Personen in dieser Materie ausbildet, die dann auch an dem Thema dranbleiben. Derzeit machen Behörden aber das Gegenteil. Sie wechseln Personal regelmĂ€ĂŸig aus, weil das in vielen Personalentwicklungskonzepten so angelegt ist.“

Zum Aufbau eines von der Bundesregierung angekĂŒndigten Bundesfinanzkriminalamts und der Frage, ob damit das Problem schon gelöst wĂ€re, stellt Brorhilker fest. „Damit hĂ€tte man es lösen können. Aber der Straftatbestand der Steuerhinterziehung gehört leider nicht zu dessen Aufgabengebiet. Dabei wĂ€re das sinnvoll gewesen.“

Ein Expertenteam solle auf Bundesebene angesiedelt werden, weil es sich um international organisierte KriminalitĂ€t handele. Das BKA sei fĂŒr international organisierte GeldwĂ€sche zustĂ€ndig, warum dann nicht auch fĂŒr international organisierte Steuerhinterziehung?

In der SZ beantwortet die ehemalige StaatsanwÀltin die Frage so:

„Ich finde es suboptimal, dass wir damit eine weitere Behörde gegen GeldwĂ€sche bekommen sollen, obwohl wir dafĂŒr schon das Bundeskriminalamt haben. Es wĂ€re sinnvoller gewesen, auch den Bereich der SteuerkriminalitĂ€t mit reinzunehmen in die neue Behörde, was aber nicht geplant ist. Es braucht bundesweit eine zentrale Stelle fĂŒr solche Ermittlungen. Es kann nicht sein, dass eine lokale Staatsanwaltschaft wie Köln in diesen FĂ€llen fĂŒr das ganze Bundesgebiet zustĂ€ndig ist. Wir sollten das auch auf europĂ€ischer Ebene verfolgen, so wie die EuropĂ€ische Staatsanwaltschaft das bei Umsatzsteuerkarussellen bereits tut.“

Brorhilker bewertet in Die Zeit auch die AktivitÀten in Nordrhein-Westfalen, wie etwa den Aufbau des Landeszentralamts zur BekÀmpfung der FinanzkriminalitÀt in NRW und der dortigen Taskforce GeldwÀsche:

„Ich will das Erreichte nicht schmĂ€lern, die Errichtung des neuen Landeszentralamts finde ich richtig. Aber schauen Sie sich die Cum-Cum-GeschĂ€fte an (
) da liegt noch viel im Argen! Der Bundesfinanzhof hat schon 2015 entschieden, dass solche GeschĂ€fte steuerrechtlich nicht in Ordnung sind. Daher muss der Staat das Geld zurĂŒckholen. Es gab dann weitere Urteile und auch konkrete Vorgaben des Bundesfinanzministeriums, zuletzt 2021. Wir haben jetzt 2014. Wo ist denn das Geld? Welche Bank musste denn zahlen? Nichts hören wir davon.“

In der SZ nimmt Brorhilker Stellung zur Frage, was sie sich nach ihrem Abschied als StaatsanwÀltin vorgenommen habe:

„Ich will das Übel an der Wurzel packen. Ich will darauf hinwirken, dass sich deutschlandweit die Strukturen der Justiz verĂ€ndern. Diese Defizite bei der BekĂ€mpfung von WirtschaftskriminalitĂ€t sind extrem sozialschĂ€dlich. Bei Cum-Ex schĂ€tzt man konservativ mit zehn Milliarden Euro Schaden fĂŒr den Fiskus. Die SchĂ€den von Cum-Cum, einer weiteren Steuerhinterziehungsmethode, die noch nicht gestoppt ist, sind mindestens dreimal so hoch, auch konservativ geschĂ€tzt. Es macht das Zusammenleben in Deutschland nicht besser, wenn uns dauerhaft Geld aus der Kasse fließt.“

Quellen:

„Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren kann“, Interview mit Anne Brorhilker, Die Zeit vom 27. Juni 2024, Seite 17f.

„Ich will das Übel an der Wurzel packen“, Interview von Meike Schreiber mit Anne Brorhilker, SĂŒddeutsche Zeitung vom 4. Juli 2024, Seite 18

 

Cum-Ex-Verfahren gegen Warburg-Banker Olearius eingestellt

Am 24. Juni 2024 entschied das Landgericht Bonn, das Verfahren wegen schwerer Steuerhinterziehung gegen den ehemaligen Chef der Hamburger Warburg-Bank Christian Olearius einzustellen. Die angeschlagene Gesundheit des 82-jÀhrigen prominenten deutschen Bankers lÀsst es nach Auffassung des Gerichts nicht zu, den Prozess fortzusetzen. Die Schuldfrage bleibt damit juristisch ungeklÀrt.

Olearius wurde Steuerhinterziehung in 15 besonders schweren FĂ€llen vorgeworfen. Insgesamt ließ sich  die Warburg-Bank zwischen 2006 und 2011 vom Staat 280 Millionen Euro Steuermittel erstatten, die sie zuvor gar nicht gezahlt hatte. Die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Köln warf ihm vor, Cum-Ex-Deals initiiert und abgesegnet zu haben. Der Banker bestritt stets alle VorwĂŒrfe. Olearius hĂ€tte im Fall einer Verurteilung mit einer Haftstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen mĂŒssen.

Vor allem hat das Gericht einen entscheidenden Punkt nicht ausermittelt. So wies es das Begehren der Staatsanwaltschaft zurĂŒck, von Olearius 43 Millionen Euro als dessen mutmaßliche persönliche TatertrĂ€ge einzuziehen. Olearius hatte offensichtlich selbst fĂŒnf Millionen Euro in die illegalen Cum-Ex-Deals investiert und einen entsprechenden „Gewinn“ erschwindelt.

Das Handelsblatt dazu (Iwersen/Votsmeier):

„Offen bleibt vorerst die Frage, ob Olearius seine persönlichen Profite in Höhe von 43 Millionen Euro zurĂŒckzahlen muss. Das fordert die Staatsanwaltschaft – unabhĂ€ngig von den inzwischen erfolgten SteuerrĂŒckzahlungen der Bank. Die AnklĂ€ger hatten am vorletzten Verhandlungstag die Überleitung des Verfahrens in ein sogenanntes selbststĂ€ndiges Einziehungsverfahren beantragt. Die Kölner Behörde wollte so erreichen, dass Olearius zumindest die zu Unrecht erlangten TatertrĂ€ge zurĂŒckzahlen muss.

Der bisherige Verfahrensstand erschien den Richtern jedoch nicht ausreichend fortgeschritten, um sicher feststellen zu können, welchen TatbeitrÀgen welche Einnahmen zuzuordnen sind. Daher lehnten sie den Antrag der Staatsanwaltschaft ab.

Der Staatsanwaltschaft bleibt somit nur der Weg, ein neues Einziehungsverfahren zu beantragen. Persönlich in Bonn erscheinen mĂŒsste Olearius dann allerdings nicht. FĂŒr ihn geht es nur noch um Geld, nicht mehr um seine Freiheit.“

Die SĂŒddeutsche Zeitung verweist auf die guten Beziehungen von Olearius zu Regierung und Justiz in Hamburg:

„Einst war Christian Gottfried Olearius, wie er vollstĂ€ndig heißt, einer der wichtigsten Bankiers Deutschlands. Er galt als Helfer in schwierigen Situationen, gern gesehener GesprĂ€chspartner der Politik und das Idealbild eines hanseatischen Kaufmanns. Dass der Prozess in Bonn allerdings so viel Öffentlichkeit auf sich zog, lag nicht nur am Privatbankier und Elbphilharmonie-MĂ€zen selbst, sondern auch an dessen Kontakte zum jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).“ (Max Fluder)

Zur Erinnerung: Hamburgs Steuerbehörde hatte in den Jahren 2016 und 2017 auf eine RĂŒckforderung von der Warburg-Bank in Höhe von 47 Millionen Euro verzichtet – in einer Zeit, als sich Scholz als damaliger Erster BĂŒrgermeister der Stadt mehrmals mit Olearius getroffen hatte. Scholz hat bislang jede Einflussnahme auf das Steuerverfahren bestritten und kann sich an Details der Treffen nicht mehr erinnern.

Ohne die hartnÀckigen Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft wÀre der Banker wohl nie angeklagt worden. Das Neue Deutschland hÀlt fest:

„Mit der Einstellung des Verfahrens gegen Christian Olearius, Ex-Chef der Hamburger Privatbank Warburg, bleibt die Schuldfrage offen. Dies ist Ergebnis der jahrelangen UntĂ€tigkeit der hanseatischen Behörden, die erst die illegalen Steuergewinne nicht zurĂŒckforderten und dann auch juristisch nicht aktiv wurden. Letztlich war es das Verdienst der SchwerpunktstaatsanwĂ€lte in Köln, dass der Prozess wegen schweren Steuerbetrugs ĂŒberhaupt zustandekam.“

Auch die junge Welt bezieht sich auf den viel zitierten Skandal im Skandal:

„Der Skandal besteht dabei darin, dass der Prozess zunĂ€chst um Haaresbreite ĂŒberhaupt nicht eröffnet worden wĂ€re und dann ĂŒber Jahre verzögert wurde, bis es 2023 doch noch losging. Andernfalls hĂ€tte das Verfahren deutlich frĂŒher beendet werden können, als sich der Bankster noch besserer Gesundheit erfreute.

So entgeht ein ganz dicker Fisch im ‚Cum-ex‘-Sumpf dem Strafvollzug.“

Das Handelsblatt Ă€ußert sich zur Frage, wer fĂŒr die Kosten des Prozesses aufzukommen hat (Iwersen/Votsmeier):

„Offen bleibt auch, wer das Verfahren bezahlen muss. ‚Die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden ersetzt‘, sagte Richterin Slota-Haaf. Das könnte noch zu Diskussionen fĂŒhren. Olearius gab Prozessbeobachtern zufolge einen siebenstelligen Betrag pro Monat aus – ĂŒber Jahre. Vor Gericht hatte er vier als besonders teuer geltende AnwĂ€lte an seiner Seite: Peter Gauweiler, Bernd SchĂŒnemann, Klaus Landry und Rudolf HĂŒbner.

FĂŒr den Steuerzahler wird der Fall Olearius damit noch teurer, als er ohnehin schon ist. Die Staatsanwaltschaft Köln warf Olearius vor, fĂŒr einen Steuerschaden von 280 Millionen Euro verantwortlich zu sein.“

Nach Aussage eines ZDF-Rechtsexperten sind die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten tatsĂ€chlich von der Staatskasse zu erstatten. Sie werden in einem gesonderten Kostenfestsetzungsbeschluss festgestellt. Dabei werden aber offenkundig nicht die Kosten der Wahlverteidiger, sondern nur die der Pflichtverteidigung ĂŒbernommen.

Volker Votsmeier vom Handelsblatt bestreitet in einem Kommentar, dass der Prozess aus medizinischen GrĂŒnden eingestellt werden musste. Der Abbruch wĂŒrde das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben:

„Der Fall Olearius offenbart einen Makel im deutschen Strafrecht. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass einem Angeklagten nur dann der Prozess gemacht werden darf, wenn er persönlich an der Hauptverhandlung teilnehmen kann. Diese Vorschrift ist im Grundsatz richtig. Nur so kann sich der Beschuldigte in einem öffentlichen Verfahren gegen die VorwĂŒrfe der Staatsanwaltschaft wehren. (
) Gerade bei einem Mann wie Olearius freilich sieht die Wirklichkeit im Gericht ganz anders aus. Gleich vier AnwĂ€lte vertreten ihn dort. Der Bankier hat in den neun Monaten kaum ein Wort gesagt. Seine Verteidiger dagegen zogen alle Register, um ein Urteil so lang wie möglich hinauszuzögern.

Das könnten sie auch ohne ihn tun. Der Paragraph 230, der in unserer Strafprozessordnung die Anwesenheit des Beklagten festschreibt, stammt aus 1877. Es gab damals kein Internet, auch Videokonferenzen waren unbekannt.

Olearius könnte sich heute problemlos aus Hamburg zuschalten. Das wĂŒrde ihm auch die vierstĂŒndige Anreise ersparen. FĂŒhlt er sich auch dafĂŒr zu schwach, könnte Olearius darauf vertrauen, dass ihn seine vier hochbezahlten AnwĂ€lte angemessen vertreten und ĂŒber den Prozessverlauf informieren.

Das wird nicht passieren. Olearius fĂ€hrt nach Hause. Jahrelange Ermittlungen, mehr als zwei Dutzend Prozesstage, ganze Aktenberge mit Zeugenaussagen und Beweisen – alles vergebens. (
) Ein Blick ĂŒber die Grenze zeigt, dass es auch anders geht. In Frankreich, Italien, Belgien, Portugal und anderen LĂ€ndern ist es selbstverstĂ€ndlich, Verhandlungen ohne den Angeklagten zu fĂŒhren. Auch in den USA wurden schon Menschen verurteilt, ohne dass sie anwesend waren. Es wird Zeit, die Anwesenheitspflicht in ein Anwesenheitsrecht umzuwandeln.“

Votsmeier kommt zu dem Schluss:

 „Gerade komplexe Wirtschaftsstrafverfahren sind fĂŒr die Justiz herausfordernd. Ermittlungen dauern oft zehn Jahre und mehr. Weitere Jahre vergehen, bis die Hauptverhandlung eröffnet wird. Olearius‘ potenzielle Taten liegen heute bis zu 17 Jahre zurĂŒck.

Sie wiegen deshalb nicht weniger schwer. Es steht zu befĂŒrchten, dass weitere Cum-Ex-Verfahren enden wie das von Olearius. Strafrechtlich ist der grĂ¶ĂŸte Steuerskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte noch lange nicht aufgearbeitet. Mit jedem Jahr, das verstreicht, steigt das Risiko, dass die Gerichte selbst in schwerwiegenden FĂ€llen kein Urteil mehr sprechen können.

Eines ist gewiss: Das Ende des Verfahrens gegen Olearius schadet unserem Rechtsstaat. Mancher Außenstehende mag das Treiben beobachten und zu dem Schluss kommen, mit dem sich schon zu viele abgefunden haben: Die Großen lĂ€sst man laufen.“

Nicht ĂŒberraschend zeigte sich auch der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler, einer von Olearius‘ vier hochpreisigen Verteidigern, staatskritisch. FĂŒr ihn fehlt der Anklage jede GlaubwĂŒrdigkeit, da die Cum-Ex-GeschĂ€fte der staatlichen Landesbank WestLB bis heute nicht strafrechtlich verfolgt wĂŒrden: „Das Land NRW klagt Taten an, die es selbst begangen hat.“ (zit. nach taz)

TatsĂ€chlich werden Cum-Ex-Ă€hnliche Steuerraub-Modelle nicht nur von großen Banken, sondern auch von Volksbanken und Sparkassen genutzt (vgl. auch den BIG-Artikel vom 19. Dezember 2022). Der Verein Finanzwende berichtet, dass nach neuen SchĂ€tzungen fĂŒr den Zeitraum von 2000 bis 2020 allein in Deutschland der Schaden aus Cum-Cum-GeschĂ€ften bei etwa 28,5 Milliarden Euro liegt.

Nach dem Eindruck von Ex-StaatsanwÀltin Anne Brorhilker, als engagierte AufklÀrerin in Sachen Cum-Ex bekannt geworden, laufen die kriminellen GeschÀfte weiter. So hÀtte sich das System weiter perfektioniert und verschiedene Varianten hervorgebracht. Sie kritisiert das fehlende staatliche Verfolgungsinteresse scharf:

„Bei Cum-Ex ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft inzwischen gegen 1.700 Beschuldigte. Jetzt stellen Sie sich mal vor, es wĂ€ren 1.700 Drogendealer gewesen. Da wĂ€re in Köln aber was los gewesen! Das hĂ€tte selbstverstĂ€ndlich sofort lĂŒckenlos aufgeklĂ€rt werden mĂŒssen. Aber bei Wirtschaftsstrafsachen passiert das oft nicht. Es wird zwar immer gesagt, vor dem Gesetz sind alle gleich, aber ich habe festgestellt: In FĂ€llen, in denen es schwieriger, komplizierter und langwieriger wird, da kapituliert der Staat hĂ€ufig.“

Abschließend noch einmal die Junge Welt:

„‚Cum-ex‘-Ă€hnliche Steuerraub-Modelle florieren also weiterhin – und mit dem Wissen um den politischen Unwillen zur Strafverfolgung wohl jetzt erst recht. Schließlich waren die Einstellung des Verfahrens gegen Olearius und die Degradierung Brorhilkers nicht die einzigen erfreulichen Signale, die Steuerdiebe in letzter Zeit vernehmen durften. So wurde Mitte Juni bekannt, dass nach mittlerweile zwölf Jahren Ermittlungsarbeit gerade einmal 17 Verfahren gegen ‚Cum-ex‘-Verbrecher eröffnet wurden. Von den bislang rund 1.700 VerdĂ€chtigen muss sich also gerade mal ein Prozent vor Gericht verantworten. Aufstockung der ErmittlungskapazitĂ€ten? Pustekuchen.“

 

Quellen:

Klau Ott: „Der Skandal hinterm Skandal“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 25. Juni

Hermannus Pfeiffer: „Olearius kommt so davon“, taz (Online) vom 24. Juni 2024

https://taz.de/Archiv-Suche/!6016239&s/

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Gericht stellt Verfahren gegen Olearius wegen Krankheit ein“, Handelsblatt (Online) vom 24. Juni 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-gericht-stellt-verfahren-gegen-olearius-wegen-krankheit-ein/100046417.html

Volker Votsmeier: „Das Ende des Prozesses gegen Olearius schadet dem Rechtsstaat“, Handelsblatt (Online) vom 24. Juni 20254

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-das-ende-des-prozesses-gegen-olearius-schadet-dem-rechtsstaat/100046968.html

„Cum-Ex-Deals ohne Konsequenzen?“, Interview mit dem ZDF-Rechtsexperten Christoph Schneider, ZDF-heute live vom 24. Juni 2024

https://www.zdf.de/nachrichten-sendungen/zdfheute-live/cum-ex-prozess-schneider-video-100.html

Sebastian Edinger: „Einladung zum Steuerraub“, junge Welt vom 1. Juli 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/478421.cum-ex-und-cum-cum-einladung-zum-steuerraub.html?

„Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren kann“, Interview mit Anne Brorhilker, Die Zeit vom 27. Juni 2024, Seite 17f.

Betrugsdelikte im Pflegebereich

Es gibt bereits zahllose Reportagen und Untersuchungen ĂŒber die elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in Altenheimen und die schlechten ZustĂ€nde in der ambulanten Pflege. Und auch ĂŒber kriminelle Netzwerke im Gesundheitswesen bzw. im Pflegesektor wurde in den letzten Jahren hĂ€ufig berichtet.

Mitte Mai legte nun die KKH KaufmĂ€nnische Krankenkasse – mit 1,6 Millionen Versicherten eine der grĂ¶ĂŸten bundesweiten Krankenkassen – einen neuen Report vor, nach dem kriminelle Machenschaften im Gesundheitswesen und speziell im Pflegebereich „als einem Brennpunkt mit hohem Risiko fĂŒr BedĂŒrftige“ deutlich zunĂ€hmen.

In einer Pressemeldung der KKH heißt es:

„Ob Pseudo-Pflegepersonal eingesetzt, Arzneien gepanscht, Versichertenkarten missbraucht, nie erfolgte Behandlungen abgerechnet oder Berufsurkunden gefĂ€lscht werden: Betrug und Korruption ziehen sich quer durch alle Leistungsbereiche des Gesundheitssystems – von Arztpraxen und Apotheken ĂŒber Pflegeeinrichtungen, Kranken- und SanitĂ€tshĂ€user bis hin zu Praxen fĂŒr Physio- und Ergotherapie. Allein im zurĂŒckliegenden Jahr gingen bundesweit 553 neue Hinweise auf möglichen Betrug bei der KKH-PrĂŒfgruppe Abrechnungsmanipulation ein. Die meisten davon betreffen die ambulante (179) und die stationĂ€re Pflege (167). Damit gehen rund zwei Drittel aller NeufĂ€lle auf das Konto von Pflegeeinrichtungen. Rang drei belegen Krankengymnastik- und Physiotherapiepraxen mit 74 Hinweisen.“

Durch Betrug, Korruption oder UrkundenfÀlschung entstand der KKH damit allein im vergangenen Jahr ein Schaden von rund 3,5 Millionen Euro. 2022 wurde der Schaden auf mehr als einer Million Euro beziffert, ein Jahr zuvor lag er bei 4,7 Millionen Euro (vgl. Die Welt).

Anfang April 2024 hatte das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag der KKH bundesweit 1.004 Personen reprÀsentativ zum Thema befragt. Das Ergebnis:

„Die Mehrheit der Deutschen zwischen 18 und 70 Jahren (58 Prozent) hat laut der forsa-Umfrage selbst schon einmal Erfahrungen mit Betrugsdelikten im Gesundheitswesen gemacht oder kennt Betroffene im eigenen Umfeld. Besonders auffĂ€llig auch hier der Pflegebereich. So geben 41 Prozent der Befragten an, dass aus ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis jemand trotz zuerkanntem Pflegegrad nicht ausreichend versorgt wurde – sei es aufgrund unzureichend ausgebildeter PflegekrĂ€fte oder nicht erbrachter Leistungen.“ (Pressemeldung KKH)

Die Welt zitiert Silke KĂŒhlborn von der Staatsanwaltschaft Leipzig, Leiterin einer Abteilung fĂŒr Wirtschaftsstrafrecht zur BekĂ€mpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen. „Es ist erschreckend festzustellen, welche kriminelle Energie die Beschuldigten bei ihren Taten teilweise an den Tag legen.“ Andererseits sei auffallend, dass viele Betrugstaten nicht heimlich begangen wĂŒrden. Mitarbeitende wĂŒssten das in aller Regel und wunderten sich, dass das hingenommen werde.

In der Titelgeschichte der Zeitschrift Focus vom 10. Mai 2024 geht es einmal mehr um die „Tricks der Pflege-Mafia“, um das löchrige Kontrollsystem und das Versagen der Politik. Das deutsche Gesundheitssystem wirke wie ein alles verschlingender Moloch: „JĂ€hrlich frisst es 500 Milliarden Euro – mehr als der gesamte Bundeshaushalt mit 477 Milliarden Euro.“ Nach offiziellen SchĂ€tzungen wĂŒrden die BetrĂŒger zwischen 18 und 20 Milliarden Euro aus dem System ziehen. EuropĂ€ische Untersuchungen sprĂ€chen sogar von sechs Prozent der jĂ€hrlichen Gesundheitsausgaben, die auf den Konten der BetrĂŒger landeten – also fast 30 Milliarden Euro.

Auch der Pflegebereich als drittgrĂ¶ĂŸtes Segment im Gesundheitswesen sei ein „Schlaraffenland fĂŒr Kriminelle“, wie es ein Vertreter der Staatsanwaltschaft MĂŒnchen ausdrĂŒckt. Nach SchĂ€tzung eines Experten beim LKA Berlin sind von den knapp 700 Pflegediensten in der Hauptstadt etwa 90 dem kriminellen Bereich zuzurechnen. Viele der bis zu 600.000 zumeist osteuropĂ€ischen BetreuungskrĂ€fte, die rund um die Uhr in deutschen Haushalten arbeiten, so die Zeitschrift, wĂŒrden um ihre Rechte betrogen (Tricks bei Bezahlung und Arbeitszeit).

Das Versagen der Politik beim Abrechnungsbetrug zeige sich allein darin, dass der Gesetzgeber erst 2016 auf die ausufernden MilliardenschĂ€den reagiert und Bestechung und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen ins Strafgesetzbuch aufgenommen habe. Ein AOK-Ermittler weist auf die Notwendigkeit einer gesundheitsökonomischen und kriminologischen Forschung zu den vielfĂ€ltigen Deliktsbereichen hin. Aber das Gesundheitsministerium schiebe die Verantwortung dafĂŒr ans Justizministerium ab – und das schiebe sie wieder zurĂŒck.

 

Quellen:

„BetrĂŒger ergaunern Millionen aus Gesundheitstopf“, Pressemeldung der KKH KaufmĂ€nnische Krankenkasse vom 15. Mai 2024

https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/betruggesundheitswesen

„Krankenkasse KKH meldet MillionenschĂ€den durch BetrĂŒger“, Die Welt (Online) vom 16. Mai 2024

https://www.welt.de/regionales/niedersachsen/article251520800/Krankenkasse-KKH-meldet-Millionenschaeden-durch-Betrueger.html

Christoph Elflein: „Der große Betrug“, Focus vom 10. Mai 2024, Seite 42-52

Großbritannien: Das Scheitern der Privatisierung

„Stinkende FlĂŒsse, stillstehende ZĂŒge und unbezahlbare Energiepreise: Angesichts dieser Bilanz hat selbst eine Mehrheit konservativer WĂ€hler im Königreich nach Meinungsumfragen die Nase voll von der Privatisierung einstmals öffentlicher Dienstleistungen. Viele BĂŒrger fordern zumindest eine Teilverstaatlichung der privaten Wasser-, Bahn- und Energieversorgung. ‚Der Fall von Thames Water zeigt, dass die Privatisierung gescheitert ist‘, titelte kĂŒrzlich das Magazin ‚The Spectator‘, das intellektuelle Sprachrohr der britischen Konservativen.“ (Handelsblatt vom 10. Mai 2024)

Der ehemals öffentliche britische Wasserversorger Thames Water wurde 1989 unter Premierministerin Thatcher privatisiert und galt als ein Vorzeigeprojekt. Derzeit steht er stellvertretend fĂŒr das Desaster der Privatisierungspolitik bei öffentlichen Versorgungsunternehmen im Allgemeinen und der Wasserwirtschaft im Besonderen im Königreich. Kritische Stimmen betonen, dass private EigentĂŒmer, wie Pensionsfonds oder Private-Equity-Gesellschaften, enorme Schulden aufgenommen und diese den ĂŒbernommenen Unternehmen aufgeladen hĂ€tten. Deshalb sei zu wenig in die Infrastruktur investiert worden, um zugleich hohe Dividenden an die AktionĂ€re ausschĂŒtten zu können.

Thames Water versorgt rund 16 Millionen Menschen in London und im SĂŒdosten Englands mit Wasser, steht aber wegen einer Verschuldung von inzwischen rund 18 Milliarden Pfund vor der Pleite. Die konservative britische Regierung in London will eine Verstaatlichung offensichtlich unbedingt vermeiden, da ein solcher Schritt die Tories vor den vermutlich noch 2024 anstehenden Parlamentswahlen in ErklĂ€rungsnöte bringen könnte.

Die Folgen der Wasserprivatisierung in Großbritannien beschreibt ein ARD-Beitrag:

„In England werden Millionen Kubikmeter ungeklĂ€rtes Wasser in FlĂŒsse und das Meer geleitet. Jetzt gibt es Widerstand: Vielerorts weigern sich Anwohner, ihre Wasserrechnungen zu bezahlen. (
)

Eigentlich ist Whitstable ein idyllischer Bade- und Hafenort ‒ nur anderthalb Stunden östlich von London ‒ mit einem wunderbar breiten Strand. Das Ganze hat nur einen Schönheitsfehler, den man allerdings nicht sehen kann: Es stinkt. Denn wann immer es stark geregnet hat, leiten die Wasserfirmen ungefilterte FĂ€kalien in den Hafen und damit ins Meer. (…)

Allein im Jahr 2023 wurde offiziell 400.000 Mal derart ungereinigtes Abwasser in FlĂŒsse und ins Meer abgelassen. Und das sind nur die FĂ€lle, die registriert wurden. Da das nur in wenigen FĂ€llen in diesem Ausmaß legal ist, mĂŒssen die Firmen zwar Strafen zahlen, die allerdings meist so gering sind, dass sie sie locker wegstecken. (
)

Denn seit Margaret Thatcher die englischen Wasserfirmen 1989 privatisiert hat, haben die umgerechnet mehr als 70 Milliarden Euro an ihre AktionĂ€re ausgezahlt, in Abwasser-Rohre und Infrastruktur allerdings nur marginal investiert. Weshalb englische FlĂŒsse und das Meer mittlerweile im Dreck versinken. Immer hĂ€ufiger landen Briten, die einfach nur schwimmen waren, im Krankenhaus, oft mit schweren Lebervergiftungen, denn im ungeklĂ€rten Abwasser sind jede Menge Bakterien. Im vergangenen Sommer kam es so an vielen StrĂ€nden, auch in Whitstable zu fĂŒr englische VerhĂ€ltnisse ungewohnt lautem Protest, tausende versammelten sich am Hafen um gegen die chronische Wasserverschmutzung zu protestieren. (
) Eine der Demonstrantinnen ist Elaine Hefemann. Sie sei im vergangenen Jahr derart krank geworden, dass sie ĂŒber Wochen nicht zur Arbeit konnte. Seitdem boykottierte sie einfach ihre Wasser-Rechnung: ‚Ich habe gezahlt, seit die Wasserversorgung privatisiert wurde, die Firmen haben das alles damals schuldenfrei ĂŒbernommen, wir haben jahrelang geblecht, damit sie in die Infrastruktur investieren und sie haben einfach nichts gemacht. Warum sollte ich dafĂŒr jetzt nochmal zahlen?‘“

Ein Artikel auf den „NachDenkSeiten“ beleuchtet den politischen Hintergrund:

„Die Probleme bei Thames Water kommen jedoch nicht von ungefĂ€hr, sondern sind das Ergebnis einer verfehlten und ideologiegetriebenen Privatisierungspolitik. Um das zu verstehen, ist es notwendig, sich die Besonderheiten des Wassermarktes einmal genauer anzuschauen. So ist die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser ein natĂŒrliches Monopol. Das liegt daran, dass es – Ă€hnlich wie bei der Versorgung mit Strom und Gas – schlichtweg ökonomisch ineffizient ist, mehrere Leitungsnetze parallel zu betreiben. Das heißt, derjenige, der das Netz besitzt, ist Monopolist. Er kann potenzielle Konkurrenten vom Markt fernhalten und die Preise diktieren. Deswegen wird der Bereich der leitungsgebundenen Versorgung gesondert geregelt. In Deutschland etwa befindet sich die Wasserversorgung in kommunaler Hand. (…)

England und Wales sind jedoch Ende der Achtzigerjahre einen anderen Weg gegangen. Dort hat die damalige Premierministerin Margaret Thatcher eine breite Privatisierungsoffensive angestoßen, bei der mehr als 50 öffentliche Unternehmen in private Hand ĂŒbergingen, darunter sĂ€mtliche Versorger. Das Vorgehen war ideologisch motiviert. Thatcher, die den Ideen des österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek anhing, verfolgte die Vision einer ‚property-owning democracy‘. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Unternehmergeist und private Initiative grundsĂ€tzlich zu besseren Ergebnissen fĂŒhren als staatliches Engagement – selbst im Bereich der leitungsgebundenen Monopole.

Bei den britischen Wasserversorgern ist heute jedoch genau das Gegenteil zu beobachten. Denn hier treten inzwischen all die negativen Begleiterscheinungen auf, die Monopolen gemeinhin zugeschrieben werden – hohe Preise, eine schlechte ProduktqualitĂ€t, geringe Investitionen sowie eine SelbstbedienungsmentalitĂ€t bei Managern und EigentĂŒmern. Ablesen lĂ€sst sich dies unter anderem am schlechten Zustand der Infrastruktur, die zusehends auf Verschleiß gefahren wird. Im vergangenen Jahr etwa hat die nationale Umweltbehörde mehr als 300.000 VorfĂ€lle festgestellt, bei denen Millionen Liter Dreckwasser in FlĂŒsse, Seen und an die KĂŒste geleitet wurden. Der Branchenverband Water UK musste sich sogar fĂŒr die Verschmutzung von FlĂŒssen und StrĂ€nden entschuldigen.“

Wie geht es weiter? Sollte Thames Water kein neues Geld von seinen privaten Investoren erhalten, so das Handelsblatt am 10. Mai 2024, erledige sich die Sache von selbst. Die Regierung in London wĂ€re dann gezwungen, den grĂ¶ĂŸten britischen Wasserversorger in staatliche Zwangsverwaltung zu nehmen. Weiter schreibt das wirtschaftsliberale Blatt:

„Seit Pandemie, Energiekrise und Kriege die BĂŒrger in den westlichen Industrienationen verunsichert haben, feiert der Staat zwar auch in der Wirtschaftspolitik ein Comeback. Eine RĂŒckverstaatlichung der Versorgungsbetriebe gerade in Großbritannien wĂ€re jedoch eine Wende von historischer Bedeutung.

War es doch die frĂŒhere britische Premierministerin Margaret Thatcher, die mit ihrer radikalen Privatisierungspolitik in den 1980er-Jahren ein neoliberales Zeitalter der MarktglĂ€ubigkeit rund um den Globus einleitete.“

Quellen:

Anette Dittert: „Widerstand gegen private Wasserkonzerne“, tagesschau.de vom 22. April 2024

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/england-wasser-verschmutzung-100.html

Thorsten Rieke: „Thatchers Erblast – warum Großbritannien viele Privatisierungen gerade zurĂŒckdreht“, Handelsblatt (Online) vom 10. Mai 2024

https://www.handelsblatt.com/politik/international/grossbritannien-thatchers-erblast-warum-grossbritannien-viele-privatisierungen-gerade-zurueckdreht/100035651.html

Thomas Trares: „Der Versorger Thames Water – Vorzeigeprojekt der Thatcher-Ära und Sinnbild einer gescheiterten Privatisierung“, NachDenkSeiten vom 9. April 2024

https://www.nachdenkseiten.de/?p=113562

Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker wechselt zur BĂŒrgerbewegung

Anne Brorhilker, Kölner OberstaatsanwĂ€ltin und erfolgreichste Cum-Ex-AufklĂ€rerin in Deutschland, möchte Ende Mai 2024 den Staatsdienst verlassen, um als GeschĂ€ftsfĂŒhrerin bei der „BĂŒrgerbewegung Finanzwende“ aktiv zu werden. In einem Interview mit dem WDR begrĂŒndete sie am 22. April ihre Entscheidung. Wegen der schwach aufgestellten Justiz sieht sie grĂ¶ĂŸte Defizite bei der BekĂ€mpfung der FinanzkriminalitĂ€t in Deutschland: Der Förderalismus fĂŒhre etwa zu einer Zersplitterung der ZustĂ€ndigkeiten, so dass eine BĂŒndelung von Ermittlungen nicht möglich sei. Auch fehle eine europĂ€ische Koordination sowie Personal, um sich auf Augenhöhe mit den Kriminellen und ihren AnwĂ€lten bewegen zu können. Deshalb verliere die Allgemeinheit das Vertrauen in den Rechtsstaat (z. B. weil sich VerdĂ€chtige oft mit Deals aus den Verfahren herauskaufen wĂŒrden). Es sei ungerecht, wenn Steuerhinterzieher in Deutschland deutlich besser wegkĂ€men als SozialhilfebetrĂŒger, ganz nach dem Motto: „Die Kleinen hĂ€ngt man, die Großen lĂ€sst man laufen“.

Die 50 Jahre alte Juristin engagiert sich seit 2013 gegen die Cum-Ex-GeschĂ€fte und erwirkte 2019 das erste rechtskrĂ€ftige Urteil. Zurzeit ermitteln nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Köln ĂŒber 30 StaatsanwĂ€ltinnen und StaatsanwĂ€lte in ihrer Abteilung gegen etwa 1.700 Beschuldigte in 135 Verfahrenskomplexen (vgl. Handelsblatt vom 22. April).

 

AuszĂŒge aus Pressekommentaren

Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024:

„Der 22. April 2024 war ein schwarzer Tag fĂŒr den deutschen Rechtsstaat. Die Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker bat um ihre Entlassung. Der Abschied der OberstaatsanwĂ€ltin nĂ€hrt erneut die Zweifel am politischen Willen zur AufklĂ€rung dieses grĂ¶ĂŸten deutschen Steuerskandals. (
)

Vertreter aller Parteien beklagen mit scharfen Worten die MÀngel der AufklÀrung, wenn die politische Verantwortung gerade nicht in den eigenen Reihen liegt. Ihr GedÀchtnis ist kurz.

In Nordrhein-Westfalen war es Thomas Kutschaty von der SPD, der sich als NRW-Justizminister bis 2017 praktisch gar nicht fĂŒr die Arbeit von Brorhilker interessierte. SpĂ€ter nannte Kutschaty die schleppende AufklĂ€rung ‚skandalös‘.

Sein Nachfolger Biesenbach von der CDU sagte einmal, er habe vor seinem Antritt kaum gewusst, was Cum-Ex eigentlich ist. Zwei Jahre gingen ins Land. Immerhin: Als Biesenbach den Milliardenskandal 2019 bemerkte, gewÀhrte er Brorhilker mehr Stellen.

Der amtierende NRW-Justizminister Benjamin Limbach (GrĂŒne) versuchte dann 2023, das Cum-Ex-Rad wieder zurĂŒckzudrehen. Er unterstellte Brorhilker organisatorische MĂ€ngel, wollte die HĂ€lfte ihrer Ermittlerstellen einem Mann ohne Vorwissen beim Thema Cum-Ex anvertrauen. Nur ein öffentlicher Aufschrei verhinderte das Schlimmste.

Wer in dieser AufzĂ€hlung die FDP vermisst, kann sich an Wolfgang Kubicki wenden. Auch der Anwalt und Finanzexperte der Liberalen sah 2013 einen AufklĂ€rungsskandal, als er einen politischen Gegner betraf. Nur Monate spĂ€ter hatte Kubicki einen neuen Mandanten: Hanno Berger, den grĂ¶ĂŸten aller deutschen SteuerrĂ€uber. Mit einem Mal hielt Kubicki Cum-Ex öffentlich fĂŒr eine ‚GesetzeslĂŒcke‘. (
)

Warum ist der Staat so zögerlich? Warum wird nicht ein Heer von Steuerfahndern und spezialisierten StaatsanwÀlten gebildet? Es kann nicht an den Kosten liegen. Diese Art von Beamten finanziert ihre Stellen selbst und zehn andere dazu.

Der Abgang Brorhilkers offenbart auch ein politisches Problem. Deutsche Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Besonders forsche Ermittler können jederzeit aus dem Justizministerium zurĂŒckgepfiffen werden. Manche vermuten genau dieses PhĂ€nomen beim Cum-Ex-Fall von Bundeskanzler Olaf Scholz rund um die Hamburger Privatbank M.M. Warburg.

Der EuropĂ€ische Gerichtshof hat seine Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland schon 2019 verschriftlicht. Das höchste EU-Gericht urteilte, deutsche Staatsanwaltschaften dĂŒrften keine EuropĂ€ischen Haftbefehle mehr ausstellen. Grund sei, dass es ‚keine hinreichende GewĂ€hr fĂŒr eine UnabhĂ€ngigkeit gegenĂŒber der Exekutive‘ gebe.

Diese DurchlĂ€ssigkeit der Gewaltenteilung ist untragbar. Schon der Anschein, dass ein Minister Einfluss auf die Arbeit einer Staatsanwaltschaft nimmt, ist schĂ€dlich. Vielleicht kann das Dienstende von Anne Brorhilker wenigstens dies bewirken: Das ministerielle Weisungsrecht gehört abgeschafft.“

 

Die Zeit vom 25. April 2024:

„Man kann nur hoffen, dass die beim Thema Cum-Ex oft mindestens tollpatschig agierende Politik ihr gut zuhört. Denn die große Frage hinter ihrem RĂŒckzug lautet: Ist die deutsche Justiz strukturell ĂŒberhaupt in der Lage, ein Jahrhundert-Wirtschaftsverbrechen wie Cum-Ex aufzuklĂ€ren, bei dem weit mehr als tausend TĂ€ter sich hemmungslos vom Staat viele Milliarden an Steuern zurĂŒckerstatten ließen, die sie zuvor nie gezahlt hatten? Anne Brorhilker hĂ€lt das nicht nur fĂŒr eine Frage der Gerechtigkeit. Sondern auch fĂŒr eine Frage des Selbstrespekts einer Demokratie. FĂŒr diese Ziele will sie weiter kĂ€mpfen.“

 

Wirtschaftswoche (Online) vom 22. April 2024:

„Anne Brorhilker hat sich fĂŒr die große BĂŒhne entschieden, um ihren Abgang zu verkĂŒnden: Deutschlands wichtigste Cum-ex-Ermittlerin hat dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) ein 17-minĂŒtiges Interview gegeben, in dem sie erlĂ€utert, warum sie nicht lĂ€nger als StaatsanwĂ€ltin wirken mag.

Und in dem sie den Staat fĂŒr dessen angeblich stĂŒmperhaften Umgang mit FinanzkriminalitĂ€t abwatscht. Entsprechend groß ist die mediale Erregung, seitdem der WDR das Interview am Montagmittag veröffentlicht hat. Bloß: Brorhilkers Kritik ist zwar richtig, ihr Auftritt aber dennoch selbstgerecht. Die Vorzeige-StaatsanwĂ€ltin aus Köln hĂ€tte sich die Watsche besser gespart – und stattdessen ĂŒber ihre eigenen Fehlentscheidungen rĂ€sonieren sollen, die zur schleppenden AufklĂ€rung des Cum-ex-Deals beigetragen haben. Die Republik hĂ€tte daraus eine Menge lernen können: fĂŒr kĂŒnftige Mega-Verfahren im Wirtschaftsstrafrecht. Dabei hat sich Brorhilker unstreitig bundesverdienstkreuzwĂŒrdige Verdienste in der Causa erworben. (
)

Zur Wahrheit gehört aber auch: Wenn Brorhilker nicht wiederholt Fehler begangen hĂ€tte, wĂ€ren die Ermittlungen heute womöglich weiter. (
)

Nach immer neuen Aufstockungen durch die nordrhein-westfĂ€lische Landespolitik aber verfĂŒgt ihre Abteilung inzwischen ĂŒber 40 Stellen – gemessen an den MaßstĂ€ben einer Staatsanwaltschaft ist das luxuriös. Schließlich leiten StaatsanwĂ€lte die Ermittlungen bloß, wĂ€hrend Polizisten, Spezialisten von LandeskriminalĂ€mtern und Steuerfahnder die Detailarbeit erledigen. Zwar sind manche der 40 Stellen bis heute unbesetzt, aber das hat Brorhilker auch selbst zu verantworten.

Ihr FĂŒhrungsstil, den Insider als beinahe autoritĂ€r beschreiben, soll wiederholt erfahrene StaatsanwĂ€lte vergrĂ€tzt haben, die ihre Ermittlungsautonomie verletzt sahen, ist auf den Fluren der Kölner Staatsanwaltschaft zu hören. Mit der Folge, dass in Brorhilkers Abteilung immer wieder BerufsanfĂ€nger angeheuert haben sollen, die sich Top-AnwĂ€lten entgegenstellen mĂŒssen. Und mit der Konsequenz, dass Brorhilker zur Alleinherrscherin ĂŒber die Ermittlungen geworden sein soll, die sich dadurch verzögert haben sollen. Mitunter soll auch Brorhilkers Organisation der Ermittlungen chaotisch angemutet haben, berichten Beteiligte. (
)

Zudem fĂ€cherte Brorhilker die Ermittlungen immer weiter auf, ließ die Zahl der VerdĂ€chtigen auf 1700 anschwellen – selbst fĂŒr 40 StaatsanwĂ€lte eine schier wahnsinnige AufgabenfĂŒlle. Brorhilker selbst gab sich in dem WDR-Interview zwar ĂŒberzeugt, die VerdĂ€chtigen-Zahl mĂŒsse derart hoch liegen. Sie sei verpflichtet, Verfahren einzuleiten, wenn es einen Verdacht gebe.

Das stimmt auch. Aber natĂŒrlich haben Staatsanwaltschaften einen Spielraum dabei, ob sie einen sogenannten Anfangsverdacht erkennen, der Ermittlungen notwendig macht. Diesen Spielraum hĂ€tte Brorhilker besser nutzen mĂŒssen.

Auch hĂ€tte die Juristin Verfahren gegen Geldzahlungen einstellen mĂŒssen. Sie hĂ€lt das fĂŒr unfair, weil sie nicht will, dass SteuersĂŒnder davonkommen, die den Staat um viele Millionen geprellt haben. Und natĂŒrlich mĂŒssen die Drahtzieher der Cum-ex-Deals vor Gericht gestellt werden, das ist klar. Aber Einstellungen von Verfahren gegen MitlĂ€ufer, von denen manche die Details der hochkomplexen BörsengeschĂ€fte weder verstanden noch gewusst haben dĂŒrften, hĂ€tten Brorhilker die Chance gegeben, sich auf die HaupttĂ€ter zu fokussieren.“

 

Der Stern (Online) vom 23. April 2024:

„Der Wechsel einer der prominentesten StaatsanwĂ€ltinnen, deren Namen seit Jahren eng mit der AufklĂ€rung des grĂ¶ĂŸten Steuerskandals der Republik verbunden ist, direkt an die Spitze einer NGO ist ein spektakulĂ€rer Schritt. Dass Ermittler in großen WirtschaftsfĂ€llen im Laufe der Zeit abgezogen werden oder innerhalb des Justizapparats den Posten wechseln, kommt durchaus vor. (
)

Aber dass eine OberstaatsanwĂ€ltin nach elf Jahren Ermittlungsarbeit in einem Fall wie Cum Ex, in dem es um den grĂ¶ĂŸten Steuerraub in der deutschen Geschichte und um politische Verwicklungen bis hin zum heutigen Bundeskanzler geht, nicht erst um Versetzung bittet, sondern gleich den Staatsdienst verlĂ€sst, hat es wohl so noch nicht gegeben. (
)

Auch im Fall Cum Ex, das macht sie in dem WDR-Interview deutlich, vermisst Brorhilker den RĂŒckhalt aus der Politik. Sie habe gemerkt, wie ‚schwer es ist, UnterstĂŒtzung fĂŒr die Cum-Ex-Ermittlungen zu bekommen‘, sagt sie – obwohl allen klar sei, dass das Thema angesichts des Milliardenschadens sehr wichtig sei. (
)

Als einen Grund dafĂŒr fĂŒhrt sie die Zersplitterung der ZustĂ€ndigkeiten in der Justiz durch den Föderalismus an – wohl eine Andeutung dafĂŒr, dass sich Kollegen in den Justizbehörden anderer LĂ€nder eher bemĂŒhten, die Ermittlungen ihres Kölner Teams zu bremsen, als diese zu unterstĂŒtzen. Etwa die in Hamburg, wo die Privatbank Warburg tief in die illegalen Cum-Ex-Deals verstrickt war, sich aber auf das Wohlwollen des Senats unter dem damaligen BĂŒrgermeister Olaf Scholz verlassen konnte.

Die Konsequenzen der Tatsache, dass Staatsanwaltschaften in Deutschland der Politik unterstellt sind, musste Brorhilker zuletzt aber auch daheim in NRW feststellen. Im September 2023 sorgte Landesjustizminister Benjamin Limbach (GrĂŒne) mit einem geplanten Eingriff bei der Kölner Staatsanwaltschaft fĂŒr Schlagzeilen. Chefermittlerin Brorhilker sollte einen Kollegen an die Seite gestellt bekommen – angeblich, um die Ermittlungen gegen die bundesweit rund 1800 Beschuldigten zu beschleunigen. Doch von vielen wurden Limbachs PlĂ€ne als Entmachtung der Cum-Ex-JĂ€gerin und politische Sabotage ihrer Ermittlungen interpretiert – durchaus auch von Brorhilker selbst.

(
)

Schon 2020 war die Ermittlerin einmal von Vorgesetzten zurĂŒckgepfiffen worden, als sie im politisch besonders brisanten Fall der Warburg Bank eine Razzia in Hamburg plante.

Was Brorhilkers KĂŒndigung so bemerkenswert macht, ist, dass sie offenbar ĂŒberzeugt ist, an der Spitze einer NGO jetzt mehr fĂŒr den Kampf gegen FinanzkriminalitĂ€t bewirken zu können als in ihrer Ermittlerrolle. (
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Es könnte sein, dass Deutschlands mĂ€chtigste StaatsanwĂ€ltin außer Dienst bald nicht nur in der Öffentlichkeit bisherigen Kolleginnen und Kollegen auf die FĂŒĂŸe tritt, wenn diese aus ihrer Sicht zu rĂŒcksichtsvoll mit Finanzkriminellen umgehen – sondern sich auch mit den Bremsern in der Politik anlegt.“

 

Taz (Online) vom 23. April 2024:

„2023 konterte Brorhilker den Versuch des grĂŒnen NRW-Justizministers Benjamin Limbach, der ihre Abteilung teilen und eine Anzahl Verfahren in andere HĂ€nde legen wollte. Limbachs Motiv bestand wohl auch darin, die Ermittlungen zu beschleunigen. Brorhilker wehrte sich erfolgreich, Limbach ließ seinen Plan fallen und stockte die Stellen der Staatsanwaltschaft auf.

Vielleicht spĂŒrte Brorhilker trotzdem einen Mangel an langfristiger UnterstĂŒtzung. Jetzt wechselt sie die Ebene der Auseinandersetzung. Im Einklang mit Gerhard Schick betonte sie, sich politisch, öffentlich und mit Kampagnen fĂŒr die StĂ€rkung des Rechtsstaates einsetzen zu wollen. Ein Ziel könnte darin bestehen, dass irgendwann eine Bundesanwaltschaft gegen FinanzkriminalitĂ€t gegrĂŒndet wird – Ă€hnlich dem Generalbundesanwalt, der sich unter anderem um Terrorismus kĂŒmmert.“

 

Neues Deutschland (Online) vom 23. April 2024:

„Es ist ein vernichtendes Urteil fĂŒr Justiz und Politik: Die oberste Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker wechselt zur NGO Finanzwende – dort könne sie mehr ausrichten denn als OberstaatsanwĂ€ltin. Im Interview mit WDR-Investigativ betont Brorhilker zwar, die Kölner Staatsanwaltschaft sei auf dem richtigen Weg und gut aufgestellt, um die Cum-Ex-Ermittlungen weiter voranzutreiben. Ihr Frust ĂŒber deren Ablauf blieb dennoch unverhohlen. Brorhilker sei ‚mit Leib und Seele‘ StaatsanwĂ€ltin gewesen. Sie sei aber nicht damit zufrieden, wie FinanzkriminalitĂ€t in Deutschland verfolgt wird. ‚Die Kleinen fĂ€ngt man, die Großen lĂ€sst man laufen. Das ist einfach ungerecht‘, stellte sie fest. Damit kommt Brorhilker dem Vorwurf der Klassenjustiz wohl so nah, wie sie es in ihrer jetzigen Position kann. Auch die Beeinflussung der Politik durch die Finanzbranche sei systemisch, fĂŒhrte sie weiter aus. (
)

Jetzt will die StaatsanwĂ€ltin die Justiz besser fĂŒr den Kampf gegen FinanzkriminalitĂ€t rĂŒsten, die Finanzlobby zurĂŒckdrĂ€ngen und fĂŒr Gerechtigkeit vor Gericht sorgen. Das scheint sie sich als GeschĂ€ftsfĂŒhrung einer zivilgesellschaftlichen Organisation eher zuzutrauen.“

 

Die Welt vom 24. April 2024:

„Dass eine Beamtin nach Jahrzehnten im Staatsdienst ihren Abschied einreicht, ist an sich schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Dass der Westdeutsche Rundfunk ihr zu diesem Anlass ein ausfĂŒhrliches Interview einrĂ€umt, ist ein Signal fast schon zeitgeschichtlicher Relevanz. Anne Brorhilker nutzt diesen Anlass noch einmal fĂŒr eine Art letzter Abrechnung. (
)

Nur ein Bruchteil der Verfahren ist bisher zur Anklage gekommen, die meisten von ihnen drehen sich um die Vorkommnisse bei der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. (
)

Die von Brorhilker nun wieder beklagten fehlenden Ressourcen dĂŒrften nur eine Ursache dafĂŒr sein. In der Justiz hieß es schon vor Monaten, dass es auch interne GrĂŒnde dafĂŒr gebe, dass es nicht so richtig vorangehe.  Brorhilker werde nicht nur ausgebremst , sondern bremse mit ihrer Detailversessenheit womöglich auch selbst. Überlegungen, wenigstens relevante FĂ€lle zĂŒgig abzuarbeiten und womöglich in grĂ¶ĂŸerem Stil gegen Geldbußen einzustellen, soll sie wenig zugeneigt gewesen sein.“  

 

SĂŒddeutsche Zeitung vom 23. April 2024:

„Bei der 50-jĂ€hrigen Kölner OberstaatsanwĂ€ltin Anne Brorhilker mĂŒssen Ärger und EnttĂ€uschung riesengroß gewesen sein. (
)

Jetzt wechselt sie zur BĂŒrgerbewegung Finanzwende. Ihre BegrĂŒndung ist eine Ohrfeige fĂŒr die deutsche Politik: ‚Ich war immer mit Leib und Seele StaatsanwĂ€ltin, aber ich bin ĂŒberhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland FinanzkriminalitĂ€t verfolgt wird.‘ Bundesregierungen aller Couleur haben Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zu einem Geldumschlagplatz fĂŒr Kriminelle und Demokratiegegner verkommen lassen. Mafiabanden, MenschenhĂ€ndler und Drogenkartelle erwirtschaften kriminelle Vermögen, deren Herkunft, Aufbewahrung und Einsatz im internationalen, westlich dominierten Finanzsystem verschleiert werden.  (
)

Es ist vieles falsch gelaufen bei der BekĂ€mpfung der FinanzkriminalitĂ€t. Das hat auch bei anderen Beamten, die kriminelle Vermögen und verdĂ€chtige Zahlungsströme jagen wollten und dabei politisch ausgebremst wurden, zu Frustration und EnttĂ€uschung gefĂŒhrt. Es gibt viele ‚Brorhilkers‘ in Deutschland. Ihr öffentlichkeitswirksamer Abgang als OberstaatsanwĂ€ltin zeigt: Es braucht mehr Druck auf Politiker. Was zu tun ist, steht in mit Erfahrungen aus dem Ausland angereicherten Berichten der Fachleute. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat sie alle vorliegen, seit ĂŒber zwei Jahren.“

 

SĂŒddeutsche Zeitung vom 26. April 2024:

„Anne Brorhilker hat auch nicht die Seiten gewechselt, sie geht also nicht in eine Steuergroßkanzlei, um dort das große Geld, das x-Fache des Gehalts zu verdienen, das sie als OberstaatsanwĂ€ltin verdient hat. Sie wird nun Co-GeschĂ€ftsfĂŒhrerin eines Vereins namens ‚Finanzwende‘ (
); sie will ihre bisherige juristische Arbeit in diesem Verein politisch weiterfĂŒhren. (
)

Der Verein, der gegen solche RĂ€ubereien anrennt, versteht sich als zivilgesellschaftliches  und ĂŒberparteiliches Gegengewicht zur Finanzlobby; er will das tun, was die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag versprochen hat, aber partout nicht tut: ‚Deutschland wird‘, so heißt es da, ‚beim Kampf gegen Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung eine Vorreiterrolle einnehmen.‘ Anne Brorhilker hat erlebt und erfahren, wie das in der RealitĂ€t aussieht. (
)

Es geht im Fall Brorhilker  nicht einfach um interne Rangeleien, nicht nur um AnimositĂ€ten innerhalb und außerhalb von Justiz, Justizverwaltung und der sie dirigierenden Politik. Es geht um viel mehr, nĂ€mlich um Grundfragen der Gerechtigkeit. (
)

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verkĂŒndet die Wirtschaftswende und versteht darunter unter anderem scharfe KĂŒrzungen des BĂŒrgergelds bei Verfehlungen arbeitsloser Menschen; er fordert ein Moratorium, also einen Stopp bei den Sozialleistungen. Bei den sogenannten kleinen Leuten muss sich da das GefĂŒhl aufdrĂ€ngen, dass zwar bei ihnen sehr genau hingeschaut und abgerechnet wird – bei den Geldreichen aber nicht. Die KĂŒndigung der Cum-Ex-Ermittlerin legt da den Finger in diese Wunde, in einen bösen Riss zwischen denen da oben und denen da unten. Sie provoziert die Frage, ob es bei uns gerecht zugeht. Es ist dies eine neuralgische Frage fĂŒr die Demokratie.“

 

Quellen:

Exklusiv-Interview: Cum-Ex Chefermittlerin spricht ĂŒber ihre KĂŒndigung, WDR vom 22. April 2024

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTFiNDIzNDg5LTdjYjUtNGVkZS05ZGQ2LTg0OGI2ODdiMjA4Ng

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Cum-Ex-Chefermittlerin Brorhilker hat gekĂŒndigt“, Handelsblatt (Online) vom 22. April 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steueraffaere-cum-ex-chefermittlerin-brorhilker-hat-gekuendigt/100034223.html

Volker Votsmeier: „Brorhilkers Abgang – Die ZermĂŒrbungstaktik der TĂ€ter geht auf“,

Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-brorhilkers-abgang-die-zermuerbungstaktik-der-taeter-geht-auf/100034303.html

Marc Widmann: „Die AnklĂ€gerin“, Die Zeit vom 25. April 2024

Lukas Zdrzalek: „Die Cum-ex-Starermittlerin wĂ€hlt den Heldinnen-Notausgang“, Wirtschaftswoche (Online) vom 22. April 2024

https://www.wiwo.de/my/unternehmen/dienstleister/anne-brorhilker-die-cum-ex-starermittlerin-waehlt-den-heldinnen-notausgang-/29766800.html

Thomas Steinmann: „So fĂ€delte die Cum-Ex-JĂ€gerin ihren Wechsel zu einer NGO ein“, Stern (Online) vom 23. April 2024 (Der Artikel ist eine Übernahme  des Wirtschaftsmagazins Capital. Stern und Capital gehören zu RTL Deutschland)

https://www.stern.de/wirtschaft/anne-brorhilker–das-macht-die-cum-ex-jaegerin-jetzt-34653970.html

Hannes Koch: „Die BanklĂ€gerin“, taz (Online) vom 23. April 2024

https://taz.de/Cum-Ex-Staatsanwaeltin-Brorhilker/!6003474&s

Sarah Yolanda Koss: „Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker: Frau Gleichheit“, Neues Deutschland (Online) vom 23. April 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181701.personalie-cum-ex-ermittlerin-anne-brorhilker-frau-gleichheit.html?

Cornelius Welp: „Abschied und Abrechnung“, Die Welt vom 24. April 2024

Markus Zydra: „Gefahr fĂŒr die Demokratie“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 23. April 2024

Heribert Prantl: „Frustriert“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 26. April 2024

Vgl. auch BIG-Artikel vom 19. Juli 2022: „Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und ‚Sozialbetrug‘ im Vergleich“

https://big.businesscrime.de/artikel/systematische-ungerechtigkeit-steuerhinterziehung-und-sozialbetrug-im-vergleich/

 

Anstieg der illegalen Gewinne aus Zwangsarbeit

Nach einer im MĂ€rz dieses Jahres herausgegebenen Studie der International Labour Organization (ILO) erzielt die Privatwirtschaft durch Zwangsarbeit jĂ€hrlich 236 Milliarden US-Dollar an illegalen Gewinnen. Dies sei ein dramatischer Anstieg um 37 Prozent seit dem Jahr 2014 – „angetrieben sowohl durch eine wachsende Zahl von Menschen, die zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, als auch durch höhere Gewinne erzielt durch die Ausbeutung der Opfer“. (Pressemitteilung vom 19. MĂ€rz)

Wie es in der genannten Pressemitteilung weiter heißt, sind die jĂ€hrlichen illegalen Profite pro Opfer in Europa und Zentralasien am höchsten, gefolgt von den Arabischen Staaten, Nord- und SĂŒdamerika, Afrika sowie Asien und dem Pazifik.

Zwangsarbeit ist in fast allen Bereichen der Wirtschaft zu finden. Mehr als zwei Drittel der gesamten illegalen Gewinne entfallen auf die kommerzielle sexuelle Zwangsausbeutung, obwohl sie nur 27 Prozent der Gesamtzahl der Opfer von privater Zwangsarbeit ausmacht. Über die Dunkelziffer ist naturgemĂ€ĂŸ nichts bekannt:

„Nach der kommerziellen sexuellen Zwangsausbeutung ist die Industrie mit 35 Milliarden US-Dollar der Sektor mit den höchsten jĂ€hrlichen illegalen Gewinnen aus Zwangsarbeit, gefolgt vom Dienstleistungssektor (20,8 Milliarden US-Dollar), Landwirtschaft (5,0 Milliarden US-Dollar) und Hausarbeit (2,6 Milliarden US-Dollar). Bei diesen illegalen Gewinnen handelt es sich um die Löhne, die rechtmĂ€ĂŸig in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehören, stattdessen aber bei den Ausbeutern verbleiben.“ (Pressemitteilung vom 19. MĂ€rz 2024)

Als Zwangsarbeit definiert die ILO „jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung einer Strafe verlangt wird und fĂŒr die sich diese Person nicht freiwillig zur VerfĂŒgung gestellt hat“ (junge Welt). Im Jahr 2021 waren danach an  jedem Tag 27,6 Millionen Menschen von Zwangsarbeit betroffen.

Die ILO-Studie stellt flĂŒchtende Menschen als besonders gefĂ€hrdet heraus, da sie hĂ€ufig kommerziellen Fluchthelfern ausgeliefert sind und ihre Schulden durch Zwangsarbeit zurĂŒckzahlen mĂŒssen (vgl. Studie, Seite 19ff.).

Die junge Welt ergÀnzt: 

„Schuldenknechtschaft kann (..) praktisch ĂŒberall dort entstehen, wo der Ausbeuter finanziell in Vorleistung tritt. Sei es, dass er die Reisekosten und die GebĂŒhren fĂŒr das Visum bezahlt oder korrupte Beamte bestochen hat. Oft mĂŒssen Arbeiter auch fĂŒr ihre AusrĂŒstung oder Arbeitskleidung selbst aufkommen und nehmen dafĂŒr einen Kredit auf. Ist die Arbeit informell, was laut ILO beispielsweise auf 80 Prozent der Hausangestellten zutrifft, sind zu geringe Löhne und unbezahlte Überstunden ĂŒblich. ‚Das Fehlen formeller VertrĂ€ge bedeutet weniger Lohntransparenz und eine grĂ¶ĂŸere AnfĂ€lligkeit fĂŒr Lohnmissbrauch‘, stellen die Studienmacher fest. Ähnliches gelte auch fĂŒr Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.“

Die Studie Ă€ußert sich auch zu notwendigen Gegenmaßnahmen:

„In dem Bericht wird die dringende Notwendigkeit betont, in Vollstreckungsmaßnahmen zu investieren, um illegale Gewinnströme einzudĂ€mmen und die TĂ€ter zur Verantwortung zu ziehen. Er empfiehlt die StĂ€rkung des Rechtsrahmens, die Schulung von Vollzugsbeamten, die Ausweitung der Arbeitsaufsicht auf Hochrisikosektoren und eine bessere Koordinierung zwischen arbeitsrechtlicher und strafrechtlicher Verfolgung.“ (Pressemitteilung vom 19. MĂ€rz 2024)

Quellen:

„Profits and Poverty. The economics of forced labour“, hrsg. von International Labour Office (ILO), MĂ€rz 2024

https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_norm/—ipec/documents/publication/wcms_918034.pdf

„JĂ€hrliche Gewinne aus Zwangsarbeit steigen um 236 Milliarden US-Dollar nach Daten der ILO“, Pressemitteilung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) vom 19. MĂ€rz 2024

https://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_920156/lang–de/index.htm

Gerrit Hoekman. „Das Joch der Jobs“, junge Welt vom 21. MĂ€rz 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/471841.mehrwertproduktion-das-joch-der-jobs.html?

 

Staatlicher Handel mit EinbĂŒrgerungen

Im Herbst 2023 legte die Politikwissenschaftlerin Kristin Surak von der London School of Economics eine umfangreiche Studie ĂŒber das staatliche GeschĂ€ft mit EinbĂŒrgerungen bzw. den sogenannten Goldenen PĂ€ssen vor (engl. Citizenship by investment, CBI). In einer Buchrezension schreibt dazu Claus Leggewie:

„Surak ist nicht die Erste, die sich mit gekauften PĂ€ssen befasst, aber sie hat das PhĂ€nomen empirisch untersucht, die Motive der Antragsteller wie der Aufnahmestaaten sortiert und die sukzessive Normalisierung des BĂŒrgerschaft-Marktes belegt. Man wird fast erschlagen von ihrer Detailkenntnis, die jedoch in eine gut lesbare ErzĂ€hlung eingebaut ist. Ihr Blickwinkel ist dabei ökonomisch: Was bedeutet es, wenn Staaten ihre SouverĂ€nitĂ€t vermarkten und finanzialisieren und so durch ‚citizenship by investment‘ im Aufenthaltsrecht verankern, was in der globalen Wirtschaft ohnehin gang und gĂ€be ist?“

Im Folgenden einige Feststellungen Suraks aus ihrem Buch:

– In mindestens 22 LĂ€nder der Erde gab es im Jahr 2022 eine gesetzliche Grundlage fĂŒr die EinbĂŒrgerung von Personen, die einen bestimmten Betrag in dem jeweiligen Land investieren.

– Bisher waren CBI-Programme vor allem in kleinen Inselstaaten ĂŒblich, fĂŒr die Finanzspritzen aus dem Ausland relevant waren. Als Extremfall nennt Surak den Kleinstaat Nauru, der heute die HĂ€lfte seiner Staatseinnahmen mittels Aufnahme von Asylbewerbern erwirtschaftet – welche von Australien zurĂŒckgewiesen wurden. Mittlerweile beteiligen sich aber auch LĂ€nder wie vor allem Russland und Ägypten am Handel mit ihrer StaatsbĂŒrgerschaft.

– Jedes Jahr werden allerdings nur etwa 50.000 Menschen per CBI-Programm eingebĂŒrgert. Bei den KĂ€ufern handelt es sich vor allem um Neureiche aus LĂ€ndern außerhalb des Globalen Nordens (China, SĂŒdostasien, postsowjetische Staaten sowie Naher Osten).

„Zwar bewerben sich auch einige Menschen aus wohlhabenden Demokratien im Globalen Norden, darunter immer mehr US-BĂŒrgerinnen und -BĂŒrger. Wirklich befeuert wird die Nachfrage jedoch von einer kleinen Gruppe wohlhabender Menschen aus LĂ€ndern mit als ‚schlecht‘ angesehenen PĂ€ssen, beispielsweise aus autoritĂ€r regierten Staaten. Es sind nicht-westliche Gewinner der Globalisierung (
) FĂŒr die Regierungen, die goldene PĂ€sse ausgeben, sind diese globalen Eliten das Zielpublikum fĂŒr gekaufte StaatsbĂŒrgerschaften.“ (Surak)

– FĂŒr Surak ist eine globalisierte Welt nicht verknĂŒpft mit dem Entstehen einer „WeltbĂŒrgerschaft“. „Stattdessen“, so die Autorin, „spaltet die NationalitĂ€t. Sie beeinflusst, wohin wir reisen können, wie wir behandelt werden und welche Rechte wir haben – nicht nur zu Hause, sondern ĂŒberall auf der Welt. FĂŒr einige bietet sie zahlreiche Chancen und Privilegien, fĂŒr andere bringt sie Sanktionen und EinschrĂ€nkungen mit sich.“

Auch Claus Leggewie bezieht sich auf diesen Gedanken in seiner Rezension:

„Eine Überwindung nationaler Grenzen in Richtung eines transnationalen WeltbĂŒrgertums kann man sich von dieser Flexibilisierung der StaatsbĂŒrgerschaft nicht erhoffen. Sie verwischt eher die alten Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Sektor. Es ist erstaunlich, wie die lotterieartige Banalisierung von Staatsangehörigkeit mit dem Verdacht kontrastiert, der doppelten Staatsangehörigkeiten eingebĂŒrgerter Migranten oft noch entgegengebracht wird. Ihnen verlangt man mehr LoyalitĂ€t und affektive Zuwendung zur neuen Heimat ab, als angestammte BĂŒrger jemals aufbringen mĂŒssen. Die oligarchische Distribution erblicher Aufenthaltstitel beseitigt die generelle Wirksamkeit nationalstaatlicher Grenzen und Gesetze natĂŒrlich nicht, sie verschĂ€rft vielmehr die inner- und zwischengesellschaftliche Ungleichheit.“

Quellen:

Kristin Surak: „Der globale Reisepass ist die neueste Boom-Branche fĂŒr Superreiche“, in: Jacobin, 7. Oktober 2023, Übersetzung von Tim Steins. Auszug aus Kristin Suraks Buch: The Golden Passport:

Global Mobility for Millionaires. Harvard University Press, Cambridge, 2023

https://jacobin.de/artikel/pass-passport-staatsbuergerschaft-reisen-freiheit-handel-superreiche

Klaus Leggewie: „KĂ€ufliche PĂ€sse: Wie Superreiche neue Staatsangehörigkeiten erwerben“, FAZ (Online) vom 26. MĂ€rz 2014

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/kristin-suraks-buch-the-golden-passport-19541117.html