Was hilft gegen Rechtspopulismus? Ein Diskussionsbeitrag

In der Matinee „Was hilft gegen Rechtspopulismus?“ am 19. Januar 2025 im Club Voltaire in Frankfurt am Main haben Herbert Storn und Reiner Diederich Thesen zum Thema referiert und mit dem Publikum diskutiert. Die von ihnen zugrunde gelegten Texte / Materialien sind hier dokumentiert:

Angesichts des Veranstaltungstitels könnte man ja gegenfragen: Ist etwa ‚Linkspopulismus‘ eine Alternative? Und sollte nicht überhaupt die vox populi in einer Demokratie einen besseren Klang haben als es sie derzeit hat? Oder ist vielmehr der Begriff ‚Populismus‘ nicht ohnehin eine Irreführung? Ich meine: Ja.

Praktisch keine Aussage von Politikerinnen und Politikern kommt heute ohne Dechiffrierung aus.

Meine Kernthese: Ein Großteil der kritischen Öffentlichkeit verengt den „Kampf gegen Rechts“ auf die AfD – während es in Wirklichkeit um eine Systemfrage geht, um grundlegende Widersprüche und die damit verbundene Verschärfung der Auseinandersetzungen zwischen Klassen.

Und: Gefühle zu mobilisieren reicht nicht. Ohne Problemerfassung ist keine Problemlösung zu erwarten. Und selbst dann wird es schwierig.

Also: Wir haben eine eklatante Schieflage bei Vermögen, Macht, Einfluss und Repräsentanz der Bevölkerung.

Zunächst die Fakten:

Reiner Diederich hat bereits die Zahlen genannt.

Was es bedeutet, wenn sich über 400 Milliarden Dollar bei 1 Person konzenrtrieren, kann gegenwärtig an Elon Musk studiert werden. Bisher konnten sich die Gates, Zuckerbergs, Bezos oder Larry Fink von BlackRock einigermaßen gut verstecken. Das ist seit Trumps zweitem Wahlsieg anders geworden. Sie wollen sich gar nicht mehr verstecken.

In Deutschland ist es noch etwas anders: Vermögen und Einfluss wurden bisher möglichst nicht zur Schau gestellt. Ganz anders in den USA, wie im US-Wahlkampf und danach vor Augen geführt, wie gesagt.

Und das wenige Gute an Trump/Musk ist: Die Katze ist aus dem Sack oder Der Kaiser ist nackt.

Jens Berger, Chefredakteur der Nachdenkseiten, liefert in der Neuauflage seines Buchs „Wem gehört Deutschland?“ folgende Zahlen:

1,5 % der Bevölkerung (enthalten in den obersten 25 %) kommen auf 45 % des Vermögens.

Die obersten 25 % der Bevölkerung kommen auf: 88.9 % des Vermögens

Mittlere 25 % der Bevölkerung kommen auf 11 % des Vermögens

Unterste 50 % der Bevölkerung kommen auf 1,1 % des Vermögens

Unterste 20 % der Bevölkerung: 0 % Anteil am Vermögen

Die soziale Spaltung nimmt fortlaufend zu, begünstigt durch eine Steuerpolitik, welche die Umverteilung von unten nach oben begünstigt. Das alles ist unbestritten.

Soziale Spaltung bedeutet sowohl Privilegierung als auch Diskriminierung oder bei Mayer-Ahuja (aus der Rede beim DGB-FFM-Neujahrsempfang am11. Januar 2025):

zwei Prinzipen herrschen vor: „Unterschiedlichkeit und Konkurrenz“

An dieser Stelle ist es interessant, auf die Frage einzugehen, wer eigentlich die AfD bzw. die Rechten wählt bzw. wer überhaupt (noch) wählt.

Aus Untersuchungen wissen wir, dass der Anteil der Wählerinnen und Wähler mit dem Einkommen und formaler Bildung wächst.

Wir haben auch eine Untersuchung zum Wahlverhalten von Gewerkschaftsmitgliedern, die nämlich bei der Landtagswahl 2023 in Hessen überdurchschnittlich AfD gewählt haben.

Das könnte darauf hindeuten, dass es weniger die prekär Beschäftigten oder die Ärmeren der Gesellschaft sind, die überhaupt wählen oder AfD wählen, sondern eher die Mittelschicht, die den Abstieg fürchtet.

Bei den Gewerkschaftsmitgliedern sind es vermutlich die gegenüber prekär Beschäftigten besser abgesicherten Facharbeiterinnen und Facharbeiter oder entsprechende Angestellte.

Weitere Zahlenbeispiele:

Bsp.: USA 2024

Trump wurde von 77,3 Millionen zum US-Präsidenten gewählt. An der Wahl haben sich 88,6 Millionen gar nicht beteiligt.

Trump stützt sich also auf knapp 32 % der Wahlberechtigten.

Beispiel Landtagswahl 8.10.2023 in Hessen

Die Regierungskoalition in Wiesbaden wurde von 1,397 463 Millionen Stimmen gewählt, an der Wahl haben sich 1,446 527 Millionen gar nicht beteiligt.

Die Landesregierung stützt sich also auf knapp 33 % der Wahlberechtigten.

Wir sehen: in beiden Fällen kann sich die jeweilige Regierung nicht mehr auf eine Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung berufen. Das gilt inzwischen für die Mehrzahl der westlichen Demokratien.

Die Klassengesellschaft hat also – wie oben gezeigt – durchaus eine statistische und ökonomische Basis.

Was wir gegenwärtig feststellen müssen, ist ein verschärfter Klassenkampf dafür, dass das so bleibt.

Erinnert sei an die Worte des heute 94-jährigen Warren Edward Buffett – mit geschätzten 141 Milliarden US-$ Privatvermögen (Forbes 2025) einer der erfolgreichsten Vermögensvermehrer der Welt:

„There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.“ – Ben Stein: Interview New York Times, November 26, 2006. (Es herrscht Klassenkrieg, verstanden, aber es ist meine Klasse, die reiche Klasse, die den Krieg führt, und wir gewinnen.)

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen bei VW können das ganz gut illustrieren:

Wie verrückt ist das denn? Zu VW

Ein paar Zahlen zum Vergleich

1 Milliarde Euro soll durch Gehaltsverzicht bei den regulär Beschäftigten eingespart werden, „um Arbeitsplätze zu retten“

1,2 Milliarden Euro musste VW bislang an Bußgeld in Deutschland zahlen

40 Milliarden Euro musste VW an Bußgeld in den USA zahlen

1,58 Milliarden Euro betrug der Gewinn nach Steuern bei VW im 3. Quartal 2024

4.5 Milliarden Euro schüttete die Volkswagen AG am 4. Juni 2024 für das Geschäftsjahr 2023 insgesamt an seine Aktionäre aus

Die Dividendenrendite liegt aktuell bei 11,05%, die Ausschüttungen haben sich in den letzten 3 Jahren um 78,88% erhöht

40 Millionen Euro verdienten die zehn Mitglieder des VW-Vorstands 2023, davon  VW-Vorstandsvorsitzender Oliver Blume 9,7 Millionen

Solche Verhältnisse können durchaus in Wut und Gegenwehr umschlagen.

Um allen Gefahren vorzubeugen, hat die „postfaschistische“ Partei der Ministerpräsidentin Meloni in Italien jetzt eine Gesetzesvorlage eingebracht, die dazu dient, alle möglichen Protestformen gegen Sozialabbau rechtlich zu sanktionieren. Es gab Proteste von Hunderttausenden dagegen.

In den Medien scheint es hauptsächlich um eine Verwilderung von Moral und Diskurs zu gehen. Das stimmt, aber es reicht für eine Analyse nicht aus:

Meines Erachtens haben wir es mit einer besonderen Politik-Variante der verschärften Auseinandersetzung um Macht und Gestaltung zu tun!

Stephan Hebel beispielsweise, der regelmäßig in der FR seine Analyse veröffentlicht, meint: Die Mitte-Parteien machen „erhebliche Anleihen beim Neoliberalismus“. Das ist viel zu zurückhaltend ausgedrückt!

Maier-Ahuja sieht „zwei Prinzipien, die nicht zueinander passen: Demokratie und Kapitalismus“.

Deshalb spreche ich von der „Fiktion Demokratie“ (wenn nämlich Demokratie mit prinzipiell gleichen Einflussmöglichkeiten gleichgesetzt wird – statt nur mit ‚Institutionen‘ oder Prinzipien wie Gewaltenteilung).

Konrad Ege sagt im Freitag (2/25) über Trump: „Da braucht es keinen „Faschismus“ im traditionellen Sinn. Das Bündnis mit der Oligarchie reicht.“

In Frankreich sagte der ehemalige Vizepräsident des französischen Unternehmerverbandes Medef, Denis Kessler schon vor 18 Jahren: „Es geht darum, die zwischen 1944 und 1952 formulierten ‚Reformen‘ zu verlassen und mit Methode das gesamte Programm des Conseil nationale de la Résistance auseinanderzunehmen (…); ohne Ausnahme.“

Auf Deutschland übertragen hieße das, alle Fundamente des Sozialstaats, die als Antwort auf den Hitler-Faschismus und seine Kollaboration mit dem Kapital nach dem Ende des 2. Weltkriegs erfolgten, zu schleifen.

Manche kennen noch das „Ahlener Programm“ der CDU von 1947, das mit den Worten beginnt:

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.

Mein Fazit: Darum geht es gegenwärtig – und die AfD ist nur eine Schraube, die das wieder zurückdrehen soll.

Hebel sagt: Eine wirkliche Reformpolitik, wie er sie versteht, sei bei den Parteien der vermutlich nächsten Bundesregierung kaum vertreten. Er meint damit eine Reformpolitik, wie sie in Meinungsumfragen immer wieder mehrheitlich geäußert wird.

Der Bevölkerung bleibt nicht mehr viel Spielraum.

Für die demokratische Einflussnahme bleiben nur noch drei Möglichkeiten:

  • entweder einer nachteiligen Politik entgegentreten oder
  • sie als „alternativlos“ akzeptieren, oder:
  • sie achselzuckend über sich ergehen lassen, weil man sich nicht in der Lage sieht, daran etwas zu ändern.

Aber was heißt entgegentreten?

Hier kommt die Systemfrage wieder ins Spiel – ohne die wir bei der Beantwortung der Frage der Veranstaltung nicht auskommen.

Es geht nämlich nicht nur – und nicht einmal vorrangig nur – um Privatpersonen (wie es gegenwärtig den Anschein hat), sondern mehr noch um juristische Personen, um Unternehmen und ihre Antriebsmechanismen, die Kapitalrendite.

Damit wird der politische Spielraum noch mehr eingeschränkt, insbesondere dann, wenn der Eindruck entsteht, dass die deutsche Wirtschaft von ausländischen Unternehmen dominiert wird. (Statt Erdgas aus Russland: Frackinggas aus den USA; Nordstream 2 ist nur ein Haufen Schrott auf dem Meeresgrund – so Victoria Nuland, damals US-Außenministerium, aber auch der Einfluss von BlackRock, den IT-Unternehmen usw. Vgl. dazu etwa das Buch von Dohnanyi, Nationale Interessen)

Das ist kein Wunder, denn die wahren Entscheider sind längst die großen multinationalen Player und die Regierungen, die sie stützen.

„Die führenden multinationalen Konzerne sind längst politische Akteure und nicht bloß Zaungäste in globalen Angelegenheiten.“ (Makronom 2018)

Wenn die Einkünfte von Unternehmen mit denen von Staaten verglichen werden, lässt sich feststellen:

69 der reichsten Einheiten des Planeten seien Unternehmen und nicht Regierungen.

(Global Justice Now, 2018 mit Zahlen zu 2017)

Das hat auch etwas zu tun mit der „Systemrelevanz“ unserer Unternehmen und demzufolge mit ihrem tatsächlichen Einfluss jenseits der üblichen Demokratiemodelle mit ihrer „Gewaltenteilung“.

Weiterer Baustein für die Beantwortung der Frage „Was hilft …“ :

Parallel zur Machtzunahme der Unternehmen schrumpft der Spielraum für gewählte Politik. Erfahrung von Ohnmacht oder Einflussverlust begünstigt aber die AfD.

Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck beschrieb in seinen Büchern  („Riskiogesellschaft“ und „Gegengifte – Die organisierte Unverantwortlichkeit“) eine Situation, die eigentlich eine politische Methode ist: „Ein weitverzweigtes Labyrinth-System, dessen Konstruktionsplan nicht etwa Unzuständigkeit oder Verantwortungslosigkeit ist, sondern die Gleichzeitigkeit von Zuständigkeit und Unzurechenbarkeit, genauer: Zuständigkeit als Unzurechenbarkeit oder: organisierte Unverantwortlichkeit.“ (Herbert Storn in: Makroskop 31/24)

Die Folgen äußern sich oft in der Zunahme von Krisensituationen

Am 8. Dezember 2023 gab die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden das von ihr ausgewählte Wort des Jahres 2023 bekannt: Krisenmodus.

Ulrich Beck schlug deshalb vor: „Die zentrale Frage, auf die die politische Entwicklung in der Gefahrenzivilisation sich zuspitzt, ist die Neuverteilung und demokratische Gestaltung der Definitionsmacht (…) andere Kontroll- und Steuerungsverhältnisse, andere Mitbestimmungsverhältnisse“ seien nötig.

Damit bin ich bei der Beantwortung der Frage Was hilft gegen Rechtspopulismus?

  1. Ich halte es für hilfreicher, unscharfe Begriffe gegen klare Begriff auszutauschen, in diesem Fall Links/Rechts gegen Kapital/Arbeit.

Das würde den Blick neu ausrichten und ungeeignete Bündnispartner gegen geeignete austauschen.

  1. Wer Demokratie realisieren will, muss die Machtverhältnisse in den Blick nehmen und Macht einhegen.

Dafür gibt es viele Wege:

  • Zusammenschlüsse statt Individualisierung, Gewerkschaften, Solidarität statt Konkurrenz.
  • Erhalt der Gemeingüter, Kampf gegen Privatisierung, weil Privatisierung den gesellschaftlichen Einfluss entzieht und den Antriebsmechanismus verändert.
  • Engagement in gemeinschaftlichen Initiativen.
  • Interesse für gesellschaftliche Fragen statt nur für private Kreise
  • Mitbestimmen wollen statt auf Anweisungen zu warten.
  • Aber auch Lust auf Widerspruch.
  • Verzicht auf Etikettierungen.

Das sollte erst mal reichen.

 

Was hilft gegen Rechtspopulismus? Thesen zur Diskussion

In der Matinee „Was hilft gegen Rechtspopulismus?“ am 19. Januar 2025 im Club Voltaire in Frankfurt am Main haben Herbert Storn und Reiner Diederich Thesen zum Thema referiert und mit dem Publikum diskutiert. Die Beiträge werden hier dokumentiert.

Eine Mehrheit (etwa Zwei-Drittel) der Bundesbürger:innen sagt seit langem bei Meinungsumfragen, dass Einkommen und Vermögen sowie die Steuerzahlungen sehr ungleich und ungerecht verteilt sind.

Eine Mehrheit (etwa Zwei-Drittel) sagt auch, dass zu wenig für den Umweltschutz und gegen die Ursachen und Folgen des Klimawandels getan wird.

Eine weltweite Umfrage zum Thema wirtschaftliche Ungleichheit erbrachte folgendes Ergebnis: „In keinem der untersuchten Länder gab ein höherer Prozentsatz der Befragten an, dass Ungleichheit mindestens ein ‚einigermaßen großes Problem‘ sei, als in Deutschland mit 92 Prozent. 61 Prozent sagten sogar, dass sie ein ‚sehr großes Problem‘ sei. – Die Reichen sorgen dafür, dass die Kluft so groß bleibt, indem sie die Politiker bearbeiten: Das ist die Ursachendeutung der wirtschaftlichen Ungleichheit, die in der Umfrage am meisten Anklang fand. Rund 60 Prozent teilen die Analyse, dass reiche Personen zu viel politischen Einfluss haben und dadurch in großem Maße zur Ungleichheit beitragen.“ („Deutsche finden Ungleichheit besonders gravierend“, in: F.A.Z., 10. Januar 2025)

Das zeigt, dass die Mehrheit der Deutschen durchaus ein zumindest ansatzweise realistisches Bild von den Verhältnissen hat und diejenigen nicht Recht haben, die davon ausgehen, dass das Bewusstsein der Menschen weitgehend von Meinungsmachern und Einflussagenturen bestimmt wird.

Wie kommt es dann, dass dennoch über die Hälfte der Wähler:innen Parteien wählte und demnächst im Februar nach allem, was wir wissen, wieder wählen wird, die an diesen Missständen wenig oder nichts ändern wollen, die sich gegen Vermögens- und Erbschaftssteuern und gegen zureichende Maßnahmen zum Klimaschutz wenden und wehren?

Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Dazu später.

Zunächst einmal: Die Einkommens- und Vermögensverteilung spiegelt die soziale Schichtung der Bevölkerung und das wider, was als Klassenspaltung bezeichnet werden kann. Die einen verfügen über die Produktionsstätten und -mittel, über die Unternehmen und Banken – die anderen nur über ihre Arbeitskraft, müssen sich deshalb in Lohn- und Gehaltsabhängigkeit begeben.

Die daraus folgenden Interessenkonflikte können entweder wahrgenommen und ausgefochten oder verdeckt und verschleiert werden. Schon die Rede von „der Wirtschaft“, „dem Markt“ oder „dem Wohlstand“ dient dazu, unterschiedliche Positionen und Interessen zum Verschwinden zu bringen. Geradezu grotesk sind Artikelüberschriften wie „Private Haushalte so reich wie nie“ im Wirtschaftsteil der ansonsten nicht unkritischen Frankfurter Rundschau (2. Januar 2025).

Nur zur Erinnerung: In den 1990er Jahren „lag der Spitzensteuersatz noch bei rund 57 Prozent (heute bei 45 Prozent) und es wurden auch die Erträge aus größeren Vermögen besteuert. Mit der Senkung des Spitzensteuersatzes und der Aussetzung der Vermögenssteuer 1997 nahm in Deutschland die soziale Ungleichheit systematisch zu. Heute liegt die Armut bei 16,7 Prozent, während die reichsten zehn Prozent zwei Drittel der Privatvermögen besitzen.“ (Thomas Gebauer: „Gerecht besteuern. Ein Plädoyer aus Sorge um die Demokratie“, in: Frankfurter Rundschau. 4./5. Januar 2025)

Man kann versuchen, die Kluft zwischen Armut und Reichtum durch globale oder durchschnittliche Zahlenangaben zu überdecken. Es gibt aber noch andere Möglichkeiten. Die Schicht- und Klassenstrukuren der Gesellschaft können umdefiniert und umetikettiert werden.

Ethnisierung sozialer Konflikte

Charakteristisch für rechtspopulistische und extrem rechte Auffassungen ist es, dass die gesellschaftliche Spaltungs- und Konfliktlinie aus der Vertikalen in die Horizontale gedreht, also quasi verdreht wird. Aus dem Gegensatz zwischen Oben und Unten, Mächtigen und Abhängigen, Kapital und Arbeit wird so ein Gegensatz zwischen Innen und Außen, Einheimischen und Fremden. Fremd sind dabei nicht nur Einwandernde und Asylsuchende, sondern auch „globalistische Eliten“, die von außen hineinregieren und steuern wollen.

Dagegen müsse sich die Gemeinschaft der Einheimischen schützen und zur Wehr setzen. Zu dieser Gemeinschaft gehören nicht nur abhängig Arbeitende, sondern auch Selbstständige und die „nationale“ Unternehmerschaft. Tendenziell ausgeschlossen aus ihr werden „asoziale Elemente“, „nicht Arbeitswillige“ und „nicht Integrationsfähige“. Diese Vorstellung entspricht einer Ethnisierung und Kulturalisierung sozialer Konflikte, während ihr sozialstruktureller, systemischer und ökonomischer Hintergrund verleugnet wird.

Damit verbunden ist auch eine Ethnisierung des Kapitals – es wird in „gutes“, nationales und „schlechtes“, internationales (vorzugsweise „angelsächsisches“ oder, bei den Neonazis, „jüdisches“ Finanzkapital) unterschieden. Wem das nützt, dürfte auf der Hand liegen.

Die Ethnisierung des Sozialen verwandelt gesellschaftliche Verhältnisse in solche der Natur und der Kultur – die festliegende biologische oder kulturelle Herkunft und Zugehörigkeit der Beteiligten werden wichtiger als ihre veränderbare soziale und politische Position.

Wenn man sich das Programm und die Propaganda der AfD anschaut, so findet man darin weder Forderungen nach einer gerechteren Einkommens- und Vermögensverteilung noch nach mehr Steuergerechtigkeit. Stattdessen wird gefordert, die Zuwanderung zu begrenzen, aus der EU auszutreten, um finanzielle Belastungen zu vermeiden, das Bürgergeld abzuschaffen und weitere Kürzungen an den Sozialausgaben vorzunehmen. In abgeschwächter Form finden sich solche Forderungen – abgesehen von einem Austritt aus der EU – auch bei der CDU/CSU und der FDP.

Die Verteilungsfragen werden hier nicht auf der vertikalen Oben/Unten-Achse, sondern auf der horizontalen Innen/Außen-Achse verortet. Man könnte dies als „die große Ablenkung“ bezeichnen. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie hat es einmal „verschobenen Klassenkampf“ genannt.

Eine Folge davon ist es, dass weniger finanzielle Mittel für Gemeinschaftsaufgaben und sozialen Ausgleich generiert bzw. diese gekürzt werden können. Die ungleiche und ungerechte Verteilung zwischen Oben und Unten wird nicht angegangen.

Steuerentlastungen – für wen?

Nach den jetzt im Wahlkampf vorgestellten Plänen der AfD soll alles sogar noch krasser werden: „Laut den Recherchen des DIW-Experten Stefan Bach schlägt die AfD insgesamt Steuerentlastungen in Höhe von 182 Milliarden Euro im Jahr vor. Davon würden allein schon 68 Milliarden Euro an die reichsten 10 Prozent gehen. Das oberste Prozent der Bestverdiener würde nach Wünschen der AfD mit satten 34 Milliarden Euro entlastet werden. So soll nicht nur der Soli für Hochverdiener komplett wegfallen, sondern das Steuerrecht insgesamt stark vereinfacht werden. Auch die Erbschafts- und Grundsteuer soll abgeschafft werden. Ökonom Bach kommt via X zum Urteil, dass die versprochenen Entlastungen in Höhe von 182 Milliarden Euro ‚fiskalisch utopisch‘ seien. Wenn man diese Agenda umsetzen und gegenfinanzieren wolle, würde das ‚umfassende Einsparungen in den öffentlichen Haushalten, deutliche Kürzungen bei öffentlichen Leistungen, Sozialleistungen und Subventionen‘ bedeuten. Dies wiederum würde vor allem die Armen und die Mitte belasten.“ (Marcel Görmann: „AfD: Alice Weidel will den Reichsten 34 Milliarden Euro Steuern schenken“, in: Der Westen, 2. Januar 2025)

Da Steuern immer unpopulär sind, weil alle sich gleich betroffen fühlen, wettern rechte Parteien vehement pauschal gegen Steuererhöhungen und versprechen Steuererleichterungen. Wer die Zeche letzten Endes zahlen soll, wie die Gesamtrechnung genau aussieht, das ist für viele schwer zu durchschauen. Sie werden darüber auch nicht aufgeklärt. Der Chef des Deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts, Marcel Fratzscher wirft den Parteien sogar vor, sie wollten mit ihren Wahlversprechen die Wählerinnen und Wähler bewusst hinters Licht führen. „Spitzenreiter sei die FDP mit 138 Milliarden Euro Steuererleichterungen größtenteils für die Topverdiener, gefolgt von der Union mit 99 Milliarden, sowie SPD und Grüne mit Entlastungen von 30 Milliarden und 48 Milliarden Euro.“ („Leere Versprechen?“, in: Frankfurter Rundschau, 3. Januar 2025)

Wie das finanziert werden soll und woher, bei Aufrechterhaltung der Schuldenbremse, die Mittel für die dringend notwendigen Investitionen in die Infrastruktur (Straßen, Schienen, Brücken, Schulen usw.) kommen sollen, bleibe unklar, so Fratzscher. Der AfD-Propaganda, die das alles noch überbietet, kann auf diese Weise wenig entgegen gesetzt werden.

Immerhin fordern SPD und Grüne – wie die Linke und das BSW – die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer und, zum Teil, eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, während die AfD wie die CDU/CSU und die FDP nur weniger Geld für Arbeitslose, Arme und Asylsuchende ausgeben will, um den Haushalt zu sanieren.

Die Verschleierung und Umdefinierung des Verteilungskonflikts entspricht dem, was der in rechten Kreisen und Medien bis hin zur FAZ anerkannte, ansonsten wegen seiner NS-Verstrickung umstrittene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt als „Wesen des Politischen“ benannt hat: Es gehe dabei immer darum, den Gegner oder Feind zu bestimmen. Schmitt meinte dies durchaus instrumentell, dezisionistisch und machiavellistisch – nicht etwa in dem Sinn, dass es darum gehe, herauszufinden, wer der wirkliche bzw. objektive Gegner oder Feind ist. Die falsche Feindbestimmung gehört, wenn es nützt, vielmehr zum politischen Handwerkszeug.

Aufklärung über rechtspopulistische Propaganda

Über rechtspopulistische Propagandamethoden und Diskursstrategien aufzuklären bleibt eine ständige Aufgabe. Wenn man die Umdefinierung und Verschiebung des Verteilungskonflikts als Trick kenntlich machen und aufdecken kann, ergibt sich vielleicht die Möglichkeit, mit potentiellen Wähler:innen der AfD ins Gespräch über ihre Sorgen und Nöte zu kommen. Keiner wird schließlich einen Cent mehr Lohn oder Rente bekommen oder weniger Miete zahlen müssen, wenn die Grenzen gegen Zuwanderer noch dichter gemacht werden oder ihre „Remigration“ gefördert bzw. erzwungen wird.

Damit sollen die realen Probleme, die durch die Migration entstehen, nicht verschwiegen oder weggewischt werden. Deren Lösung ist ebenfalls mit der Verteilungsfrage verbunden – national wie international. Schließlich ist die Migration eine Folge der weltweiten Ungleichheit von Lebenschancen, die selbst unter anderem auch ein Resultat kolonialer und neokolonialer Ausbeutung ist. Die Migration ist nicht die „Mutter aller Probleme“, wie es der Innenminister Horst Seehofer von der CSU seinerzeit verkündete und wie es alle Rechtspopulisten nachsprechen – jüngst gerade wieder in einem Interview nach dem AfD-Parteitag Björn Höcke. Diese Vertauschung von Ursache und Wirkung ist typisch für rechte Propaganda.

Wenn die FDP im Wahlkampf plakatiert: „Migration: Auch guter Wille muss Grenzen setzen“, dann spricht sie eine Binsenwahrheit aus, deren Betonung in diesem Zusammenhang aber bedeutet, dass sie wie andere Parteien der „Mitte“ in der Migrationsfrage dem Druck von rechts nachgibt. Denn es geht ihr hier wie den anderen keineswegs darum, die Ursachen von Flucht und illegaler Zuwanderung in den Blick zu nehmen und etwas dagegen zu tun, sondern nur um „Grenzen setzen“, d.h. um Abwehr und Abschiebung. Das Migrationsthema eignet sich wie kein anderes als Projektionsfläche für Ängste vor Krisen, sozialem Abstieg und Kontrollverlust und als Spielfeld für Ersatzhandlungen.

Einen anderen Propaganda-Trick hat Alice Weidel gerade im Gespräch mit Elon Musk vorgeführt. Um die Vorwürfe gegen die AfD, rechts oder „Nazi“ zu sein abzuwehren, drehte sie den Spieß um und behauptete, Hitler sei „Kommunist“ gewesen. Beweis: Er habe schließlich seine Partei „sozialistisch“ genannt und Unternehmen verstaatlicht. Sie nahm damit nicht nur die sozialdemagogische Maskierung der Nazis ernst, die den Zweck hatte, Lohnabhängige und kleine Selbstständige für sich zu gewinnen, sondern setzte noch einen drauf. Machten Hitler und die Seinen aus Antikapitalismus Antisemitismus, so versuchte Weidel aus Antifaschismus Antikommunismus zu machen, um das gängigste Feindbild zu bedienen und sich selbst und die AfD aus dem Schneider zu bringen.

Was zu tun wäre

Gegen die angebliche „Alternative für Deutschland“ hilft letzten Endes nicht eine für die meisten eher abstrakt bleibende Beschwörung von Freiheit und Demokratie, sondern eine wirklich alternative Politik: Umverteilung von oben nach unten statt umgekehrt; Maßnahmen gegen die fortschreitende Umweltzerstörung und drohende Klimakatastrophe nicht auf Kosten Geringverdienender, sondern mit sozialem Ausgleich; Einschränkung und demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Macht; Orientierung auf eine Gemeinwohlökonomie. .

Eine solche Politikwende wäre im Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Warum gelingt es gegenwärtig kaum oder nicht genügend, dieses Interesse geltend zu machen? Warum verzeichnen stattdessen rechte Parteien Wahlerfolge? Dafür gibt es verschiedene Erklärungen – einige Aspekte seien hier genannt.

Einer ist sicherlich, dass es bequemer und ungefährlicher erscheint, den eigenen Unmut auf dafür bereitgestellte Sündenböcke zu lenken, statt auf die tatsächlichen Ursachen der Beschwerden. Auch gibt es die bekannte Kluft zwischen objektiv richtigen Erkenntnissen und subjektivem Handeln. So sind viele für mehr Umweltschutz, kaufen sich aber Waren, die sie bei kritischer Überprüfung gar nicht unbedingt benötigen oder deren ökologischer Fußabdruck im Verhältnis zu ihrem Gebrauchswert viel zu hoch ist.

Diese Widersprüche im Bewusstsein hat Antonio Gramsci einmal mit der Überlagerung von Schichten des Denkens, Wissens und Fühlens erklärt, die sich aus vielfältigen Einwirkungen und Erfahrungen herausbilden. So macht in der eingangs zitierten Umfrage zur wirtschaftlichen Ungleichheit einerseits eine Mehrheit den „Einfluss von Reichen“ für diese Ungleichheit verantwortlich, andererseits glauben immerhin 40 Prozent, „dass einige Menschen einfach härter arbeiten als andere und damit eine Einkommenskluft entsteht. Für weitere 39 Prozent spielt dieser Faktor zumindest eine gewisse Rolle.“ Das heißt, dass die meritokratische Ideologie von der Leistungsgesellschaft immer noch so tief verankert ist, dass sie sich entgegen allen Tatsachen und sogar entgegen dem besseren Wissen behauptet. Denn wer könnte im Ernst meinen, dass die Quandt-Erbin Susanne Klatten ihren „Stundenlohn“ von 1,15 Mio. Euro durch „harte Arbeit“ verdient hat?

Auch erschwert bisher die Aufsplitterung in Szenen und Milieus, die Vereinzelung der Menschen und die zunehmende Virtualisierung sozialer Kontakte, das sich Einschließen in „Meinungsblasen“ und „Echokammern“ Gleichgesinnter, dass sich ein breiteres gesellschaftliches Protestpotential bilden kann.

Es gibt außerdem immer die Versuchung, sich vom Schein, von der Performance blenden zu lassen. Wutsprüche gegen das Establishment und radikales Auftreten täuschen darüber hinweg, dass es sich bei neurechten Bestrebungen – wie schon ihre Bezugnahme auf die „Konservative Revolution“ der 1920er Jahre zeigt – letzten Endes nur um eine Rebellion im Dienste des Bestehenden handelt.

Rechte Verschwörungsmythen werden attraktiv, wenn man den Geheimnissen der Kapitalverwertung nicht auf die Spur kommen kann oder will. Dann erscheinen die Gewinnmacherei und deren politische Absicherung als Ergebnis der Machenschaften mächtiger Personen, nicht als etwas Systemisches und Systembedingtes, in dem man selbst als Lohn- oder Gehaltsabhängiger und als Konsument eine Rolle spielt, also auch die Chance hätte, etwas zu verändern oder anders zu machen.

Der Rechtspopulismus und die extreme Rechte formulieren eine in Ansätzen vorhandene Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und die wachsende Desillusionierung über Parteien und ihre Politik in personalisierende und dämonisierende Narrative um. Diese sind wirkungsvoll, für viele faszinierend und verführerisch. Deshalb werden Organisationen und Agenturen, die sie verbreiten, wie man nicht nur in den USA gerade sieht, auch von Reichen und Mächtigen unterstützt und finanziert.

 

 

 

Rechtsbrüche ohne Konsequenzen: Der Wohnungsmarkt im Jahr 2024

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) schaut optimistisch in die Zukunft. Denn vor allem wegen der für das Jahr 2025 prognostizierten steigenden Mietpreise sei der Wohnungsmarkt für Kapitalanleger wieder interessant. Der fehlende Neubau würde die Nachfrage auf dem Mietmarkt hochhalten und damit in den kommenden Jahren die Immobilienpreise insgesamt „stabilisieren“. Für viele Investoren, ergänzt ein Manager des Immobiliendienstleisters CBRE, seien auch „besonders Nischenmärkte“ für die Erzielung einer Rendite interessant ‒ und meint damit unter anderem die Vermietung kleiner möblierter Apartments. (Handelsblatt vom 13./14. Dezember 2024)

Was der Vertreter der Wohnungswirtschaft dabei verschweigt: Gerade die letztgenannte „Nische“, das zeitlich befristete Wohnen mit fremden Möbeln, ist längst kein Ausnahmephänomen mehr, sondern bildet ein großflächiges Geschäftsmodell für die Maximierung der Renditen und die Verknappung von bezahlbarem Wohnraum. Die Vermietung möblierter Wohnungen steht auch beispielhaft dafür, dass der Immobilienbereich systematisch von wirtschaftskriminellen und rechtlich fragwürdigen Aktivitäten durchzogen ist. Schlimmer noch: Die Rechtsbrüche werden zumeist juristisch nicht sanktioniert.

„Vermieter sein“, schreibt etwa die taz am 20. Dezember 2024, „heißt Recht brechen, straffrei davonkommen und abkassieren. Das gilt im Fall von Eigenbedarfskündigungen wie auch in allen anderen Fällen von Vermieter-Unrecht. Vor dem Gesetz sind alle gleich? Vermieter sind gleicher. (…) Die Liste an Beispielen, wie Vermieter:innen gegen Gesetze verstoßen, ist ellenlang: verbotene Sanierungsmaßnahmen, unerlaubter Leerstand, nicht genehmigte Vermietung als Ferienwohnung, Abzocke mit Möblierung, unbegründete Befristungen, Einbehaltung der Kaution, Vernachlässigung von Häusern und Wohnungen oder gar Sabotage, um Mieter:innen zu vertreiben.“

Es folgen vier Beispiele, über die im Laufe des Jahres 2024 berichtet wurde.

Beispiel Möblierung

In einer Stadt wie Berlin wird mittlerweile der größte Teil der angebotenen Wohnungsinserate möbliert und befristet vermietet. In der Vergangenheit vergaben Online-Plattformen wie Airbnb dabei Wohnraum zunehmend an Touristen. Die Stadt Berlin reagierte, indem sie 2014 das Zweckentfremdungsverbot einführte (2018 novelliert), um unter anderem zu verhindern, dass Wohnraum  dauerhaft als Ferienwohnungen genutzt wird. Findige Unternehmen und Privatleute nutzen aber rechtliche Schlupflöcher, um weiterhin hohe Renditen zu erreichen, die mit der klassischen langfristigen Vermietung nicht möglich sind.

Die taz verweist am 20. Juni 2024 auf den kriminellen Aspekt:

„Grundsätzlich gilt: Wohnmietverträge sind hierzulande unbefristet. Ausnahmen davon sind nur legal, wenn der Vermieter nach Ablauf der Befristung Eigenbedarf hat, die Wohnung abreißen bzw. renovieren will oder sie für Angestellte wie Hausmeister zur Verfügung stellen will. Dass einer dieser drei Gründe auf die Masse der offerierten Wohnungen zutrifft, darf getrost bezweifelt werden. Üblich ist vielmehr, dass Wohnungen immer wieder neu befristet vermietet werden, sich der Rechtsbruch also ständig wiederholt – und zwar ohne jede Kontrolle oder gar Konsequenzen.“

Nach dem Berliner MieterEcho zeichnen sich auf dem Portal Airbnb.com zwei auffällige Trends ab:

„Zum einen gibt es eine wachsende Zahl sogenannter Superhosts, die zahlreiche Wohnungen über die Plattform anbieten. Zum anderen werden Wohnungen oftmals nun erst ab einer Mindestmietdauer von 90 Tagen vermietet, denn auf diese Weise umgeht man das Verbot der Kurzzeitvermietung, das eigentlich zum Schutz des Wohnungsmarktes eingeführt wurde.“ (MieterEcho, Seite 12)

So würden durch die fehlende Preisregulierung „Fantasiepreise“ insbesondere durch die Möblierungszuschläge ermöglicht. Denn die monatlichen Mieten für die fremden Möbel unterlägen keinen klaren Regeln: Die Superhosts verlangten deshalb „horrende Beträge“, weit über jenen, die für den regulären Mietmarkt zulässig seien. Beispiel: Für eine Einzimmerwohnung mit 40 qm im Berliner Bezirk Neukölln müssten 2.000 Euro warm pro Monat entrichtet werden ‒ „eine regulär vermietete Wohnung mit ähnlicher Größe und höchstem Ausstattungsstandard würde laut Mietspiegel zwischen 336 und 635 Euro kosten. (…) Ein Aufschlag von mindestens 1.362 Euro monatlich für die Möblierung und die Nebenkosten“. (MieterEcho, Seite 13)

Derart exorbitant hohe Mieten im Vergleich zu unmöblierten Wohnungen sind illegal, denn es darf zwar ein „angemessener“ Zuschlag für die Möblierung gefordert werden, aber die eigentliche Miete unterliegt der Mietpreisbremse, so dass die ortsübliche Vergleichsmiete um nicht mehr als zehn Prozent überschritten werden darf. „Eine Ausnahme davon“, schreibt die taz, „gibt es bei einer Vermietung zum ‚vorübergehenden Gebrauch‘. Dieser aber kann nicht einfach vereinbart werden, sondern muss tatsächlich vorliegen – auch auf Mieterseite. Ohne triftigen Grund, warum Mieter:innen eine Wohnung nur bis zu einen befristeten Zeitpunkt brauchen, ist ein Abweichen von der Mietpreisbremse unzulässig“. (taz vom 20. Juni 2024)

Nach einer aktuellen Studie über den möblierten Wohnungsmarkt, so die taz weiter, trifft dies für die Mehrzahl der Fälle aber nicht zu. Demnach hätten zwei Drittel der Mieter:innen möblierter und zumeist befristeter Wohnungen in Deutschland nicht gezielt nach diesen gesucht. Stattdessen wären sie notgedrungen auf diese ausgewichen. Dabei hätte nur ein Drittel von ihnen gewusst, dass die Mietpreisbremse auch für ihre Wohnungen gilt. Die wenigsten würden zudem Wohnungen belegen, die entsprechend der Rechtsprechung zum „vorübergehenden Gebrauch“ für maximal sechs Monate überlassen werden, sondern hätten Zeitverträge über ein, zwei oder noch mehr Jahre (vgl. ebd.).

Das Fazit des taz-Kommentators lautet denn auch, dass ein Blick auf Immoscout und andere Wohnungsportale „den organisierten und von der Politik geduldeten Rechtsbruch“ offenbare.

Beispiel Eigenbedarfskündigungen

Bundesweit berichten Mietervereine davon, dass die Zahl von Beratungen wegen Eigenbedarfskündigungen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen seien. Der Berliner Mieterverein geht für ganz Berlin von rund 10.000 Fällen pro Jahr aus, mit existenzbedrohenden Folgen für die Mieter:innen. Bei einem Viertel bis einem Drittel der Fälle sei der Eigenbedarf vorgeschoben (vgl. taz vom 17. Dezember 2024). Diese Form der Kündigung ermöglicht es Vermietern, einen Mietvertrag ganz legal und auf relativ einfache Art zu beenden, um die Wohnung selbst zu nutzen oder an nahe Verwandte zu vermieten (§ 573 Abs. 2 BGB). Weigert sich der Mieter oder die Mieterin auszuziehen, ist auch eine Räumungsklage möglich – ggf. mit der Folge einer Zwangsräumung. In vielen Fällen handelt es sich jedoch um einen vorgetäuschten Eigenbedarf, da kein Einzug des Eigentümers erfolgt. Denn schließlich lässt sich eine leere Wohnung oder ein leeres Haus teurer vermieten oder verkaufen.

So berichtet das MieterMagazin, Zeitschrift des Berliner Mietervereins, in seiner Dezember-Ausgabe von einem Gerichtsverfahren, in dem der Fall einer Familie im Stadtteil Westend verhandelt wurde, deren Wohnung nach dem Verkauf des Hauses wegen Eigenbedarfs gekündigt worden war.

„Der Käufer, ein 26-Jähriger, der angeblich im 12 Quadratmeter großen Kinderzimmer der elterlichen Villa wohnt, will selber einziehen. Angeschaut hat er sich die Wohnung nicht. Auch sonst erscheint der behauptete Eigenbedarf dubios. Die großzügige Villa der Eltern hat mehrere Wohneinheiten, zudem besitzt die Familie weitere Immobilien. Bei der ersten Verhandlung in dieser Sache vor dem Amtsgericht Charlottenburg wurde der junge Mann von seinem Vater Alexander Ollendorff vertreten. Der ist als Anwalt auf Immobilienrecht spezialisiert. ‚Ich würde ja ausziehen, wenn ich etwas finden würde‘, erklärt Monika Smolarek. Die Mutter von drei Kindern ist mit den Nerven am Ende. Über 1000 Bewerbungen hat sie bisher geschrieben – allerdings sucht sie nur in Wilmersdorf und Umgebung, weil ihre neunjährige Tochter dort zur Schule geht. Sie müsste auch bereit sein, nach Marzahn umzuziehen, sagt die Richterin.“

Die gerichtliche Auseinandersetzung wird sich wohl noch länger hinziehen, denn die Anwältin stieß zumindest mit ihren Zweifeln an der Korrektheit der Unterschrift unter der Kündigung bei der Richterin auf offenen Ohren. Ein Schriftgutachten soll in Auftrag gegeben werden.

Über einen anderen Fall berichtet die taz Mitte Dezember 2024:

„Mehr als ein Jahrzehnt lang wohnte Ronny Stach (Name geändert) in einer Vierer-WG in der Kreuzberger Manteuffelstraße; 140 Quadratmeter für eine Warmmiete von zuletzt 1.300 Euro. Der Vermieter, zugleich Eigentümer des Hauses, kündigte der WG. Angeblich, weil seine Tochter mit ihrer Familie einziehen wollte – Eigenbedarf. ‚Wir haben das für vorgeschoben gehalten‘, sagt Stach. Der Vermieter habe gleichzeitig begonnen, das Haus zu sanieren und das Dachgeschoss auszubauen: ‚Der wollte uns raushaben, um mehr Geld zu machen‘, war sich Stach schon damals sicher.

Anderthalb Jahre nach ihrem Auszug – mit ihrem Einspruch vor dem Amtsgericht war die WG gescheitert – scheint sich Stachs Vermutung zu bewahrheiten. Der Vermieter teilte die Wohnung auf. In der einen Hälfte wohnen jetzt neue Mieter, die andere steht weiterhin leer. Von der Tochter, deren Bedarf nach großem Wohnraum in Kreuzberg so dringend schien, keine Spur. Alles spricht dafür: Der behauptete Eigenbedarf war vorgeschoben.“

Mittlerweile scheint sich jedoch eine Veränderung in der Rechtsprechung anzubahnen, die die Aussichten, sich wirksam gegen rechtswidrige Kündigungen wehren zu können, verbessern.

„(..) vor Gericht waren die Aussichten auf Wiedergutmachung bislang überschaubar. Das Recht, die Wohnung, aus der man rechtswidrig geworfen wurde, wieder in Besitz zu nehmen, findet in der Praxis keine Anwendung. Das wird durch die neuen Mieter:innen verunmöglicht. Stattdessen können Mieter:innen in Fällen, in denen sich nicht vorher schon auf einen Vergleich geeinigt wurde, die Differenz zu ihrer neuen, höheren Miete einklagen, allerdings wird diese im Regelfall nur für dreieinhalb Jahre gewährt. Der Schaden für die Getäuschten bleibt.

Doch genau das könnte sich jetzt ändern: mit einem Urteil der 66. Zivilkammer des Berliner Landgerichts, zuständig für Kreuzberg und Lichtenberg. Erstmals entschied ein Gericht, dass durch behaupteten Eigenbedarf getäuschten, ehemaligen Mieter:innen nicht nur ein zeitlich begrenzter Schadenersatzanspruch zusteht, sondern auch der Gewinn aus der neuen, höheren Miete.“ (ebd.)

Beispiel Mietpreisbremse

Seit 2015 gilt in Deutschland die sogenannte Mietpreisbremse, die vorschreibt, dass in Gebieten mit einem angespannten Wohnungsmarkt bei Neuvermietungen von Wohnungen der Preis maximal zehn Prozent über der ortsüblichen Miete liegen darf. Die Regelung wird jedoch häufig als „zahnloser Tiger“ bezeichnet.

„Ein Grund für die Entwicklung: Die Mietpreisbremse greift nicht automatisch. Wenn ein Vermieter doch eine höhere Miete verlangt, müssen Mieter ihr Recht auf das Zehn-Prozent-Limit anmahnen oder gar einklagen. Aber das machen bisher nur wenige Menschen. Die TU München und Ludwig-Maximilians-Universität München haben dazu rund 10.000 Mieterinnen und Mieter befragt. Etwa 25 Prozent davon hätten ihre Mieten anfechten können. Die meisten Betroffenen hatten aber Bedenken. Nur 2,4 Prozent sind wirklich gegen eine zu hohe Neumiete vorgegangen. Viele scheuen einen Konflikt mit ihrem Vermieter – auch weil sie eine Eigenbedarfskündigung fürchten.“ (Deutschlandfunk)

Bestätigt wird diese Einschätzung auch vom Berliner Mieterverein. In seiner Rechtsberatung im Jahr 2021 konnten die Fälle mit dem Anfangsverdacht auf eine überhöhte Miete zu 98 Prozent bestätigt werden. In fast der Hälfte der Fälle würden Mietpreise um mehr als 50 Prozent überschritten, ohne dass die Vermieter:innen Konsequenzen zu befürchten hätten. Pro Jahr führt der Mieterverein etwa 6.000 Beratungen zu Mietpreisüberhöhungen durch.

Was sagt die Politik dazu? Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) hält nichts von der Möglichkeit, dass die Mietpreisbremse automatisch greift, damit nicht die Mieter:innen selbst aktiv werden müssen. In einem Rechtsstaat, so Geywitz, setze der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen, indem er die Gesetze erlässt.

„Das heißt, man kann vor Gericht gehen, wenn diese Gesetze verletzt sind. Aber wir haben natürlich keinen Babysitter-Nanny-Staat, der sich in Vertragsbeziehungen zwischen zwei Privatpersonen mischt.“ (Bayerischer Rundfunk)

Beispiel Wuchermieten

Seit 1954 ermöglicht in Deutschland § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes, gegen „unangemessen“ hohe Mieten vorzugehen und Vermieter:innen zu sanktionieren. Wer also Mieten erhebt, die mehr als 20 Prozent oberhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete liegt, handelt ordnungswidrig und muss mit einer Geldstrafe rechnen.

In einer Studie vom Mai 2024 führt der Deutsche Mieterbund (DMB) aus:

„Wird die ortsübliche Vergleichsmiete um mehr als 50 Prozent überschritten, droht sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine erhebliche Geldstrafe (§ 291 Strafgesetzbuch). Bis Mitte der 2000er Jahre wurden unerlaubte Mietpreise durch § 5 Wirtschaftsstrafgesetz regelmäßig geahndet, seitdem ist in Folge zweier Urteile des Bundesgerichtshofs (BGH) eine Durchsetzung kaum praktikabel. Denn seit einem BGH-Urteil von 2004 müssen Mieterinnen nachweisen, welche Bemühungen sie bei der Wohnungssuche konkret unternommen haben und dass sie mangels Alternativen auf die Anmietung der überteuerten Wohnung angewiesen waren. Zudem müssen die Vermieterinnen diese Zwangslage gekannt und ausgenutzt haben. Ein solcher Nachweis ist aber in der Praxis kaum möglich. Seitdem ist die Durchsetzung des Gesetzes fast vollständig zum Erliegen gekommen. So wurde in Berlin seit 2017 in einem einzigen Fall ein Bußgeld wegen überhöhter Mieten verhängt. In anderen Städten wie Hamburg oder München sind lediglich Einzelfälle bekannt, bei denen es sich um besonderes drastische Überschreitungen handelt. In Frankfurt am Main geht das zuständige Amt für Wohnungswesen systematischer vor und bearbeitet bis zu 200 Fälle pro Jahr.“

Der Mietwucherparagraph ist also alles andere als anwenderfreundlich, so dass viele Mieter:innen gar nicht erst versuchen, gegen die überteuerten Miete gerichtlich vorzugehen. Da alle Bundesländer gleichermaßen von dem Problem betroffen sind, legte der Bundesrat einen entbürokratisierten Gesetzesentwurf vor, der zum Beispiel auf den bislang notwendigen Nachweis der Mieter:innen, eine Mangellage werde ausgenutzt, verzichtet. Der DMB unterstützt die geforderte Gesetzesreform, Vertreter:innen der Immobilienwirtschaft und das FDP-geführte Bundesjustizministerium verweigern sich dem Anliegen hartnäckig.

Das Neue Deutschland berichtete in seiner Ausgabe vom 19. Dezember über skandalöse Fälle von überhöhten Kosten für die Unterbringung von geflüchteten Menschen in Brandenburg. Beispiel Dilagha S., 1996 in Afghanistan geboren:

„2015 flüchtete er nach Deutschland und wurde in einem Asylheim in Bärenklau untergebracht. 2016 fand S. einen Job in einer Reinigungsfirma und verdiente damit 1600 Euro brutto im Monat. Daraufhin wollte der Landkreis Oberhavel ab 2018 eine monatliche Gebühr von 288,43 Euro für die Unterkunft in Bärenklau von ihm. Dabei lebt S. dort mit drei anderen Flüchtlingen auf nur 19,4 Quadratmetern. Sie schlafen in Doppelstockbetten.

Für seine Rechtsanwältin Anja Lederer ist das eine ‚Wuchermiete‘. Dem Mietspiegel für die Stadt Hennigsdorf zufolge wären 154 Euro angemessen gewesen. Die Klage gegen die geforderte Summe wird am Donnerstag vor dem Verwaltungsgericht Potsdam verhandelt. Eine Entscheidung will Richter Reiner Roeling später treffen. Es sieht aber nicht danach aus, dass die Sache zugunsten von S. ausgeht. ‚Es gibt keine Vergleichbarkeit mit der normalen Mietsituation. Das gibt es einfach nicht‘, bedauert Roeling. Er erläutert, die Landkreise würden insgesamt keinen Gewinn mit der Unterbringung der Asylbewerber machen, sondern draufzahlen. Es gebe Kosten, beispielsweise für den Wachschutz, die bei einer Mietwohnung nicht anfallen. (…) Nach seiner Übersicht haben sich Oberverwaltungsgericht und Bundesverwaltungsgericht bereits mit der Gebührensatzung des Landkreises befasst und sie nicht beanstandet. ‚Da ich nicht schlauer bin als ein Oberverwaltungsgericht und ein Bundesverwaltungsgericht, müssten Sie mich jetzt überzeugen, warum ich es anders sehen sollte.‘“

Auch wenn hier kein offensichtlicher Rechtsbruch vorliegt, springt das Missverhältnis zwischen der verlangten „Gebühr“ und der erbrachten Leistung sofort ins Auge.

Die taz vom 20. Dezember 2024 resümiert abschließend die staatliche Weigerung, im Wohnungsbereich geltende Gesetze um- bzw. durchzusetzen und menschenwürdige Regelungen einzuführen:

„Diese strukturelle Bevorteilung der besitzenden Klasse – vom Gesetzgeber so gewollt und von den meisten Gerichten exekutiert – ist einem rechtsstaatlichen System unwürdig. Wenn Vermieter:innen fehlerhafte Abrechnungen vorlegen oder Reparaturen hinauszögern, gehören auch sie abgemahnt. Wenn sie Gesetze brechen, gehören sie bestraft. Wer sich der Vermietung von Wohnraum und damit den Pflichten des Eigentums als unwürdig erweist, muss in Konsequenz auch die freie Hand bei der Vermietung bis hin zum Recht am Eigentum verlieren können.“

Quellen:

Deutscher Mieterbund: „Reform des Mietwucherparagraphen ist rechtlich möglich und politisch notwendig“, Studie im Auftrag des Deutschen Mieterbundes vom 14. Mai 2024, Seite 3

Andreas Fritsche: „Wuchermiete im Asylheim“, Neues Deutschland (Online) vom 19. Dezember 2024

Laura Goudkamp: „Die Mietpreisbremse – Ein ‚zahnloser‘ Tiger gegen Wuchermieten?“, Bayerischer Rundfunk vom 13. Mai 2024

Birgit Leiß: „Das Bangen geht weiter“, MieterMagazin (Berliner Mieterverein e.V.), 12/2024, Seite 9

„Mietpreisbremse – an der Realität vorbei!“, Pressemitteilung Nr. 32/24 (17. Oktober 2024) des Berliner Mieterverein e.V.

Erik Peter: „Kriminellen das Handwerk legen“, taz (Online) vom 20. Juni 2024

ders.: „Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren“, taz (Online) vom 17. Dezember 2024

ders.: „Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher“, taz (Online) vom 20. Dezember 2024

Jasper Reidt: „Zweckentfremdung unterm Radar“, MieterEcho (Berliner Mietergemeinschaft e.V.) vom September 2024, Seite 12-13

Julian Trauthig: „Kapitalanleger kehren an den Wohnungsmarkt zurück“, Handelsblatt vom 13./14. Dezember 2024

„Wie geht es weiter mit der Mietpreisbremse?“, Deutschlandfunk vom 8. Dezember 2024

 

Verfahren gegen Cum-Ex-Aufklärer in der Schweiz eingestellt

Das Schweizer Obergericht hat den Prozess gegen den Stuttgarter Anwalt und Cum-Ex-Whistleblower Eckart Seith überraschend eingestellt. Schon zu Beginn der Cum-Ex-Ermittlungen hatte Seith wesentlich zur Aufdeckung  des Steuerraubs beigetragen, nachdem er interne Dokumente der Schweizer Bank J. Safra Sarasin an die deutsche Justiz weitergeleitet hatte. Während die deutschen Behörden seinen Vorwürfen nachgingen, verfolgten die Ermittler in der Schweiz dagegen Seith, den Hinweisgeber. „Die Schweizer Behörden warfen ihm vor, durch die Übermittlung der Schweizer Dokumente an deutsche Gerichte wirtschaftlichen Nachrichtendienst betrieben zu haben und andere zur Verletzung des Bankgeheimnisses angestiftet zu haben.“ (Manager Magazin) Er wurde wegen Wirtschaftsspionage und Verstößen gegen das Bankengesetz angeklagt, 2019 verurteile ihn deshalb das Bezirksgericht Zürich. Das Urteil wurde 2022 vom Zürcher Obergericht wieder einkassiert, die dortige Oberstaatsanwaltschaft ging jedoch dagegen vor und forderte erneut eine mehrjährige Haftstrafe für Seith. 

Im Dezember 2024 folgte dann die Kehrtwende. Begründung der Züricher Richter: Das Verfahren wurde eingestellt, denn der zuerst ermittelnde Staatsanwalt sei voreingenommen gewesen.

Die Bürgerbewegung Finanzwende schreibt zu den Hintergründen:

„Eckart Seith war bereits ein erfolgreicher Wirtschaftsanwalt, als 2013 der Drogerieunternehmer Erwin Müller auf ihn zukam. Müller hatte ohne Kenntnisse der genauen Hintergründe in einen Fonds der Bank Sarasin investiert, von wo aus dieses Geld für illegale CumEx-Geschäfte eingesetzt wurde. Als diese Geschäfte ans Licht der Öffentlichkeit kamen, verlor Müller viele Millionen.

Seith sollte bei der Bank Sarasin erfragen, wo das Geld geblieben war und ihm die verlorenen Millionen zurückholen. Dies gelang dem Anwalt: Seith wies offensichtliche Fehler in der Beratung der Bank Sarasin nach. Doch nebenbei – und das ist wesentlicher – hat Seith zur Aufklärung dieses unglaublichen Raubs beigetragen.

(…)

Doch von vorne: Seith arbeitete sich, nachdem ihn Müller engagiert hatte, tief in die Materie der hemmungslosen Bereicherung rund um CumEx ein. Der Anwalt kam dank Hinweisgebende an interne Dokumente der CumEx-Bank Sarasin. Diese gewährten ihm noch detailliertere Einblicke. Er erkannte immer deutlicher, wie eine Finanzelite enorme Gewinne auf Kosten der Steuerzahlenden erzielen konnte. Die Gewinne wurden allein aus unberechtigten Steuerrückerstattungen erzielt, obwohl zuvor nie Steuern abgeführt worden waren. Der Staat wurde durch CumEx systematisch ausgeraubt.

(…)

Seine umfangreichen Informationen bildeten eine wesentliche Grundlage dafür, dass heute die Geschäfte um CumEx und Co. besser verstanden werden und die Ermittlungen gegen zahlreiche an dem Steuerraub Beteiligte eingeleitet werden konnten.

(…)

Erschreckend ist, dass am Raub Beteiligte durch das fragwürdige Agieren der Staatsanwaltschaft Zürich seit Jahren in gewisser Weise Unterstützung erfahren haben. Auf der einen Seite unternahm die Staatsanwaltschaft Zürich nichts, als Seith in Zürich die Verfehlungen der CumEx-Bank Sarasin offenlegte. Im Gegenteil, seine Anzeige wurde vom zuständigen Staatsanwalt unberechtigterweise an die Bank weitergeleitet, sodass diese zum Gegenschlag ausholen konnte. Dazu sagte Seith später:

Das war, als gebe man einem Täter die Tatwaffe zurück, die er am Tatort liegen gelassen hat.“

Die Süddeutsche Zeitung kritisierte – noch vor Verkündung der Verfahrenseinstellung –, dass der Schutz des Finanzstandortes für die Schweiz nach wie vor oberste Priorität hat, nicht dagegen die Verfolgung von Wirtschaftskriminalität:

„Bei dem Prozess geht es jetzt auch um die Frage, wie weit die Loyalität der Schweiz zu ihren Banken reicht. Auch wenn das strenge Schweizer Bankgeheimnis 2009 angeblich weitgehend abgeschafft und ein automatischer Informationsaustausch zu Steuerdaten mit dem Ausland eingeführt wurde, in der Praxis ist das Bankgeheimnis mehrmals verschärft worden: Wer heute Kundendaten stiehlt oder zugespielt bekommt und veröffentlicht, muss mit bis zu fünf Jahren Gefängnis rechnen, das gilt auch für Journalisten. Banken, so wirkt es heute noch, stehen für die Eidgenossenschaft weiterhin unter Artenschutz. Wer sie angreift, der bekommt die Rache der offiziellen Schweiz zu spüren.“ 

Quellen:

„Prozess gegen Cum-ex-Aufklärer in Zürich eingestellt“: Manager Magazin (Online) vom 12. Dezember 2024

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/cum-ex-skandal-prozess-gegen-anwalt-in-zuerich-eingestellt-a-90cd7f2f-c980-4074-9375-5ca879db994c

„Der Fall Eckart Seith“: Finanzwende e.V. vom 12. Dezember 2024

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/der-fall-eckart-seith

Meike Schreiber: „Cum-Ex-Aufklärer vor Gericht“, Süddeutsche Zeitung vom 10. Dezember 2024

Mächtiger Mann der Wirtschaft: Kanzlerkandidat Merz als Lobbyist 

„Bereits im September wurde CDU-Chef Friedrich Merz als Kanzlerkandidat seiner Partei nominiert. Doch wer ist der Mann, der aktuell die größten Chancen hat, nächster deutscher Bundeskanzler zu werden?“ Diese Frage stellt der 2005 gegründete Verein LobbyControl in einem Newsletter vom 22. November 2024.

Lobbycontrol setzt sich nach eigener Darstellung „für Transparenz, demokratische Beteiligung und klare Schranken bei der Einflussnahme auf Politik und Öffentlichkeit“ ein. Dass sich der Verein mit Friedrich Merz beschäftigt, ist darum folgerichtig, denn dessen Biografie weist ihn deutlich als Vertreter wirtschaftlicher Interessen aus.

Wir zitieren aus dem Newsletter:

„Während seiner ersten Jahre als Bundestagsabgeordneter verdiente er nebenher kräftig in der Wirtschaft hinzu. (…)

Im Jahr 2009 wechselte Merz vollständig die Seiten und nutzte seine politischen Kontakte für zahlreiche Anschlussjobs in Unternehmen und als Wirtschaftsanwalt. Seine Ämterhäufung von Aufsichtsrats- und Beiratsposten machte ihn zum Millionär. Bei der Kanzlei Mayer Brown war Merz von 2005 bis 2021 als Anwalt tätig – und nahm dort auch Mandate an, bei denen ihm seine politischen Kontakte zugute kamen.

So trat er 2006 als Anwalt auf einer Sitzung der CDU-Landesgruppe NRW im Bundestag auf, um das Kohleunternehmen RAG bei dem anstehenden Börsengang zu vertreten. Doch er war zu der Zeit selbst noch Mitglied eben dieser Landesgruppe. Das ist ein klarer Interessenkonflikt, den unter anderem der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim scharf kritisierte. (…)

In der Kritik stand Merz auch wegen seines Aufsichtsratsmandats bei der Bank HSBC Trinkaus und Burkhardt von 2010-2019 – und zwar gleich doppelt: Zum einen beriet er gleichzeitig den Bankenrettungsfonds Soffin, was zur Frage nach einem weiteren Interessenkonflikt führte. Außerdem war HSBC in die Cum-Ex-Geschäfte verwickelt, durch die dem Staat Milliardeneinnahmen durch Steuertricks verloren gingen. Merz wird vorgeworfen, er müsse als Aufsichtsrat von den Geschäften gewusst haben, ohne sie zu verhindern – er selbst streitet dies ab.

Merz war in gleich mehreren Lobbynetzwerken aktiv: Er war 2005 Gründungsmitglied des Fördervereins der arbeitgeberfinanzierten PR- und Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die INSM fällt immer wieder durch fragwürdige Kampagnen auf. Außerdem war er von 2009 bis 2019 Vorsitzender der Atlantik-Brücke, einem exklusiven transatlantischen Lobbynetzwerk, in dem vor allem Konzernchefs, aber auch Spitzenpolitiker:innen und Journalist:innen Mitglied sind. (…)

Für einiges Aufsehen und Kritik sorgte Merz’ Lobbytätigkeit für den Finanzkonzern Blackrock, die er 2016 annahm. Zu seinen Aufgaben zählte laut dem Unternehmen auch, Kontakte zu Behörden und Regierungen zu pflegen. Diesen Lobbyjob gab er Anfang 2020 auf – er endete also kurz nachdem sich Merz das zweite Mal für den Parteivorstand beworben hatte.

Merz hatte zudem jahrelang Spitzenpositionen im ‚Wirtschaftsrat der CDU‘. Der Wirtschaftsrat ist aber kein Parteigremium, sondern ein mächtiger Lobbyverband, der Konzernen privilegierte Zugänge in die CDU ermöglicht. (…)

Weil der Lobbyverband Wirtschaftsrat dauerhaft im Parteivorstand sitzt, steht die CDU nun vor Gericht. Pikant dabei: Merz hatte selbst jahrelang Spitzenfunktionen im Wirtschaftsrat inne – und muss nun als Parteichef dessen Sonderrolle im Parteivorstand rechtfertigen.
Der Wirtschaftsrat hat einen Dauergaststatus im Parteivorstand – mit Rederecht. Solche Privilegien für die Wirtschaftslobby sind undemokratisch, weil andere gesellschaftliche Gruppen nicht die gleichen Zugänge haben. Und es ist auch noch rechtswidrig. (…)

Ähnlich wie der Wirtschaftsrat wettert Merz u.a. gegen verstärkten Klimaschutz: Höhere Klimaziele würden zu einer Zerstörung der ‚freiheitlichen Lebensweise‘ und der ‚marktwirtschaftlichen Ordnung‘ führen. Teile des Wirtschaftsrats fungieren dabei als Türöffner für Kreise, die die Rolle der fossilen Industrie an der Klimakrise herunterspielen oder sogar ganz infrage stellen. (…)

Merz streitet regelmäßig ab, dass er Lobbyist gewesen sei. Gegenüber der Zeit behauptete er, als er auf seine Tätigkeit für Blackrock angesprochen wurde: ‚Ich habe nie ein Lobbymandat angenommen.‘ Diese Argumentation wiederholte er auch im Podcast Hotel Matze. Er sei nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag lediglich in seinen Beruf als Anwalt zurückgekehrt. Dabei ließ er aus, dass er nebenbei noch zahlreiche weitere Aufsichts- und Beiratsfunktionen bei Konzernen und gleich mehrere Funktionen in Lobbynetzwerken hatte. Für Blackrock habe er keine Kontakt in die Politik gepflegt. Diese Aussage irritiert angesichts seiner Aufgabenbeschreibung, die genau solche Kontakte vorsah. (…)

Merz als ‚Mann der Wirtschaft‘ wurde durch zahlreiche Aufsichtsratsposten zum Millionär – und war zugleich jahrelang als Lobbyist in verschiedenen Funktionen tätig. Das gefährdet seine Unabhängigkeit, wenn es um die Abwägung verschiedener gesellschaftlicher Interessen geht.“

Quelle:

Christina Deckwirth: „Friedrich Merz: Kanzlerkandidat mit Lobbykontakten“, Newsletter von LobbyControl vom 22. November 2024

https://www.lobbycontrol.de/aus-der-lobbywelt/friedrich-merz-kanzlerkandidat-mit-lobbykontakten-118722/?mtm_campaign=2024-11-27&mtm_kwd=merz-2

Weitere Informationen zu Friedrich Merz unter:

https://lobbypedia.de/wiki/Friedrich_Merz

Vgl. auch die BIG-Nachricht vom 22. Dezember 2020: „Wer ist Friedrich Merz?“

https://big.businesscrime.de/nachrichten/wer-ist-friedrich-merz/

 

 

Shell gewinnt vor Gericht gegen Umweltschützer

Am 12. November 2024 hat ein Berufungsgericht in Den Haag eine Klage der Umweltschutzorganisation „Milieudefensie“ (Umweltverteidigung) gegen den Ölkonzern Shell zurückgewiesen. Damit wurde ein Urteil von 2021 gekippt, nach dem der Konzern seine Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um mindestens 45 Prozent im Vergleich zu 2019 reduzieren müsse. Darunter fallen auch die Emissionen der Zulieferer und Kunden. Shell wurde also auch für deren Klimaschäden verantwortlich gemacht. „Die Aktivistinnen und Aktivisten stützen sich bei dem Prozentsatz auf wissenschaftliche Studien, die genau voraussagen, um wieviel Prozent die Emissionen sinken müssen, damit die globale Erwärmung nicht über 1,5 Grad Celsius steigt.“ (junge Welt)

2021 hatte ein Richter in der ersten Instanz geurteilt, dass die Klimaveränderung Menschenrechte, wie das Recht auf Leben, in Gefahr bringe. Deshalb könnten einzelne Konzerne auch privatrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden ‒ ein Urteil, das international für Aufsehen gesorgt hatte (vgl. junge Welt).

Die Umweltorganisation „Milieudefensie“ kann als Klägerin noch vor dem Obersten Gerichtshof der Niederlande Revision einlegen.

Es folgen Auszüge aus Medienberichten über den juristischen Sieg von Shell (und damit der gesamten Öl- und Gasindustrie):

Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2024:

„Das Urteil von Den Haag reiht sich ein in weitere gute Nachrichten für die Öl- und Gasindustrie. Gewinne und Börsenkurse stiegen hoch wie nie. Donald Trumps Wahl dürfte das Umfeld von Big Oil in den USA weiter verbessern. Und auf der Weltklimakonferenz in Aserbaidschans Hauptstadt Baku nutzte Präsident Ilham Alijew  seine Willkommensrede am Dienstag zum Frontalangriff auf den Westen. Aserbaidschan ist quasi der Geburtsort des Öl- und Gasgeschäfts, schon vor Jahrhunderten wurde hier nach den fossilen Brennstoffen gegraben. (…) Alijew verbat sich am Rednerpult vor Vertretern von fast 200 Staaten jegliche Kritik. (…) Dabei sei es doch die Europäische Union gewesen, die angesichts der Energiekrise vor zwei Jahren gebeten habe, die Erdgas-Lieferungen bis 2027 zu verdoppeln. (…) Damit stimmt Alijew ein in den Chor aus Staaten- und Konzernlenkern, die das Ende von Öl und Gas trotz der weltweiten Erderwärmung noch in weiter Ferne sehen. Bestätigt wird das von Zahlen der Umweltorganisation Urgewald, die zusammen mit 34 Partnern Geschäftsberichte und Prognosen von fast 1800 Unternehmen weltweit analysiert und am Dienstag veröffentlicht hat. Darin kommen sie zu dem Ergebnis, dass noch nie soviel Öl und Gas produziert wurde wie 2023. Mit 55,5 Milliarden Barrel Öl-Äquivalenten – alle fossile Brennstoffe eingerechnet – seien auch die Höchstwerte von  vor der Corona-Pandemie übertroffen worden. (…) 95 Prozent der  Öl- und Gasfirmen befänden sich weiter auf Expansionskurs, suchten neue Vorkommen oder erschließen sie bereits. Darunter Shell sowie andere europäische Konzerne wie Total Energies, BP, Eni, Equinor oder OMV. Viele Milliarden Euro würden in die Ausweitung der Geschäfte fließen, berichtet Urgewald. Die größten Förderer fossiler Brennstoffe sind demnach Staatsfirmen aus Saudi-Arabien, Iran, Russland, China, gefolgt von den US-Konzernen Exxon Mobil und Chevron. Shell ist Nummer zehn.“

Deutschlandfunk vom 12. November 2024:

„Es scheint gerade alles gegen den Klimaschutz zu laufen: Die mit ehrgeizigen Klimazielen gestartete Bundesregierung ist schachmatt. Der Klimaleugner Trump übernimmt das Ruder in den USA. Klimaschutz ist für viele zum Unwort geworden. Und jetzt gibt auch noch ein Gericht in Den Haag dem Ölmulti Shell recht. Die Ölkonzerne haben eine gewaltige wirtschaftliche Macht – Shell hat sich natürlich die besten Anwälte geholt. Bessere als vor drei Jahren, als der Konzern vor dem Bezirksgericht in Den Haag eine historische Niederlage kassierte. (…) Das hätte bedeutet, dass Shell seine Öl- und Gasproduktion mehr oder weniger hätte beenden müssen. Das Gegenteil ist bei Shell passiert – und nicht nur dort: alle Ölmultis weiten ihre Produktion aus. Denn mit Öl und Gas kann man gerade sehr viel Geld verdienen. So viel Geld, dass man die Rendite sogar ganz offen und kaltschnäuzig über den Klimaschutz stellt, wie es der BP-Chef getan hat.

Doch das neue Urteil, der vermeintliche Sieg von Shell, bedeutet nicht, dass hier ein Gericht eingeknickt ist. Es bedeutet vor allem, dass man sich die Rechtsgrundlage genauer anschauen muss. Wer entscheidet darüber, was private Unternehmen tun oder lassen dürfen, auf welcher Grundlage – und vor allem mit welcher Begründung? Die Begründung für den – je nach Sicht – drastischen oder historischen Schritt der ersten Instanz, einem einzelnen Unternehmen handfeste CO2-Vorschriften zu machen, hat die Vorsitzende Richterin im Berufungsprozess zurückgewiesen. Das konnte sie, weil der Staat beziehungweise staatliche Organisationen es versäumt haben, den Ölmultis klare Grenzen zu setzen. An ihnen ist es aber, jetzt zu handeln.“

Junge Welt vom 13. November 2024:

„‚Gerade Produkte von Unternehmen wie Shell haben ein Klimaproblem hervorgebracht‘, begann das Berufungsgericht laut dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk NOS am Dienstag seine Urteilsbegründung. Deshalb sei der Konzern verpflichtet, mehr zu tun als nur das, was gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Gerichtshof stellte jedoch in der Folge überraschend fest, es sei aber nicht erwiesen, ob es einen positiven Effekt auf die Umwelt und den Klimawandel habe, wenn Shell das Erreichen konkreter Prozentzahlen auferlegt bekäme. Die bauernschlaue Begründung: Wenn Shell weniger Öl und Gas verkaufen dürfte, würde eben die Konkurrenz freudig die Lücke füllen. In Sachen Klimawandel ändert sich also überhaupt nichts. Die Nachfrage nach Benzin und Diesel für Kraftfahrzeuge oder nach Gas für die Heizung könne nicht von einem Gericht gedrosselt werden, widersprach der Gerichtshof dem Urteil aus der ersten Instanz.“

Taz (Marie Gogoll) vom 12. November 2024:

„Shell ist nicht an das Pariser Klimaabkommen gebunden, urteilte ein Gericht – zu Recht. Denn für die Einhaltung müssen die Regierungen sorgen. (…) Shell hat recht: Würde Shell weniger Öl liefern, würden Wohnungen eben mit dem Öl von einem anderen Konzern geheizt. Würde Shell Tankstellen dichtmachen, führen die Leute halt zu Aral. So argumentierte der Konzern schon vor dem Prozess. (…) Ursprünglich hatte die NGO die Klage damit untermauert, dass der Konzern sich an die Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommens halten müsse. Aber dieses Abkommen haben nun mal Regierungschef*innen unterschrieben, keine CEOs. Und das ist der entscheidende Punkt. (…)

Mit der Bemühung, Unternehmen zu verklagen, versuchen NGOs wie Milieudefensie, eine Lücke zu füllen, die die politischen Entscheidungsträger*innen offen lassen. Nämlich die, Klimaschutzverpflichtungen direkt für Konzerne festzulegen und durchzusetzen. Und zwar nicht nur für einen, sondern für alle.

Zum Beispiel mithilfe einer Steuer auf die Förderung fossiler Brennstoffe. Regierungen müssten dafür sorgen, dass die nicht an Verbraucher*innen weitergegeben wird. Dann könnte eine solche Steuer den sozial gerechten Ausstieg aus fossiler Energie und den Umstieg auf erneuerbare beschleunigen. Und die Unternehmen ließen sich dann auch auf juristischem Wege dazu verpflichten.“

Taz (Tobias Müller) vom 12. November 2024:

„Laut dem Gericht hat Shell, wie andere Unternehmen auch, durchaus eine Verpflichtung, die negativen Folgen des durch CO₂-Ausstoß entstandenen Klimawandels zu begrenzen. Das ‚Menschenrecht auf den Schutz vor gefährlichem Klimawandel‘ gelte nicht nur für Bürger gegenüber ihren Regierungen, sondern auch gegenüber Unternehmen, zumal solchen, deren Aktivitäten zu den Problemen beitragen. Auch durch EU-Gesetzgebung sei Shell gezwungen, ‚immer weniger Treibhausgase auszustoßen‘, so die vorsitzende Richterin de Carla Joustra. Daraus lasse sich allerdings keine Reduzierung um 45 Prozent oder einen anderen konkreten Anteil ableiten. (…)

Es gilt als sicher, dass Hauptkläger Milieudefensie, der niederländische Zweig von Friends of the Earth, nun höchstinstanzlich in Revision geht. Für Milieudefensie ist Shell ‚einer der größten Klimaverschmutzer der Welt‘. Mit dem 2019 begonnenen Prozess legte man den Grundstein für die Strategie, große Unternehmen mit besonders schlechter Emissionsbilanz persönlich für ihren Beitrag zur Erderwärmung verantwortlich zu machen und gegebenenfalls eine Reduzierung gerichtlich einzufordern. Diese Strategie hat man inzwischen auf mehrere andere große Akteure angewendet. Im Januar kündigte man einen Prozess gegen die größte niederländische Bank ING an, der man vorwirft, übermäßig viel mit stark verschmutzenden Unternehmen zusammenzuarbeiten.“

Neues Deutschland vom 12. November 2024:

„Zu Beginn des neuen Prozesses hatte es so ausgesehen, als könnte das Urteil wieder zugunsten der Klägerin Milieudefensie ausfallen. Das Gericht bekräftigte, dass der Schutz vor dem Klimawandel ein Menschenrecht sei. ‚Es sind gerade die Produkte von Unternehmen wie Shell, die ein Klimaproblem geschaffen haben‘, so das Gericht. Shell sei verpflichtet, mehr gegen den Klimawandel zu tun, als es das Gesetz vorschreibe.

Allerdings soll dies ohne konkrete gerichtliche Auflagen geschehen. Denn allein Shell zu verpflichten, den Verkauf von Öl und Gas zu stoppen, um Emissionen einzusparen, sei sinnlos. Diese Lücke würde von der Konkurrenz sofort wieder gefüllt werden. ‚Es ist unwahrscheinlich, dass die fossilen Brennstoffe den Endverbraucher nicht trotzdem erreichen. Es ist möglich, dass das Öl und Gas über andere Zwischenhändler verkauft wird‘, so das Gericht.

Zudem äußerte die Vorsitzende Richterin Carla Joustra die Sorge des Gerichts, dass eine mögliche Reduzierung von Erdgas zu einem weltweiten Anstieg der Nutzung von Kohle führen könnte. Das sei noch schlechter für das Klima. Weiter tue Shell bereits, was Milieudefensie fordere, so die Einschätzung des Gerichts. (…) Nach Angaben von Juristinnen und Juristen ist dieser Fall weltweit einzigartig. Bereits im Jahr 2015 hatte eine andere niederländische Umweltorganisation vor Gericht gewonnen, mit einer Klage gegen den Staat und dessen Kohlendioxidausstoß. Dies hatte auch international ähnliche Fälle nach sich gezogen. Im Fall von Shell geht es nicht um einen Staat, sondern um einen Konzern – was noch mehr Möglichkeiten für internationale Klagen biete.“

FAZ vom 12. November 2024:

„Das Haager Shell-Urteil ist nur ein Zwischenschritt. Noch ist auch in den Niederlanden das letzte Wort nicht gesprochen, zumal ähnliche Umweltprozesse in vielen Staaten geführt werden. Es ist im Ergebnis richtig, einen Konzern nicht durch eine gerichtliche Entscheidung auf eine bestimmte Menge von schädlichen Emissionen zu verpflichten. (…) Das ändert aber nichts daran, dass die Unternehmen – und zwar alle – sich an die nationalen, europarechtlichen und völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen halten müssen. Die müssen auch durchgesetzt werden, soweit sie verbindlich sind. Und natürlich kann dann wieder die Justiz ins Spiel kommen.

Der Schutz der Umwelt darf jedoch nur auf demokratischem und rechtsstaatlichem Wege erfolgen – drastische Maßnahmen nicht ausgeschlossen. Im Wege eines selbst erklärten Widerstandsrechts gegen demokratische Entscheidungen wird er nicht gelingen. Und auch nicht über den Weg politisierter Verbände, vor deren Karren sich Parlamente und Justiz nicht spannen lassen sollten. Lobbyarbeit für natürliche Lebensgrundlagen ist Teil einer blühenden Zivilgesellschaft, aber auch für Umweltschutzmaßnahmen muss man Mehrheiten haben und sich im Rahmen der Verfassung halten. Auch Urteile wie das neue aus Den Haag tragen dazu bei, das Thema hochzuhalten. Es ist wichtig, aber nicht das einzige.

Dabei wächst der juristische Druck auf die Konzerne. Mehr als 80 Klagen wurden bereits gegen die weltweit größten Öl-, Gas- und Kohleunternehmen eingereicht – darunter BP, Chevron, Eni, Exxon Mobil, Shell und Total Energies. Shell allein muss sich auf der ganzen Welt mehr als 40 Klimaklagen stellen.“

Handelsblatt vom 12. November 2024:

„Jetzt ist es offiziell: Die Zeiten der grünen Wende sind vorbei. Zumindest in der Ölindustrie. Was vor drei Jahren noch als großer Sieg der Klimaaktivisten gefeiert wurde, hat ein Zivilgericht im niederländischen Den Haag am Dienstag wieder aufgehoben. (…) Steigende Kosten, Stellenabbau und sinkende Wachstumsraten haben die öffentliche Debatte bestimmt, der Kampf gegen den Klimawandel gerät dabei immer mehr ins Hintertreffen. Sehr zur Freude von Big Oil. Die großen Öl- und Gaskonzerne dieser Welt verbuchen Milliardengewinne, während Klimawissenschaftler das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung ausrufen.

Nach dem Ende der Coronapandemie sind die Ölpreise so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Shell, BP, Exxon Mobil und Co. nutzen die Gunst der Stunde und fördern so viel Erdöl wie möglich. Unter dem neuen US-Präsidenten Donald Trump dürfte sich die Freude der Förderer noch weiter steigern.“

Quellen:

Thomas Hummel: „Gute Zeiten für Shell und Co.“, Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2024

Dorothee Holz: „Das Gericht ist nicht eingeknickt“, Deutschlandfunk vom 12. November 2024

https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-urteil-shell-100.html

Gerrit Hoekman: „Shell siegt vor Gericht“, junge Welt (Online) vom 13. November 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/487764.kohlendioxidausstoß-shell-siegt-vor-gericht.html?

Marie Gogoll: „Shell hat recht“, taz (Online) vom 12. November 2024

https://taz.de/Oel-Konzern-muss-CO-Ausstoss-nicht-senken/!6045610&s/

Tobias Müller: „Verantwortung fürs Klima: ja. Konkrete Auflagen: nein“, taz (Online) vom 12. November 2024

https://taz.de/Revisionsurteil-im-Shell-Prozess/!6045617&s/

Sarah Tekath: „Klimaschutz: Shell muss Schadstoffe doch nicht reduzieren“, Neues Deutschland (Online) vom 12. November 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186699.klimaschutzprozess-shell-klimaschutz-shell-muss-schadstoffe-doch-nicht-reduzieren.html?sstr=shell

Reinhard Müller: „Haager Shell-Urteil: Guter Umweltschutz geht nur demokratisch“, FAZ (Online) vom 12. November 2024

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/shell-urteil-in-den-haag-guter-klimaschutz-110106791.html

Kathrin Witsch: „Das Motto lautet ab sofort wieder – ‚Drill, Baby, drill‘“, Handelsblatt (Online) vom 12. November 2024

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/shell-das-motto-lautet-ab-sofort-wieder-drill-baby-drill/100087840.html

 

 

Bayer AG und andere deutsche Firmen setzen auf Trump

Am 5. November 2024 wird in den USA über die Präsidentschaft und die Zusammensetzung beider Kammern des Kongresses neu entschieden (alle 435 Sitze im Repräsentantenhaus, ein Drittel der Senatssitze). Ein auch für deutsche Unternehmen wichtiger Tag, denn für sie stellen die Vereinigten Staaten der wichtigste Exportmarkt dar:

„Fast 6.000 deutsche Unternehmen schaffen in den Staaten rund 900.000 Arbeitsplätze. Die USA liegen auf dem ersten Platz der deutschen Direktinvestitionen weltweit. Dabei schätzen Unternehmen insbesondere die Größe des US-Marktes und die stabilen wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen, so die Ergebnisse des AHK World Business Outlook Frühjahr 2024.“ (DIHK)

Nach Angaben der Wirtschaftswoche haben Ökonomen, unter anderem vom ifo-Institut, bereits vor Wochen davor gewarnt, „dass ein Wahlsieg Trumps erhebliche Folgen für die ohnehin bedrängte deutsche Industrie haben könnte. Sollte er nach einer Rückkehr ins Weiße Haus sein Wahlversprechen höherer Einfuhrzölle umsetzen, könnten die deutschen Ausfuhren in die USA um knapp 15 Prozent sinken. Trump hat einen Zollsatz von 60 Prozent auf US-Importe aus China und von 20 Prozent auf Importe aus der restlichen Welt angekündigt. Das würde deutsche Produkte in den USA viel teurer machen. Besonders getroffen würden Auto- und Pharmaindustrie.“ (Wirtschaftswoche)

Es überrascht aber nur auf den ersten Blick, dass deutsche Firmen im US-Wahlkampf mehrheitlich für Donald Trump und für Kandidaten der US-Republikaner spenden. Das gilt offenbar auch für den Chemie- und Pharmariesen Bayer. Vor allem stoße sich der Konzern an der Gesundheitspolitik der Demokraten, deren Ziel unter anderem sei, die Lebenshaltungskosten der US-Amerikaner zu senken. In konservativen deutschen Medien werde dies als wirtschaftspolitischer Populismus kritisiert, der unter anderem auch Maßnahmen gegen die hohen Lebensmittelpreise vorsehe (vgl. German Foreign Policy).

Zitat German Foreign Policy:

„Bereits im Rahmen des Inflation Reduction Acts (IRA) hatte die Biden-Administration der staatlichen Gesundheitsagentur Medicare das Mandat erteilt, mit Pharmakonzernen Arzneimittelrabatte auszuhandeln. Mitte August gaben Joe Biden und Kamala Harris als Ergebnis der jüngsten Verhandlungsrunde erhebliche Preissenkungen für zehn gebräuchliche Medikamente bekannt. Bayer etwa musste einen Abschlag von 517 auf 197 Dollar für eine Monatsration seines Blutverdünners Xarelto hinnehmen. ‚Wir haben Big Pharma besiegt‘, resümierte Biden bei einer Wahlveranstaltung in Maryland.“

Bayer setzt sich auch für Trump ein, um besser vor Glyphosat-Klagen geschützt zu sein und von der angekündigten Deregulierung im Umweltbereich zu profitieren. „2017 hatte Trump in einer seiner ersten Amtshandlungen die Chefin der US-amerikanischen Umweltbehörde EPA abgelöst. Nicht zuletzt setzt der Agrarriese – wie auch BASF, Fresenius und andere – in Sachen Unternehmenssteuer auf die Republikaner. Sie haben eine Senkung von 21 auf 15 Prozent angekündigt. Die Demokraten wollen den Satz hingegen auf 28 Prozent anheben.“ (German Foreign Policy)

Zitat German Foreign Policy:

„Deutsche Firmen spenden im US-Wahlkampf mehrheitlich für Donald Trump und für Kandidaten der US-Republikaner. Am deutlichsten bezogen die DAX-Konzerne Covestro und Heidelberg Materials Stellung; sie verteilten über 80 Prozent ihres Wahlkampfbudgets auf republikanische Kandidaten. Nur die Allianz und SAP zogen die Demokraten den Republikanern vor. Am meisten Geld gab T-Mobile aus. Der Konzern betrieb bisher mit über 800.000 US-Dollar politische Landschaftspflege. BASF investierte 328.000, Fresenius 204.000, Siemens 203.000, Bayer 195.000 US-Dollar. Auch die deutsche Politik umwirbt US-Republikaner – und zwar solche, die im Falle eines Sieges von Trump mäßigend auf den angekündigten protektionistischen Kurs einwirken könnten. Das Wirtschaftsministerium überprüft prophylaktisch die amerikanisch-deutschen Lieferketten und sucht nach alternativen Bezugsquellen für bestimmte Produkte, während die Unternehmen sich darauf einstellen, eventuell mehr vor Ort in den USA produzieren zu müssen. Die EU trifft ebenfalls bereits Vorkehrungen für einen Regierungswechsel. Sie stellt sich auf harte Verhandlungen ein und will auf Importzölle mit Gegenmaßnahmen reagieren.“

Quellen:

„Deutsche Firmen unterstützen Trump“, German Foreign Policy, 22. Oktober 2024
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9729 

„Deutsche Wirtschaft würde von Harris-Sieg mehr profitieren, sagen Experten“, Wirtschaftswoche (Online) vom 20. Oktober 2024
https://www.wiwo.de/politik/ausland/us-wahlen-deutsche-wirtschaft-wuerde-von-harris-sieg-mehr-profitieren-sagen-experten/30046782.html 

„Harris gegen Trump: Auswirkungen der US-Wahl auf die deutschen Unternehmen“, Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), 23. Oktober 2024
https://www.dihk.de/de/aktuelles-und-presse/tdw/harris-gegen-trump-auswirkungen-der-us-wahl-auf-die-deutschen-unternehmen-123202 

Rüstungsindustrie will Waffen als „nachhaltig“ einstufen lassen

„Stellen Sie sich vor, Sie wollen Geld anlegen und lassen sich dazu bei Ihrer Bank beraten. Sie entscheiden sich für einen Fonds mit Nachhaltigkeitszertifikat. Später stellen Sie fest, dass dieser nachhaltige Fonds nicht nur Aktien von Gas- und Atom-Konzernen enthält, sondern auch von Waffenherstellern. Und das ganz legal. Verkehrte Welt? Wenn es nach der Bundesregierung geht, könnte dies bald Normalität sein.“

Das sagt Aysel Osmanoglu, Vorstandssprecherin der GLS-Bank, nach eigenen Angaben die erste sozial-ökologische Bank Deutschlands. Sie verweist damit auf eine massive Lobbykampagne der Rüstungsindustrie, über die aktuell die tageszeitung (taz) und der Verein LobbyControl auf Basis einer gemeinsamen Recherche berichten: „Denn weil Europa mehr für Sicherheit und Aufrüstung machen will, ist der Rüstungslobby ein Coup gelungen: Investitionen in Rüstung sollen als ‚nachhaltige‘ Geldanlagen anerkannt werden – wegen ihres angeblichen Beitrages zum Frieden.“ (Newsletter LobbyControl)

Die Zugänge zu „nachhaltigen“ Fonds an den privaten Finanzmärkten waren für die Rüstungsindustrie bislang weitgehend verwehrt. In Zeiten der geforderten „Kriegstüchtigkeit“ jedoch sieht die Rüstungslobby ihre große Chance, neue Kanäle zu mehr Investitionen zu sichern. Sie argumentiert bereits seit Jahren damit, dass Krieg das Gegenteil von Umweltschutz sei und folglich Rüstung als Garant der Sicherheitspolitik einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leiste (vgl. Newsletter LobbyControl). Durchaus mit Erfolg, denn im European Defense Industrie Programme (EDIP), dem sogenannten Verteidigungsprogramm der EU vom März 2024, lässt sich nachlesen:

Die Verteidigungsindustrie der Union trägt entscheidend zur Resilienz und Sicherheit der Union und damit zu Frieden und sozialer Nachhaltigkeit bei. (zit. n. Nachdenkseiten)

LobbyControl ergänzt:

„Eine Klassifizierung der Rüstungsindustrie als nachhaltig hätte weitreichende Folgen. Aktien der Hersteller von Panzern, Raketen oder gar Nuklearwaffen könnten sich in nachhaltigen Aktienpaketen und Fonds verstecken, ohne dass Anleger:innen sich dessen bewusst sind.

Christian Klein, Professor für nachhaltige Finanzwirtschaft an der Uni Kassel, betont, dass dies nicht im Interesse von deutschen Anleger:innen ist: ‚Wir wissen aus unserer Forschung, dass zumindest deutsche Kleinanleger und Kleinanlegerinnen ,Rüstung’ als das Gegenteil von ,nachhaltig’ empfinden.

Es besteht also die Gefahr, dass durch die Pläne der Kommission, Menschen zu Investitionen in Rüstung gebracht werden, die das eigentlich explizit nicht möchten.‘“ (Aurel Eschmann)

Die taz blickt zurück:

„Die Umsetzung der Pariser Klimaziele von 2015 hat die EU-Politik in vielen Bereichen durchdrungen. 2018 hat die EU einen Aktionsplan für ein nachhaltiges Finanzwesen ins Leben gerufen. Der mündete in einer Verordnung ‚über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor‘. Diese Verordnung hat Transparenzpflichten und Kriterien für Geldanlagen festgelegt, mit denen Greenwashing in der Finanzwelt verhindert werden soll. Die EU will damit sowohl die Verbraucher*innen als auch das Klima schützen. Als die Kommission 2022 Erdgas und Atomstrom als nachhaltig einstufte, gab es unter Umweltverbänden einen Aufschrei. Auch aus der taz kam der ‚Greenwashing‘-Vorwurf.

Bei anderen Branchen ist die EU-Kommission da bislang deutlich härter: Tabak, Glücksspiel und Rüstung gelten bis heute nicht als nachhaltig und sind für ESG-Fonds eigentlich Tabu – bis jetzt.“

Die Einstufung der Rüstungsindustrie als „nachhaltige“ Branche ist zwar noch nicht beschlossen, ihre Aufnahme in die EU-Taxonomie (Verordnung zur Definition von Nachhaltigkeit) könnte aber in den kommenden Monaten erfolgen.

Quellen:

Anton Dieckhoff: „Wie Rüstung nachhaltig werden soll“, taz (Online) vom 8. Oktober 2014

https://taz.de/Waffenlobby-in-der-EU/!6041646/

Aurel Eschmann: „Einfluss der Waffenlobby: EU-Kommission will Rüstungsanlagen als nachhaltig erklären“, LobbyControl e.V., 8. Oktober 2024

https://www.lobbycontrol.de/lobbyismus-in-der-eu/waffenlobby-ruestung-soll-als-nachhaltig-eingestuft-werden-117574/

„Grüne Bomben und Raketen“, Newsletter von LobbyControl e.V. vom 8. Oktober 2013

Aysel Osmanoglu: „Verdrehte Nachhaltigkeit: Erst Gas und Atomkraft, nun Waffen?“, Table.Briefings, 6. September 2024

https://table.media/esg/standpunkt/verdrehte-nachhaltigkeit-erst-gas-und-atomkraft-nun-waffen/

Ralf Wurzbacher: „Von Herzen, Rheinmetall“, NachDenkSeiten, 11. Oktober 2024

https://www.nachdenkseiten.de/?p=122927

Tesla: Kranke unter Druck

In den letzten Tagen machte Tesla wieder einmal Schlagzeilen – dieses Mal wegen unangekündigter Hausbesuche bei häufig krankgeschriebenen Beschäftigten des Tesla-Werks in Grünheide bei Berlin. Konzernchef Elon Musk will sich selbst über die Lage informieren, wie er ankündigte. Der Werksleiter wiederum beteuerte, dass Hausbesuche nichts Außergewöhnliches und auch bei anderen Unternehmen üblich seien. Es solle nur an die Arbeitsmoral der Belegschaft appelliert werden. Teilweise habe der Krankenstand bei überdurchschnittlich hohen 15 Prozent oder noch höher gelegen.

Nach Ansicht von Experten für Arbeitsrecht sind Hausbesuche durchaus erlaubt, somit ist das Verhalten von Tesla legal (auch wenn die Praxis von den Mitarbeitern als Eingriff in ihre Privatsphäre erlebt wird).

„In den vergangenen Tagen gab es über Teslas Kontrollbesuche eine große öffentliche Diskussion. Dirk Schulze, Bezirksleiter der IG-Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen bezeichnete das Vorgehen der Führung in Grünheide als abwegig. Christian Görke, parlamentarischer Geschäftsführer der Linken im Bundestag sagte dem ‚Redaktionsnetzwerk Deutschland‘ mit Blick auf Musk: ‚Der reichste Mann der Welt muss endlich merken, dass wir hier nicht im Wilden Westen sind.‘

Zuletzt schaltete sich der deutsche Milliardär Carsten Maschmeyer ein. ‚Bodenlos‘ nannte der aus der Fernsehsendung ‚Höhle der Löwen‘ bekannte Unternehmer die Vorgänge bei Tesla am Freitagmorgen im Kurznachrichtendienst X. ‚Kontrollbesuche des Arbeitgebers helfen wirklich niemandem! […] Das ist ein bedenklicher Vorstoß in die Privatsphäre der Angestellten.‘” (Handelsblatt vom 27. September 2024)

IG-Metall-Vertreter Dirk Schulze berichtet, dass Beschäftigte aus fast allen Bereichen des Werks über eine extrem hohe Arbeitsbelastung klagen. Bei fehlendem Personal würden die Kranken unter Druck gesetzt und die noch Gesunden mit zusätzlicher Arbeit überlastet (vgl. Handelsblatt vom 26. September 2024).

Weitere Auszüge aus Zeitungskommentaren:

„Was eine solche Serie von Hausbesuchen wie jetzt bei Tesla aber in jedem Fall bewirkt, ist Einschüchterung. Eine Kultur des Misstrauens, von der man im Falle Teslas nicht zum ersten Mal hört. Eine ungewöhnliche hohe Arbeitslast verbunden mit einem Klima der Angst am Arbeitsplatz kann dazu beitragen, dass Menschen zusammenbrechen.“ (Süddeutsche Zeitung)

„Tatsächlich gibt es auch woanders Ausreißer aus der Statistik, und zwar immer da, wo die Arbeitsbedingungen besonders problematisch sind, wie in der Altenpflege oder im Sozial- und Erziehungsdienst. Auch das Fehlen tariflicher Regelungen und Versuche, Gewerkschaften aus dem Betrieb herauszuhalten spielen eine Rolle. Tesla verweigert den knapp 12.000 Beschäftigten in Grünheide bislang einen Tarifvertrag.“ (junge Welt)

„Ja, bei Tesla gibt eine Menge zu tun. Immerhin ist bei der jüngsten Betriebsratswahl die Gewerkschaft sehr gestärkt worden. Aber ein Arbeitgeber wie Elon Musk arbeitet mit allen Tricks, um Mitbestimmung zu torpedieren. Vor der jüngsten Betriebsratswahl wurden an die Beschäftigten Buttons verteilt mit der Aufschrift: ‚No union needed‘, zu Deutsch: Wir brauchen keine Gewerkschaft. Tesla ist ein Beispiel für einen großen Missstand.“ (Frankfurter Rundschau)

„Mögliche Ursachen gibt es viele. Die Unfall- und Verletzungsgefahr bei Tesla ist bekanntermaßen hoch. die Bezahlung schlecht, und CEO Elon Musk hasst und bekämpft Arbeitnehmervertretungen wie die Pest. Wer unter schlechten Bedingungen arbeitet, sich schlecht ernährt, lange und mühsame An- und Abfahrtswege hat, ist schon mal tatsächlich öfter krank als zum Beispiel der Autor dieser Zeilen, der, um 11 Uhr morgens noch im bequemen Nachtgewand an seinem Schreibtisch aus Palisander sitzend, zur Arbeit kolumbianischen Hochlandkaffee und Müsli aus dem Bioladen mit im Garten selbst gepflückten Himbeeren nascht (dies für die zahllosen Interessierten nur am Rande zum Making-of).

Ein weiterer Faktor könnte in einer miesen Identifikation mit dem Arbeitgeber liegen. Man stelle sich vor, der eigene Boss negiert jede Form der Regulierung, kommt mit der Rakete ins Büro, teilt viele Charaktermerkmale mit griechischen Göttern, Waschbären sowie Donald Trump, hofiert Faschisten, gilt als libertärer Rechtsaußen und ist ein pathologisch gekränkter Feind jedes zivilen Sozialbegriffs. (…)

Da ziehe ich doch jeden Tag mit der Tesla-Hymne auf den Lippen frohgemut ins Werk. Nein, wer hier kontrolliert, weiß schon selbst, dass im eigenen System was faul ist; es ist im Grunde ein Offenbarungseid des schlechten Gewissens. Angesichts der exemplarischen Mischung aus Argwohn, öffentlich geschürtem Generalverdacht und Hilflosigkeit können sich die Empfänger:innen von Bürgergeld ja ebenfalls schon mal auf was gefasst machen. Kontrolle ist gut, mehr Kontrolle ist besser. Das Prinzip ist ähnlich wie in einer Diktatur: Ohne Druck, Angst und einen umfangreichen Kontrollapparat droht das System aufgrund seiner immanenten Schwächen sonst schnell instabil zu werden.“ (taz)

Quellen:

Claus-Jürgen Göpfert: „Nach der Landtagswahl in Brandenburg steht fest: Kohleausstieg ‚darf tatsächlich erst 2038 erfolgen‘“, Interview mit Katja Karger (DGB Berlin-Brandenburg), Frankfurter Rundschau (Online) vom 1. Oktober 2024

https://www.fr.de/wirtschaft/nach-der-landtagswahl-in-brandenburg-steht-fest-kohleausstieg-darf-tatsaechlich-erst-2038-erfolgen-93331221.html

Sönke Iwersen/Michael Verfürden: „Elon Musk nennt Krankenstand im Tesla-Werk in Grünheide ‚verrückt‘“, Handelsblatt (Online) vom 27. September 2024

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/hausbesuche-elon-musk-nennt-krankenstand-im-tesla-werk-in-gruenheide-verrueckt/100073726.html

Dies.: „Tesla-Werksleiter verteidigt Hausbesuche bei krankgeschriebenen Mitarbeitern“, Handelsblatt (Online) vom 26. September 2024

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/tesla-gruenheide-tesla-werksleiter-verteidigt-hausbesuche-bei-krankgeschriebenen-mitarbeitern/100073080.html

Uli Hannemann: „Dein Chef prüft, ob du krank bist“, taz (Online) vom 25. September2024

Susanne Knütter: „Hausbesuche vom Chef“, junge Welt (Online) vom 27. September 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/484606.tesla-in-grünheide-hausbesuch-vom-chef.html?https://taz.de/Wie-Tesla-mit-Krankmeldungen-umgeht/!6035705/2

Ronen Steinke: „Wenn der Chef klingelt…“, Süddeutsche Zeitung vom 28./29. September 2024

„Remigration“: Polizeieinsatz beendet „Lesung“ von Martin Sellner

Die Tour von Martin Sellner war groß beworben: In mehreren bundesdeutschen Städten wollte er aus seinen Büchern vorlesen. Für Baden-Württemberg hatte er sich als zentralen Ort Pforzheim ausgesucht. Über die Gründe dieser Orientierung können wir nur spekulieren. Ein Zusammenhang mit der Stärke der „Rechten“ ist wahrscheinlich. Bei der Gemeinderatswahl zog die AfD als stärkste Fraktion in das neugewählte Gremium der Stadt Pforzheim ein.

Wer ist Martin Sellner?

In einer Presseveröffentlichung von BIG Business Crime (April 2024) heißt es über ihn:

Martin Sellner gehört zu den ständigen Autoren der Zeitschrift „Sezession“, die vom Institut für Staatspolitik, dem neurechten Thinktank Götz Kubitscheks … herausgegeben wird. Von 2015 bis 2023 war er Sprecher der Idenditären Bewegung in Österreich. Ende November 2023 trug er bei dem von der investigativen Plattform Correctiv aufgedeckten Treffen von AfD-M itgliedern und anderen Rechten in einer Potsdamer Villa einen Masterplan zur „Remigration“ von Flüchtlingen und „nicht assimilierbaren“ Eingewandertern vor. Dazu hat er inzwischen auch ein weiteres Buch im selben Verlag wie das hier rezensierte* vorgelegt.

(*Anmerkung des Verfassers: „Regime-Change von Rechts – eine strategische Skizze“)

Sellner hat eine tiefbraune Vergangenheit, die z.B. zu einem Einreiseverbot in Großbritannien führte. In „Wikipedia“ ist zu lesen (abgerufen am 28.08.2024):

Einreiseverbote

Im Jahr 2018 verweigerten ihm britische Behörden mehrfach die Einreise nach Großbritannien und verwiesen ihn des Landes; im Juni 2019 verhängte das britische Innenministerium schließlich zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein unbefristetes Einreiseverbot gegen Sellner. Nachdem Sellner eine Spende des Christchurch-Attentäters Brenton Tarrent angenommen hatte, verhängten die Verienigten Staaten im März 2019 ein Einreiseverbot gegen ihn und entzogen ihm sein Langzeitvisum. Im März 2024 erhielt Sellner nach einem Entscheid der Stadt Potsdam ein Einreiseverbot nach Deutschland. Der Entscheid erging unter Verweis auf § 6 Abs. 1 FreizügG/EU „aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“. Dem Einreiseverbot vorausgegangen waren deutschlandweite Proteste gegen Rechtsextremismus, die sich auf einen in Potsdam gehaltenen Vortrag Sellners zur Remigration bezogen. Infolge eines Eilantrag Sellners gegen dieses Einreiseverbot wurde dessen Vollzug von der Stadt Potsdam im April 2024 ausgesetzt. Das Verwaltungsgericht Potsdam gab dem Eilantrag Ende Mai 2024 mit aufschiebender Wirkung statt; das Einreiseverbot darf somit vorerst nicht vollzogen werden. Laut Gericht erfüllte die Begründung der Stadt Potsdam für das Verbot nicht die „tatbestandlichen Voraussetzungen“ für einen solchen schwerwiegenden Eingriff. Die Verfügung sei nach der im Eilverfahren möglichen Prüfung erwiesen rechtswidrig.

Die Initiative gegen Rechts mobilisierte gegen die für den 3. August im Raum Pforzheim angekündigte Lesung mit einem breiten Bündnis gegen diese Lesung, ohne den genauen Ort dieser Lesung zu kennen. Vor dem Rathaus in Pforzheim wurden kurzfristig am Samstagabend 150 Menschen mobilisiert (laut Polizeiangaben 70). OB Peter Boch und Bürgermeister Dirk Büscher nahmen als Privatpersonen an dieser Kundgebung teil. Es stellte sich heraus, dass Sellner seine Lesung in Neulingen-Göbrichen (Enzkreis) halten wollte. Der dortige Bürgermeister erließ gegen die Lesung in einer renommierten Gaststätte eine Polizeiverfügung, aufgrund derer die Polizei den Veranstaltungsraum räumen ließ.

Quelle: Antifa Nachrichten Nr. 4/2024, Magazin der VVN-BdA Landesvereinigung Baden-Württemberg

Cum-Ex/Cum-Cum: Neues Gesetz lässt Steuerkriminelle jubeln

„Die Aufarbeitung steht noch ganz am Anfang – und könnte dennoch schon bald enden.“ Die Befürchtung des Handelsblatts zielt auf die geplante Verkürzung von Aufbewahrungspflichten von steuerlich relevanten Unterlagen von zehn auf acht Jahre. Die bevorstehende Änderung ist Teil des am 26. September im Bundestag beschlossenen „Vierten Bürokratieentlastungsgesetzes“, das laut Webseite des Bundesjustizministeriums „die Wirtschaft, die Bürgerinnen und Bürger und die Verwaltung von überflüssiger Bürokratie“ entlasten soll.

Die Belege sind aber wichtige Beweismittel bei Verfahren zu Cum-Ex- und Cum-Cum-Aktiengeschäften. Die ehemalige Staatsanwältin und jetzige Geschäftsführerin der NGO Finanzwende, Anne Brorhilker, warnt davor, dass auf Basis des Gesetzes viele der Täter ungeschoren davonkämen und Milliarden an Steuergeldern unwiderruflich verloren seien: „Sobald das Gesetz in Kraft ist, werfen die ihre Schredder an.” (Finanzwende)

Der Schaden durch Cum-Ex-Geschäfte wird nach Expertenmeinung gewöhnlich auf zehn Milliarden Euro geschätzt, die Steuerausfälle für den deutschen Staat durch Cum-Cum-Deals auf über 28 Milliarden. Diese Zahl, betont Brorhilker, sei vermutlich noch zu niedrig gegriffen. Denn gerade bei Cum-Cum sei bisher nur die Spitze des Eisbergs bekannt – „und den Rest werden wir mit diesem Gesetz vielleicht nie kennenlernen“. (Finanzwende) Zurückgefordert hat der Fiskus bislang nur wenige Hundert Millionen Euro.

Dass die Aufbewahrungsfristen kürzer seien als die Verjährungsfristen, hält Brorhilker ohnehin für unsinnig. Diese Fristen nun noch zu verkürzen, für vollkommen absurd.

Tagesschau.de schreibt:

„Das Pikante: Erst vor wenigen Jahren hatte der Bund die Verjährungsfristen für besonders schwere Steuerhinterziehung noch von zehn auf 15 Jahre angehoben. Mit der Regelung sollte Ermittlern die nötige Zeit verschafft werden, die hochkomplexe Verfolgung der Steuerstraftäter aufzunehmen.

Florian Köbler, Vorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, sieht durch den Gesetzesentwurf auch die Gefahr, dass das Vertrauen in die Steuergerechtigkeit untergraben wird. Die Gewerkschaft vertritt die Interessen von Finanzbeamten und Steuerfahndern. ‚Der Gesetzgeber öffnet Straftätern Tür und Tor. Er verspielt leichtfertig die Mittel des Rechtsstaats. Ohne Not und ohne Sinn. Ein Geschenk an Kriminelle‘, sagt Köbler.“

Die Bundesregierung möchte die Wirtschaft mit der Gesetzesnovelle mit rund 944 Millionen Euro jährlich entlasten. Den Großteil, 626 Millionen Euro, soll dabei die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege und Rechnungen ausmachen. Das Einsparpotential ergibt sich nach Auffassung der Bundesregierung vor allem aus geringen Mietkosten für Lagerräume, in denen die Unterlagen aufbewahrt werden (vgl. Süddeutsche Zeitung). Florian Köbler von der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG) glaubt dagegen nicht an die Einsparung. „Das Gros der Wirtschaftsunternehmen habe der DSTG bestätigt, dass sie ihre Belege bereits digital aufbewahren würde. Und das koste vergleichsweise wenig: Bei einem Unternehmen mit digitaler Aufbewahrung werde die Einsparung im Gesetz auf zwölf Euro im Jahr berechnet, so die DSTG. Dies stehe in keinem Verhältnis zum potenziellen Schaden.“ (Süddeutsche Zeitung)

Finanzwende hat im Internet eine Petition gestartet und vor dem Berliner Reichstag gegen das Gesetz protestiert. Im Bundesrat soll das Gesetz Mitte Oktober die letzte Hürde nehmen, bevor es in Kraft treten kann.

Quellen:

Massimo Bognani: „Ein Geschenk an Kriminelle“, tagesschau.de vom 19. September 2024

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/buerokratieentlastungsgesetz-100.html

„Neues Gesetz für Bürokratie-Entlastung gefährdet Aufklärung von CumCum-Delikten“, Pressemitteilung  von Finanzwende e.V. vom 20. September 2024

https://www.finanzwende.de/presse/neues-gesetz-fuer-buerokratie-entlastung-gefaehrdet-aufklaerung-von-cumcum-delikten

Volker Votsmeier: „Neues Gesetz könnte Milliarden-Rückforderungen gefährden“, Handelsblatt (Online) vom 20. September 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-cum-geschaefte-neues-gesetz-koennte-milliarden-rueckforderungen-gefaehrden/100070984.html

Markus Zydra: „‚Es ist ein Geschenk an Kriminelle‘“‚ Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2024

 

 

 

Der Weltdrogenatlas – Produktion, Handel, Konsum

Diese Veröffentlichung ist für alle interessant, die sich einen aktuellen Überblick über die weltweite Drogensituation verschaffen möchten. Unter anderem geht es um folgende Themen:

Afghanistan: Die Mohnbauern und die Taliban. Seit der Machtübernahme der Taliban in 2021 ist der Anbau von Mohn verboten, was zu einer Reduktion um 95 Prozent und einem Verlust von schätzungsweise 1,3 Mrd USD, ungefähr 8 Prozent des BIP, führte (S. 14 ff.).

Europa: Dem Konsum von MDMA auf der Spur in 88 Städten Europas und der Türkei (S. 48 ff.)

Wie und warum im Steuerparadies Dubai Geldwäsche mit Immobilientransaktionen durchgeführt werden konnten (S. 62 ff.).

Ukraine: Können mit Ketamin die Kriegstraumata ausgelöscht werden? (S. 56 ff) Es stellen sich ethische Fragen bei der Behandlung der SoldatInnen mit dieser psychoaktiven Droge. Zudem wird über die Legalisierung des Konsums von Psilocybine und MDMA im Rahmen einer medizinischen Behandlung diskutiert.

USA: Das tödliche Fentanyl. Beim Treffen mit US-Präsident Biden in San Francisco im November 2023 hat der Staatspräsident der Volksrepublik China Xi Jinping Maßnahmen zur Bekämpfung des Problems versprochen. Allerdings haben diese Maßnahmen dazu geführt, dass die chemischen Vorprodukte nun aus Indien kommen, wie die US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA konstatierte (S. 4 ff.).

Der Courrier international erscheint wöchentlich als Presseschau von über 900 weltweit publizierten Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen. Sein Hauptsitz ist in Paris. Herausgegeben wird die Zeitschrift von einer Verlegergruppe um die Tageszeitung Le Monde und die Gruppe Express-Expansion, die zu Vivendi gehört. Die Zeitschrift wurde im November 1990 von vier Parisern entwickelt und hat eine verkaufte Auflage von gut 180.000 (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Courrier international).

Courrier international, Hors-Série: Weltdrogenatlas. Produktion, Handel, Konsum. Mit Karten und Infographiken. Paris, August-September 2024, 74 Seiten, 8.90 Euro.

Zu bestellen über: https://boutiquevpc.courrierinternational.com/hors-series/3239-atlas-des-drogues.html

Norbert Neumann ist ehemaliger Deutschlandkorrespondent der Ende der 1990er Jahre aufgelösten Nichtregierungsorganisation Observatoire géopolitique des drogues (OGD) in Paris. OGD hat 1993 in Deutschland den Welt-Drogen-Bericht veröffentlicht, die erste nicht-staatliche Publikation zur weltweiten Drogensituation (dtv sachbuch, Dezember 1993). Zudem veröffentlichte OGD 1996 den ersten Weltdrogenatlas (Paris : Presses universitaires de France 1996).

Serco und das Geschäft mit dem Elend Geflüchteter

Aktuelle Recherchen von Süddeutscher Zeitung und dem ARD-Magazin Monitor zeigen einmal mehr: Die Privatisierung von Betreuungsleistungen für geflüchtete Menschen stellt einen Anschlag auf die Menschenwürde der Betroffenen dar. Das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) hatte die Verträge für drei Unterkünfte mit der Firma ORS („Organisation für Regie- und Spezialaufträge“, Sitz in Zürich) kurzfristig und außerordentlich zu Ende März 2024 gekündigt. Der Grund lag offenbar in einem Todesfall, der sich in einer von ORS betriebenen Einrichtung in Berlin-Steglitz ereignet hatte. Die Leiche eines 24-jährigen aus Guinea stammenden Mannes war wochenlang unentdeckt geblieben und erst im November des letzten Jahres aufgefunden worden. Monitor berichtete, dass die Unterbringungskosten für den Mann sogar noch abgerechnet worden seien, als dieser bereits verstorben war. Niemandem war sein Tod aufgefallen – auch den ORS-Mitarbeitern nicht. Dieser Fall wirft nicht nur ein Schlaglicht auf das Geschäftsmodell des Betreibers der Unterkunft, sondern auch auf die skandalösen Folgen, die sich unvermeidlich ergeben, wenn Staaten die Betreuung und Versorgung von Geflüchteten an private Anbieter auslagern, geflüchtete Menschen also zur reinen Profitquelle werden.

Auch wenn staatliche bzw. gemeinnützige Einrichtungen nicht per se einen humanen Umgang mit Geflüchteten garantieren können (und wollen) – für private Firmen gibt es schlicht keine Anreize, Geld für soziale Leistungen auszugeben. So legt nach Aussage von ORS der Betreibervertrag lediglich fest, dass ORS zwar eine Unterkunft, aber keine Betreuung anbieten muss. Die Berliner Stadtmission, zuvor Betreiber der Unterkunft, hatte dagegen in das soziale Zusammenleben der Menschen investiert (Betreuung von Kindern und traumatisierten Bewohnern durch qualifizierte Sozialarbeiter, Freizeitangebote, Hilfe bei Behördengängen usw.).

Gemessen an dem Bedarf an sozialer Arbeit galt der Standort unter der Leitung von ORS denn auch als personell unterbesetzt. Offenbar, so die SZ, setzte ORS an mehreren Unterkünften in Deutschland so wenig Personal ein, dass die staatlichen Auftraggeber wegen nicht erfüllter Vertragspflichten hohe Summen von den vereinbarten Zahlungen abzogen. Allein die Städte Karlsruhe und Tübingen verhängten demnach insgesamt 35 Vertragsstrafen wegen nicht erfüllter Personalschlüssel. Die Mitarbeiter des Betreibers beklagten sich zudem über die für sie selbst geltenden prekären Bedingungen (Löhne unter Tarif, befristete Verträge).

ORS ist eine Tochtergesellschaft der börsennotierten britischen Serco Group, die nach eigenen Angaben weltweit über fünf Milliarden Euro Umsatz macht: als Dienstleister für Militär und Grenzschutzbehörden, für das Bildungs- und Verkehrswesen, aber eben auch als Betreiber von Gefängnissen und Flüchtlingsunterkünften. In über 20 Ländern aktiv hat sich Serco laut einer australischen Menschenrechtsanwältin zu einem „Schlüsselakteur in der globalen Flüchtlingsindustrie“ (SZ) entwickelt. Vor allem in Australien zählen die Regelungen für Einwanderer und Flüchtlinge zu den weltweit härtesten. Das Land ist berüchtigt für die „Immigration Detention Centres“, jenen Haftanstalten, in denen Asylsuchende und andere Menschen ohne Visa festgehalten werden. Hier in „Down Under“ ist die Kritik an Serco denn auch besonders laut. Für einen ehemaligen Insassen einer von Serco geführten Haftanstalt für Einwanderer ähneln die Einrichtungen einem Hochsicherheitsgefängnis: „Hohe Zäune, Toiletten aus Stahl und festgeschraubte Möbel. Insassen dürften ihnen zugeteilte Bereiche nur zu bestimmten Zeiten verlassen, um auf dem weiteren Gelände zu spazieren. Wer auffällt, könne übergangsweise in videoüberwachte Einzelzellen verlegt werden. Kritiker sprechen von Isolationshaft“. (SZ)

Die zunehmende Bedeutung Sercos wird auch am Beispiel Großbritanniens deutlich. Hier ist der Konzern einer der größten privaten Dienstleister für die öffentliche Hand und hat viele outgesourcte Aufgaben übernommen. Darum gäbe es Leute, so ein britischer Politikwissenschaftler, die meinten, dass Serco heimlich das Land regiere (vgl. SZ).

Seit Ende des letzten Jahres gehört auch der größte deutsche private Betreiber von Flüchtlingsunterkünften, European Homecare (EHC) aus Essen, zum Konzern. Mit nun rund 130 Unterkünften ist Serco damit der wichtigste private Anbieter in Deutschland und verantwortlich für die Unterbringung von etwa 55.000 Geflüchteten. Nach Angaben von SZ und Monitor vergibt Berlin bis Ende 2024 Aufträge ausschließlich an die kostengünstigsten Anbieter, so dass mit einem weiteren Anstieg des Marktanteils von Serco in Deutschland in diesem Sektor zu rechnen ist – zum Nachteil der Geflüchteten und der Mitarbeitenden.

Die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Elif Eralp, hält Serco deshalb für ein skrupelloses Unternehmen, „das Sprengköpfe fertigt und Waffen in die ganze Welt verschickt“ (Neues Deutschland). Es könne nicht sein, so Eralp gegenüber der Zeitung, dass ein Rüstungskonzern mit dem Betrieb von Unterkünften für Geflüchtete Geld verdiene, während seine Waffen in ebenjenen Konflikten eingesetzt würden, die Menschen zu Flucht zwängen.

Die Zustände in den privat geleiteten Unterkünften zeigen, wie es um die Bereitschaft der Gesellschaft und des Staates bestellt ist, Flüchtende aufzunehmen und human unterzubringen – oder sie davon abzuschrecken, überhaupt in Erwägung zu ziehen, nach Deutschland kommen zu wollen. Den Tod des jungen Mannes aus Guinea als „bitteres Resultat eines systematischen Versagens“ zu bezeichnen, wie in der Anmoderation des Monitor-Beitrags zu hören, trifft deshalb das Problem nicht. Zuzustimmen ist dagegen Osman Oğuz vom Sächsischen Flüchtlingsrat, der Anfang des Jahres gegenüber der Leipziger Zeitung feststellte:

„Was in diesem weit verzweigten Geschäft ‚gemanagt‘ und mit dem Ziel billigster Effizienz umgesetzt wird, entspricht vielen faschistischen Träumen von Internierung, Vertreibung und Ausbeutung. Ganz im Sinne des Zeitgeistes: nach der Logik eines neoliberalen, transnationalen Unternehmens.“

Quellen:

Yaro Allisat: „Milliardengewinne mit Migration und Krieg: Serco übernimmt Geflüchteten-Unterkünfte auch in Leipzig“, Leipziger Zeitung (Online) vom 16. Februar 2024

https://www.l-iz.de/politik/sachsen/2024/02/milliardengewinne-mit-migration-und-krieg-serco-gefluchteten-unterkunfte-leipzig-577388

Kristiana Ludwig/Till Uebelacker/Lina Verschwele: „Die Firma für Rüstung und Soziales“, Süddeutsche Zeitung vom 3. September 2024

Uta Schleiermacher: „Geschäfte mit dem Krieg“, taz (Online) vom 10. Juli 2024

https://taz.de/Fluechtlingsunterkuenfte-in-Berlin/!6019625/

Till Uebelacker/Andreas Maus: „Zweifelhafter Profit mit Flüchtlingen“, tagesschau.de vom 29. August 2024

https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/fluechtlinge-unterbringung-unternehmen-100.html

Till Uebelacker/Andreas Maus: „Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften“, Monitor (ARD) vom 29. August 2024

https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/unterversorgt-geschaefte-mit-fluechtlingsunterkuenften-102.html

Patrick Volknant: „Rüstungskonzern profitiert von Geflüchtetenunterkünften in Berlin“, Neues Deutschland (Online) vom 18. April 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181591.asylpolitik-ruestungskonzern-profitiert-von-gefluechtetenunterkuenften-in-berlin.html

 

 

 

Justizaffäre um die ehemalige Staatsanwältin Brorhilker

Die beiden Investigativ-Journalisten Sönke Iwersen und Volker Votsmeier beschreiben in einem ausführlichen Artikel des Handelsblatts, wie der Chef der Staatsanwaltschaft Köln sowie der Justizminister in NRW versuchen, das Ansehen der ehemaligen Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die zwischen 2013 und Mai 2024 im Justizskandal um Cum-Ex ermittelte, systematisch zu beschädigen. Brorhilker hatte im April 2024 um die Entlassung aus ihrem Dienstverhältnis gebeten. Als Grund führte sie in einem viel beachteten Interview mit dem WDR an, sie sei überhaupt nicht damit zufrieden, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt werde.

Zitat Handelsblatt:

„Sie war die Staatsanwältin, die Steuerhinterzieher aus der Finanzindustrie am meisten fürchteten. Dann bat Anne Brorhilker plötzlich um ihre Entlassung. Nun tritt ihr Vorgesetzter nach. Eine Justizaffäre nimmt ihren Lauf. (…) Deutschlands bekannteste Staatsanwältin in Sachen Steuerhinterziehung war nach Einschätzung ihres Vorgesetzten offenbar eine ziemliche Niete. ‚Inhaltlich unzulänglich‘, nennt Stephan Neuheuser, Chef der Staatsanwaltschaft Köln, die Arbeit von Anne Brorhilker. Ihre Berichtsentwürfe seien ‚regelmäßig deutlich überarbeitungsbedürftig‘ gewesen. Schon Neuheusers Vorgänger habe mit Brorhilker sprechen müssen, weil sie ihr ‚obliegende zentrale Pflichten nicht erfüllte‘.

Neuheusers Worte stammen aus einer Antwort von Benjamin Limbach auf eine Anfrage an die nordrhein-westfälische Landesregierung. Die FDP-Fraktion legte dem NRW-Justizminister von den Grünen am 23. November 2023 einen 25-seitigen Fragenkatalog vor. Hintergrund war ‚das beherrschende rechtspolitische Thema in Nordrhein-Westfalen‘, schrieben die Abgeordneten Henning Höne, Marcel Hafke und Werner Pfeil: die Aufarbeitung der Steueraffäre Cum-Ex, in der Brorhilker federführend ermittelte.“

Der Staatsanwältin wurde schon zuvor das Leben schwer gemacht. Justizminister Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen) hatte im September 2023 angekündigt, Brorhilkers Abteilung aufzuspalten. Die Hälfte ihrer Fälle sollte sie an einen Kollegen abgeben, dem allerdings die Expertise in Steuerstrafsachen fehlte. Nach öffentlichen Protesten revidierte der Minister seine Entscheidung.

Zitat Handelsblatt:

„Die Abgeordneten fragten nun, wie Limbach überhaupt auf die Idee kommen konnte, seine eigene Koryphäe in Sachen Cum-Ex zu demontieren. Denn alles schien doch auf bestem Weg. Brorhilker hatte Steueranwalt Hanno Berger hinter Gitter gebracht, einen der größten Strippenzieher in der Cum-Ex-Affäre. Mit seiner Revision scheiterte Berger vor dem Bundesgerichtshof. Auch gegen mehrere Manager der Privatbank M.M. Warburg hatte Brorhilker Schuldsprüche erreicht.

Aktuell lief der Prozess gegen den Eigentümer Christian Olearius, dessen Nähe zum heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz den Cum-Ex-Skandal bis ins Kanzleramt trug. Im Frühjahr 2024 folgten in Bonn weitere Schuldsprüche. Das Gericht verurteilte zwei Londoner Investmentbanker zu mehrjährigen Haftstrafen. Außerdem traf es Yasin Qureshi, geständiger Ex-Vorstand der Varengold Bank.“

Die Zahlen, führt das Handelsblatt aus, würden für sich sprechen. „Allein mit den Erkenntnissen aus ihren Ermittlungen und den Informationen der Whistleblower konnten Staatsanwaltschaft Köln und Steuerbehörden 2016 schon Steuern in dreistelliger Millionenhöhe zurückholen und weitere Auszahlungen durch das Bundeszentralamt für Steuern unterbinden. Brorhilkers Cum-Ex-Projekt ist keine Belastung für die Behörden. Es ist ein Profit-Center.“

Während der Ermittlungen Brorhilkers klagte die Staatsanwaltschaft Köln 16 Männer und eine Frau an. Alle Angeklagten wurden verurteilt, teils zu hohen Haftstrafen. „Kein Ermittler hat eine bessere oder auch nur vergleichbare Bilanz“, resümiert das Handelsblatt. Der frühere SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans nannte Brorhilker gar einen „Leuchtturm in der Bekämpfung organisierter Steuerkriminalität“. Auch international wurde die Arbeit der Staatsanwältin bewundernd zur Kenntnis genommen. Andere Kenner ihrer Arbeit werten ihre nachträgliche Demontage schlicht als Unverschämtheit. Das sei üble Nachrede, eine Schmutzkampagne, sagte etwa der ehemalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU). Stefan Weismann, Präsident des Landgerichts Bonn, bestätigte, dass Brorhilker eine Top-Ermittlerin gewesen sei und ihre Arbeit in der Sache hervorragend. Sven Wolf (SPD), Mitglied des Rechtsausschusses im NRW-Landtag, hält den Abgang Brorhilkers für ein „ganz schlechtes Signal“, denn sie habe diese Behörde „zur Speerspitze im Kampf gegen Steuerkriminelle“ gemacht.

Erstaunlich erscheint deshalb, dass die Antworten des Justizministeriums auf die Anfrage der FDP im NRW-Landtag von einer auffälligen Geringschätzung Brorhilker seitens ihres Vorgesetzten zeugen. Denn zur Beantwortung der Fragen der Parlamentarier ließ sich Justizminister Limbach nach eigenen Angaben von dem Leiter der Staatsanwaltschaft Köln informieren. Der „zeichnete von Brorhilker das Bild einer Minderleisterin“.

Zitat Handelsblatt:

„Schriftsätze aus ihrer Abteilung seien ‚oft unvollständig und unklar‘ gewesen, berichtete Neuheuser an Limbach. Er habe ‚einen Verwaltungsvorgang eingesehen‘ und erfahren, ‚dass diese Schwächen bereits länger bestanden‘. Brorhilkers Berichte hätten ein Verständnis für die Besonderheit der Cum-Ex-Verfahren vermissen lassen. Sie sei ‚in dringenden Fällen‘ kurzfristig nicht erreichbar gewesen. Vielmals hätte Brorhilkers Vertreterin die Kastanien aus dem Feuer holen müssen.“

Nachforschungen in der Finanzbranche, der Politik und in der Justiz ergeben für die Redakteure des Handelsblatts „das Bild einer Schlangengrube“. Jahrelang sei Brorhilker von ihrer eigenen Behörde und dem übergeordneten Justizministerium behindert und angefeindet worden. „Ihre ärgsten Feinde“, zitiert das Blatt einen Insider, „waren selbst Staatsanwälte und Ministerialbeamte.“

Die FDP-Fraktion, so die Zeitung, werde das Thema in der nächsten Plenarsitzung des Landtags auf die Agenda setzen. Es bestehe die Idee, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen, damit auch die zu Wort kommen könnten, die bisher weder im Plenum noch im Rechtsausschuss dazu die Gelegenheit gehabt hätten.

Brorhilker betont selbst immer wieder, dass für sie auch nach Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis das Dienstgeheimnis gelte. Sie könne weder jetzt noch in Zukunft über das sprechen, was sich in der Staatsanwaltschaft und dem Justizministerium zugetragen habe.

Quelle:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Wie Politiker und Vorgesetzte Deutschlands erfolgreichste Staatsanwältin demontierten“, Handelsblatt (Online) vom 31. August 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex-wie-politiker-und-vorgesetzte-deutschlands-erfolgreichste-staatsanwaeltin-demontieren-01/100061787.html

 

 

Lohnbetrug billigend in Kauf genommen

Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung zu bekämpfen ist Aufgabe der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), angesiedelt beim Zoll. Nach Angaben der Bundesregierung auf eine Anfrage von Die Linke im Bundestag sind Unternehmenskontrollen zur Bekämpfung von Mindestlohnverstößen im Jahr 2023 um rund 20 Prozent auf etwa 42.600 zurückgegangen. Statt der veranschlagten 11.250 Beamten ermittelten im vergangenen Jahr nur 8.900 Fahnder gegen die Lohndrücker, etwa 2400 Stellen blieben unbesetzt. Im Jahr 2022 betrug die Lücke nur knapp 1980 Dienststellen, berichtet die Augsburger Allgemeine Ende Juli. Trotz der geringeren Anzahl an Kontrollen wurden aber deutlich mehr Verstöße festgestellt und Verfahren wegen Mindestlohnbetrugs eingeleitet – etwa ein Viertel mehr als im Vorjahr.

Die Linken-Arbeitsmarktexpertin Susanne Ferschl kommt dennoch zum Schluss, dass durch die Minderbesetzung der Behörde insbesondere durch das Finanzministerium „Lohnbetrug billigend in Kauf genommen“ werde. Betrug bei Löhnen, Steuern und Sozialabgaben sei aber kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.

„Schätzungen von Ökonomen gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung an Recht und Gesetz vorbei erbracht werden. Das entspricht einem Wert von rund 500 Milliarden Euro. Das wiederum deckt sich mit der Größenordnung des Bundeshaushalts. Durch die Schattenwirtschaft entgehen dem Staat Steuereinnahmen und den Sozialkassen Beiträge. Der Zoll selbst beziffert die aufgedeckten Schäden auf 615 Millionen Euro, die Dunkelziffer dürfte deutlich darüber liegen.“ (Augsburger Allgemeine)

Besonders die Baubranche steht dabei im Fokus der Fahnder. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) beschreibt eindrucksvoll die skandalöse Situation:

„Es ist ein unscheinbarer Eingang. Doch hier, direkt neben einer Bahnstrecke in Frankfurt am Main, hinter einem alten metallenen Rolltor, gibt es einen Einblick in die Realitäten des deutschen Niedriglohnsektors. Vor Jahrzehnten hat eine Baufirma an dieser Stelle Unterkünfte für ihre Angestellten errichtet. Auf den ersten Blick erinnern die Gebäude an holzvertäfelten Garagen. Das Unternehmen ist längst pleitegegangen, die Anlage schimmelt seitdem vor sich hin, vermietet wird sie trotzdem noch. 800 Betten gibt es in den Baracken und dem ähnlich heruntergekommenen Wohnblock daneben, drei bis vier pro Zimmer. Es ist das Zuhause von Hunderten ausländischen Bauarbeitern, die allermeisten von ihnen aus Rumänien. (…)

Alle, die hier wohnen, verdienen weit unter dem Tariflohn, teilweise auch unter dem Mindestlohn. In der Baubranche mit ihren vielen Subunternehmern kommt das häufiger vor. Doch das Problem des Lohnbetrugs geht weit über die Baustellen hinaus: Mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wurden 2021 unter Mindestlohn bezahlt (…). Immerhin fast fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung – ein Wert, der deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt.“

Gegenüber der SZ stellt der Wirtschaftssoziologe von der Universität Duisburg, Gerhard Bosch, einen „politischen Unwillen“ bei der Verfolgung von Lohn- und Sozialversicherungsbetrug fest. „Manche meinen“, so Bosch, „das sei ein Standortvorteil, wenn man nicht so genau hinschaut“. Auch Finanzminister Lindner (FDP) beklagte wiederholt, in Deutschland werde zu viel am Fiskus vorbei gearbeitet. Die Augsburger Allgemeine kommentiert spöttisch: „Zuletzt hat sich der Fokus auf Bürgergeldbezieher verschoben, die Stütze kassieren und sich nebenher schwarz etwas hinzuverdienen. Die Ampel-Koalition hat sich darauf verständigt, ihnen die Leistung um 30 Prozent zu kürzen, wenn ein Sozialbetrug aufgedeckt wird.“

Quellen:

Christian Grimm: „Zoll fehlen über 2000 Beamte im Kampf gegen Schwarzarbeit“, Augsburger Allgemeine (Online) vom 30. Juli 2024

https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/schattenwirtschaft-zoll-fehlen-ueber-2000-beamte-im-kampf-gegen-schwarzarbeit-102924229

 

„Drill, baby, drill“

Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung zu bekämpfen ist Aufgabe der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), angesiedelt beim Zoll. Nach Angaben der Bundesregierung auf eine Anfrage von Die Linke im Bundestag sind Unternehmenskontrollen zur Bekämpfung von Mindestlohnverstößen im Jahr 2023 um rund 20 Prozent auf etwa 42.600 zurückgegangen. Statt der veranschlagten 11.250 Beamten ermittelten im vergangenen Jahr nur 8.900 Fahnder gegen die Lohndrücker, etwa 2400 Stellen blieben unbesetzt. Im Jahr 2022 betrug die Lücke nur knapp 1980 Dienststellen, berichtet die Augsburger Allgemeine Ende Juli. Trotz der geringeren Anzahl an Kontrollen wurden aber deutlich mehr Verstöße festgestellt und Verfahren wegen Mindestlohnbetrugs eingeleitet – etwa ein Viertel mehr als im Vorjahr.

Die Linken-Arbeitsmarktexpertin Susanne Ferschl kommt dennoch zum Schluss, dass durch die Minderbesetzung der Behörde insbesondere durch das Finanzministerium „Lohnbetrug billigend in Kauf genommen“ werde. Betrug bei Löhnen, Steuern und Sozialabgaben sei aber kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.

„Schätzungen von Ökonomen gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung an Recht und Gesetz vorbei erbracht werden. Das entspricht einem Wert von rund 500 Milliarden Euro. Das wiederum deckt sich mit der Größenordnung des Bundeshaushalts. Durch die Schattenwirtschaft entgehen dem Staat Steuereinnahmen und den Sozialkassen Beiträge. Der Zoll selbst beziffert die aufgedeckten Schäden auf 615 Millionen Euro, die Dunkelziffer dürfte deutlich darüber liegen.“ (Augsburger Allgemeine)

Besonders die Baubranche steht dabei im Fokus der Fahnder. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) beschreibt eindrucksvoll die skandalöse Situation:

„Es ist ein unscheinbarer Eingang. Doch hier, direkt neben einer Bahnstrecke in Frankfurt am Main, hinter einem alten metallenen Rolltor, gibt es einen Einblick in die Realitäten des deutschen Niedriglohnsektors. Vor Jahrzehnten hat eine Baufirma an dieser Stelle Unterkünfte für ihre Angestellten errichtet. Auf den ersten Blick erinnern die Gebäude an holzvertäfelten Garagen. Das Unternehmen ist längst pleitegegangen, die Anlage schimmelt seitdem vor sich hin, vermietet wird sie trotzdem noch. 800 Betten gibt es in den Baracken und dem ähnlich heruntergekommenen Wohnblock daneben, drei bis vier pro Zimmer. Es ist das Zuhause von Hunderten ausländischen Bauarbeitern, die allermeisten von ihnen aus Rumänien. (…)

Alle, die hier wohnen, verdienen weit unter dem Tariflohn, teilweise auch unter dem Mindestlohn. In der Baubranche mit ihren vielen Subunternehmern kommt das häufiger vor. Doch das Problem des Lohnbetrugs geht weit über die Baustellen hinaus: Mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wurden 2021 unter Mindestlohn bezahlt (…). Immerhin fast fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung – ein Wert, der deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt.“

Gegenüber der SZ stellt der Wirtschaftssoziologe von der Universität Duisburg, Gerhard Bosch, einen „politischen Unwillen“ bei der Verfolgung von Lohn- und Sozialversicherungsbetrug fest. „Manche meinen“, so Bosch, „das sei ein Standortvorteil, wenn man nicht so genau hinschaut“. Auch Finanzminister Lindner (FDP) beklagte wiederholt, in Deutschland werde zu viel am Fiskus vorbei gearbeitet. Die Augsburger Allgemeine kommentiert spöttisch: „Zuletzt hat sich der Fokus auf Bürgergeldbezieher verschoben, die Stütze kassieren und sich nebenher schwarz etwas hinzuverdienen. Die Ampel-Koalition hat sich darauf verständigt, ihnen die Leistung um 30 Prozent zu kürzen, wenn ein Sozialbetrug aufgedeckt wird.“

Quellen:

Christian Grimm: „Zoll fehlen über 2000 Beamte im Kampf gegen Schwarzarbeit“, Augsburger Allgemeine (Online) vom 30. Juli 2024

https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/schattenwirtschaft-zoll-fehlen-ueber-2000-beamte-im-kampf-gegen-schwarzarbeit-102924229

 Leonard Scharfenberg: „Außer Kontrolle“, Süddeutsche Zeitung vom 17./18. August 2024

 

Union-Busting und dunkle Geschäfte beim Discounter

Vor fast zehn Jahren, im Dezember 2004, stellte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di das „Schwarzbuch Lidl“ vor und erntete ein beeindruckendes Medienecho. Nahezu die gesamte Tagespresse berichtete damals über skandalöse Arbeitsbedingungen, systematische Schikanen, unbezahlte Mehrarbeit sowie Maßnahmen, die Wahl von Betriebsräten zu verhindern. Zwei Jahre später veröffentlichten Journalisten das „Schwarzbuch Lidl Europa“. Danach trat Lidl selbst in Billiglohnländern Süd- und Osteuropas als Lohndrücker auf und machte damit einheimischen Einzelhändlern das Leben schwer.

Die gewerkschafts- und betriebsrätefeindliche Haltung des Konzerns bekamen vor wenigen Monaten auch die über 200 Beschäftigten im Lager von Lidl in der Ruhrgebietsstadt Herne zu spüren.

„39 Lager und Verteilzentren sorgen bundesweit für die Belieferung der mehr als 3000 Filialen. Nur in vier dieser Verteilzentren werden die Beschäftigten von einem Betriebsrat unterstützt. Beim Rest: gähnende Leere, was die gesetzliche Interessenvertretung der Belegschaft betrifft. Und in den Filialen: überhaupt kein Betriebsrat. Nirgends. Wenn man weiß, dass in Betrieben ohne Betriebsrat die Löhne meist niedriger, die Arbeitsbedingungen schlechter und das Betriebsklima unangenehmer ist als in Betrieben mit Betriebsrat, dann kann die Frage, ob sich Lidl lohnt, für die Lidl-Beschäftigten also mit einem ‚nicht wirklich‘ beantwortet werden.“ (Albrecht Kieser)

Der Eigentümer des Konzerns, Dieter Schwarz, installierte 2022 in Herne einen neuen Betriebsleiter, der prompt versuchte, den dort bestehenden Betriebsrat zu liquidieren.

„2022 wurde er offenbar in Herne als Mann fürs Grobe benötigt, da Lidl dort ein neues, erheblich größeres Lager baut. ‚Von Anfang an stellte der neue Chef klar, dass kritische Nachfragen zum Umzug weder vom Betriebsrat noch von der Gewerkschaft erwünscht sind‘, sagt Azad Tarhan, ver.di-Sekretär für den Handel im Bezirk Mittleres Ruhrgebiet. In den neuen Hallen, direkt gegenüber des heutigen Lagers, sollen zukünftig mindestens 400 Menschen mit neuester Technik arbeiten. Der Umzug beginnt voraussichtlich im September. ‚Ab 2026 wird es dann wohl ein großes Frischelager mit Kühlbereich im neuen Gebäude geben. Solche gravierenden Veränderungen bringen auch immer Veränderungen für die bestehenden Beschäftigten mit sich‘, erläutert Azad Tarhan. Arbeit bei Kühlschranktemperaturen ertrage nicht jede*r. Auch weitere Änderungen, zum Beispiel bei Arbeitszeiten und der Wochenendarbeit wolle Lidl zu Lasten der Beschäftigten durchsetzen.“ (Gudrun Giese)

Zu den Versuchen, den Betriebsrat in Herne einzuschüchtern, gehörten auch Unterstellungen gegen dessen Vorsitzenden, der angeblich die Geschäftsführung, den Abteilungsleiter sowie Kolleg*innen beleidigt und beschimpft haben soll. Der Beschuldigte wurde gekündigt, eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung folgte. Das Arbeitsgericht lehnte Ende des letzten Jahres den Kündigungsversuch erstinstanzlich ab. Das Verfahren befindet sich aktuell offensichtlich in der zweiten Instanz.

Ver.di-Sekretär Tarhan startete auf Campact eine Petition. Darin wird die sofortige Rücknahme aller Kündigungen und Klagen gegen Betriebsratsmitglieder, ein Beenden des Union-Busting und der gewerkschaftsfeindlichen Propaganda gefordert.

Auch aus einem anderen Grund macht Lidl aktuell von sich reden. Einem Bericht des Manager Magazins zufolge soll der Konzern jahrzehntelang in vielen Filialen mit illegalen Tricks seine Verkaufsflächen vergrößert haben, um den Umsatz zu steigern und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Nach Angaben eines ehemaligen Managers des Konzerns habe Lidl bis Ende der 2000er-Jahre deutschlandweit und ohne Genehmigung der Behörden in 300 bis 400 Filialen Lagerflächen zu Verkaufsflächen umgewidmet. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter sprach sogar von 550 Märkten. Die Lager seien zum Teil nur mit einfachen Trennwänden von den Verkaufsräumen abgetrennt gewesen und teils über Nacht entfernt worden. Die in den Plänen als Lager ausgewiesenen Fläche habe also insgeheim als Ausbaureserve gedient. „Laut Insidern“, heißt es in der Wirtschaftszeitschrift, „soll der Umsatz in den betroffenen Filialen durch das Manöver um 10 bis 20 Prozent gestiegen sein. Schätzungen zufolge könnte Lidl so mehr als 2,5 Milliarden Euro zusätzlich erlöst haben“.

In mehreren Fällen seien die Betrügereien bereits aufgeflogen. Offensichtlich zeigen sich die zuständigen Ämter aber weitgehend desinteressiert, die Verstöße aufzuklären: „Die Strafen, die Lidl dort zahlen musste, wo Behörden die Trickserei bemerkten, wirken im Vergleich zu den Mehrerlösen wie Peanuts.“ Die Stadt Herne etwa habe lediglich Bußgelder von rund 4.500 bis 7.600 Euro für Erweiterungen in drei Filialen verhängt, die in den Jahren 2000 bis 2006 aufgeflogen waren. In Leipzig habe der Konzern 2006 wegen den illegal vorgenommenen baulichen Veränderungen zur Vergrößerung der Verkaufsfläche in vier Märkten insgesamt nur 20.000 Euro Strafe zahlen müssen. Vier Kommunen legalisierten im Nachhinein sogar die Erweiterungen.

„Dass Lidls Manöver“, so das Manager Magazin weiter, „so lange unentdeckt blieb, hat offenbar noch einen anderen Grund. Wie es scheint, hat Hauptkonkurrent Aldi den Trick kopiert. (…) Kein Wunder, dass der Erzrivale womöglich wenig Interesse hatte, die Schwarz-Märkte zu enttarnen.“ 

Einen Rückblick auf die kriminellen und beschäftigtenfeindlichen Praktiken einer anderen Handelskette bietet ein Podcast des Handelsblatts. In zwei Folgen werden Aufstieg und Abstieg Anton Schleckers nachgezeichnet – sein „Weg vom Metzger zum Kopf eines Drogen-Imperiums“. Im Jahr 2012 folgte die Insolvenz: „Anton Schlecker, seine Frau Christa und seine Kinder kamen wegen Insolvenzverschleppung, Untreue und Bankrott vor Gericht. 2017 wurde Anton Schlecker zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, seine Kinder kamen ins Gefängnis.“ Auch Schlecker versuchte systematisch, die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Das Geschäftsmodell war offenkundig auf eine besonders intensive Ausbeutung der sogenannten Schlecker-Frauen getrimmt.

Als einer der bekanntesten Sprüche der im operativen Geschäft aktiven Ehefrau des Firmengründers, Christa Schlecker, gilt: „Mitarbeiter sind wie Möbel. Wenn sie einem lästig werden, wirft man sie einfach raus!“

Quellen:

Albrecht Kieser: „Lidl lohnt sich nur für Dieter Schwarz“, Soz Nr. 03/2024

https://www.sozonline.de/2024/03/betriebsratsmobbing/

Gudrun Giese: „Team Lidl – nur leere Worte“, ver.di-Publik, 21. März 2024

https://publik.verdi.de/ausgabe-202402/team-lidl-nur-leere-worte/

„Stoppt Union-Busting im Lidl Lager Herne – Betriebsräte schützen!“,

https://weact.campact.de/petitions/stoppt-union-busting-im-lidl-lager-herne-kundigungen-und-klagen-gegen-betriebsrate-zurucknehmen

Tobias Bug: „Aus Lager mach Laden“, Süddeutsche Zeitung vom 22./23. Juni 2024

Martin Mehringer: „Schwarz-Markt“, Manager Magazin, Juli 2024

Handelsblatt Crime: „Der Fall Schlecker: Teil 1 – der Aufstieg“, Podcast vom 16. Juni 2024. https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-der-fall-schlecker-teil-1-der-aufstieg/29851740.html

Handelsblatt Crime: Der Fall Schlecker: Teil 2 – der Abstieg, Podcast vom 30. Juni 2024. https://www.handelsblatt.com/audio/crime/der-fall-schlecker-teil-2-der-abstieg/29874088.html

 

 

 

 

 

 

Nachschlag: Anne Brorhilker im Handelsblatt-Interview

Nach ihren Interviews vom 27. Juni mit der Wochenzeitung Die Zeit und vom 4. Juli mit der Süddeutschen Zeitung führte Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker auch ein längeres Gespräch mit dem Düsseldorfer Handelsblatt: über ihre „erstaunlichen Erfahrungen mit der Finanzelite“ und der deutschen Justiz.

Hier folgen einige Zitate.

Brorhilker auf die Frage, ob sie mehr Beamte im Kampf gegen Cum-Ex fordern würde:

„Mehr und besser ausgebildet. Wenn man als Staat eine Kontrolle haben möchte, müsste man erst mal ganz genau wissen, was die Banken da machen. Dieses ganze Geplapper erst mal übersetzen. Normalerweise sitzt da ein Finanzbeamter, der völlig alleingelassen ist und der jetzt konfrontiert wird mit einer teuren Anwaltskanzlei und 1000 Seiten Gutachten, vollgestopft mit Fremdwörtern. Wie soll der das in seinem Alltag schaffen neben Dutzenden anderen Fällen?

(…)

Der Staat muss ernst nehmen, welche Interessen da auf der anderen Seite im Hintergrund stehen. Wie wichtig dieser Bereich, also steuergetriebene Geschäfte, für Banken ist. Weil sie einen erheblichen Teil ihrer Profite mit solchen Tax-Trades erzielen. Geschäfte, die einfach darauf abzielen, den Staat auszuplündern. Wenn wir das so behandeln wie normale Einkommensteuererklärungen, können wir das nicht abwehren.

Brorhilker auf den Hinweis des Handelsblatts, betroffene Banken, Wirtschaftsprüfer und Kanzleien hätten gegenüber der Redaktion immer wieder behauptet, sie würden „vollumfänglich“ mit den Behörden zusammenarbeiten.

„Meine Erfahrung ist anders. Im Gegenteil: Es wurde häufig alles getan, um unsere Arbeit zu erschweren und in die Länge zu ziehen. Wir haben etwa häufig erlebt, dass Dokumente ins Ausland geschafft wurden und angeblich nicht mehr nach Deutschland zurückgeholt werden konnten. In einem Fall kamen rund 100 Anwälte einer Kanzlei herbeigeeilt. Die haben sich uns teilweise in den Weg gestellt und die Durchsuchung aktiv gestört. Einmal habe ich einen bewaffneten Polizisten zur Hilfe geholt. Grundsätzlich gilt außerdem, dass bei Durchsuchungen maximal drei Anwälte erlaubt sind. Das habe ich ihnen klargemacht.“

Brorhilker zur Ankündigung des ehemaligen NRW-Justizministers Biesenbach vom 17. September 2019, „Anklagen im Akkord“ folgen zu lassen (das Handelsblatt hat mitgezählt: Bislang sind es zwölf):

„Also, von mir hätten Sie so etwas nicht gehört. Ich glaube, da war der Wunsch Vater des Gedankens. Ermittlungen in komplexen und sehr umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren sind immer langwierig, und die Beschuldigten haben oft exzellente finanzielle Möglichkeiten für massive Konfliktverteidigung.

(…)

Eine sehr laute und destruktive Art, Mandanten zu verteidigen. Angriffe auf die Staatsanwaltschaft, auf das Gericht. Eine Flut von Anträgen, Medienstrategien. Sie legt es darauf an, von der Sache abzulenken und auf Nebenkriegsschauplätze auszuweichen. Das frisst unglaublich viele Ressourcen, und darauf zielt die Strategie ab. Da kann man als Staatsanwalt oder als Richter so eingearbeitet sein, wie man will. Das Verfahren wird in die Länge gezogen.“

Brorhilker zur Frage, ob unter diesen Umständen nicht vollkommen unrealistisch erscheint, die noch offenen 130 Ermittlungsverfahren mit 1.700 Beschuldigten jemals abzuschließen:

„Die Zahl mag auf den ersten Blick hoch erscheinen. Aber warum eigentlich? Weil man sich nicht vorstellen kann, dass so viele Banker und Berater beteiligt waren? Die Steuerhinterziehung mit Cum-Ex-Geschäften hatte industriellen Charakter, das haben auch die Strafgerichte festgestellt. Das waren eben nicht wenige schwarze Schafe. Außerdem kann man nicht einfach so Ermittlungen einleiten. Dafür braucht es einen begründeten Anfangsverdacht. Den hat die Staatsanwaltschaft in jedem Fall sorgfältig geprüft. Bei Beschwerden, die häufig eingelegt wurden, ist dies von Gerichten überprüft und bisher in allen Fällen bestätigt worden.

Brorhilker zur Aussicht, dass die Welle von Anklagen jemals kommt:

„Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen. Man darf nicht vergessen, dass die Staatsanwaltschaft Köln zahlreiche Banken erst 2021 und 2022 durchsucht hat. Meist dauert es eine Zeit, bis die beschlagnahmten Daten ausgewertet werden können, auch weil sich die Banken dagegen mit Händen und Füßen wehren.

(…)

Drehen wir das doch mal um. Was wäre denn, wenn es hier um Drogenkriminalität ginge? Wenn ein Händler bei der Vernehmung sagt: ‚Ich hatte mit denen und denen und denen zu tun, und die haben das Zeug abgenommen. Hier sind dazu meine Unterlagen.‘ Soll der Staatsanwalt dann sagen: ‚Nein, 100 Abnehmer sind uns zu viel, dafür haben wir keine Kapazitäten?‘ Was würde das wohl für einen öffentlichen Aufschrei geben, wenn der Staat sich weigert, dem nachzugehen?“

Brorhilker zur Weigerung der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Cum-Ex zu ermitteln, obwohl sich mehrere Fälle direkt vor ihrer Haustür abspielten:

„Das liegt sicherlich nicht an mangelnder fachlicher Expertise. Es ist daher zu vermuten, dass andere Gründe dafür ausschlaggebend waren. Ich befürchte, es hat mit einer zu großen Nähe zwischen Politik und Banken in Hamburg zu tun.“

Brorhilker zu der Tatsache, dass Steuerhinterziehung seit einigen Jahren nicht mehr als Verbrechen gilt, sondern als milder Betrug:

„Ich halte das nicht für sinnvoll. Bei organisierter Steuerhinterziehung entstehen unfassbar hohe Schäden für uns alle. Es ist deshalb ungerecht, derart schwere Fälle – anders als beim Betrug – nicht als Verbrechen einzustufen. Der Gesetzgeber sollte das ändern. Auch, damit Einstellungen gegen Geldbuße bei derart schweren Fällen organisierter Steuerhinterziehung nicht mehr möglich sind.“

Brorhilker zu den sogenannten Cum-Cum-Geschäften:

„Hier ist leider bisher viel zu wenig passiert. Dabei sind die Schäden aus Cum-Cum-Geschäften nach Schätzungen ungefähr dreimal so hoch wie bei Cum-Ex. Sowohl der Bundesfinanzhof als auch das Bundesfinanzministerium haben längst klargestellt, dass auch diese Geschäfte rechtswidrig sind. Ich würde mir hier mehr Anstrengungen von den Finanzämtern wünschen, das Geld für uns alle zurückzuholen.“

Quelle:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „‚Die Banken wehren sich mit Händen und Füßen‘“, Interview mit Anne Brorhilker, Handelsblatt (Online) vom 10. Juli 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/interview-anne-brorhilker-die-banken-wehren-sich-mit-haenden-und-fuessen/100049880.html

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Kampf gegen Cum-Ex: Anne Brorhilker in aktuellen Interviews

Anne Brorhilker, ehemalige Chefermittlerin im Cum-Ex-Steuerskandal, wechselte im April 2024 zur NGO Finanzwende und begründete ihren Schritt öffentlichkeitswirksam. Unter anderem kritisierte sie massive strukturelle Defizite bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität. In aktuellen Interviews mit Die Zeit und der Süddeutschen Zeitung (SZ) äußert sie sich zur Frage, was sich in Deutschland in Sachen Cum-Ex ändern sollte.

Die Ermittler müssten in die Lage versetzt werden, Fachkompetenz aufzubauen, so Brorhilker gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit. Bei ihr hätte es Jahre gebraucht, bis sie sich in die hochkomplexen Vorgänge der Cum-Ex-Geschäfte eingearbeitet hätte. Das könne ein Ermittler nicht mal so neben dem Alltagsgeschäft schaffen. Es brauche dafür Spezialisten. Das Fachwissen könne auch nicht jede Staatsanwaltschaft, Steuerfahndung oder Polizei einzeln aufbauen.

Brorhilker in Die Zeit auf die Frage, was sie fordere:

„Dass nicht mehr jeder in seinem Bundesland und in seiner Behörde relativ allein vor sich hin wurschtelt, sondern dass Kräfte gebündelt werden und man über längere Zeit Personen in dieser Materie ausbildet, die dann auch an dem Thema dranbleiben. Derzeit machen Behörden aber das Gegenteil. Sie wechseln Personal regelmäßig aus, weil das in vielen Personalentwicklungskonzepten so angelegt ist.“

Zum Aufbau eines von der Bundesregierung angekündigten Bundesfinanzkriminalamts und der Frage, ob damit das Problem schon gelöst wäre, stellt Brorhilker fest. „Damit hätte man es lösen können. Aber der Straftatbestand der Steuerhinterziehung gehört leider nicht zu dessen Aufgabengebiet. Dabei wäre das sinnvoll gewesen.“

Ein Expertenteam solle auf Bundesebene angesiedelt werden, weil es sich um international organisierte Kriminalität handele. Das BKA sei für international organisierte Geldwäsche zuständig, warum dann nicht auch für international organisierte Steuerhinterziehung?

In der SZ beantwortet die ehemalige Staatsanwältin die Frage so:

„Ich finde es suboptimal, dass wir damit eine weitere Behörde gegen Geldwäsche bekommen sollen, obwohl wir dafür schon das Bundeskriminalamt haben. Es wäre sinnvoller gewesen, auch den Bereich der Steuerkriminalität mit reinzunehmen in die neue Behörde, was aber nicht geplant ist. Es braucht bundesweit eine zentrale Stelle für solche Ermittlungen. Es kann nicht sein, dass eine lokale Staatsanwaltschaft wie Köln in diesen Fällen für das ganze Bundesgebiet zuständig ist. Wir sollten das auch auf europäischer Ebene verfolgen, so wie die Europäische Staatsanwaltschaft das bei Umsatzsteuerkarussellen bereits tut.“

Brorhilker bewertet in Die Zeit auch die Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen, wie etwa den Aufbau des Landeszentralamts zur Bekämpfung der Finanzkriminalität in NRW und der dortigen Taskforce Geldwäsche:

„Ich will das Erreichte nicht schmälern, die Errichtung des neuen Landeszentralamts finde ich richtig. Aber schauen Sie sich die Cum-Cum-Geschäfte an (…) da liegt noch viel im Argen! Der Bundesfinanzhof hat schon 2015 entschieden, dass solche Geschäfte steuerrechtlich nicht in Ordnung sind. Daher muss der Staat das Geld zurückholen. Es gab dann weitere Urteile und auch konkrete Vorgaben des Bundesfinanzministeriums, zuletzt 2021. Wir haben jetzt 2014. Wo ist denn das Geld? Welche Bank musste denn zahlen? Nichts hören wir davon.“

In der SZ nimmt Brorhilker Stellung zur Frage, was sie sich nach ihrem Abschied als Staatsanwältin vorgenommen habe:

„Ich will das Übel an der Wurzel packen. Ich will darauf hinwirken, dass sich deutschlandweit die Strukturen der Justiz verändern. Diese Defizite bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität sind extrem sozialschädlich. Bei Cum-Ex schätzt man konservativ mit zehn Milliarden Euro Schaden für den Fiskus. Die Schäden von Cum-Cum, einer weiteren Steuerhinterziehungsmethode, die noch nicht gestoppt ist, sind mindestens dreimal so hoch, auch konservativ geschätzt. Es macht das Zusammenleben in Deutschland nicht besser, wenn uns dauerhaft Geld aus der Kasse fließt.“

Quellen:

„Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren kann“, Interview mit Anne Brorhilker, Die Zeit vom 27. Juni 2024, Seite 17f.

„Ich will das Übel an der Wurzel packen“, Interview von Meike Schreiber mit Anne Brorhilker, Süddeutsche Zeitung vom 4. Juli 2024, Seite 18