Exzessive Profite von Impfstoffherstellern

Nach einer aktuellen Studie der internationalen NGO The People’s Vaccine Alliance erzielen die großen mRNA-Impfstoffhersteller, darunter BioNTech (Mainz), riesige Profite aus der Covid-19-Pandemie. Die NGO kommt zu dem Schluss, dass die von BioNTech und Pfizer aus dem Verkauf ihres Vakzins gezogenen Einnahmen um rund 24 Milliarden US-Dollar über dem Herstellungspreis liegen.

„Demnach könnte eine Dosis des BioNTech/Pfizer-Vakzins für rund 1,18 US-Dollar produziert werden, eine Dosis des Moderna-Vakzins für 2,85 US-Dollar. Soweit die tatsächlich gezahlten Preise bekannt sind, liegen sie bei Moderna um das 4- bis 13-Fache über den von The People’s Vaccine Alliance geschätzten Produktionskosten, bei BioNTech/Pfizer sogar um das 6- bis 24-Fache. Der niedrigste bekannte Preis für eine Dosis des BioNTech/Pfizer-Vakzins wurde von der Afrikanischen Union (AU) gezahlt; er liegt mit 6,75 US-Dollar pro Dosis beim 6-Fachen der geschätzten Produktionskosten. Den höchsten Preis bezahlte Israel mit 28 US-Dollar pro Dosis. Moderna wiederum soll von Kolumbien 30 US-Dollar pro Impfdosis verlangt haben – das Doppelte dessen, was die US-Regierung zahlte. Südafrika hat sich gezwungen gesehen, ein Angebot von Moderna als unbezahlbar abzulehnen; Berichten zufolge verlangte der Konzern 42 US-Dollar pro Dosis.“ (german-foreign-policy.com vom 4. August 2021)

Nach Einschätzung von The People’s Vaccine Alliance hat dabei die EU die Preise „besonders schlecht verhandelt“ und damit den Impfstoffherstellern besonders hohe Profite beschert. Der Betrag, den die EU über den reinen Herstellungspreis hinaus ausgegeben habe, belaufe sich auf gut 31 Milliarden Euro, 19 Prozent des gesamten EU-Haushalts für das Jahr 2021. Berlin sichere die Profite der Impfstoffhersteller, indem es die zeitweise Aussetzung der Impfstoffpatente weiterhin blockiere. Schwellen- und Entwicklungsländer würden vor allem von China versorgt – mit inzwischen über 570 Millionen Impfdosen.

In The People’s Vaccine Alliance haben sich etwa 70 internationale NGOs, darunter Oxfam und Amnesty International, zusammengeschlossen.

Quelle:

„Die Pandemieprofiteure“, Bericht des Online-Nachrichtenportals „Informationen zur Deutschen Außenpolitik“ (german-foreign-policy.com) vom 4. August 2021

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8678/

Weitere Informationen:

„Vaccine monopolies make cost of vaccinating the world against COVID at least 5 times more expensive than it could be“, Presseinformation von Oxfam International vom 29. Juli 2021

https://www.oxfam.org/en/press-releases/vaccine-monopolies-make-cost-vaccinating-world-against-covid-least-5-times-more

 

 

 

Mindestfallzahlen in den Krankenhäusern: Kritik an Schließung von Frühchenstationen

Das Anfang 2020 gegründete „Bündnis Klinikrettung“ kämpft gegen den massenhaften und flächendeckenden Abbau von Krankenhäusern. In einem aktuellen Aufruf heißt es:

„In Deutschland schließen seit Jahren fast monatlich Krankenhäuser. Kommunale Kliniken machen dicht, weil ihnen das Geld ausgeht, private Kliniken werden geschlossen, weil sie aus Sicht der Eigentümer nicht genügend Rendite erbringen. Der Bund fördert solche Schließungen sogar mit 500 Millionen Euro jährlich! Diese Entwicklung muss umgehend gestoppt werden. Krankenhäuser retten Leben. Wir brauchen sie in Krisenzeiten und im Alltag.“

Medienberichte belegen die Relevanz dieser Forderung. Am 25. Mai 2021 informierte etwa der NDR darüber, dass die Versorgung von Frühgeborenen in Mecklenburg-Vorpommern von 2024 an eingeschränkt werden soll. Der Hintergrund: In sogenannten Perinatalzentren können kranke Babys und Frühchen unabhängig von Größe, Alter und Gewicht behandelt werden. Das höchste Beschlussgremium im deutschen Gesundheitswesen, der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), entschied aber Ende des letzten Jahres, die Mindestanzahl für die Behandlung von Frühgeborenen unter 1.250 Gramm hochzusetzen: von 14 Fällen pro Jahr auf 25. Offensichtlich mit dramatischen Folgen für Mecklenburg-Vorpommern (MV). Denn die neue Mindestmenge von 25 Fällen, so der NDR, erreichten dort nur die Kliniken in Schwerin und Rostock, Greifswald und Neubrandenburg dagegen nicht.

Der Bundesverband „Das Frühgeborene Kind e.V.“ betont dagegen die positiven Effekte einer Mindestmenge. In einer Stellungnahme vom Dezember 2020 heißt es: „Es gibt Behandlungen, bei denen die Qualität des Ergebnisses von der Anzahl der Patienten pro Jahr und Krankenhaus abhängt. Im Bezug auf die stationäre Versorgung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm ist ein solcher Zusammenhang bereits seit Jahren nachweislich belegt. Ausreichende Erfahrung im Umgang mit derart unreifen Kindern wirkt sich existenziell auf die Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens aus.“

Die Süddeutsche Zeitung erläuterte bereits Ende 2020 den Hintergrund des Konflikts – mit der gleichen Stoßrichtung. Die Versorgung von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250 Gramm sei in den vergangenen Jahren besonders umstritten gewesen. Für diese extrem unreifen Frühgeborenen hätte die Mindestmenge in Deutschland seit 2010 bei nur 14 Fällen pro Jahr und Klinik gelegen. Der G-BA habe den Wert zwar noch im selben Jahr auf 30 Fälle pro Klinik erhöht. Zahlreiche Studien hätten aber schon damals belegt, dass es in Kliniken mit mehr Erfahrung zu weniger Todesfällen und Behinderungen bei den Frühgeborenen gekommen sei. Doch hätten mehrere Kliniken gegen die Erhöhung der Mindestmenge geklagt.

„Das Bundessozialgericht gab den Klägern recht, allerdings mit einer gewagten Begründung: So sei der Grenzwert von 30 willkürlich, weil ebenso gut 25 oder 50 festgelegt werden könnte. Allerdings gelten solche Grenzen beispielsweise auch für Laborwerte in der Medizin, für die Schwelle zum Übergewicht und für jedes Tempolimit, ohne dass deren Sinn in Frage gestellt würde. Vor wenigen Wochen hatte eine große Analyse von mehr als 50.000 Geburten in Deutschland gezeigt, dass eine Klinik mindestens 50 bis 60 der absoluten Leichtgewichte jährlich behandeln sollte, damit die Aussichten für die Kinder optimal wären. Jedes Jahr würden sich 25 bis 40 Todesfälle unter den Frühchen auf diese Weise verhindern lassen.“

Dr. Sven Armbrust, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Neubrandenburg, hält im NDR-Beitrag vom  vergangenen Mai vehement dagegen und kritisiert die höhere Mindestmenge. „Stattdessen müssen wir sagen, welche Kriterien brauchen wir, um zu definieren, ob das eine gute oder eine schlechte Qualität ist. Und wenn man Kliniken hat, die schlechte Qualität liefern, dann müssen sie die verbessern oder es muss Konsequenzen haben.“ Stationen aber auf Basis von Mindestmengen zu schließen halte er für den falschen Weg.

Im Juni 2021 wurde schließlich das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung” im Bundestag beschlossen (gültig ab 20. Juli 2021) und damit die Mindestmengenregelungen im Krankenhaus juristisch festgezurrt. Ausnahmen sind jedoch – als Kompromisslösung – im Einvernehmen mit den Krankenkassen möglich. Werden solche Absprachen mit den Krankenkassen getroffen, können spezielle Versorgungsleistungen und Behandlungen in dünn besiedelten Regionen weiterhin angeboten werden, obwohl bundesweite Mindestzahlen nicht erfüllt werden. Der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion und Landesvorsitzender der Partei Die Linke in MV, Torsten Koplin, merkt aber an, dass die Entscheider in den Krankenkassen alle außerhalb des Bundeslandes sitzen. MV habe denen gegenüber kein Entscheidungs- oder Weisungsrecht (vgl. Nordkurier vom 17. Juni 2021).

Quellen:

Werner Bartens: „Mehr Erfahrung für die Kleinsten“, Süddeutsche Zeitung vom 19. Dezember 2020

https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/fruehgeborene-mindestmengen-krankenhaeuser-1.5152772

Bündnis Klinikrettung: „Gemeingut Krankenhaus retten: Worum geht es?“

https://www.gemeingut.org/krankenhausschliessungen/#1604497252438-cba0189f-848c

Louisa Maria Carius: „Frühchenstationen in Mecklenburg-Vorpommern vor dem Aus?“, NDR-Nordmagazin vom 26. Mai 2021

https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Fruehchenstationen-in-MV-vor-dem-Aus,neonatologie102.html

„G-BA beschließt neue Mindestmenge für Frühgeborene unter 1250 Gramm“, Stellungnahme (vom 21. Dezember 2020) des Bundesverbands „Das frühgeborene Kind“ e.V. zum neuen Mindestmengen-Beschluss vom 17. Dezember 2020

https://www.fruehgeborene.de/news/stellungnahme-zum-neuen-mindestmengen-beschluss-vom-17122020

Christoph Schoenwiese: „Linke in MV begrüßt Kompromiss bei Frühchenstationen – mit einem Aber“, Nordkurier vom 17. Juni 2021

https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/linke-in-mv-begruesst-kompromiss-bei-fruehchenstationen-mit-einem-aber

 

Commerzbank kündigt Konto eines linken Verlags

Die Commerzbank hat das Geschäftskonto der Mediengruppe Neuer Weg GmbH, in deren Druckerei Publikationen verschiedener linker Gruppen und Initiativen gedruckt werden, gekündigt. Das berichtet der Verlag in einer Mitteilung vom 21. Juli 2021. Über den Grund der Kündigung äußerte sich die Bank offensichtlich nicht. „Die Geschäftsbeziehung des Verlag Neuer Weg mit der Commerzbank verlief über Jahrzehnte ohne jede Beanstandung. Die Kündigung des Kontos erfolgte lediglich mit Verweis auf ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach sie jederzeit die gesamte Geschäftsverbindung oder einzelne Geschäftsbeziehungen ohne Angabe von Gründen kündigen kann“, heißt es dazu vom Verlag.

Ebenso sei das Privatkonto des Geschäftsführers Uwe Pahsticker und das der „Internationalismusverantwortlichen“ der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands), Monika Gärtner-Engel, gekündigt worden. Wenige Wochen zuvor habe die Bank auch das Konto von Stefan Engel, Autor im Verlag Neuer Weg und ehemaliger Parteivorsitzender der MLPD, gekündigt.

Nach Auffassung des Verlags reihen sich diese Angriffe „in eine Rechtsentwicklung der Gesellschaft ein, siehe die Nichtzulassung der DKP zu den Bundestagswahlen, Einschränkungen beim Versammlungsrecht usw.“.* Es sei geradezu lächerlich, „wenn die Commerzbank auf ihrer Homepage ihr Logo jetzt in Regenbogenfarben erscheinen lässt und behauptet ‚Wir bekennen Farbe für Vielfalt‘. Die Vielfalt gilt offensichtlich nur für höchstprofitbringende Geschäftskunden und nicht für Marxisten-Leninisten“.

In der Vergangenheit wurden bereits Geschäfts- und Privatkonten der MLPD bzw. einzelner ihrer Mitglieder von Banken gekündigt, so im Jahr 2009 durch die Deutsche Bank – ebenfalls ohne Nennung von Gründen.

* Die Nichtzulassung der DKP zur Bundestagswahl ist inzwischen aufgehoben worden.

Quellen:

„Kündigung unseres Geschäftskontos durch die Commerzbank“, Mitteilung der Mediengruppe Neuer Weg GmbH vom 21. Juli 2021

https://www.rf-news.de/2021/kw30/210721-mnw_erklaerung-zu-kontenkuendigung-durch-commerzbank.pdf

Luise Strothmann: „Marxisten müssen neue Bank suchen“, taz vom 20.11.2009

https://taz.de/Deusche-Bank-kuendigt-Konto/!5152150/

 

 

 

Finanzskandal im Vatikan

Am 27. Juli 2021 begann in Rom ein außergewöhnlicher Strafprozess um den Verlust von Kirchengeldern. Denn mit Giovanni Angelo Becciu, einem 73-jährigen Sarden, steht zum ersten Mal in der Geschichte ein Kardinal vor einem vatikanischen Gericht. Zehn weitere Personen sind angeklagt, Kirchengelder in dreistelliger Millionenhöhe veruntreut zu haben. Es soll dabei laut Anklage nicht nur zu massiven finanziellen Verlusten gekommen sein, sondern auch zu schweren Delikten wie Unterschlagung, Amtsmissbrauch, Geldwäsche, Korruption, Betrug und Erpressung.

„Becciu war von 2011 bis 2018 Substitut im Staatssekretariat des Vatikan, also Stellvertreter des Chefs in der Verwaltungszentrale der Weltkirche. Dort war er hauptsächlich zuständig für Investitionen. In seine Amtszeit fiel der Erwerb einer Luxusimmobilie im schicken Londoner Stadtteil Chelsea – für mehrere Hundert Millionen Euro. Im ehemaligen Lager des Kaufhauses Harrods an der Sloane Avenue sollten Wohnungen für sehr reiche Kunden gebaut werden. In den Deal waren Trader und Broker verwickelt, die für ihre Vermittlung hohe Kommissionen erhielten. Im Fall von Raffaele Mincione, der das Geschäft eingefädelt hatte, sollen es 40 Millionen Euro gewesen sein.“ (Süddeutsche Zeitung vom 25. Juli 2021)

Am 4. Juli 2021 schrieb die FAZ, dass ein erheblicher Teil der rund 350 Millionen Euro, die das vatikanische Staatssekretariat für den Erwerb des ehemaligen Lagerhauses bezahlt haben soll, aus dem Fonds des sogenannten Peterspfennigs stamme. Dabei handelt es sich um eine Kollekte, die einmal pro Jahr während einer Sonntagsmesse in den katholischen Kirchen weltweit erhoben wird. Nach Darstellung des Vatikan ist der Peterpfennig der „bezeichnendste Ausdruck der Teilhabe aller Gläubigen an den wohltätigen Initiativen des Bischofs von Rom für die Weltkirche“.

Beobachter sind gespannt, ob der angeklagte Kardinal während des Prozesses andere hohe Würdenträger durch belastende Aussagen in die Enge treibt. „Becciu war jahrelang so mächtig in der vatikanischen Verwaltung, dass er alles weiß, er kennt auch alle Geheimnisse“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Becciu drohen im Falle eines Schuldspruchs bis zu fünf Jahre Haft.

Quellen:

Matthias Rüb: „Wenn der Vatikan einen Kardinal anklagt“, FAZ (Online) vom 4. Juli 2021

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/finanzskandal-der-kirche-wenn-der-vatikan-einen-kardinal-anklagt-17421476.html?service=printPreview

Oliver Meiler: „Deal mit dem Peterspfennig“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 25. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/vatikan-immobiliendeal-prozess-kardinal-angelo-becciu-1.5362791

Marco Ansaldo/Andreas Englisch/Eveleyn Finger: „Ein Prozess, wie ihn Rom noch nicht erlebt hat“, Die Zeit (Online) vom 22. Juli 2021

https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/vatikanstaat-strafprozess-kirchengelder-spenden-investments-millionenhoehe-betrug/komplettansicht

„Der Peterspfennig heute“, Vatikanisches Presseamt

https://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/obolo_spietro/documents/actual_ge.html

Weitere Informationen:

„Mammutprozess startet am 27. Juli“, Domradio.de vom 19. Juli 2021

https://www.domradio.de/themen/vatikan/2021-07-19/mammutprozess-startet-am-27-juli-vatikan-erhebt-anklage-wegen-finanzskandal-um-londoner-immobilie

„Vatikan blickt auf schwieriges Wirtschaftsjahr zurück“, Vatican News vom 24. Juli 2021

https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2021-07/vatikan-wirtschaft-jahresabschluss-guerrero-bilanz-corona.html

Autobauer Tesla – umweltrechtliche Zulassung wahrscheinlich

Nach Einschätzung von Brandenburgs Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) spricht gegenwärtig nichts gegen eine umweltrechtliche Zulassung für die Fabrik des US-Elektroautoherstellers Tesla in Grünheide bei Berlin. Er hoffe auf einen Produktionsstart im vierten Quartal 2021, wenn „nichts Unvorhergesehenes“ mehr passiere, wie unter anderem der Berliner Tagesspiegel am 18. Juli berichtete. Weil Tesla einen neuen Antrag auf Zulassung – unter Einschluss einer Batteriefabrik – stellte, hat sich das vom Land Brandenburg durchgeführte Genehmigungsverfahren verzögert. Ursprünglich sollte die Produktion der vom Hersteller selbst als „Gigafactory“ bezeichneten ersten Fertigungsanlage in der EU im Juli aufgenommen werden. Tesla plant in Grünheide die Produktion von 500.000 Elektroautos pro Jahr.

Das Unternehmen, so Minister Steinbach, habe im bisherigen Antragsverfahren gezeigt, dass alles dafür getan werde, um Genehmigungshindernisse auszuräumen. Die Bauarbeiten des US-Elektroautoherstellers in Grünheide liefen in Teilabschnitten auf Basis vorläufiger Zulassungen weiter und seien schon weit fortgeschritten. Auch könnten bestimmte Anlagen weiterhin getestet werden, obwohl die Gesamtgenehmigung des Landesumweltamtes für die Fabrik nach wie vor fehle. Wann darüber entschieden werde, sei offen.

Der Naturschutzbund (Nabu) und die Grüne Liga Brandenburg sehen das Projekt kritisch und haben mehrfach versucht, vorzeitige Genehmigungen vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zu Fall zu bringen. Die Umweltverbände hatten sich gegen Tests von Anlagen in den Bereichen Lackiererei, Gießerei und Karosseriebau sowie den Einbau von Tanks für die Abwasserreinigung und die Betankungsanlage gewandt (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2021).

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

„Die Umweltschützer verweisen auf ein Störfallgutachten, sie halten damit eine positive Prognose für die Genehmigung nicht mehr für möglich. Damit fehlt aus ihrer Sicht eine der wichtigen Voraussetzungen für die vorzeitige Zulassung. Der Landesgeschäftsführer der Grünen Liga Brandenburg, Michael Ganschow, sieht die Gefahr, ‚dass der Standort im Wasserschutzgebiet im Verfahren nicht notwendig Berücksichtigung findet‘. Er kritisiert auch, es gebe zahlreiche geschwärzte Stellen im Antrag von Tesla, mit denen die Frage der Gefahr unklar sei.“

Das Magazin Sozialismus.de beschreibt dagegen die Unzufriedenheit des Managements von Tesla mit der deutschen Bürokratie:

„In einem Brandbrief an die Öffentlichkeit drückte Tesla sein Unverständnis darüber aus, dass Projekte, die sich positiv auf die Energiewende auswirken und einen Beitrag zur Klimaneutralität leisten, nicht vorrangig genehmigt werden. ‚Tesla Brandenburg hat hautnah erfahren, dass Hindernisse im deutschen Genehmigungsrecht die notwendige industrielle Transformation und damit die Verkehrs- und Energiewende verlangsamen.‘ Die deutschen Genehmigungsverfahren müssten den verfolgten Zielen der Klimapolitik angepasst werden, sie hinkten dem Ziel hinterher und seien im Grunde die gleichen wie für ein Kohlekraftwerk. Diesen hinterherhinkenden Genehmigungsverfahren ist es nach Tesla auch zu verdanken, dass nach 16 Monaten immer noch keine Hauptgenehmigung für das Werk in Brandenburg vorliege und Tesla auf eigenen Risiko handele, mit der Gefahr, dass letztendlich auch alles wieder zurückgebaut werden müsse.“

Trotz aller Kritik im politischen Spektrum an Tesla ist die Angst des US-Konzerns vor einem möglichen Rückbau der Anlage unbegründet. Schließlich tritt keine der im Brandenburger Landtag vertretenen Parteien, auch die oppositionelle Linke nicht, prinzipiell gegen den Bau der Autofabrik auf.

Quellen:

„Wirtschaftsminister sieht Chance für Genehmigung von Tesla-Fabrik“, Tagesspiegel vom 18. Juli 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/gigafabrik-in-gruenheide-brandenburger-wirtschaftsminister-sieht-chance-fuer-genehmigung-vontesla-fabrik/27431654.html

„Minister: Aktuell keine Gründe gegen Genehmigung für Tesla“, Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/auto-gruenheide-mark-minister-aktuell-keine-gruende-gegen-genehmigung-fuer-tesla-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210718-99-423934

Tomas Morgenstern: „Tesla darf weiterbauen“, Neues Deutschland vom 15. Juli 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154501.tesla-tesla-darf-weiterbauen.html?sstr=tesla16.7.21

Ulrich Bochum: „Teslas Gigafactory“, Sozialismus.de, Heft 6/2021, Seite 42

https://www.sozialismus.de/vorherige_hefte_archiv/sozialismus/2021/heft_nr_6_juni_2021/

 

Massiver Widerstand der Industrie gegen neuen Hochwasserschutzplan

Vor dem Hintergrund der aktuellen Hochwasserkatastrophe hat das BMI (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat) nach Angaben des Handelsblatt „ein bislang wenig beachtetes Vorhaben abgeschlossen, das in diesen Tagen enorme Bedeutung erlangt: den bundesweiten Raumordnungsplan für den Hochwasserschutz“. Bereits 2018 wurde im Koalitionsvertrag von Union und SPD angekündigt, einen entsprechenden Vorsorgeplan „zum Schutz der Menschen und Umwelt entlang unserer Gewässer“ zu entwickeln. „Mit ihm“, schreibt das Handelsblatt, „sollen sich Katastrophen wie dieser Tage möglichst nicht mehr wiederholen und überall dieselben Standards gelten“. 

Danach sollen Straßen- und Bahnnetze sowie kritische Infrastrukturen wie Strom und Mobilfunk besser vor Hochwasser geschützt werden. Vor allem in „Risikogebieten außerhalb von Überschwemmungsgebieten“ soll gar nicht erst geplant oder gebaut werden, wie es in dem Plan heißt, der offenbar dem Handelsblatt vorliegt. Neben den eigentlichen Überflutungs- und Überschwemmungsgebieten gelten zukünftig auch angrenzende Flächen als schutzwürdig, da sie „statistisch ein zunehmendes Schadenspotenzial“ aufweisen.

„Was dieser Tage angesichts der schrecklichen Bilder aus dem Rheinland und der zahlreichen Toten einleuchtend klingt“, fährt die Zeitung fort, „wurde bisher allerdings bekämpft: von Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, aber auch und vor allem von der Industrie“. Das Blatt verweist auf eine Stellungnahme des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) vom 28. Mai 2021. Danach hätte der Bundesraumordnungsplan, wenn er in der aktuellen Fassung verabschiedet würde, massive negative Auswirkungen auf die Entwicklung und das Fortbestehen des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

„Als nicht erforderlich und zielführend angesehen und daher abgelehnt“, bewertet der VCI (Verband der Chemischen Industrie) die staatlichen Pläne. Mit der EU-Hochwasserrichtlinie, dem Wasserhaushaltsgesetz, dem Raumordnungs-, dem Bau- und dem Bodenschutzrecht sowie wasserrechtlichen Anforderungen gäbe es genügend Regeln zum Hochwasserschutz.

Der Lobbyverband Wirtschaftsvereinigung Stahl verwies Ende Juni in einem Brief an den zuständigen Innenstaatssekretär darauf, dass Anlagenbetreiber seit vielen Jahren Hochwasserschutz beachteten. Viele Unternehmen der stahl- und metallverarbeitenden Branche seien an historischen Standorten an Flüssen über Jahrzehnte gewachsen. Der Schutzplan wirke wie eine „Zulassungssperre“ und komme einem „Neubau- und Änderungsverbot“ gleich.

Auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hält nichts von einer Bundesregelung. Das Handelsblatt   zitiert aus einer Stellungnahme des NRW-Wirtschaftsministeriums vom vergangenen Mai. Danach komme schon heute dem Hochwasserschutz im Land eine sehr hohe Bedeutung zu. Für den Bundesplan bestehe „keine ausreichende Veranlassung“, auch gebe es „keinen Mehrwert“. Mit den neuen Vorgaben müssten dagegen mehr als ein Drittel der Bauleitpläne angepasst werden, weil die Regeln auch „für die großflächigen Risikogebiete und die Einzugsgebiete der Gewässer, das heißt letztlich flächendeckend Wirkungen“ entfalten würden.

Quelle:

Daniel Delhaes: „‚Nicht erforderlich und zielführend‘: Wie die Industrie den neuen Hochwasserschutzplan bekämpfte“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/naturkatastrophen-nicht-erforderlich-und-zielfuehrend-wie-die-industrie-den-neuen-hochwasserschutzplan-bekaempfte/27437096.html?ticket=ST-10165452-Y1fmZc17ViPiuBevI3As-ap4

 

Das Kapital strebt nach eigenem Recht: Die inhärente Kriminalitätsaffinität

Auszug aus dem Buch „Business Crime – Skandale mit System. Über Konzernverbrechen, kriminelle Ökonomie und halbierte Demokratie“ von Herbert Storn, das im August 2021 im Büchner-Verlag Marburg erscheint.

 Hans See (Ehrenvorsitzender von Business Crime Control) weist explizit auf die inhärente Kriminalitätsaffinität der kapitalistischen Wirtschaft hin.

In seinen Buchpublikationen (1) und anderen Veröffentlichungen geht er sogar so weit, „hinter den … Weltproblemen unserer Epoche – und zwar als deren Hauptursache – die Wirtschaftsverbrechen“ zu sehen. Dies ist ein ebenso gewichtiger wie grundsätzlicher Vorwurf. Und es geht im Kern um die Frage, inwieweit sich das Kapital in Gestalt seiner multinationalen weltweit operierenden Konzerne an bestehende Rechtsnormen zu halten gewillt ist, geschriebene wie ungeschriebene. Denn unbestritten sind soziale Gerechtigkeit, der Schutz von Mensch und Umwelt die normativen Vorgaben unserer Gesellschaft. Das durch die kapitalistische Konkurrenz bedingte Ranking von Profitraten als Grundlage für Investitionsentscheidungen ist aber eine völlig andere normative Vorgabe.

Dies zeigte sich ja gerade an den Abgasbetrugsstrategien, der Ver- und Behinderung des Verbots von gesundheitsschädlichen Pestiziden, am Beispiel der Lebensmittelfälschungen, an den verbotenen Preiskartellen, der Geldwäsche, bei den Steuerbetrugsstrategien u.v.m. Sie alle werden in der Regel als „Skandale“ bezeichnet und damit als Ausnahmeerscheinungen.

Die Frage stellt sich, warum dies mit solcher Hartnäckigkeit und Ignoranz von den vorherrschenden Meinungsmachern betrieben wird. Denn mindestens Zweifel am isolierten Charakter solcher „Skandale“ müssten inzwischen am Verstand nagen. Und das tun sie vermutlich auch mehr, als es in der veröffentlichten Debatte zum Vorschein kommt.

Aber für jeden Zweifel gibt es bekanntlich psychologische Rationalisierungsstrategien, um die Zweifel zu besänftigen oder gar beiseite zu räumen:

  • Die eine ist, dass man die inhärente Kriminalitätsaffinität der Wirtschaft im Verhältnis zu den Vorteilen für vernachlässigbar hält und deshalb „Schonbegriffe“ benutzt. Die Vorteile überwiegen die Nachteile, weshalb erstere herausgestellt,letztere aber in den Hintergrund gedrängt werden.
  • Die zweite ist, dass man bestimmte kriminelle Verhaltensweisen subjektiv gar nicht für kriminell hält, dies aber nicht offen zugeben würde. Dies zeigt sich immer wieder in Bezug auf die Behandlung von Steueroasen, Steuervermeidung oder Redewendungen wie: „Nur Dumme zahlen Steuern.
  • Die dritte Möglichkeit ist, dass man sich der inhärenten Kriminalitätsaffinität sehr wohl bewusst ist, aber alles tut, sie zu leugnen, weil man von den Vorteilen überproportional profitiert und nicht möchte, dass sich dies ändert. Dieser Standpunkt kann von Vorstandsmitgliedern eines Dax-Konzerns mit Extra-Boni ebenso eingenommen werden wie von einem Facharbeiter oder einer Fachfrau, der oder die um den Arbeitsplatz fürchtet. Die letzteren haben allerdings nicht annähernd die Macht und Möglichkeit für eine vernünftige Lösung.

Diesen Erklärungsansätzen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Tatsächlich ist die Ambivalenz des Kapitals nicht neu. „Wer über die Rolle der kapitalistischen Wirtschaftsweise bei der Entstehung der modernen Demokratie, des Liberalismus, der Arbeiterbewegung, des Sozialstaatsprinzips nachdenkt, gerät unversehens hinein in die Dialektik der Verbrechen des Kapitals. (…) Marx und Engels haben im ‚Kommunistischen Manifest‘ auf diesen Aspekt hingewiesen und ihre Bewunderung für die revolutionäre Seite des Kapitals nicht verborgen.“ Denn „die Befreiung der Menschen von überlebten moralischen Fesseln und ständischen Sozialstrukturen, der wissenschaftlich-technische und ökonomische Fortschritt, Wirtschaftswachstum und Massenwohlstand ließen noch die schlimmsten Verbrechen als unversiegbare Quelle der wirtschaftlichen Produktivität und als ökonomische Voraussetzung der individuellen Freiheit erscheinen.“ (2) Jedenfalls für einen großen Teil der Menschen in den industrialisierten Staaten, muss man wohl einschränkend hinzufügen.

Inzwischen befinden wir uns aber nicht mehr im 19. Jahrhundert. Die Schäden der unaufhörlichen Kapitalakkumulation (umgangssprachlich der „Wachstumsspirale“) haben sich so vergrößert, dass die Zeiger in der öffentlichen Debatte meist auf „fünf vor Zwölf“ stehen. Und bis auf wenige Leugner (darunter allerdings auch der ehemalige Präsident des mächtigsten Staates dieser Erde – insofern noch eher dem 19. Jahrhundert verhaftet) haben sich die Einsichten, mindestens die wissenschaftlichen, verschoben.

„Eine moderne Sozialwissenschaft, die diese dialektische Logik der Produktivkraft von Verbrechen unter dem Aspekt der sozialen und demokratischen Entwicklung einer Weltgesellschaft zu Ende dächte, könnte freilich zu der Erkenntnis kommen, dass die Grenze erreicht, vielleicht schon überschritten ist, hinter der der Schutz des Eigentums vor jenen, die es in Frage stellen, nicht nur schädlich, sondern zur tödlichen Gefahr für die Menschheit geworden ist.“

Dies schrieb Hans See bereits vor fast 30 Jahren.

Und die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hält in ihrem aktuellen MEMORANDUM 2021 fest: „Eine ‚Heißzeit‘ ist bei weiter ungebremstem Klimawandel sehr wahrscheinlich und mit katastrophalen, unvorstellbaren Folgen verbunden. Aber diese zukünftigen Katastrophen – zum Beispiel extreme Hitzewellen, ein enormer Meeresspiegelanstieg und drastische Wetteranomalien – scheinen noch weit weg …“ (3)

 

Wenn Kapital zum Fluchtkapital wird …

Ungeheure Mengen an Kapital werden weltweit vor dem Zugriff für gesellschaftlich notwendige und nützliche Zwecke versteckt: in den modernen Seeräuberhöhlen, die allerdings nicht so genannt werden, sondern im endlosen Strom der medialen Sprachprägung zu Steuer“oasen“ und sogar zu Steuer“paradiesen“ um- und eingeprägt wurden.

Es ist ja nicht so, dass nicht andere, treffendere Begriffe zur Verfügung stünden, etwa: „Fluchtgelder“, „Schleusersysteme“ oder „Geldwaschanlagen“. Aber damit wäre ja schon ein moralisches Urteil gefällt. Und moralische Urteile könnten auch mal zu echten Urteilen werden. Man erkennt hier übrigens nicht nur die Macht über die Begriffe, sondern auch den Standpunkt derjenigen, die sie prägen. Für diese Gesellschaftsschicht sind es wahrlich Oasen und Paradiese, die den Reichtum nicht nur zu vergrößern, sondern auch zu konzentrieren helfen.

Und die Angehörigen dieser Schicht verbringen geschätzt bis zu 36 Billionen US-Dollar in die Räuberhöhlen. Die Schätzungen der Steuereinnahmen, die der Gemeinschaft so entgehen, belaufen sich auf weltweit etwa 255 Milliarden Dollar pro Jahr. Welche Sozial-, Gesundheits- oder Bildungsprogramme könnten damit finanziert werden!

Bei den Unternehmen ist die Steuerflucht sogar die Regel: 90 Prozent der 200 größten Unternehmen sollen Ableger in Steueroasen halten. Die Kosten für die ehrlichen Steuerzahler: zwischen 500 und 600 Milliarden US-Dollar pro Jahr an verlorenen Körperschaftsteuereinnahmen. Und auch die Störung der sonst so gepriesenen Marktwirtschaft ist beträchtlich: Denn je größer dieser „Wettbewerbsvorteil“ profitsteigernd ins Gewicht fällt, desto mehr werden kleinere Unternehmen abgehängt und der Konzentrationsprozess gefördert.

Tatsächlich bewegen wir uns hier auf einem Gelände, das noch nicht zur kriminellen Wirtschaft zählt, aber kurz davor ist.

Wie sehr diese Form des Verbergens, Verbringens, der „Briefkastenfirmen“, des Surfens am Rande der kriminellen Wirtschaft in unserer Gesellschaft – und das heißt zuvorderst in ihren obersten Schichten – verbreitet ist, haben die „Panama-Papers“ enthüllt. Dies geschieht regelmäßig unter Inkaufnahme großer persönlicher Risiken, wie die Ermordung von Aufklärer*innen auf Malta, in Tschechien und anderswo gezeigt hat.

Es sind aber nicht nur entfernte Orte, die dem Unterschlupf dienen, sondern auch sehr zentral gelegene und beliebte Urlaubsziele wie die Niederlande und vor allem ein Zentrum der EU: Luxemburg. Dessen ehemaliger Finanzminister und Ministerpräsident Juncker, ebenfalls in den Panama-Papers und außerdem bereits 2014 in den „Luxemburg-Leaks“ erwähnt, wurde dennoch zum EU-Präsidenten gewählt und mit über 78 Ehrendoktorwürden und Orden überhäuft.

Das hinderte ihn nicht daran, öffentlich gegen Steuerflucht aufzutreten und gleichzeitig hinter den Kulissen den Kampf dagegen zu sabotieren; was ein Schauspiel, wenn es denn auf öffentlicher Bühne aufgeführt worden wäre. Shakespeare würde vor Neid erblassen.

Wenn wir einen Blick zurück ins 19. Jahrhundert werfen, finden wir die Seeräuberei schon in der „ursprünglichen Akkumulation“, wie sie Marx beschrieben hat (was in den Lehrbüchern als „Industrialisierung“ bezeichnet wird).

Das kriminelle Element war also von Anfang an strukturbildend ausgeprägt. „Strukturelle Räuberei, das ist der harte Kern der Kapitalverbrechen“, wie Hans See sagt. In seinen Büchern weist er sowohl wissenschaftstheoretisch als auch durch unzählige Beispiele nach, dass zwischen dem illegalen und dem legalen Kapital eine Trennschärfe nur schwer herzustellen ist. Und er schlägt deshalb vor, diesem „Wechselverhältnis zwischen dem legalen und dem illegalen Kapitalismus“ innerhalb der Bürger*innenbewegungen nachzuspüren.

In seinem Buch „Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen – Grundzüge einer Kritik der kriminellen Ökonomie“ von 2014 geht er einen Schritt weiter und spricht davon, „(…) dass die legale und die illegale Wirtschaft ein Komplementärsystem bilden. Seriöse Wirtschaftsunternehmen betreiben einen Teil ihrer Geschäfte jenseits geltenden Rechts und sie kooperieren dabei mit dem Organisierten Verbrechen, mit Parteien, Politikern, Interessenverbänden (Lobbyisten), Medien und Geheimdiensten. Sie wickeln – und dies weitgehend ungestört – alle Geschäfte ab, deren Legalisierung selbst in den liberalsten kapitalistischen Demokratien politisch nicht mehr durchsetzbar ist.“

Dies wird von der CORNET-Forschungsgruppe an der University of Amsterdam bestätigt. Milan Babic, Eelke Heemskerk & Jan Fichtner halten in ihrem Aufsatz „Wer ist mächtiger – Staaten oder Konzerne?“ fest:

„Beginnen wir mit dem Offshore-Finanzwesen. Globale Unternehmen nutzen verschiedene Rechtsräume, um eine Besteuerung oder Regulierung in ihrem Heimatland zu vermeiden. Schätzungen zufolge gehen Staaten so weltweit rund 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr an Steuereinnahmen verloren. Wenn Staaten sich selbst als Steueroasen positionieren, untergraben sie die Fähigkeit von ‚Onshore‘-Staaten, Unternehmen und reiche Einzelpersonen zu besteuern – was ein Grundpfeiler von Staatsmacht ist.

Abgesehen von den Steueroasen sind zahlreiche Regierungen von EU-Staaten für ihre ‚Amigo-Geschäfte‘ berüchtigt geworden, die die Steuerlast für bestimmte Konzerne in drastischem Ausmaß reduziert haben. Des Weiteren hat unsere CORNET-Forschungsgruppe an der Universität Amsterdam kürzlich fünf Länder identifiziert, die eine zentrale Rolle bei der Beförderung von Steuervermeidung spielen: Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz, Irland und Singapur. Jedes dieser Länder ermöglicht es multinationalen Konzernen, Investitionen zu minimalen Kosten zwischen Steueroasen und Onshore-Staaten zu verschieben.“ (4)

Die Vermischung mit kriminellen Machenschaften hat Wolf Wetzel, früherer stellvertretender Vorsitzender von BCC, in BIG Business Crime (Heft 4/2016) am Beispiel eines der schillerndsten Geheimagenten Deutschlands, Werner Mauss, dargelegt.

Geheimkonten in Steuervermeidungsterritorien werden sowohl von Firmen als auch von staatlichen Institutionen genutzt, der Kampf dagegen sei eine „lupenreine Placebo-Veranstaltung“:

„Wenn etwa in- und ausländische Geheimdienste illegale Operationen durchführen, wie zum Beispiel die Unterstützung rechter Parteien in Portugal nach dem Sturz der Caetano-Diktatur 1974, die Bewaffnung der Contras in Nicaragua in den 80er Jahren durch den CIA…, dann wird das nicht in den jeweiligen nationalen Haushalten ausgewiesen. Dann benutzt man denselben Weg wie die Firmen und Konzerne: Briefkastenfirmen, Tarnfirmen, Strohmänner. Es ist genau dieser gemeinsame Nutzen, der sie vereint und vor politischen und gesetzlichen Veränderungen schützt.

In diesem Kontext ist es dann auch mehr als aufschlussreich, dass der deutsche Finanzminister Schäuble als ‚Konsequenz‘ aus dem Panama-Skandal nicht etwa das Verbot solcher ‚Briefkastenfirmen‘ ankündigt, sondern ein internationales Register, das die Personen aufführen soll, die sich hinter den ‚Strohmännern‘ verbergen. Er möchte also nicht den Untergrund verbieten, sondern als Gatekeeper sicherstellen, dass nur ‚die Richtigen‘ Zutritt erhalten.“ 

Soweit der Buchauszug. Ob der Wettlauf zwischen notwendiger Regulierung und ihrer prompten Umgehung jemals gewonnen werden kann, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, oder ob er überhaupt anzustreben ist, all das wird in dem Buch erörtert.

Dass eine solche Erörterung in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext überhaupt stattfindet, ist das Ziel von Business Crime Control. Dringend notwendig wäre ein solcher Diskurs schon allein aus rechtsstaatlichen und demokratiebezogenen Gründen.

Anmerkungen:

 (1) Hans See: Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen – Grundzüge 
einer Kritik der kriminellen Ökonomie, nomen Verlag 2014 
Ders.: Kapital-Verbrechen – Die Verwirtschaftung der Moral, Claasen Verlag 1990
Hans See/Eckart Spoo (Hg.): Wirtschaftskriminalität – Kriminelle Wirtschaft, Distel Verlag 1997

(2) Hans See: Kapital-Verbrechen – Die Verwirtschaftung der Moral, S. 337f

(3) Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2021, Kurzfassung, S. 17

(4) Makronom, Artikel vom 19. Juli 2018

 Herbert Storn
ist Mitglied im Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen. 2019 erschien von ihm im Büchner-Verlag Marburg das Buch „Germany first! Die heimliche deutsche Agenda“.

 

 

Greenwashing in Ökonomie und Politik

Mit ihrem individuellen Schulstreik vor dem schwedischen Parlament ist es Greta Thunberg im Jahr 2018 gelungen, den globalen Klimawandel und die in diesem Zusammenhang eskalierenden ökologischen, sozialen und ökonomischen Krisen ins Zentrum des politischen Diskurses zu rücken.

Der anthropogene Klimawandel ist seit über 50 Jahren in der wissenschaftlichen Diskussion. Die „Grenzen des Wachstums“ – im Jahr 1972 als Weckruf des Club of Rome veröffentlicht – und die internationalen Klimakonferenzen seit Beginn der 1990er Jahre sind weitgehend ohne Konsequenz im operativen Tagesgeschäft der Politik geblieben.

Die weltweite Bewegung Fridays for Future, die durch den Schulstreik von Greta Thunberg initiiert worden ist, hat das Potential, die politischen Blockaden im Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen für das Leben auf der Erde zu brechen.

Bei uns in Deutschland gehört das Bekenntnis, den Klimawandel zu bekämpfen, inzwischen bei fast allen Parteien ins rhetorische Standardrepertoire für den Bundestagswahlkampf 2021. Manche – vielleicht sogar die Mehrzahl – der politischen Akteure steht allerdings im Verdacht, jetzt in der politischen Auseinandersetzung lediglich das nachzuholen, was kommerzielles Marketing im Bereich der Konsumentenwerbung seit gut dreißig Jahren professionell und erfolgreich praktiziert.

Bevor die deutlich komplexere Methode des politischen Greenwashing beleuchtet wird, lohnt ein Blick auf die inzwischen etablierten Methoden des kommerziellen Greenwashing.

Gablers Wirtschaftslexikon definiert:
Greenwashing bezeichnet den Versuch von Unternehmen, durch Marketing- und PR-Maßnahmen ein „grünes Image“ zu erlangen, ohne allerdings entsprechende Maßnahmen im Rahmen der Wertschöpfung zu implementieren. Bezog sich der Begriff ursprünglich auf eine suggerierte Umweltfreundlichkeit, findet dieser mittlerweile auch für suggerierte Unternehmensverantwortung Verwendung. (1)

Wie funktioniert Greenwashing – die Methoden

In ihrer Untersuchung „Concepts and forms of greenwashing: a systematic review“ (2) stellen Sebastião Vieira de Freitas Netto und andere 13 Konzepte des kommerziellen Greenwashing vor:

  1. Die Methode des versteckten Kompromisses: Eine Behauptung, die suggeriert, dass ein Produkt „grün“ ist, basierend auf einer engen Reihe von Attributen ohne Berücksichtigung anderer wichtiger Umweltaspekte. Papier zum Beispiel ist nicht zwangsläufig umweltfreundlicher, nur weil es aus einem nachhaltig bewirtschafteten Wald stammt. Andere wichtige Umweltaspekte im Papierherstellungsprozess, wie zum Beispiel Treibhausgasemissionen oder der Chlorverbrauch beim Bleichen können ebenso wichtig sein. Andere Beispiele sind Energie-, Versorgungs- und Benzinkonzerne, die mit den Vorteilen neuer Energiequellen werben, während sie in bisher unberührten Gebieten bohren, um Öl zu gewinnen. Damit zerstören sie natürliche Lebensräume und reduzieren die Artenvielfalt, verschleiern aber den mit ihrem Vorgehen verbundenen Schaden für die Umwelt.
  2. Die Methode des fehlenden Beweises: Eine Umweltaussage, die nicht durch leicht zugängliche unterstützende Informationen oder mit einer zuverlässigen Zertifizierung durch Dritte belegt werden kann. Gängige Beispiele sind Kosmetiktücher oder Toilettenpapierprodukte, bei denen verschiedene Prozentsätze an Post-Consumer-Recycling-Anteilen angegeben werden, ohne einen Nachweis zu erbringen. Kurz gesagt, wenn ein Unternehmen eine Behauptung aufstellt, die irgendeine Art von Prozentsatz oder statistische Informationen enthält, die nicht mit etwas verifiziert werden können, wie z. B. einem Kleingedruckten oder einer URL, die zu weiteren Informationen führt, ist die Behauptung nicht als Beweis zu betrachten.
  3. Die Methode der Unbestimmheit: Eine Behauptung, die schlecht definiert oder zu weit gefasst ist, der es an Spezifizierung mangelt, so dass ihre tatsächliche Bedeutung vom Konsumenten missverstanden werden kann. „All-natural“ ist ein Beispiel für diese Methode. Arsen, Uran, Quecksilber und Formaldehyd sind alle natürlich vorkommend und giftig. „Alles natürlich“ ist also nicht unbedingt „grün“. Andere Beispiele sind „ungiftig“, weil alles in bestimmten Dosierungen giftig ist; „grün“, „umweltfreundlich“, „öko-freundlich“ und „öko-bewusst“ sind ebenfalls vage Behauptungen, die ohne nähere Ausführungen sinnlos sind.
  4. Die Methode der falschen Label: Ein Produkt, das durch ein täuschendes Logo oder ein zertifizierungsähnliches Bild den Verbraucher zu der Annahme verleitet, dass es einen legitimen grünen Zertifizierungsprozess durchlaufen hat. Ein Beispiel ist ein Papierhandtuch, dessen Verpackung ein Bild zeigt, das die Behauptung aufstellt, dass das Produkt „die globale Erwärmung bekämpft“. Andere Beispiele sind grüner Jargon wie „eco-safe“ und „eco-preferred“.
  5. Die Methode der Irrelevanz: Eine Umweltaussage, die zwar der Wahrheit entspricht, aber für Verbraucher, die nach ökologisch vorteilhaften Produkten suchen, unwichtig oder nicht hilfreich ist. „FCKW-frei“ ist beispielsweise eine nichtssagende Behauptung, da FCKW längst per Gesetz verboten ist.
  6. Die Methode des kleineren Übels: Eine Behauptung, die innerhalb der Produktkategorie wahr sein mag, aber den Verbraucher von den größeren Umweltauswirkungen der Kategorie als Ganzes ablenken kann. Bio-Zigaretten sind ein Beispiel für diese Methode, ebenso wie der „spritsparende SUV“.
  7. Die Methode des Flunkerns: Umweltaussagen, die schlichtweg falsch sind. Die häufigsten Beispiele waren Produkte, die fälschlicherweise behaupteten, Energy Star-zertifiziert oder -registriert zu sein

Besondere Beachtung verdient beim Greenwashing die Kommunikation der Öl-Gas-Industrie (OGI). Zum hydraulischen Fracking schlug sie neue Methoden vor, die mit der Konzeptualisierung von Greenwashing zusammenhängen.

  1. Die Methode der falschen Hoffnungen: Eine Behauptung, die eine falsche Hoffnung bestärkt. Die Hydraulik-Fracking-Methode der Öl- und Gasindustrie hat enorme negative Auswirkungen auf die Umwelt. Kritiker argumentieren, dass eine ökologische Modernisierung nicht möglich ist und der Glaube an das Gegenteil schadet der Umwelt. Fracking wird im Interesse der ungehinderten Ressourcengewinnung und der Gewinne aus der Energieproduktion positiv dargestellt. Mehrere Themen tauchen in der Rhetorik der Öl- und Gasindustrie auf, beginnend mit der Schaffung von Vertrauen durch Aufklärung und der Behauptung von Transparenz und weiterführend mit Ideen, die Sicherheit und Verantwortung, wissenschaftlichen Fortschritt, wirtschaftliche Vorteile und Arbeitsplätze, Energiesicherheit, Umweltschutz und Nachhaltigkeit propagieren. Im Großen und Ganzen spiegelt diese Rhetorik ökologische Modernisierungsideen wider, die die Wahrnehmung von Risiken und deren Folgen verschieben und Fracking in einer Weise rahmen, welche die negativen Auswirkungen der Abhängigkeit von einer auf fossilen Brennstoffen basierenden Wirtschaft verschleiert.
  2. Die Methode der Angstmacherei: Es werden Behauptungen aufgestellt, die die Unsicherheit fördern. Zum Beispiel erklärt die Öl- und Gasindustrie, dass „die Instabilität und Unsicherheit, die aus den Kriegen in Afghanistan und im Irak, dem globalen Krieg gegen den Terror und den schwankenden Treibstoffkosten resultieren, die öffentliche Wahrnehmung von Risiken verändert.“
  3. Die Methode der gebrochenen Versprechen: Es wird versprochen, dass Fracking arme, ländliche Gemeinden mit Reichtum aus Schürfrechten und wirtschaftlicher Entwicklung beglücken wird. Wenn sich dann das Gegenteil herausstellt, werden die Gemeinden mit den irreversiblen Folgen alleingelassen.
  4. Die Methode der Ungerechtigkeit: Die Öl- und Gasindustrie spricht in ihrer Umweltkommunikation nicht direkt die vom Fracking betroffenen Gemeinden an, sondern konzentriert sich auf ein Segment der Bevölkerung, das vom Fracking profitiert, aber nicht dessen Folgen erleidet.
  5. Die Methode der gefährlichen Folgen: Greenwashing versteckt die Realität der Ungleichheit und lenkt die Öffentlichkeit von den Gefahren ab, die andere erleben.
  6. Die Methode des Profits über Mensch und Umwelt: Profit über Mensch und Umwelt zu stellen, ist die potenziell bedeutendste Greenwashing-Methode von allen.

Wesentlich komplexer und deshalb schwerer zu erkennen ist das Greenwashing in der Politik.

Klimakrise als Menschheitskrise?

Paradoxerweise beginnt politisches Greenwashing schon mit der Wahrnehmung der Folgen des Klimawandels als „wahre Menschheitskrise“ (Entwurf des Wahlprogramms der GRÜNEN) oder existenzielle Bedrohung Europas und der Welt (EU-Kommission).

Die krude Wahrheit ist, dass die Folgen der Klimakrise über die verschiedenen Regionen der Welt und über die die sozialen Schichten der Gesellschaften sehr ungleich verteilt sind – und dies auch zukünftig sein werden. Der mit der Erderwärmung einhergehende Anstieg der Meeresspiegel bedroht unmittelbar zum Beispiel die dicht besiedelten Mündungsdeltas der großen Flüsse in Südostasien. Also die Bevölkerung von Ländern wie Bangladesch, Vietnam, Indonesien und Thailand sowie von Teilen Chinas und Indiens.

Die Temperaturerhöhung der Atmosphäre stellt für die hoch spezialisierten Gesellschaften der Innertropischen Konvergenzzone (20° um den Äquator) ganz andere Herausforderungen als an die in den gemäßigten Breiten ansässigen Gesellschaften. Erstere leben seit Jahrtausenden unter ausgesprochen konstanten Klimabedingungen ohne die in den gemäßigten Breiten bekannten jahreszeitlichen Temperaturänderungen.

Demgegenüber stehen Erwartungen, dass der Klimawandel die Nordostpassage ganzjährig eisfrei halten (Seeweg von der asiatischen Pazifikküste durch das Nordmeer nach Europa) und so den Handel zwischen Asien und Europa beleben wird. Diese Route verkürzt den Seeweg von Tokio nach Rotterdam im Vergleich zur Route durch den indischen Ozean und das Nadelöhr Suezkanal um ca. 6500 km. (3)

Diese Beispiele lassen leicht erkennen, dass hinter den Green „New“ Deals der EU und der USA nicht primär die Sorge um das Weltklima steht, sondern wesentlich die Sorge um den Erhalt des materiellen Wohlstands im globalen Norden.

So sucht die EU-Kommission eine neue Wachstumsstrategie für den Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Wir wissen aus der jüngsten Vergangenheit, dass Effizienzgewinn in der kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft nicht zur Schonung von Ressourcen geführt hat, sondern zu Ausweitung der materiellen Produktion. Ein passendes Paradigma liefert das Verhalten der Automobilindustrie. Während der Treibstoffverbrauch pro Pkw bei Verbrennungsmotoren seit Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts kontinuierlich durch technische Innovationen abgenommen hat (beim Ottomotor auf weniger als die Hälfte, beim Diesel auf etwa 2/3 des Verbrauchs), hat die verbaute Motorleistung der Pkws seither überproportional zugenommen. In Deutschland führte das dazu, das die CO2-Emissionen des Straßenverkehrs seit Jahrzehnten nicht abgenommen haben.

Zur effektiven Bekämpfung des fortschreitendes Klimawandels bedarf es eines grundsätzlichen Umdenkens in den Wirtschaftswissenschaften und in der Wirtschaftspolitik. Wir brauchen eine umfassende Strategie zur Entschleunigung der Materialumsätze und beim Energieverbrauch. Produktzyklen (Nutzungsdauer) dürfen zukünftig nicht auf optimale Kapitalrenditen abgestimmt werden. Sie müssen entgegen der aktuell verfolgten ökonomischen „Logik“ auf maximale Gebrauchsdauer umgestellt werden. Die Dinge müssen wieder reparierbar werden – der eingesetzte Materialmix zur Herstellung ist auf die Wiederverwertbarkeit zu optimieren.

Schon aus dieser Skizze dessen, was effektiver Klimaschutz zu leisten hätte, wird klar, dass Klimaschutz nur gegen massive ökonomische Interessen durchgesetzt werden kann.

Anmerkungen:

(1) https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/greenwashing-51592/version-274753
(2) https://doi.org/10.1186/s12302-020-0300-3 
(3) https://polarkreisportal.de/nordostpassage-die-eisige-alternative-zum-suezkanal 


Hans Möller

ist Dipl.-Meteorologe und stellvertretender Vorsitzender von Business Crime Control e.V.

Das Lieferkettengesetz kommt

Acht Jahre sind mittlerweile vergangen – seit dem Einsturz der für den globalen Markt produzierenden Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch, bei dem über 1.100 Arbeiter*innen ums Leben kamen. So lange brauchte es, bis der Bundestag am 11. Juni 2021 das „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“, auch als „Lieferkettengesetz“ bekannt, verabschiedete. Union, SPD und die Grünen votierten für das Gesetz, die Fraktion Die Linke enthielt sich, AfD und FDP stimmten dagegen.

Das Gesetz verpflichtet größere Unternehmen ab dem Jahr 2023 dazu, menschenrechtliche Standards und Belange des Umweltschutzes in ihren Lieferketten einzuhalten. Im ersten Schritt müssen Unternehmen mit mindestens 3.000 Beschäftigten sicherstellen, dass es in ihrem eigenen Geschäftsbereich und bei unmittelbaren Zulieferern nicht zu Menschenrechtsverletzungen wie beispielsweise Kinderarbeit kommt. Bei weiteren Gliedern der Lieferkette müssen Unternehmen erst aktiv werden, wenn sie „substantiierte“ Kenntnis von einem möglichen Verstoß erhalten. Ab 2024 gilt das Gesetz dann auch für Unternehmen ab 1.000 Beschäftigten. Bei Nichteinhaltung der Regelungen drohen Bußgelder von bis zu zwei Prozent des jährlichen Umsatzes.

Jahrelang war um das Gesetz gerungen worden, vor allem die großen Wirtschaftsverbände waren gegen das geplante Gesetz Sturm gelaufen* (vgl. auch diesbezügliche BIG-Artikel vom 4. März 2021, vom 19. Juli 2020, vom 11. Dezember 2019 und vom 16. September 2019). Gewerkschaften, zahlreiche Menschenrechts- und Hilfsorganisationen unterstützten dagegen das Vorhaben. Sie bewerten die gesetzlichen Bestimmungen jedoch nur als einen ersten wichtigen Schritt, dem schärfere Regelungen folgen müssten und kritisierten vor allem, dass in dem Gesetz keine Regelungen zur zivilrechtlichen Unternehmenshaftung vorgesehen, damit auch keine Entschädigungen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen möglich sind. Aus Unternehmenssicht entscheidend ist mit Blick auf die fehlende Haftungsregel, dass der Gesetzestext lediglich eine „Bemühenspflicht, aber weder eine Erfolgspflicht noch eine Garantiehaftung“ vorschreibt.

Aus einem Pressestatement der „Initiative Lieferkettengesetz“ vom 11. Juni 2021:

„Der heutigen Abstimmung im Bundestag ist eine Lobbyschlacht vorausgegangen, die ihresgleichen sucht. Leider haben das Wirtschaftsministerium und viele Unions-Abgeordnete das Gesetz auf Druck der Wirtschaftslobbyisten an zahlreichen Stellen abgeschwächt. Das Gesetz umfasst zu wenige Unternehmen und macht zu viele Ausnahmen bei den Sorgfaltspflichten. Es verweigert Betroffenen den Anspruch auf Schadensersatz und setzt leider kein Zeichen für den Klimaschutz in Lieferketten.

Deswegen ist dieses Gesetz nur ein Etappenerfolg. Die Zivilgesellschaft wird auch weiterhin für Menschenrechte und Umweltschutz in der gesamten Wertschöpfungskette streiten: Für Nachbesserungen im Lieferkettengesetz, für eine wirkungsvolle Umsetzung und für eine europaweite Regelung, die an entscheidenden Stellen über das deutsche Gesetz hinausgeht.“**

Der Autor JustIn Monday kritisiert in einem Artikel der Zeitschrift Konkret diese Sichtweise:

„Die ins Gesetz eingebaute Wirkungslosigkeit allein auf Lobbyarbeit und Profitinteressen zurückzuführen greift allerdings zu kurz und trägt zur Verschleierung des Problems bei, das bereits in der von den NGOs favorisierten Grundstruktur der sogenannten Sorgfaltspflicht zum Ausdruck kommt. Juristisch zeigt es sich, weil eine Haftungsregel Haftung für Handlungen einfordern würde, die zum einen von anderen Personen begangen werden und die zum anderen fremdem Recht unterliegen – was selbstverständlich gegen die Grundsätze des bürgerlichen Rechts verstößt. Allein aus diesem Grund ist es notwendig, mit der Sorgfaltspflicht eine neue Rechtsform einzuführen, auf die sich die Rechtsfolgen überhaupt beziehen können. Zwischen der Rechtsnorm und der politökonomischen Realität, auf die sie Auswirkungen haben soll – also den Arbeitsbedingungen –, besteht allerdings nur in der Phantasie derjenigen ein Zusammenhang, die Fair Trade für eine Maßnahme halten, die kapitalistische Ausbeutung verhindern könne, wenn sie nur konsequent genug angewandt würde.“

* So war unter anderem von einem „Bürokratiemonster“ die Rede. Nach einer Studie des „Handelsblatt Research Institute“ (HRI) kostet es Unternehmen jedoch maximal 0,6 Prozent ihres Umsatzes, wenn sie ihren Verpflichtungen aus dem Gesetz nachkommen. Von überzogenen Vorschriften, die deutsche Unternehmen hohe Risiken aussetzen im internationalen Wettbewerb benachteiligen würde, wie etwa der Arbeitgeberverband BDA warnte, kann nach Angaben des Instituts keine Rede sein (vgl. Handelsblatt vom 17. Mai 2021).

** Das EU-Parlament befürwortet ein schärferes Gesetz. Am 10. März stimmten die Parlamentarier*innen mehrheitlich für den „Legislativbericht über menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten von Unternehmen“. Das Europaparlament empfiehlt damit der EU-Kommission, eine Art EU-weites Lieferkettengesetz einzuführen. Danach sollen kleine und mittlere Unternehmen nicht ausgenommen werden und zivilrechtliche Klagen gegen Unternehmen möglich sein.

Quellen:

Deutscher Bundestag: „Gesetzentwurf der Bundesregierung über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten vom 19. April 2021“, BT-Drucksache 19/28649

https://dserver.bundestag.de/btd/19/286/1928649.pdf

„Was im neuen Lieferkettengesetz steht – und was nicht“, Deutschlandfunk vom 11. Juni 2021

https://www.deutschlandfunk.de/koalition-einigt-sich-lieferkettengesetz-regelungen-und.2897.de.html?dram:article_id=492469

Initiative Lieferkettengesetz: „‚Noch nicht am Ziel, aber endlich am Start‘ – Kommentar zum Beschluss des Lieferkettengesetzes“, Pressestatement vom 11. Juni 2021

https://lieferkettengesetz.de/presse/

Martina Kind: „Mehr Respekt, bitte“, Süddeutsche Zeitung vom 5. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lieferkettengesetz-unternehmen-ausland-textilindustrie-1.5336393

JustIn Monday: „Jammerhöhlen der Exploitation“, Konkret 7/2017, Seite 24

https://www.konkret-magazin.de/404-aktuelles-heft

Frank Specht: „HRI-Studie: Kostenbelastung durch Einhaltung der Menschenrechte nur gering“, Handelsblatt vom 17. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/sorgfaltspflichtengesetz-hri-studie-kostenbelastung-durch-einhaltung-der-menschenrechte-nur-gering/27197452.html

Welt-Sichten (Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit): „Bundesrat billigt Lieferkettengesetz“, 25. Juni 2021

https://www.welt-sichten.org/nachrichten/39017/bundesrat-billigt-lieferkettengesetz

 

Globale Mindeststeuer – Minimallösung oder historischer Durchbruch?

Der Steuerexperte Christoph Trautvetter erläuterte jüngst in einem Interview mit der Zeitung Jungle World, wie Konzerne ihre Gewinne verschieben können, um Steuern zu vermeiden:

„Das Unternehmensteuersystem ist knapp 100 Jahre alt und basiert darauf, dass jede Tochtergesellschaft eines internationalen Konzerns im jeweiligen Land die Gewinne versteuert, die in diesem Land erwirtschaftet wurden. Heute ist aber Wertschöpfung nicht mehr so klar einem Ort oder einer Tochtergesellschaft zuzuordnen. Softwarelizenzen, Markennamen, Patente und andere immaterielle Werte spielen eine immer größere Rolle. Also verschieben die Konzerne diese Lizenzen, Markennamen und Patente auf dem Papier zu ihrer Tochtergesellschaft in einer Steueroase, und alle Gewinne fallen dort an, während die Tochtergesellschaft im Hochsteuerland auf dem Papier kaum Gewinne macht. So zahlen viele internationale Unternehmen kaum Gewinnsteuern.“

 Längst überfällig ist deshalb, dass auf internationalem Parkett Bemühungen erkennbar sind, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sprach zum Abschluss des Treffens der G20-Gruppe am 9./10. Juli in Venedig gar von einem „kolossalen Fortschritt“. Er bezog sich dabei auf die beschlossene Untergrenze bei der Besteuerung von Unternehmen, die den jahrzehntelangen ruinösen Steuerwettlauf nach unten beenden soll. Denn große, grenzüberschreitend tätige Konzerne sollen künftig 15 Prozent Steuern auf ihre Gewinne entrichten. 132 Staaten machen unter dem Dach der Industriestaaten-Organisation OECD mit, neun Länder, darunter bekannte Niedrigsteuerländer wie Irland und Ungarn, verweigern sich noch den getroffenen Absprachen. Bis Oktober 2021 wollen die 20 führenden Industrie- und Schwellenländer letzte Details der geplanten globalen Steuerreform klären. Die neuen Regeln sollen im Jahr 2022 Gesetzesform erlangen und dann ab 2023 in Kraft treten.

 Zwar ist geplant, dass international tätige Unternehmen unabhängig von ihrem Sitz den Mindeststeuersatz auf ihre Profite zahlen. Den Staaten werden jedoch keine Steuersätze direkt vorgeschrieben. Zahlt ein Konzern mit seiner Tochterfirma im Ausland jedoch weniger Steuern, kann der Heimatstaat die Differenz einfordern – mit dem Ziel, dass sich die Verlagerung von Gewinnen in Steueroasen nicht mehr lohnt.

 Die OECD erhofft sich durch die globale Mindeststeuer Mehreinnahmen von weltweit 150 Milliarden Dollar im Jahr. Nach Auskunft des Handelsblattes dürften sich die Auswirkungen der Neuregelung für den deutschen Fiskus jedoch in einem überschaubaren Rahmen halten. Nach einer Schätzung von Deloitte Deutschland kann die Bundesrepublik nur mit Mehreinnahmen von einer bis 1,5 Milliarden Euro rechnen (Handelsblatt vom 10. Juli 2021). Gemäß der Mindeststeuer-Regelung werden Unternehmen erst ab einem Jahresumsatz von 750 Millionen Euro zur Kasse gebeten. Weltweit betrifft die Steuer demnach 7.000 bis 8.000 Konzerne. In Deutschland lagen nach Daten des Statistischen Bundesamts 827 Firmen über der 750-Millionen-Euro-Umsatzschwelle (Handelsblatt vom 2. Juli 2021).

 Die globalisierungskritische NGO Attac stellt fest, dass der geplante Steuersatz von nur 15 Prozent viel zu niedrig sei. Er entspreche dem Niveau aktueller Steuersümpfe und berge die Gefahr, dass das globale Steuerdumping in diese Richtung fortgesetzt werde. Attac fordert dagegen als Ausgangspunkt einen globalen Mindeststeuersatz von 25 Prozent, einen Satz, der offensichtlich auch von zahlreichen internationalen Organisationen und Expert*innen gefordert wird. Die nominellen Steuersätze für Unternehmen hätten sich, so Attac, weltweit in den vergangenen 40 Jahren von rund 50 auf etwa 24 Prozent halbiert. In einer Zeit steigender Ungleichheit und angesichts der enormen Kosten der Pandemie gelte es, diese Entwicklung zu stoppen und umzukehren.

 Das Online-Magazin Telepolis argumentiert ähnlich:

„Würden die 15 Prozent wie geplant kommen, müssten europäische Steueroasen wie Irland oder Luxemburg ihre Steuersätze allerdings nur wenig erhöhen. Die Differenz zu Körperschaftssteuersätzen in anderen Ländern (Deutschland etwa 30 Prozent) bliebe aber fast unverändert bestehen. Deren Mehreinnahmen erhöhen sich kaum und, anders als behauptet, bleibt der Steuerwettbewerb erhalten und wird nicht bekämpft, obwohl unklar ist, ob Amazon und Co wirklich endlich zur Kasse gebeten werden.

Man darf sogar befürchten, dass sich eine Nivellierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einstellt, wenn der Mindeststeuersatz zum Standard wird und zum Beispiel auch Deutschland weiter unter Druck gerät, seine Steuern nach unten anzupassen (…) Entwicklungshilfeorganisationen wie Oxfam International kritisieren das Vorhaben aus dem Blickwinkel der Länder im globalen Süden. Auch die britische Organisation befürchtet, dass das gesamte Steuerniveau weltweit eher weiter abgesenkt als erhöht werde. (…) Es sei ‚absurd‘, dass man eine weltweite Mindeststeuer aufsetzen wolle, ‚die den niedrigen Steuersätzen in Steueroasen wie Irland, der Schweiz oder Singapur ähnlich ist, erklärt die Oxfam-Geschäftsführerin Gabriela Bucher.“

Auch das Neue Deutschland vermutet, dass die Mindeststeuer zum Niedrigstandard mutieren könnte:

„Eine Mindeststeuer könnte zwar die weltweite Erosion bei der Konzernbesteuerung stoppen und dafür sorgen, dass Entwicklungsländer mehr vom Kuchen abbekommen. Aber sie ist eben auch nicht mehr als eine Untergrenze, und 15 Prozent Gewinnbesteuerung sind verdammt wenig. Zu befürchten ist, dass sich viele Staaten an dieser Marke, die Gut von Böse unterscheiden soll, orientieren werden und die Untergrenze zur Benchmark wird. Umso wichtiger wird, dass große Blöcke wie die EU mit gutem Beispiel vorangehen, die eigenen Mitgliedsschurken zur Räson rufen und deutlich höhere Untergrenzen einziehen. Es mag sein, dass es mit der globalen Reform bei der Konzernbesteuerung in einigen Jahren etwas fairer zugehen wird. Aber fair ist auch das noch lange nicht.“

Alain Deneault, Professor für Philosophie an der Universität von Moncton (Kanada), hält die globale Steuer dagegen für einen Fortschritt, weniger aus fiskalischer denn aus juristischer Sicht. Denn sie gebe den global agierenden Konzernen den Status von Rechtssubjekten, während bislang in den einzelnen Staaten nur die auf ihrem Gebiet operierenden Tochtergesellschaften als Rechtssubjekte behandelt worden seien. Diese rechtliche Aufsplitterung hätten die Multis im Laufe ihres vor hundert Jahren begonnenen Siegeszugs bedenkenlos missbraucht. Allerdings stellt auch er fest, dass die Höhe der globalen Steuer „gering bis lachhaft“ ausfalle. „Der Satz von 15 Prozent“, so Deneault, „entspricht dem Trinkgeld, das in Nordamerika üblich ist“.

Quellen:

„Reform von reichen Staaten für reiche Staaten“, Webseite von Attac vom 10. Juni 2021

https://www.attac.de/kampagnen/pg-eurokrise/neuigkeiten/artikel/news/globale-mindeststeuer-zu-niedrig-und-zum-nachteil-der-aermsten-staaten

Alain Deneault: „Warum die gobale Steuer ein Fortschritt ist“, Le Monde diplomatique, Juli 2021, Seite 9

https://monde-diplomatique.de/zeitung

Martin Greive/Jan Hildebrand: „Mehreinnahmen von 150 Milliarden Euro pro Jahr – Das bringt die globale Steuerreform“, Handelsblatt vom 2. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/international/steuerpolitik-mehreinnahmen-von-150-milliarden-euro-pro-jahr-das-bringt-die-globale-steuerreform/27386662.html?ticket=ST-4916756-AqfbWLf6creEfoSOQx1D-ap6

Martin Greive/Carsten Volkery/Christian Wermke: „G20-Finanzminister beschließen globale Steuerreform – doch einige Fragen sind noch offen“, Handelsblatt vom 10. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/international/globale-mindeststeuer-g20-finanzminister-beschliessen-globale-steuerreform-doch-einige-fragen-sind-noch-offen/27409768.html

Kurt Stenger: „Die Sache mit der Fairness“, Neues Deutschland vom 2. Juli 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154016.globale-mindeststeuer-die-sache-mit-der-fairness.html

Ralf Streck: „G7 legalisiert das Recht auf Steuerhinterziehung“, Telepolis (Online-Magazin) vom 18. Juni 2021

https://www.heise.de/tp/features/G7-legalisiert-das-Recht-auf-Steuerhinterziehung-6110375.html?seite=all

„Eine globale Mindeststeuer wäre ein Paradigmenwechsel“, Interview mit Christoph Trautvetter, Jungle World vom 12. Mai 2021

https://jungle.world/artikel/2021/19/eine-globale-mindest-steuer-waere-ein-paradig-menwechsel

 

Neues aus der Dienstbotengesellschaft – Wilder Streik bei den „Gorillas“

Nach Angaben des Manager-Magazins flossen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mehr als sieben Milliarden Euro in deutsche Start-ups – mehr als die Summe, die im gesamten letzten Jahr erreicht wurde. Investoren haben die Gründerszene in Deutschland kaum jemals so umfangreich mit Wachstumskapital versorgt wie derzeit. Das Volumen der Finanzierungsdeals steigt dabei ebenso rasch an wie die Bewertungen der Jungunternehmen. Deutschland weist inzwischen 23 sogenannter Einhörner („Unicorns“) auf, also Firmen mit einem Wert von mehr als einer Milliarde Dollar, die nicht an der Börse notiert sind (vgl. Manager Magazin vom 24. Juni 2021).

Eines der bestfinanzierten Start-ups in Deutschland ist „Gorillas“, ein Berliner Lebensmittellieferdienst, der erst im vergangenen Jahr gegründet wurde. Dieser konnte noch im April dieses Jahres 245 Millionen Euro einsammeln und wird mittlerweile mit einer Milliarde Dollar bewertet (vgl. Manager Magazin vom 10. Juni 2021). Das Unternehmen wirbt damit, online bestellte Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs in zehn Minuten per Fahrrad an die Wohnungstür zu liefern – mit einer festen Liefergebühr von lediglich 1,80 Euro. Die Fahrer*innen („Riders“) erhalten dafür einen Stundenlohn von 10,50 Euro. Mittlerweile gibt es das Unternehmen in Berlin, sowie in weiteren 17 deutschen Städten und vier anderen europäischen Ländern. Möglich wurde der rasante Expansionskurs offensichtlich nur, weil „Gorillas“ massiv von den Anti-Corona-Maßnahmen profitierte.

Gar nicht ins Konzept des Managements passen deshalb die Proteste Dutzender Fahrradkuriere, die ab dem 9. Juni in Berlin eine Streikwelle starteten, nachdem einem Mitarbeiter in der Probezeit gekündigt worden war. Dabei wurden mehrere dezentral in der Stadt verteilte Warenlager blockiert. Die im „Gorillas Workers Collective“ organisieren Aktivist*innen wandten sich mit ihrer Aktion gegen prekäre Arbeitsbedingungen und stellten drei Forderungen auf: Der entlassene Kollege sei sofort wieder einzustellen, die sechsmonatige Probezeit abzuschaffen und es dürfe keine Kündigungen ohne vorherige Abmahnungen geben.

Es folgen Auszüge aus Medienberichten zum (gesellschafts)politischen Hintergrund des Streiks:

„Das Märchen von der großen Familie: Gorillas hatte sich in den vergangenen Monaten auffallend intensiv um Imagepflege bemüht: Die Arbeitsverhältnisse seien nicht prekär, wie bei anderen Lieferdiensten, sondern sicher. Parallel wird die Start-up-Ideologie hier aggressiv verbreitet, wie man es eben kennt: Man sei wie eine große Familie, alles geschehe auf Augenhöhe, gemeinsam arbeite man an einer Unternehmenskultur, in der sich alle wohl fühlen könnten.“

 

Quelle: Jan Ole Arps/Nelli Tügel: „No more Probezeit“, ak (analyse & kritik) Nr. 672 vom 15. Juni 2021

https://www.akweb.de/bewegung/no-more-probezeit-wilder-streik-bei-lieferdienst-gorillas-in-berlin/

„Viele der Rider leben noch nicht lange in Deutschland und haben die durchregulierten deutschen Arbeitskampfbeziehungen noch nicht verinnerlicht. Manche bringen Erfahrungen mit politischem oder gewerkschaftlichem Widerstand aus anderen Teilen der Welt mit. Dass in Deutschland Streiks, zu denen keine ‚tariffähige‘ Gewerkschaft aufruft, nicht legal sein sollen, leuchtet ihnen nicht ein. (…) Groß ist auch der Kontrast zur Start-up-Rhetorik, die das Gorillas-Management bemüht. In dieser Sprache sind alle Rider und Picker eine ‚Familie‘, eine ‚Community‘ und Teil einer ‚Bewegung‘.“

 

Quelle: Nelli Tügel/Jan Ole Arps: „Riders in ‘nem Sturm“, Der Freitag vom 24. Juni 2021

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/riders-in-2019nem-sturm

„Lieferdienste stehen seit Jahren im Zentrum von Aktionen von gewerkschaftsnahen Gruppen. Bei Amazon versucht die Gewerkschaft Verdi seit vielen Jahren, das Unternehmen mit Streikaktionen in den Einzelhandels-Tarifvertrag zu drängen. Auch gegen Lieferando machen Aktivisten seit Jahren mobil. Jetzt gerät Gorillas als bekanntester der neuen, schnellen Lieferdienste ins Visier. Organisator der Proteste ist offenbar die Gruppe ‚Gorillas Workers Collective‘, die mit der Gastro-Gewerkschaft NGG und der anarchistischen Gewerkschaft FAU kooperiert. (…) Für Gorillas kommen die Proteste zu einem heiklen Zeitpunkt: Nach einer Finanzierung über 245 Millionen Euro im März ist das Unternehmen laut mehreren Berichten erneut dabei, Geld einzusammeln. Diesmal soll es um zwei- bis viermal so viel Geld gehen. Damit will Gründer Sümer das rasante Wachstumstempo des kaum zwei Jahre alten Start-ups aufrechterhalten – und gegen die Konkurrenz ankommen. Zuletzt erhielt der Klon Flink eine ähnlich hohe Finanzierung und Rückendeckung von Rewe. Zudem stehen mehrere große Konkurrenten wie Delivery Hero und Getir aus der Türkei in den Startlöchern für eine Expansion ihrer Lebensmittellieferdienste in Deutschland.“

Christoph Kapalschinski: „Wilde Streiks in Berlin: Fahrer gefährden das Image des App-Supermarkts Gorillas“, Handelsblatt vom 10. Juni 2021

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/start-up-wilde-streiks-in-berlin-fahrer-gefaehrden-das-image-des-app-supermarkts-gorillas-/27273432.html

„Zum einen sehen wir in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern auch eine schleichende Deregulierung von Arbeitnehmerrechten, die dazu beigetragen haben, dass es überhaupt möglich ist, Mitarbeiter wie die von Lieferdiensten zu ultraprekären Bedingungen anzustellen. Während das Thema Arbeit in Europa ob Schulden- und Coronakrise unter Druck steht, wurde die ‚Flexibilisierung‘ des Arbeitsmarktes hierzulande ein Jahrzehnt früher auf den Weg gebracht. Wir erinnern uns, Deutschland galt einmal als ‚kranker Mann‘ Europas. Daraus folgte: die Agenda 2010.

Zum anderen sehen wir dieser Tage, wie Wirtschaft und Politik sich gleichsam mühen, Frauen für Führungspositionen zu mobilisieren. Das ist gut und überfällig – wird aber im Moment nur für einen Teil der Gesellschaft gedacht: die Besserverdienenden. Ihnen gegenüber steht ein Apparat an Niedriglohnarbeitenden. In Deutschland wird jeder Fünfte Arbeitnehmer diesem Sektor zugerechnet. Darin noch gar nicht berücksichtigt, die schwarz arbeiten. Wenn in Haushalten Arbeiten wie Putzen, Waschen, Einkaufen oder Kinderbetreuung nun wegen hoher Arbeitsbelastungen im Job von zum Beispiel zwei Elternteilen nicht mehr erledigt werden können, werden sie ausgelagert – und zwar zu im Vergleich oft prekären Arbeitsbedingungen.

Das ist eine Entwicklung, die wir bereits vor der Pandemie gesehen haben, die aber während ihres Verlaufs noch deutlicher wurde: Im Grunde arbeiten wir so viel, dass wir uns um die Dinge des Alltags kaum mehr selbst kümmern können. Daraus folgt: die Renaissance der Dienstbotengesellschaft. Das kann man so halten, aber dann gilt es, die Arbeitsbedingungen derer zu achten und zu guten Konditionen zu gestalten, die stattdessen für uns anrücken, unser Privatleben bequemer einzurichten. Der Protest der Gorillas-Fahrer ist insofern zu verstehen. Wir sollten ihn unterstützen.“

Quelle: Katharina Brienne: „Zum Arbeitskampf bei Gorillas: Die Rampe des Aufstiegs ist der Verrat“, Berliner Zeitung vom 15. Juni 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/die-rampe-des-aufstiegs-ist-der-verrat-li.164915

„Von ‚digitaler Sklaverei‘ spricht hingegen die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe aus Friedrichshain-Kreuzberg. Schon länger befasst sie sich mit den Arbeitsbedingungen in der Branche. Kiziltepe wirft Unternehmen wie Gorillas vor, Wachstum auf dem Rücken der Beschäftigten zu erzwingen. Gorillas wisse über die App, über die auch der Bestellvorgang abgewickelt wird, immer, wo sich ein Fahrer gerade befindet. Das baue Druck auf, um die Beschäftigten zu drillen. ‚Dass einem Mitarbeiter wegen einer einmaligen Verspätung gekündigt wird, ist rechtlich zwar möglich, wirft aber kein gutes Licht auf das Unternehmen‘, sagte Kiziltepe der Berliner Zeitung. Die SPD-Politikerin hat einen Brief an Gorillas-CEO Sümer geschrieben. Darin fordert sie ihn auf, die Kündigung des Fahrers zurückzunehmen – und die Regeln der betrieblichen Mitbestimmung zu akzeptieren. (…) Kiziltepe spielt damit auf die Vorgeschichte der Eskalation bei Gorillas an. Um einen Betriebsrat zu gründen, haben die Beschäftigten Anfang Juni zunächst einen Wahlvorstand gewählt. Diese Hürde sieht das Gesetz vor. Doch das Management will die Wahl gerichtlich überprüfen lassen. Nicht alle Angestellten, so die Begründung, konnten an der Abstimmung gleichberechtigt teilnehmen. Die Mitarbeiter, die sich im ‚Gorillas Workers Collective‘ organisiert haben, halten dieses Argument für vorgeschoben. Sie verweisen auf Verhinderungsversuche des Unternehmens – und das per se problematische Geschäftsmodell von Gorillas.“

Quelle: Fabian Hartmann: „Streik bei Gorillas: Das steckt hinter dem Aufstand beim Liefer-Giganten“, Berliner Zeitung vom 14. Juni 20021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/streik-bei-gorillas-das-steckt-hinter-dem-aufstand-beim-liefer-giganten-li.164878

„Die Dienstbotifizierung macht vor nichts halt, auch nicht vorm Supermarkt. Lieferdienste wie ‚Gorillas‘ sind der letzte Schrei des Start-up-Irrsinns. (…) Früher haben die Leute Holz gehackt und ihre Butter selbst gemolken. Sie sind vor wilden Tieren um ihr Leben gerannt. Heute sendet ‚Gorillas‘ auf Plakaten einen ‚Gruß an alle, die morgens um 8 h Bio-Gurken aus der Region bestellen‘. (…) Wohin das alles führt, ist eine gute und sogar ernst gemeinte Frage. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass sich Akademiker:innenpärchen eine sprechende Lautsprecherbox ins Wohnzimmer stellen? Folgt auf ‚Alexa‘ bald ‚Rettich‘, der das leider nicht mitlieferbare Supermarktfeeling ganz bequem ins Eigenheim trägt? Hängen sich Hipster bald Einkaufswagen an die Wand, voll retro?“

Quelle: Adrian Schulz: „Rückkehr zum Planet der Affen“, taz vom 16. Juni 2021

https://taz.de/Lieferdienste-fuer-Lebensmittel/!5774556/

 

„Die ‚Rider‘, also die Fahrradkuriere, von Gorillas verdienen nur knapp über dem Mindestlohn und sind aufgrund der überambitionierten Lieferzeit und Arbeitsbedingungen wie aus dem Frühkapitalismus nicht gerade ein begehrter Traumjob. In einem funktionierenden Arbeitsmarkt gäbe es gar nicht genügend Interessenten, die sich auf diesen Knochenjob zu diesen Konditionen einlassen würden. Die Corona-Maßnahmen haben jedoch gerade in den Großstädten vor allem in den prekären Jobs gewütet, aus denen Lieferdienste wie Gorillas im letzten Jahr ihr Personal rekrutierten – Aushilfsjobber aus der Gastronomie, oft Migranten, die kaum Deutsch sprechen; nicht umsonst ist Englisch die Betriebssprache bei Gorillas. Auch zahlreiche Studenten sind unter den Mitarbeitern, also größtenteils jüngere Menschen, für die während der Maßnahmen-Krise kein soziales Netz gespannt wurde und die aufgrund ihrer prekären Arbeitsverhältnisse auch nicht von Kurzarbeit oder sonstigen staatlichen Hilfen profitieren konnten. Die Maßnahmen und die Weigerung der Politik, Opfern der Maßnahmen zu helfen, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, haben das Geschäftsmodell des Quick-Commerce, so bezeichnen sich diese Dienste, eröffnet.

Finanziert wird die atemberaubende Expansion dieser Unternehmen vornehmlich durch Risikokapital; und hier ist der Begriff ‚Risiko‘ durchaus ernstzunehmen. Nachhaltig ist dieses Geschäftsmodell nämlich nicht. Wenn ein Rider einen Stundenlohn von 10,80 Euro bekommt, muss er sechs Kunden pro Stunde beliefern, um nur seinen Lohn über die Liefergebühren von 1,80 Euro pro Bestellung zu erwirtschaften. Schon das ist nicht möglich. Hinzu kommen indirekte Kosten (z.B. die Sozialabgaben) der Beschäftigten, die Kosten für die Logistik – die lokalen Auslieferungslager sind geschäftsmodell-bedingt natürlich auch in den ‚besseren‘ und somit teuren Stadtteilen untergebracht, in denen die Kundschaft lebt. Und so macht Gorillas – internen Dokumenten zufolge, die das Managermagazin ausgewertet hat – mit jeder Bestellung 1,50 Euro Verlust. Das erinnert an eine klassische Blase, die jedoch in der risikokapitalgetriebenen Internet-Ökonomie schon fast normal ist. Man sammelt einen dreistelligen Millionenbetrag von Investoren ein und expandiert trotz roter Zahlen in einem atemberaubenden Tempo mit dem Ziel, das Unternehmen später für einen Milliardenbetrag an einen multinationalen Konzern zu verkaufen oder selbst an die Börse zu gehen und weitere Milliarden Investorengelder einzusammeln. Real wird zwar Geld verbrannt, was aber nicht interessiert, solange der Unternehmenswert losgelöst von der Realität bewertet wird. Irgendwann platzt die Blase zwar, aber wenn dies innerhalb der Gewinn- und Verlustrechnung eines hochprofitablen Multis wie Amazon oder Google passiert, deren Rücklagen schier unermesslich sind, ist dies nur noch eine Randnotiz.

Die eigentlichen Verlierer sind neben den ausgebeuteten Niedriglöhnern die meist als Familien- oder Kleinbetrieb geführten Konkurrenten aus der Realwirtschaft. Während Dienste wie Amazon fresh eher mit den großen Supermarktketten konkurrieren, sind Gorillas und Co. eine Kampfansage an die kleinen Kioske, Büdchen und Spätis, die in der Großstadt der erste Anlaufpunkt sind, wenn man noch eine kleine Besorgung zu erledigen hat. Hat Amazon den klassischen Einzelhandel in den Städten ruiniert, drohen Gorillas und Co. nun den kleinen Geschäften im großstädtischen Bereich den Boden unter den Füßen wegzureißen.“

 

Jens Berger: „Quick-Commerce – die Rückkehr der Dienstbotengesellschaft“, NachDenkSeiten – Die kritische Website vom 23. Juni 2021

https://www.nachdenkseiten.de/?p=73617

Es folgen Auszüge aus Medienberichten zum Aspekt des „wilden Streiks“:

„Es handelt sich um einen sogenannten wilden Streik, also um einen, der unabhängig von den Gewerkschaften organisiert wurde. Nach derzeitiger Rechtslage sind die Streikenden deshalb nicht vor Kündigungen geschützt. Die Arbeitgeber:innen könnten argumentieren, dass die Arbeiter:innen ihre Seite des Arbeitsvertrags nicht erfüllen. Für Nicht-EU-Bürger:innen hängt der Aufenthaltsstatus ja auch von einer Beschäftigung ab. (…) Wir erleben wilde Streiks insbesondere in Branchen, die von den großen Gewerkschaften nicht abgedeckt werden. Die stark flexibilisierte Online-Ökonomie ist ein Paradebeispiel. Da die Riders kaum eine Möglichkeit haben, legal in Tarifverhandlungen einzutreten, helfen sie sich mit dem Mittel, das ihnen zur Verfügung steht: dem Verweigern ihrer Arbeitskraft. (…) Hierzulande sind Streiks durch Gerichte traditionell stark reglementiert und auch die großen Gewerkschaften haben es sich in ihrer Rolle als Tarifpartner eingerichtet. Die größte wilde Streikwelle gab es in den 1970er Jahren in den Industriebetrieben Westdeutschlands. Interessant ist, dass diese zu überragenden Teilen von Gastarbeiter:innen getragen wurde.

Historisch wurden die Interessen von Gastarbeiter:innen durch die Gewerkschaften nicht oder deutlich schlechter vertreten, sie waren Arbeiter:innen zweiter Klasse. Spannend ist, dass auch bei Gorillas sehr viele migrierte Menschen arbeiten, die sich an den Aktionen beteiligen. Das mag mit den besonders prekären Arbeitsbedingungen von migrierten Menschen zusammenhängen. Oder mit einer politischen Sozialisation außerhalb Deutschlands. (…) In anderen Ländern sind Streiks häufig politischer, ja. Aber wilde Streiks müssen keineswegs revolutionär sein. Die Gorillas-Arbeiter:innen wollen aktuell nichts weiter als leichte Verbesserungen in ihrer prekären Arbeitssituation – sie wollen Reformen. Dennoch wohnt wilden Streiks zumindest ein revolutionäres Moment inne, weil sich Arbeiter:innen an der Basis selbst ermächtigen. Sie vertreten sich ohne Repräsentanzen. Ein wirklich revolutionärer Streik wäre daher vermutlich ein wilder.“

Quelle: Timm Kühn: „Wild bestreikt“, Simon Duncker (Pressesekretariat der unabhängigen Basisgewerkschaft „Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union Berlin“ [FAU Berlin] im Interview, taz vom 16. Juni 2021

https://taz.de/Protest-bei-Lieferdienst-Gorillas/!5775031/

„Wilde Streiks sind spontane Arbeitsniederlegungen ohne gewerkschaftlichen Segen. Sie sind genaugenommen illegal und kommen hierzulande so gut wie nie vor. Der letzte wilde Streik fand vergangenen Sommer statt, als vorwiegend rumänische Erntearbeiterinnen und Erntearbeiter beim Spargelhof Ritter in Bornheim gegen vorenthaltene Löhne vorgingen. Und 2017 schrieben sich auffallend viele Air-Berlin-Pilotinnen und -Piloten gleichzeitig krank, was in der Presse – unzutreffenderweise – als wilder Streik bezeichnet wurde. Ende 2014 legten Daimler-Beschäftigte in Bremen spontan die Arbeit nieder, um gegen Werkverträge zu protestieren; zehn Jahre zuvor gab es den letzten großen wilden Streik in Deutschland: Mehrere tausend Arbeiterinnen und Arbeiter bei Opel Bochum versuchten im Oktober 2004, ihre Arbeitsplätze zu verteidigen. Blickt man noch weiter zurück, bis in die 1970er Jahren, stößt man auf eine Welle wilder Streiks der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter gegen ihre Überausbeutung, der bekannteste: Fordstreik in Köln. 1973 war das.

Wilde Streiks sind nicht nur spannend, weil sie eine widerspenstige Ausnahme in den Klassenbeziehungen darstellen – in den 1970ern hätte man von Arbeiterautonomie gesprochen –, sondern auch, weil sie häufig von Arbeiterinnen und Arbeitern gestartet werden, die von den Gewerkschaften nicht gut vertreten werden oder sich nicht gut vertreten fühlen. Wenn sie erfolgreich sind, sind sie eine wichtige Inspiration für andere. Da sie sich außerhalb des rechtlichen Rahmens bewegen, sind wild Streikende schlecht vor Repressalien oder Schadensersatzforderungen geschützt. Damit ihr Kampf als positives und nicht als abschreckendes Beispiel endet, ist Solidarität besonders wichtig.“

Quelle: Jan Ole Arps: „Wildcat bei ‚Gorillas‘“, junge Welt vom 15. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404536.arbeitskampf-wildcat-bei-gorillas.html

„Zu Streiks können laut deutschem Recht nur Gewerkschaften aufrufen. Weder die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die zunächst auch bei der Betriebsratswahl involviert war, noch Verdi hätten vorab von der Arbeitsniederlegung gewusst oder seien daran beteiligt (…). Die Freie Arbeiter Union (FAU), die vor allem Angestellte der Gig Economy vertritt, wird vom Deutschen Gewerkschaftsbund nicht als rechtmäßige Arbeitnehmervertretung angesehen, sodass auch diese Organisation keine Ermächtigung dazu hat.

Solch ein sogenannter ‚wilder Streik‘ sei eine rechtswidrige Maßnahme, so ein Arbeitsrechtler zu Gründerszene. Solche Proteste habe es in Deutschland seit mehreren Jahren nicht mehr gegeben. Theoretisch gesehen könnte Gorillas daher allen Teilnehmenden fristlos kündigen und sogar Schadensersatz für die ausgefallenen Touren verlangen. Ob das Unicorn diesen Schritt gehen wird, ist aber fraglich. Das würde schließlich kein gutes Licht auf den Lieferdienst werfen, so der Anwalt.“

Sarah Heuberger/Lis Ksienrzyk: „Nach Kündigung eines Kollegen: Gorillas-Fahrer gehen in illegalen Streik“, businessinsider (Nachrichtenportal) vom 11. Juni 2021

https://www.businessinsider.de/gruenderszene/food/gorillas-streik-fahrer-gekuendigt-b/

„Das deutsche Richterrecht habe eine Handvoll Glaubenssätze über Streiks aufgestellt, die ein knöchernes System bilden und Streikende vor Herausforderungen stellen, erklärt Sylvia Bayram von der Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht gegenüber jW. ‚Allzu gerne wird alles, was nicht in das enge Korsett dieses Katechismus passt, für rechtswidrig erklärt.‘ Ein zentraler Glaubenssatz sei, dass Arbeitskämpfe, zu denen nicht eine Gewerkschaft aufruft, ‚auch spontane oder wilde Streiks genannt, als illegal gelten‘.

Was Bayram meint, wird deutlich, wenn man in die Vergangenheit blickt. Ende 2015 traten die Mercedes-Arbeiter in Bremen in den ‚wilden‘ Streik. Auch hier explodierte scheinbar wie aus dem Nichts eine Bremer Supernova. Das Ende des immer stärker wuchernden Werkvertragssystems und die Festanstellung der Lohnsklaven zweiter und dritter Klasse wurden gefordert. Die Unternehmensleitung mahnte das ‚wilde‘ Streiken ab. Die IG Metall lehnte es ab, den Arbeitskampf nachträglich zu entkriminalisieren.

‚Nach europäischem Recht – genauer: nach der Europäischen Sozialcharta (ESC) – sind wilde Streiks legal‘, so Rechtsanwalt Benedikt Hopmann im Gespräch mit jW. ‚Denn zu Recht betrachtet das europäische Recht die Koalitionsfreiheit als Ausgangspunkt für Arbeitskämpfe. Und in dieser Logik sind nicht nur Gewerkschaften Koalitionen. Auch Gruppen von Beschäftigten eines Betriebes, die sich – vielleicht sogar spontan – zusammentun, um ihre Interessen zu erstreiken, bilden eine Koalition.‘ Hopmann rät, bei wilden Streiks einen Verhandlungspartner für die Gegenseite unter den Streikenden zu benennen.

Bei Daimler entschied Mercedes letztlich, die Abmahnungen vorzeitig aus den Personalakten zu entfernen. Ein Etappensieg. Ein weiterer Glaubenssatz des deutschen Richterrechts, der im Arbeitskampf bei Gorillas relevant sein könnte, ist das Dogma, dass Arbeitskampfforderungen tariffähig sein müssen.

Zwei der insgesamt drei Forderungen des Gorillas-Streiks lassen sich sicherlich problemlos in einen Tarifvertrag gießen, aber die dritte Forderung, die Rücknahme der Kündigung eines Kollegen, eher nicht. Als tiefere Ursache für den Streik benennen die Gorillas-Beschäftigten das gesamte prekäre, menschenfeindliche System bei Gorillas. Die Kündigung ihres Kollegen Santiago war aber nun einmal der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen nicht alle Forderungen zulässig sein. Allein die Tatsache, dass eine Gruppe von Beschäftigten im Betrieb eine Forderung für streikwürdig hält, legalisiert diese, egal, ob tariffähig oder nicht, wenn gleichzeitig auch tariffähige Forderungen aufgestellt werden.“

Quelle: Lukas Schmolzi: „Falsche Glaubenssätze“, junge Welt vom 22. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404811.wilder-streik-bei-gorillas-falsche-glaubenss%C3%A4tze.html

Weitere Quellen: „Zoff bei Gorillas in Berlin“, Manager Magazin vom 10. Juni 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/tech/gorillas-streik-und-blockaden-beim-lebensmittellieferdienst-in-berlin-a-1515500c-4c6d-4b2b-9c89-1bb85823bfe5

„Die größten Gründerdeals des Jahres“, Manager Magazin vom 24. Juni 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/scalable-trade-republic-celonis-die-groessten-gruenderdeals-des-jahres-a-44686e0a-5b2c-490f-b550-56e4a802ab82

Interessant ist auch folgende Online-Diskussion, in der unter anderem Ramazan Bayram von der „Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht“ den Kampf der „Riders“ in die allgemeine Situation von Arbeitskämpfen der letzten Monate einordnet:

„Riders Unite – Arbeitskämpfe in der Pandemie“, Teil 15 der Reihe „Corona und linke Kritik(un)fähigkeit“ vom 14. Juni 2021

https://vimeo.com/563308641

Megafusion auf dem Immobilienmarkt: Vonovia übernimmt die Deutsche Wohnen

Vor fünf Jahren gab es einen erfolglosen Versuch zur Übernahme des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen durch den Branchenersten Vonovia. Jetzt aber stehen die beiden doch vor dem Zusammenschluss. Vonovia hat jüngst dem Konkurrenten Deutsche Wohnen, der etwa 158.000 Wohnungen in seinem Bestand hat, ein Übernahmeangebot in Höhe von rund 18 Milliarden Euro gemacht. Damit wird Vonovia auch in Europa zum mit Abstand führenden Wohnungskonzern.

Insgesamt wächst der Bestand von Vonovia auf künftig rund 570.000 Wohneinheiten und kommt damit auf einen Anteil von etwa 2,5 Prozent am deutschen Mietwohnungsmarkt. Beide Unternehmen sind im größten Aktienindex Dax gelistet und besitzen aktuell allein in Berlin zusammen über 150.000 Wohnungen (von insgesamt etwa 1,6 Millionen Mietwohnungen in der Stadt). Am deutschen Gesamtmarkt haben die Immobilienkonzerne zwar nur einen relativ geringen Marktanteil, in Berlin aber wird der politische Einfluss der „neuen“ Vonovia mit zukünftig fast 10 Prozent der Mietwohnungen weiter steigen. Dass der Deal der beiden Konzerne politisch erwünscht ist, dokumentierten Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) durch ihre Teilnahme an einer gemeinsamen Pressekonferenz mit den Vorstandsvorsitzenden der beiden Konzerne. Dort wurde mitgeteilt, dass das Land Berlin im Rahmen des geplanten Zusammenschlusses 20.000 Wohnungen von den beiden Gesellschaften übernehmen kann, um den kommunalen Wohnungsbestand ausbauen zu können.

Was aber ist von der Fusion zu halten? Seit deren Ankündigung am 24. Mai 2021 melden sich zunehmend kritische Stimmen zu Wort, die belegen, dass es sich bei der Übernahme mitnichten um die behauptete Win-Win-Win-Konstellation (Konzerne, Staat, Mieter*innen) handelt, sondern um ein durchschaubares politisches Täuschungsmanöver ohne erkennbare Vorteile für die betroffene Mieterschaft.

 

„Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“

Die Konzernvorstände von Vonovia und Deutsche Wohnen bemühen sich, ihren Deal als positiv für Mieter*innen und öffentliche Hand darzustellen. In ihrem parallel zur Fusion angekündigten „Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“ kündigen sie deshalb vier Maßnahmen an, die angeblich für eine „soziale und nachhaltige Wohnungspolitik“ stehen sollen (vgl. Pressemitteilung der Deutsche Wohnen vom 24. Mai sowie die Pressekonferenz am 25. Mai 2021). Danach werden in den nächsten drei Jahren reguläre Mieterhöhungen in Berlin insgesamt auf ein Prozent jährlich begrenzt; in den beiden danach folgenden Jahren bis 2026 sollen sie sich im Rahmen der Inflationsrate bewegen. Bei Modernisierungen verpflichten sich die Unternehmen, die Modernisierungsumlage auf maximal zwei Euro pro Quadratmeter zu kappen. Der Neubau soll forciert und der Stadt Berlin sollen 20.000 Wohnungen angeboten werden.

Bürgermeister Müller sprach auf der Pressekonferenz mit Blick auf die angekündigte Begrenzung von Mieterhöhungen von einer „ganz wichtigen sozialpolitischen Aussage“, die für Berlin „von herausragender Bedeutung“ sei. Damit werde deutlich, dass sowohl Politik und Immobilienkonzerne leistbare Mieten wollen. Vonovia-Chef Rolf Buch gefiel sich sogar in der Pose eines Mieterschützers und behauptete, dass „mit privatrechtlichen Erklärungen ein Mietendeckel umgesetzt worden“ sei.

Bürgermeister Müller verschwieg, dass Vonovia dann ab 2027 ohne jede Einschränkung durch diese Vereinbarung Mieten erhöhen darf und dass die Selbstverpflichtung von Vonovia und Deutsche Wohnen nur für Berlin gilt. Der Wohnungsbestand von Vonovia verteilt sich aber vor allem im restlichen Bundesgebiet mit dem Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen. Auch fallen die Mietnebenkosten nicht unter die Beschränkungen. Dabei weisen Mieterinitiativen immer wieder darauf hin, dass das Geschäftsmodell der Vonovia unter anderem darauf gründet, überhöhte und undurchsichtige Betriebskostenabrechnungen zu verschicken.

Der Berliner Tagesspiegel schrieb dazu. „Dass darin ein ‚System‘ liege, mutmaßten 28 regionale Mietervereine, Landesverbände des Mieterbundes sowie ‚kritische Aktionäre‘ in einem offenen Brief an den Vorstand der Aktiengesellschaft Ende Februar“. Denn Vonovia setzt verstärkt auf „Insourcing“, also auf die Erledigung von Dienstleistungen durch eigene Tochterunternehmen. Diese, so wurde schon vor Jahren vermutet, stellten ihrer Muttergesellschaft überhöhte Rechnungen, die im Rahmen der Betriebskostenabrechnung von Mieter*innen bezahlt werden müssten. Über Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge landeten die Gewinne dann bei der Vonovia.

„Die Vonovia verdiene daran gut“, heißt es im Tagesspiegel weiter. „Die operativen Gewinne aus konzerninternen Kostenumlagen hätten bei ‚weit über 100 Millionen Euro im Jahr‘ gelegen.“ Während Vonovia illegale Machenschaften dieser Art zurückweist, bleiben die Zweifel an der Korrektheit der Abrechnungen, die das Unternehmen ausstellt. Sollte tatsächlich „ein System aufgeblähter Betriebskosten“ existieren, so Ralf Hoffrogge, Aktivist der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, wäre das ein Fall für den Staatsanwalt. Er resümiert: „Steht hier wie im Fall Wirecard ein Dax-Konzern über dem Gesetz? Oder ist das ‚System Vonovia‘ ganz legale Ausbeutung? So oder so: der Vonovia-Deal würde dazu führen, dass bald 150.000 Haushalte mehr ihre Betriebskosten an die Vonovia zahlen.“

Dass der versprochene „Zukunfts- und Sozialpakt“ weitgehend heiße Luft sei, kommentierte auch der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild. Die versprochene Kappung von Mieterhöhungen sei nicht auf das einzelne Mietverhältnis bezogen, sondern betreffe die durchschnittlichen Mieterhöhungen des gesamten Wohnungsbestandes der Vonovia. Die jährlich vorgenommenen Mietsteigerungen nach § 558 BGB („Anpassungen“ an die ortsübliche Vergleichsmieten) lagen laut Vonovia-Geschäftsbericht sogar unter einem Prozent. Ein Hinweis darauf, so Wild, dass die ortsüblichen Vergleichsmieten vielerorts schon erreicht oder überschritten waren.

Auch die Beschränkung der Mieterhöhung nach Modernisierungen auf zwei Euro pro Quadratmeter im Monat sei – anders als Deutsche Wohnen und Vonovia glauben machen wollten – überwiegend keine über das Gesetz hinausgehende Schutzregelung. Denn bei Ausgangsmieten unterhalb von sieben Euro pro Quadratmeter ist die Steigerung nach BGB bereits auf zwei Euro begrenzt. Und die Durchschnittsmiete bei der Deutschen Wohnen liege sowieso unter sieben Euro pro Quadratmeter. Da außerdem die Neuvertragsmieten als ein wesentlicher Mietentreiber von Vonovia generell ausgespart werden, bleibt zu ergänzen, schreiben die „Zusagen“ des Unternehmens also allenfalls den Status quo fest.

Der Ankauf von 20.000 Wohnungen durch das Land Berlin sei ebenfalls kein Geschenk, so Wild. Berlin werde pro Wohnung deutlich mehr zahlen müssen als Vonovia jetzt für die Wohnungen der Deutsche Wohnen finanziere. Der Verkauf an Berlin refinanziere damit zum Teil die Fusion.

 

Rekommunalisierung als teures Geschäft

Von den Wohnungen, die den landeseigenen Wohnungsunternehmen angeboten werden sollen, stammen offenbar 12.000 aus dem Bestand der Deutsche Wohnen. Diese gehören zum „nichtstrategischen Portfolio“ des Konzerns, sollten also langfristig sowieso verkauft werden. „So machte das Wort von der ‚Resterampe‘ die Runde. Ein Teil der Wohnungen ist zudem wohl asbestverseucht. Für die jahrelange Praxis, die Bestände verwahrlosen zu lassen, wird die Deutsche Wohnen nun sogar noch belohnt“, kommentierte die taz diesen Vorgang in der Ausgabe vom 4. Juni 2021.

Aus offensichtlich politischen Gründen will Bürgermeister Müller in Großsiedlungen und Quartieren mit sozialen Problemen Wohnungen kaufen. Die liegen zum Teil wohl nicht zufällig in Bezirken mit SPD-Bürgermeistern, die dadurch Rückenwind bekommen sollen. Nach Angaben des Manager Magazins werden die Kosten für den Ankauf vermutlich zwischen satten drei und fünf Milliarden Euro liegen, wie das Blatt „aus den laufenden Verhandlungen“ erfahren haben will. (Manager Magazin vom 25. Mai 2021)

Ralf Hoffrogge schreibt dazu: „Von Großsiedlungen ist die Rede – es sind wahrscheinlich jene Bestände des Sozialen Wohnungsbaus gemeint, die der Senat vor kaum 15 Jahren zu Niedrigpreisen verschleuderte. Seitdem wurde in diese Betonburgen der 1976er und 1970er Jahre wenig bis gar nichts investiert und jetzt soll Berlin sie für ein Vielfaches der einstigen Verkaufssumme zurücknehmen. (…) Jedoch ist die Existenz börsennotierter Immobilienkonzerne kein Naturgesetz. Vor 15 Jahren gab es sie noch nicht, und die Mieten waren erschwinglich. Immobilien-AGs sind ein Produkt der Privatisierung öffentlichen Eigentums und der De-regulierung der Finanzmärkte – zwei tragische Fehlentwicklungen, für die die Sozialdemokratie in Bund und Ländern die Weichen stellte. Statt ihre Fehler zu korrigieren, werden die Sünden von einst mit dem Vonovia-Deal verewigt.“

Besonders pikant an dem Wohnungsdeal ist also, dass die Privatisierungswelle von Wohnungsbeständen aus Bundes- und Landeseigentum in den 2000er Jahren erst den Wachstumskurs von Vonovia und Deutsche Wohnen ermöglichte. Viele der Wohnungen des Vorgängerunternehmens von Vonovia, der Deutschen Annington, waren einst Eisenbahner-, Werks- oder Genossenschaftswohnungen, die aufgekauft wurden. Die Privatisierung von zwei Berliner Wohnungsunternehmen, der GEHAG* und der GSW**, bildete dagegen den Grundstein für das heutige Portfolio der Deutsche Wohnen. Die rot-rote Koalitionsregierung in Berlin hatte die GSW mit ihren 66.000 Wohnungen schon im Jahr 2004 für lächerlich geringe 400 Millionen Euro an ein Konsortium von internationalen Fondsgesellschaften verkauft.*** Im Jahr 2013 erfolgte dann die Übernahme der ehemals landeseigenen GSW durch die Deutsche Wohnen.

Hinzu kommt, dass die landeseigenen Wohnungsgesellschaften den Kauf der Wohnungsbestände von Vonovia und Deutsche Wohnen durch Kreditaufnahme stemmen sollen, denn der Einsatz von Steuergeldern ist nach Angaben des Senats tabu. Im Ergebnis hätten die Gesellschaften damit ihre schon vorhandene Überschuldung massiv ausgeweitet – damit würden alle Planungen für eine Ausweitung des öffentlichen Wohnungsbaus Makulatur (vgl. Gerhardt). „Ein düsteres Szenario: der öffentliche Wohnungsbau gelähmt, der Neubau in Händen eines Dax-Konzerns, der Hochpreisiges nach Marktlage errichtet.“ (Hoffrogge)

 

Konzentrationsprozess auf dem deutschen Wohnungsmarkt

Knut Unger, Mieteraktivist und Kenner der Geschäftspraktiken von Vonovia, illustriert, wie sich der Expansionkurs des Konzerns regional auswirkt. Es wäre nicht nur dessen starker Einfluss auf lokale Wohnungsmärkte spürbar – wie etwa in Dresden oder Dortmund. Das Geschäftsmodell basiert auch auf dem Angebot wohnungsnaher Dienstleistungen. „Wettbewerbshüter können sich aber auch über die Rolle des neuen Großkonzerns auf den Beschaffungs- und Dienstleistungsmärkten sorgen. Die Vonovia kontrolliert jetzt schon die größte Bauhandwerkerorganisation Deutschlands und schickt sich an, der größte Wohnungsbaudeveloper zu werden. Sie kontrolliert ein gigantisches Datennetz, baut sich als Energieversorger auf und versucht, eine führende Rolle bei der Entwicklung klimaneutraler Wohnquartiere zu spielen. Nach dieser Fusion, so viel ist sicher, wird Wohnungspolitik endgültig nicht mehr ohne Einflussnahme von Rolf Buch stattfinden.“

Das Handelsblatt erkennt einen allgemeinen Fusionstrend und eine wachsende konfrontative Haltung der Wohnungswirtschaft gegen staatliche Maßnahmen. Laut Finanzkreisen müssten die Wettbewerber überlegen, ob sie nicht wegen der extremen Zunahme der Kostenführerschaft von Vonovia ebenfalls fusionieren sollten. Noch mehr Unternehmen würden sich zukünftig zusammenschließen, um robuster gegenüber Mietpreisregulierungen und anderen Eingriffen zu werden, wie ein Vertreter des Instituts der deutschen Wirtschaft zitiert wird.

Vor diesem Hintergrund scheint die öffentliche Hand zu akzeptieren, dass ihr Einfluss auf die Entwicklung der Mieten im privaten Bereich schwindet. Der im Rahmen der Pressekonferenz im Mai zelebrierte Schulterschluss zwischen (sozialdemokratischer) Politik und Kapital soll als Beginn einer neuen Ära verstanden werden, die entgegen Enteignungsforderungen für Kooperation statt Konfrontation steht. Müller und Kollatz, so Hoffrogge, würden Vonovia mit ihrem Deal staatliche Ordnungsmacht zugestehen und Wohnungspolitik nur noch im Konsens mit den Konzernen gestalten wollen – was in eine „Privatisierung der Mietenpolitik“ münde.

 

Umgehung der Grunderwerbssteuer

Die Kapitalkonzentration wird auch durch die sogenannten Share Deals beim Aufkauf von Unternehmen gefördert. Immobilientransaktionen unterliegen zwar grundsätzlich der Grunderwerbssteuer. Bislang wurde ein Eigentümerwechsel bei Grundstücken nur von der Steuer erfasst, wenn mindestens 95 Prozent der Anteile innerhalb von fünf Jahren in eine andere Hand übergingen. Der Rest wurde in einer zwischengeschalteten Gesellschaft geparkt – nach fünf Jahren konnten dann die Anteile steuerfrei vereinigt werden. Deshalb wurden bei Käufen oftmals nur 94,9 Prozent an den neuen Eigentümer direkt übertragen. Eine vom Bundestag und Bundesrat beschlossene Neuregelung tritt am 1. Juli 2021 in Kraft.

Eigentlich soll diese Neuregelung die Umgehung der Grunderwerbsteuer beim Immobilienkauf, also den „Missbrauch“ der Share Deals, erschweren. Deshalb wurde die Beteiligungsschwelle auf 90 Prozent gesenkt und die Frist auf zehn Jahre verlängert. Allerdings sind börsennotierte Unternehmen wie Vonovia ab Juli von der Grunderwerbssteuer ausgenommen, das heißt die Regelung greift nicht, wenn die Anteile an der Börse verkauft werden: „So könnte Vonovia mit der geplanten Übernahme der Deutsche Wohnen einer beispiellosen Serie die Krone aufsetzen. Das Unternehmen kaufte allein zwischen 2016 und 2018 durch Share Deals rund 47.000 Wohnungen in Deutschland.“ (junge Welt vom 14. Juni 2021). Auch die FAZ kritisiert, dass das Finanzamt bei dem Megadeal das Nachsehen haben dürfte:

„Ein Immobilienkonzern übernimmt einen anderen, aber die Grunderwerbssteuer spielt dabei offenbar keine Rolle. (…) Zwar ist gerade die Grunderwerbsteuer verschärft worden, aber in diesem Fall dürfte der Fiskus gleichwohl leer ausgehen. ‚Union und SPD haben den Aktionären von Vonovia, Deutsche Wohnen und Blackrock mit ihrer verkorksten Reform der Share Deals ein Millionen-Geschenk auf Kosten der Steuerzahler gemacht‘, kritisierte die Grünen-Finanzpolitikerin Lisa Paus kurz nach Bekanntwerden der Pläne. Nach ihrer überschlägigen Rechnung geht es um eine Steuerzahlung oder besser Nichtsteuerzahlung in der Größenordnung von einer Milliarde Euro. Dahinter stehen folgende Zahlen: eine Übernahme von 18 Milliarden Euro und eine Grunderwerbsteuer von zumeist 5 bis zu 6,5 Prozent. Das Aufkommen steht den Ländern zu (…) Die Abgeordnete Paus vermutet, dass der angekündigte Zeitpunkt der Fusion der Immobilienriesen im August kein Zufall ist, da dann das neue Gesetz in Kraft ist.“

Selbstverständlich, so die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen, müssten die landeseigenen Immobilienunternehmen als Käufer der 20.000 Wohnungen die Grunderwerbssteuer bezahlen (vgl. junge Welt vom 14. Juni 2021). Fazit: Die Share Deals sind ein weiteres Beispiel dafür, wie der Staat Konzerne wie Vonovia und Co auf ihrem Wachstumskurs nach Kräften unterstützt, während das eigene Potential geschwächt wird, dem absoluten Mangel an Wohnungen als wesentliche Ursache für die Missstände an den angespannten Wohnungsmärkten beizukommen.

* GEHAG („Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft“)

** GSW („Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin“)

***Carl Waßmuth weist darauf hin, dass die bei den Verkäufen seinerzeit erzielten Preise deutlich unter dem damaligen Marktwert lagen und ganz offiziell von Notverkäufen zur Haushaltssanierung gesprochen wurde. Seit 2000 wurden in ganz Deutschland rund 900.000 Wohnungen privatisiert, die zuvor dem Bund, den Ländern oder den Kommunen gehört hatten – und später den Kern von Konzernen wie Vonovia und Deutsche Wohnen bildeten. (Wasmuth)

 

Quellen:

„Deutschlands geschliffenster Betonkopf“, Manager Magazin (Online) vom 25. Mai 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/vonovia-uebernimmt-deutsche-wohnen-rolf-buch-deutschlands-geschliffenster-betonkopf-a-e4efdb84-256e-4275-9911-d8f1de5c9591

„Fusion Vonovia/Deutsche Wohnen – Neuer Druck auf Miethöhen durch 18 Mrd. Euro Kaufpreis.
Zukunfts- und Sozialpakt ist mehr Blendwerk als Mieterschutz“, Pressemitteilung des Berliner Mietervereins Nr. 30/21 vom 25. Mai 2021

https://www.berliner-mieterverein.de/presse/pressearchiv/fusion-vonovia-deutsche-wohnen-neuer-druck-auf-miethoehen-durch-18-mrd-euro-kaufpreis-zukunfts-und-sozialpakt-ist-mehr-blendwerk-als-mieterschutz-pm2130.htm?hilite=%27vonovia%27

Sebastian Gerhardt: „Ein wohlkalkulierter Coup“, Rosa Luxemburg Stiftung, 26. Mai 2021

https://www.rosalux.de/news/id/44371/ein-wohlkalkulierter-coup?cHash=83a5053f775af62b200ca93e9ed2936c

Carsten Herz: „Wie die Großfusion von Vonovia und Deutscher Wohnen den Wohnungsmarkt verändert“, Handelsblatt (Online) vom 26. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/immobilienmarkt-wie-die-grossfusion-von-vonovia-und-deutscher-wohnen-den-wohnungsmarkt-veraendert/27223480.html&nlayer=Newsticker_1985586?ticket=ST-4113886-pwz2gzM2gAw2n6Aq0hEu-ap6

Ralf Hoffrogge: „Die falsche Richtung: Warum der Vonovia-Deal den Konzernen mehr nützt als den Mieterinnen und Mietern“, Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen, 4. Mai 2021

https://www.dwenteignen.de/2021/06/die-falsche-richtung/

Johannes Hub: „Staat wird geplündert“, junge Welt vom 14. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404300.fusionen-auf-wohnungsmarkt-staat-wird-gepl%C3%BCndert.html

Pressekonferenz des Regierenden Bürgermeisters von Berlin mit Vonovia und Deutsche Wohnen vom 25. Mai 2021

https://www.youtube.com/watch?v=fVCBFziuKSs

Uwe Rada: „Land will 20.000 Wohnungen kaufen: Grobes Foul der SPD im Wahlkampf“, taz vom 4. Juni 2021

https://taz.de/Land-will-20000-Wohnungen-kaufen/!5772780/

Manfred Schäfers: „Warum Vonovia wohl keine Grunderwerbssteuer zahlt“, FAZ (Online) vom 26. Mai 2021

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vonovia-und-die-grunderwerbsteuer-geschaeft-am-fiskus-vorbei-17359417.html

Ralf Schönball: „Nach Verkündung von Milliarden-Deal: Mieter protestieren gegen Vonovia“, Tagesspiegel (Online) vom 28. Mai 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-verkuendung-von-milliarden-deal-mieter-protestieren-gegen-vonovia/27229094.html

Knut Unger: „Die Fusion (der Täuscher): Vonovias «Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen» im Faktencheck, Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2. Juni 2021

https://www.rosalux.de/news/id/44404/die-fusion-der-taeuscher?cHash=cce80b690eab78cf093cd6a08c55e102

Carl Waßmuth: „Öffentlicher Geldsegen für Immobilienhaie“, MieterEcho 414, Februar 2021, Seite 18

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2020/me-single/article/oeffentlicher-geldsegen-fuer-immobilienhaie/

Einen satirischen Blick auf die angekündigte Fusion bietet ein Beitrag des ZDF-Magazins „Frontal 21“ vom 1. Juni 2021:

https://www.zdf.de/politik/frontal-21/satire-toll-vonovia-deutsche-wohnen-spd-mietendeckel-100.html

 

 

Zerschlagung von BlackRock gefordert

Gerhard Schick, Geschäftsführer der Organisation Finanzwende und ehemals finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, stellte Anfang Juni in einem Gastkommentar für das Handelsblatt fest, dass der weltweit mächtigste Finanzdienstleister in mehrere Einzelteile aufgeteilt werden solle, um nicht noch mehr Einfluss zu erhalten. Wie Schick anmerkt, verwaltet BlackRock derzeit etwa neun Billionen US-Dollar – mehr als das Doppelte des jährlichen Bruttoinlandsprodukts Deutschlands. Sein starkes Wachstum verdankt der Konzern besonders seinem Geschäft mit passiven Exchange Traded Funds (ETF)*, aber auch den aktiv gemanagten Fonds in Höhe von fast zwei Billionen US-Dollar. Daneben ist BlackRock der größte Anteilseigner zahlreicher Aktiengesellschaften. Als Hauptaktionär übt er weltweit einen entscheidenden Einfluss auf deren Geschäftspolitik aus.

„An die Stelle der Marktwirtschaft tritt Machtwirtschaft“, bringt es Schick auf den Punkt. Das zeige sich darin, dass bei gleichzeitigem Besitz von Anteilen eigentlich konkurrierender Unternehmen der Wettbewerb leide, wie es seit langem von Wissenschaftler*innen und Kartellbehörden kritisieren würde. Aber es komme noch schlimmer: „Nehmen wir beispielsweise Blackrocks Datenanalysesystem Aladdin. Das System kommt bei zahlreichen Unternehmen und Zentralbanken zum Einsatz; es hilft bei der Verwaltung von gut zehn Prozent der globalen Vermögenswerte, das sind mehr als 20 Billionen Dollar. Hier trifft also ein relevanter Anteil der weltweiten Investoren seine Entscheidungen mithilfe eines gemeinsamen Systems. Tendenziell begünstigt diese Verflechtung riskantes Herdenverhalten – und erhöht damit Risiken, die die Finanzstabilität gefährden. Außerdem steigert Aladdin nach dem Motto ‚Wissen ist Macht‘ Blackrocks Position in der weltweiten Finanzwirtschaft.“

Auch erwähnt Schick BlackRocks enge Kontakte in die Politik. So beabsichtige etwa Friedrich Merz (CDU), „langjähriger Deutschland-Statthalter des Konzerns“, in der nächsten Bundesregierung „Superminister für Wirtschaft und Finanzen“ zu werden. Obwohl BlackRock eine Marktmacht erzeuge, die kein Staat mehr kontrollieren könne, werde, so Schick, selten von dem Konzern gesprochen, wenn im politischen Raum von der Macht der US-Konzerne die Rede sei.

Was soll seiner Meinung nach „zur Stärkung der Marktwirtschaft und zur Schwächung der Machtwirtschaft“ geschehen? „Es geht nicht ohne eine Aufteilung, sprich Zerschlagung des Konzerns in mehrere Teilbereiche. Nur so können Interessenkonflikte vermieden und Macht beschränkt werden. (…) Außerdem braucht es mehr Transparenz bei der Ausübung von Stimmrechten und der Einflussnahme bei Unternehmen. Generell benötigen wir bei Schattenbanken, zu denen Blackrock zählt, endlich eine der Bankenregulierung vergleichbare Begrenzung der Kreditfinanzierung (Leverage), Mindestvorgaben für die Liquidität und einen von den Unternehmen zu finanzierenden Notfallfonds, damit nicht wieder der Staat mit Milliardenspritzen als Retter einspringen muss.“

Überdies sollten Interessenkonflikte unterbunden werden: Die öffentliche Hand dürfe nicht länger BlackRock als Berater bei Aufträgen engagieren, an denen der Konzern wie im Fall Griechenland eigene Interessen habe. Bei den Großbanken hätte man gesehen, zu welchen Kosten es für die Gesellschaft kommt, wenn Marktmacht und Erpressungspotenzial erst in einer Finanzkrise zum Thema werden. Denn für Bankenrettungen mussten in der Weltfinanzkrise Milliarden an Steuergeldern ausgegeben werden, weil versäumt worden sei, den Aufstieg von Lehman Brothers und Co. zu systemrelevanten Megainstituten mit Bilanzsummen in Billionenhöhe rechtzeitig zu verhindern. „Daraus“, so Schick, „müssen wir beim Aufstieg von Blackrock Konsequenzen ziehen – und die wirtschaftliche Macht des Konzerns rechtzeitig brechen“.

Schicks Beschreibung der Bedeutung von BlackRock ist jedoch nicht ganz neu. Dass von BlackRock nur selten die Rede sei, wenn es über die Macht von US-Konzernen im politischen Bereich geht, darf bezweifelt werden. So fand im September 2020 an der Freien Universität Berlin ein „BlackRock-Tribunal“ statt, bei dem der Konzern öffentlichkeitswirksam „an den Pranger“ gestellt wurde. Folgendes symbolisches Urteil wurde gefällt: „Das Unternehmen Blackrock mit dem juristischen Sitz in der US-amerikanischen Finanzoase Wilmington/Delaware und dem operativen Hauptsitz in New York wird aufgelöst. Das betrifft auch alle Tochtergesellschaften in den USA und im Ausland.“ (vgl. „BIG-Nachricht“ vom 4. Oktober 2020)

In jüngster Vergangenheit wurde immer wieder über die Rolle der neuen, weltweit agierenden Kapitalakteure berichtet, sowohl in politisch links orientierten Medien wie auch in der bürgerlichen Presse. Deshalb folgen am Schluss einige Lektüreempfehlungen.

* Ein ETF („Exchange Traded Fund”) ist ein börsengehandelter Indexfonds, der die Wertentwicklung eines Index, zum Beispiel des Dax, abbildet.

Quelle:

Gerhard Schick: „Die Macht brechen: Blackrock muss zerschlagen werden“ (Gastkommentar), Handelsblatt (Online) vom 1. Juni 2021

https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-die-macht-brechen-blackrock-muss-zerschlagen-werden/27242516.html?nlayer=Aktuelle%20Gastbeitr%C3%A4ge_26175654

 

Empfohlene Lektüre für den Einstieg in das Thema:

Werner Rügemer: „BlackRock-Kapitalismus. Das neue transatlantische Finanzkapital“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2016, Seite 70-83

https://www.blaetter.de/ausgabe/2016/oktober/blackrock-kapitalismus

Harald Schumann/Elisa Simantke: „BlackRock – Ein Geldkonzern auf dem Weg zur globalen Weltherrschaft“, in: Tagesspiegel vom 8. Mai 2018

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/blackrock-ein-geldkonzern-auf-dem-weg-zur-globalen-vorherrschaft/21246966.html

Über den Einfluss BlackRocks auf den deutschen Wohnungsmarkt:

Arbeitsausschuss Immobilien-Aktiengesellschaften der Berliner MieterGemeinschaft (Hg.), „Den Aktionären verpflichtet. Immobilien-AGs – Umverteilungsmaschinerie und neue Macht auf den Wohnungsmärkten“, Berlin, Januar 2019 (Kapitel V: „Wem gehören eigentlich die börsennotierten Immo-AGs?“), Seite 16-19

https://www.bmgev.de/

Dr. Oetker – Stütze des NS-Staats

In einer Artikelserie widmet sich der Blog „The Lower Class Magazine“, betrieben von einem unabhängigen Medienkollektiv, traditionsreichen deutschen Familienunternehmen: „Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.“

Am 9. März schrieb die Autorin Nelli Tügel darüber, wie die Bielefelder Unternehmerfamilie Oetker, deren Firma heute als eines der größten deutschen Traditionsunternehmen gilt, vom Nationalsozialismus profitierte. August Oetker gründete das Pudding-Imperium im Jahr 1891. Auf ihn folgte sein Sohn Rudolf an der Spitze des Konzerns. Nach dessen Tod im Jahr 1916 wurde Richard Kaselowsky, den Rudolf Oetkers Witwe Ida Oetker nach dessen Tod geheiratet hatte, Geschäftsführer. Er war ein glühender Nazi, ebenso wie seine Ehefrau Mitglied der NSDAP und gehörte ab 1941 der Waffen-SS an.

Kaselowskys Stiefsohn Rudolf-August Oetker übernahm 1944 die Konzernleitung – und verhinderte fortan jede Aufklärung über die Verstrickungen des Oetker-Clans in den deutschen Faschismus. Auch er, Jahrgang 1916, war ein überzeugter Nazi, Mitglied der NSDAP und ab 1942 der Waffen-SS. Nach einer kurzzeitigen Internierung nach Kriegsende konnte er im Jahr 1947 seine Tätigkeit fortsetzen. Erst 2009, sieben Jahre nach dessen Tod, beauftragte die Oetker-Familie den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, den Historiker Andreas Wirsching, mit einer Studie zu diesem Thema. Im Jahr 2013 wurden die Ergebnisse publiziert.

In einem Interview anlässlich der Veröffentlichung der Studie stellte Wirsching fest, dass zwischen Oetker und dem NS-Regime kein Blatt Papier gepasst hätte. Es habe keinen einzigen Beleg für eine Abgrenzung gegeben. „Bemerkenswert ist dabei“, schreibt Nelli Tügel, „dass die Oetkers in der Studie als in keiner Weise außergewöhnlich beschrieben werden: Kaselowsky sei zwar kein reiner Opportunist, sondern überzeugter Nazi gewesen, doch sei er damit laut Wirsching ‚ein typisches Beispiel für den fließenden Übergang von national-liberalem Bürgertum zu den Nationalsozialisten‘. Wie viele andere habe er sich ‚von einem eher nationalliberalen Standpunkt aus nach rechts orientiert (…), die nationalsozialistische Alternative erschien als Chance‘.“

So profitierte Oetker ab 1933 mehrfach von sogenannten Arisierungen, war daneben an verschiedenen Firmen beteiligt, die Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge ausbeuteten. Im Jahr 1937 wurde Oetker als eines der ersten Unternehmen als „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet.

Wie Tügel feststellt, gab die Familie die Studie des Historikers Wirsching erst in Auftrag, als es für ernsthafte Entschädigungszahlungen längst zu spät war. Am Schluss ihres Artikels resümiert die Journalistin: „Den Oetkers geht es heute wirtschaftlich sehr gut – und ihre ‚Aufarbeitung‘ wurde in der Tat vielfach anerkennend rezipiert. In verschiedenen Rankings der reichsten Deutschen landet die Oetker-Familie mit einem Vermögen von geschätzten sieben Milliarden Euro stets auf einem der vorderen Plätze. Die Oetker-Gruppe erzielt Unternehmensangaben zufolge zudem einen Jahresumsatz von 7,4 Milliarden Euro, 34.000 Menschen arbeiten für den Konzern. Dass dieser wirtschaftliche Erfolg nicht zuletzt auf der engen Zusammenarbeit mit dem NS aufbaut, gerät vor lauter Pudding und Verklärung zum Traditionsunternehmen allzu oft in Vergessenheit.“

Anmerkung: In weiteren Teilen der Serie geht es um die Familie Quandt/Klatten, das Schaeffler-Imperium, die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG und die Unternehmerfamilie Reimann. 

 

Quelle:

Nelli Tügel: „[Deutschlands brutalste Familienclans V]: Oetker: Backpulver, Pudding, Waffen-SS und Zwangsarbeit“, The Lower Class Magazine, 9. März 2021

https://lowerclassmag.com/2021/03/09/deutschlands-brutalste-familienclans-v-oetker-backpulver-pudding-waffen-ss-und-zwangsarbeit/

„Das hässliche Gesicht des Kapitalismus“. Zwei neue Bücher über den Konzern Amazon

In der Ausgabe des Handelsblatts vom 22. Mai 2021 rezensierte Florian Kolf zwei neu erschienene Bücher über den weltweit größten Online-Versandhändler Amazon.

Nach Meinung des Wirtschaftsjournalisten hätte das vergangene Jahr für Amazon eine Zeit der „Heiligsprechung“ werden können. Denn ein großer Teil des öffentlichen Lebens war pandemiebedingt stillgelegt und der US-Konzern verfügte über die erforderlichen Warenlager und Logistik, um die Bevölkerung ausreichend versorgen zu können. Das Gegenteil sei aber eingetreten: „Mitarbeiter rebellierten gegen die Arbeitsbedingungen, Politiker forderten die Begrenzung der Macht des Konzerns, Händler auf dem Amazon Marketplace wetterten gegen die Geschäftspraktiken des Plattformbetreibers. Was war geschehen?“

Auf die Frage, warum das Unternehmen „plötzlich als hässliches Gesicht des Kapitalismus“ galt, gibt nach Auffassung des Handelsblatt-Autors das Buch „Amazon unaufhaltsam“ des amerikanischen Journalisten Brad Stone, der für das US-Wirtschaftsmagazin Bloomberg Businessweek arbeitet, die richtigen Antworten.

Kolf schreibt: „Stone liefert eine faszinierende Innenansicht des amerikanischen Tech-Konzerns, gespickt mit Details, Szenen und Anekdoten, die dem Leser ein Gefühl dafür geben, welche Kräfte dieses Erfolgsunternehmen antreiben. Er zeichnet zugleich aber auch ein schonungsloses Bild des brutalen Führungsstils von Bezos und seinen Top-Managern, die mit künstlichen Deadlines und massivem Druck Mitarbeiter regelmäßig in 80-Stunden-Wochen und häufig fast in den Wahnsinn treiben.“

Brad Stone sieht demnach den Kern des Unternehmenserfolgs im Streben nach permanenter Innovation. Konzernchef Bezos trieb offenbar in den vergangenen zehn Jahren neue Projekte mit unermüdlichem Einsatz voran – so etwa die digitale Spracherkennung Alexa.

Der zweite Teil des Buches von Stone führe aus, wie in kurzer Zeit aus einem innovativen Unternehmen einer der mächtigsten Konzerne der Welt werden konnte: „Und hier zeigt Stone, dass Konzernchef Bezos nicht nur eine kreative und technikverliebte Seite hat, sondern auch eine skrupellose, wenn es dem Erfolg dient.“ Ein Hebel für den rasanten Wachstumskurs sei das Heer von Lagerarbeitern und unterbezahlten Subunternehmern, die unter Bedingungen arbeiten, die einer an sich notwendigen Qualität kaum förderlich seien.

Das Buch des amerikanischen Autors fokussiert nach Meinung des Handelsblatt-Journalisten auf die Schattenseiten der rücksichtslosen Unternehmensexpansion. Im Verlauf der Corona-Pandemie etwa wurde Amazon vorgeworfen, Profiteur der Krise zu sein. Zugleich aber hätten sich Meldungen über unzureichende Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 – insbesondere in den Auslieferungslagern – gehäuft. Auch wenn Amazon jetzt wirtschaftlich so gut wie nie zuvor dastehe, sei das Image des Unternehmens deutlich ramponiert.

Als perfekte Ergänzung zu „Amazon unaufhaltsam“ bezeichnet Florian Kolf das jüngst auf Deutsch erschienene Buch „Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon“ von Alec MacGillis. Das Werk lege den Schwerpunkt darauf, die regionale Ungleichheit und den zunehmenden Konzentrationsprozess der US-Wirtschaft am Beispiel der Entwicklung Amazons zu analysieren.

Kolf schreibt über MacGillis‘ Buch: „Der preisgekrönte Journalist ist dafür durchs Land gereist, hat mit Bandarbeitern, Kleinunternehmern, Künstlern, Aktivisten, Politikern und Lobbyisten gesprochen. Das Buch ist in einem packenden Reportage-Stil geschrieben und zeigt an vielen Beispielen, wie sich die Gesellschaft immer stärker verändert, wie sich das Land spaltet – und welchen Anteil Amazon daran hat. Für Amazon sind die Ergebnisse seiner Recherchen wenig schmeichelhaft: Er listet genau auf, welche Steuererleichterungen der Konzern mit den Milliardengewinnen hinter verschlossenen Türen aushandeln konnte, wie er Kommunen gegeneinander ausspielte, unter welchen Bedingungen die Arbeiter in den Auslieferungszentren arbeiten, wie Einzelhändler unter dem Druck des Riesen aufgeben mussten.“

In einer Buchkritik des DeutschlandfunkKultur legt die Rezensentin Vera Linß den Schwerpunkt auf die These von MacGillis, dass der Erfolg von Amazon den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den USA bedrohe. Die Spaltung des Landes, die Trump viele Wähler gebracht habe, gehe weiter. Bis 2030 würden laut einer Analyse des McKinsey Global Institute 25 Metropolen weiter boomen, 54 US-Städte und mehr als 2.000 Landkreise hingegen wirtschaftlich abgehängt. Schuld an dieser Ungleichheit, so zitiert der DeutschlandfunkKultur den US-Investigativ-Journalisten, sei die ungebremste Konzentration von Marktmacht des Konzern Amazon. Das Fazit von MacGillis lautet: Amerika steht im Schatten des Onlineriesen. Denn dessen Dienstleistung krempelt die amerikanische Wirtschaft radikal um. 76.000 Arbeitsplätze vernichtet Amazon jährlich im Einzelhandel, doppelt so viele, wie es selbst geschaffen habe.

In der Süddeutsche Zeitung schreibt Felix Ekardt, dass in „Ausgeliefert“ von MacGillis Amazon auch als Metapher für die großen IT-Konzerne und die globalisierte Wirtschaft steht, die in der Corona-Lockdown-Gesellschaft noch mächtiger geworden sind. Das Buch reihe Beispiel an Beispiel, man erfahre von kleinen Buchhändlern, die – von Amazon Marketplace bedrängt – zwar mehr Kunden erreichen würden, während zugleich aber ihre Gewinnspannen schrumpfen.

In einer Besprechung des eingangs genannten Buches „Amazon unaufhaltsam“ von Brad Stone im MDR wird betont, dass Stone die vergangenen Jahre des Konzerns detailliert nachzeichne: „Wie entstand Amazons Sprachassistent Alexa, warum sind Amazons Smartphones ein Flop gewesen, wie geht es mit dem Konzern weiter, wenn der Chef im Juli abtritt?“ Stone wird zitiert: „Amazon reagiert allergisch auf organisierte Arbeiterschaft. Das war schon immer so. Es beginnt mit Jeff Bezos. Er will nicht, dass eine eingefahrene und verärgerte Belegschaft seine Flexibilität einschränkt. Sie versuchen darum herumzutanzen, aber sie sind gewerkschaftsfeindlich. Eine Sache, die sie tun, wenn Arbeiter sich organisieren – sie verlangsamen das Wachstum in einem Land und liefern Produkte aus anderen Ländern. Das haben wir in Deutschland schon gesehen, wo sie einige Fulfillment Centers vorübergehend geschlossen und Produkte aus Polen eingeführt haben. Sie spielen also mit harten Bandagen.“

„Und das wird sich wohl auch nicht ändern“, wie der Redakteur der Sendung abschließend bemerkt, „wenn der Amazon-Chef nicht mehr Jeff Bezos heißt.“

Quellen:

Florian Kolf: „Kreativ und rücksichtslos: Die Geheimnisse des Erfolgs von Amazon – und die Schattenseiten“, Handelsblatt (Online) vom 22. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/analyse-kreativ-und-ruecksichtslos-die-geheimnisse-des-erfolgs-von-amazon-und-die-schattenseiten/27208618.html

Vera Linß: „Wie Amazon die USA spaltet“, DeutschlandfunkKultur, Buchkritik vom 7. Mai 2021

https://www.deutschlandfunkkultur.de/alec-macgillis-ausgeliefert-wie-amazon-die-usa-spaltet.950.de.html?dram:article_id=496687

Felix Ekardt: „Supermarkt für Ungleichheit“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 13. April 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/amazon-macgillis-1.5260717

MDR aktuell: Buchkritik zu „Amazon unaufhaltsam“ von Brad Stone vom 29. Mai 2020

https://www.mdr.de/mdr-aktuell-nachrichtenradio/audio/audio-1750114.html

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam. Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft.
Ariston, München 2021, 544 Seiten, 26 Euro

Alec MacGillis: Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon.
S. Fischer, Frankfurt 2021, 448 Seiten, 26 Euro

 

Aggressive Steuerparadiese mitten in Deutschland

Das ARD-Magazin „Panorama“ berichtete am 20. Mai 2021 über einen ganz legalen Steuerwettbewerb zwischen deutschen Kommunen. Denn die können die Höhe der Gewerbesteuer frei festlegen. In Deutschland gibt es mindestens elf Kommunen, die Firmen mit besonders niedrigen Steuersätzen anlocken. Die Reportage verdeutlicht das am Beispiel der Kleinstadt Zossen in Brandenburg. Während in Berlin rund 14 Prozent Gewerbesteuern auf Gewinne fällig werden, fordert Zossen nur rund 9 Prozent. Bis Anfang des Jahres galt dort sogar nur der gesetzliche Mindestsatz von 7 Prozent. Firmen nutzen das Steuergefälle offenbar im großen Stil aus. Christoph Trautvetter vom „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ bezeichnet den etwa 20 Kilometer südlich der Berliner Stadtgrenze gelegenen Ort als eine „typische und aggressive Gewerbesteueroase“. Unternehmen, die von der Geschäftstätigkeit eher nach Berlin gehörten, würden in Zossen ihre Gewerbesteuer zahlen.

Laut Panorama haben etwa 2.500 Firmen in der Kleinstadt ihren Firmensitz angemeldet. Andere Kommunen klagen dagegen über sinkende Einnahmen und den Wegzug von Firmen. Vor allem wenn die nicht wirklich weg sind, sondern weiterhin die öffentliche Infrastruktur nutzen, Steuern aber eben woanders zahlen.

Die zuständigen Finanzämter scheinen jedoch kein Interesse daran zu haben, gegen dieses Modell vorzugehen. So zeigen die Recherchen des Fernsehteams in Zossen, dass bisher offensichtlich keine Prüfung des Finanzamts vor Ort stattgefunden hat. Weil ansonsten wohl der Kommune und dem Land Steuereinnahmen verloren gehen würden. Auf Nachfrage von Panorama sieht das Bundesfinanzministerium keinen Handlungsbedarf, denn Kommunen könnten mit Gewerbesteuer Standortnachteile ausgleichen. Ein Steuerrechtsexperte erklärte dagegen gegenüber dem TV-Magazin, dass die Vorspiegelung einer Betriebsstätte, die es tatsächlich nicht gibt, in den Bereich der Steuerhinterziehung führt.

Quellen:

Annette Kammerer/Caroline Walter: „Steueroasen in Deutschland: Scheinbüros fürs Finanzamt“, ARD-Magazin „Panorama“ vom 20. Mai 2021

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/Panorama-vom-20-Mai-2021,panorama11584.html

Bernd Müller: „Im Offshoreparadies“, junge Welt vom 25. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/402963.spekulantenparadies-brd-im-offshoreparadies.html

 

Die Krisengewinner und ihr Geld

Dass die Covid-19-Pandemie von einer ungewöhnlich heftigen Wirtschaftskrise flankiert wird, deren Höhepunkt noch längst nicht erreich ist, pfeifen mittlerweile sämtliche Spatzen von den Dächern. Und bekanntlich gibt es in jeder Krise Gewinner und Verlierer.

Das in den USA ansässige Wirtschaftsmagazin Forbes erstellt regelmäßig Listen der reichsten Menschen der Welt. Mit knapp 190 Milliarden US-Dollar reichster Mensch ist nach der aktuellen Liste derzeit wieder Jeff Bezos, Gründer und Inhaber des Internetkonzerns Amazon. Wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Politik, wegen Lohndumpings und miserabler Arbeitsbedingungen in seinen Unternehmen steht Bezos seit Jahren heftig in der Kritik. Im Verlauf der Krise konnte er sein Vermögen deutlich vergrößern, allein seit Januar dieses Jahres um 10 Milliarden USA-Dollar.

Das nicht gerade als linkes Kampfblatt bekannte Manager Magazin hat kürzlich den Krisengewinnern einen Artikel gewidmet. Insgesamt hätten, schreibt die Zeitschrift, „die Vermögen in Milliardärskreisen rund um den Globus“ ungeachtet der Krise „tendenziell sogar noch zugelegt, und zwar enorm“. Zuletzt seien „weltweit insgesamt 2755 Milliardäre“ gezählt worden, „660 mehr als noch vor einem Jahr“. Das Gesamtvermögen dieser Superreichen belaufe sich „inzwischen auf 13,1 Billionen Dollar. Ein Jahr zuvor waren es noch acht Billionen Dollar.“

Was aber macht diese Kaste der Superreichen mit ihrem Geld? Wie die Zeitschrift meint, boome gegenwärtig der Markt für Luxus-Jachten. Was sogar eine Logik hat: Ist man als Milliardär doch auf hoher See erstens vor dem Virus geschützt und muss sich zweitens nicht mit lästigen Anti-Pandemie-Verordnungen staatlicher Behörden herumärgern. Die größte Jacht der Welt, so heißt es im Manager Magazin weiter, lasse jetzt ausgerechnet Jeff Bezos bauen, geschätzter Kostenpunkt 500 Millionen US-Dollar.

Quellen:

Imöhl, Sören: „Forbes-Liste: Die zehn reichsten Menschen der Welt“ vom 21.05.2021, abgerufen am 25.05.2021, 12.00 Uhr

https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/forbes-liste-die-zehn-reichsten-menschen-der-welt/ar-BB1gUrNu

„Superreiche im Yachten-Kaufrausch“, Manager Magazin vom 20.05.2021, abgerufen am 20.05.2021, 17.20 Uhr

https://www.manager-magazin.de/lifestyle/yachten-fuer-superreiche-jeff-bezos-und-co-im-kaufrausch-a-84d41891-5cc6-47c5-a540-7f1ab3b6c74c

Krisengewinnler: Neues von Amazon und Vonovia

Wie die aktuellen Quartalszahlen belegen, gehören zu den Gewinnern der Coronakrise Tech-Unternehmen und Wohnimmobilienkonzerne.

Vonovia als Klimaretter

Am 4. Mai 2021 stellte Deutschlands größter Wohnungskonzern Vonovia in Bochum seinen neuesten Quartalsbericht vor. Die junge Welt kommentierte diesen am Tag darauf:

„Gute Nachrichten für Aktionäre: Der Gesamtumsatz stieg im Vorjahresvergleich um fast 15 Prozent auf 1,15 Milliarden Euro. Kurzum: Der Konzern bleibt Krisengewinnler und kassiert weiter bei Mietern ab. Die politisch Verantwortlichen hierzulande haben bisher wenig unternommen, Mieterrechte zu stärken. Was soll da auch schiefgehen? Um den Profit bei Vonovia zu maximieren, braucht es wenig Talent, selbst schlechte Manager schaffen das. Oder wie es der Konzernchef Rolf Buch am Dienstag ausdrückte: Man verfüge über ein ‚stabiles, langweiliges Geschäftsmodell‘“.

Das Handelsblatt unterstreicht, dass Vonovia seine Bemühungen zum Klimaschutz vorantreiben würde. Im vergangenen Jahr habe der Konzern verkündet, bis 2050 einen klimaneutralen Gebäudebestand anzustreben. Dafür sollen unter anderem durchschnittlich rund drei Prozent des Bestandes pro Jahr energetisch saniert werden. Der Titel des Quartalsberichts lautet denn auch „Klimastrategie und soziale Verantwortung“.

Die junge Welt dazu:

„(..) ‚sozial‘ war Vonovia zuletzt nie: Mieterhöhungen, falsche Abrechnungen, Union Busting – das volle Programm. Auch der ‚Klimaschutz‘ ist pure Augenwischerei. Es geht darum, mit Modernisierungen Mieten zu erhöhen. Wenn diese als Klimaschutz ausgewiesen werden, können staatliche Fördertöpfe angezapft werden. Unterm Strich geht es um das Wohl der Aktionäre, nicht um Klima- oder Gerechtigkeitsfragen.“

Quellen:

Philipp Metzger: „„Wohnkonzern als PR-Abteilung“, junge Welt vom 5. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/401820.immobilienwirtschaft-wohnkonzern-als-pr-abteilung.html

Kerstin Leitel: „Vonovia startet mit Gewinnplus ins Jahr – Kein Ende des Booms am Immobilienmarkt in Sicht“, Handelsblatt vom 4. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/quartalszahlen-vonovia-startet-mit-gewinnplus-ins-jahr-kein-ende-des-booms-am-immobilienmarkt-in-sicht/27156590.html

 

Amazon – hohe Umsätze, keine Körperschaftssteuern

Auch im ersten Quartal 2021 profitierte der weltweit größte Versandhändler davon, dass die Konsumenten in der Corona-Pandemie so viel wie nie zuvor auf der Plattform des Versandhändlers einkaufen. Zwischen Januar und März konnte deshalb Amazon seinen Umsatz um 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 108,5 Milliarden Dollar steigern. Der Gewinn kletterte in dieser Zeit auf 8,1 Milliarden Dollar – um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. (vgl. Handelsblatt vom 29. April 2021)

Inzwischen beschäftigt das Unternehmen weltweit etwa 1,3 Millionen Mitarbeiter*innen. Seine Personalpolitik steht dabei immer wieder in der Kritik. Die Gewerkschaft Verdi fordert etwa in Deutschland seit Jahren die Einführung eines Tarifvertrags – „Amazon hält dagegen und rechnet vor, mit Stundenlöhnen von mindestens 11,30 Euro und Zusatzleistungen ohnehin branchenüblich zu zahlen“ (Börsenblatt vom 30. April 2021).

Amazon erzielt also Rekordumsätze, zahlt aber an seinem europäischen Sitz in Luxemburg keine Körperschaftssteuer. Simon Zeise bemerkte dazu in der jungen Welt vom 5. Mai 2021 sarkastisch:

„In der EU hat der Onlineriese im vergangenen Jahr einen Rekordumsatz in Höhe von 44 Milliarden Euro erzielt – und dafür am Firmensitz in Luxemburg nicht einen Cent Steuern abdrücken müssen. (…) Weil das arme Unternehmen 2020 einen Verlust in der Luxemburger Filiale von 1,2 Milliarden Euro ausgewiesen hat, stellt ihm das Herzogtum eine Steuergutschrift von 56 Millionen Euro zur Verfügung. Die kann Amazon verrechnen, wenn mal wieder bessere Zeiten kommen und auch in Luxemburg Profite erzielt werden.“

Diese Informationen beruhen auf einem Bericht der britischen Tageszeitung The Guardian. Danach betonte ein Sprecher von Amazon, dass der Konzern „alle verlangten Steuern in allen Ländern, in denen wir agieren“ bezahle. Die Körperschaftsteuer basiere nicht auf Umsätzen sondern auf Gewinnen, und die seien aufgrund großer Investitionen und niedriger Gewinnspannen im Einzelhandel gering ausgefallen.

Das Bundeskabinett beschloss übrigens Ende März den Entwurf eines sogenanntes „Steueroasen-Abwehrgesetz“. Dieses soll nicht kooperative Staaten dazu anhalten, gezielten Abwehrmaßnahmen gegen Steuervermeidung treffen und dadurch internationale Standards im Steuerbereich umzusetzen. Grundlage für das Gesetzesvorhaben ist die Schwarze Liste der EU zu Steueroasen. Auf eine entscheidende Schwachstelle weist ein Kommentar des Neuen Deutschland hin:

„Zwölf Länder stehen drauf, doch bis auf Panama ist keins davon eine relevante Steueroase. Stattdessen fehlen wichtige Standorte für Briefkastenfirmen und Schwarzgeld, etwa die britischen Überseegebiete. So wird das Gesetz kaum einen Steuersünder kratzen, weil er sein Geld nicht im falschen Land parkt. Schon gar nicht tauchen auf der Liste innereuropäische Steueroasen wie Luxemburg oder Irland auf. Solche Länder spielen aber eine entscheidende Rolle bei der Steuervermeidung durch große Konzerne. Sonderlich viel wird der Vorstoß von Scholz also nicht bringen, vielmehr wird er sich als sozialdemokratischer Papiertiger erweisen.“

Das Vermögen von Amazon-Gründer Jeff Bezos konnte derweil die Marke von 200 Milliarden Dollar knacken. Vor rund einem Jahr waren es noch etwa 140 Milliarden Dollar (Manager-Magazin vom 3. Mai 2021).

Quellen:

Simon Zeise: „Gewinneverschieber des Tages: Amazon“, junge Welt vom 5. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/401834.gewinneverschieber-des-tages-amazon.html

Marie-Astrid Langer: „Amazon wächst dank Online-Shopping und Cloud-Computing“, Handelsblatt vom 29. April 2021 (Online)

https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/quartalszahlen-amazon-waechst-dank-online-shopping-und-cloud-computing-/27146416.html?ticket=ST-240727-aQrOQ7FDCp4kbAn7z0W0-ap6

„Corona sorgt für Rekorde bei Amazon“, Börsenblatt vom 30. April 2020 (Online)

https://www.boersenblatt.net/news/corona-sorgt-fuer-rekorde-bei-amazon-175381

„Milliardäre und Großverdiener: Das sind die (Tech-)Gewinner der Corona-Krise“, Manager-Magazin vom 3. Mai 2021 (Online)

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/tech/jeff-bezos-colin-huang-ma-huateng-das-sind-die-tech-gewinner-der-corona-krise-a-7b24049b-b6e9-43c1-b676-49cc56366f77

Rupert Neate: „Amazon had sales income of €44bn in Europe in 2020 but paid no corporation tax“, The Guardian vom 4. Mai 2021 (Online)

https://www.theguardian.com/technology/2021/may/04/amazon-sales-income-europe-corporation-tax-luxembourg

Simon Poelchau: „Sozialdemokratischer Papiertiger“, Neues Deutschland vom 31. März 2021

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150305.steueroasen-sozialdemokratischer-papiertiger.html

Wie die Europäische Union extreme Ausbeutung organisiert

Politische Vertreter*innen in der EU pochen offiziell gerne und mit Nachdruck auf die Einhaltung der Menschenrechte für erwerbsarbeitende Menschen in anderen Regionen der Welt. Ausgeblendet wird dabei, dass Arbeitnehmer*innen auch innerhalb der EU millionenfach und weitgehend unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle in extremer Form ausgebeutet und gedemütigt werden.

Dieses „große Tabu“ bildet den Ausgangspunkt des bereits im Herbst 2020 erschienenen Buches „Imperium EU“ des Kölner Publizisten Werner Rügemer. Seine These lautet: Die Ausbeutung, Entrechtung, Verunsicherung und Verarmung abhängig Beschäftigter wird von den dominierenden Institutionen der EU zielgerichtet organisiert, zugleich von den herrschenden Medien „komplizenhaft“ verschwiegen und damit auch der politischen Rechtsentwicklung in Europa entscheidend Vorschub geleistet (Seite 31ff.). Genau dieser Zusammenhang, so der Autor, bleibt in der verbreiteten Kritik an der EU zumeist unberücksichtigt.

Im ersten Teil des Buches beschreibt Rügemer, wie rechtlich fixierte Arbeitsbedingungen und menschenrechtlich geforderte Normen nicht nur für Millionen von Wanderarbeiter*innen massenhaft straflos verletzt werden können – sowohl von den westeuropäischen Gründungsmitgliedern der EU als auch in den neuen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans. Der Autor verfolgt die Ursprünge des Arbeitsunrechts bis in die Vorstufen der EU in den 1950er Jahren (Montanunion, EG, EWG) zurück. So wurden etwa nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der von den USA initiierten Montanunion grenzüberschreitend europäische Kohle- und Stahlkonzerne mit billigen Arbeitskräften versorgt. Die EU trieb dann auch in der Folgezeit die Prekarisierung der Erwerbsarbeit und deren Verrechtlichung Zug um Zug voran.

Rügemer analysiert weiter die wichtigsten verantwortlichen Institutionen, die „heutige Kapital-Bürokratie“ (Seite 111). Vor allem die Europäische Kommission mit ihren 32.000 Beamten steht im Zentrum seiner Kritik. Denn hier, und nicht im weitgehend ohnmächtigen EU-Parlament, laufen die politischen Fäden zusammen. Nicht umsonst lieben die „professionellen Heuchler der Unternehmerlobby, (…) die ansonsten überall gegen ‚zu viel Bürokratie‘ polemisieren und für ‚Bürokratieabbau‘ kämpfen“, (…) die größte Bürokratie in Europa herzinnigst!“ – wie Rügemer süffisant feststellt. (Seite 114)

Er geht im Folgenden auf die Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen ein, die direkt und indirekt in die Arbeitsverhältnisse eingreifen, um sie im Sinne der Unternehmer zu gestalten. Als Instrumente führt Rügemer Privatisierungen und Subventionen (ohne jede Auflage für Arbeitsrechte) an, aber auch die EU-Richtlinien zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und des Arbeitsrechts. Vor allem der „führende ArbeitsUnrechts-Staat in der EU“ (Seite 137), die Bundesrepublik Deutschland, sei führend darin, Richtlinien zu ignorieren. Wenn sich der Europäische Gerichtshof EuGH mit arbeitsrechtlichen Konflikten befasst, fallen die Urteile nur in seltenen Fällen zugunsten der abhängig Beschäftigten aus – und auch diese werden zumeist nicht umgesetzt. (Seite 154) Einen zentralen Grund dafür nennt der Autor: „Die EU übt keine Kontrolle auf dem Gebiet der Arbeitsrechte aus. Sie überlässt die Kontrolle den nationalen Arbeits- und Gewerbeaufsichten, wohl wissend und duldend, dass diese wie Zoll, Gewerbe- und Gesundheitsaufsicht in Deutschland personell unterbesetzt sind.“ (Seite 140)

Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Autor in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Kämpfe von Betroffenen in den einzelnen Mitglieds-, Anwärter- und assoziierten Staaten der EU (unter anderem in Großbritannien, Deutschland, den Benelux-Staaten, dem Baltikum, Kroatien, Ungarn, Skandinavien, der Schweiz und Nordmazedonien). Estland, Lettland und Litauen gelten zum Beispiel als die im neoliberalen Sinne am meisten umgekrempelte Region in der EU (Seite 275ff.). Alle drei Länder befinden sich, so Rügemer, im Griff der USA und der NATO. Sie dienen als digitale Zulieferer für ausländische Investoren, zugleich florieren dort Geldwäsche und Schattenwirtschaft. Litauen bezeichnet der Autor als eine steuerbefreite Sonderwirtschaftszone, in der Unternehmer willkürlich herrschen können, da es dort praktisch keine Branchentarifverträge gibt. Als positiven Lichtblick verweist Rügemer auf Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst der drei baltischen Staaten, insbesondere bei Lehrer*innen, Ärzt*innen und Beschäftigten der Kindergärten.

In einer Besprechung des Buches in der sozialistischen Wochenzeitung UZ (Unsere Zeit) vom Dezember 2020 kritisiert der Jurist und Autor Rolf Geffken, dass Rügemers zentraler Begriff des Arbeitsunrechts „merkwürdig unklar und wenig erhellend“ sei und die Leserschaft am Ende ratlos zurückließe. [1] Er bezieht sich dabei auf verschnörkelt wirkende Formulierungen wie etwa: „EU – das bedeutet weltweit verrechtlichtes und auch außerrechtliches ArbeitsUnrecht“ (Seite 132). In seinem Buch misst Rügemer das von ihm so bezeichnete „ArbeitsUnrecht“ aber tatsächlich an der Umsetzung der universellen Menschenrechte der UNO sowie der Kriterien, die von der International Labor Organisation (ILO) vorgegeben werden. In einem früheren Text bezieht der Autor allerdings als Maßstab für Recht und Unrecht auch das geltende materielle Arbeitsrecht mit ein. [2] Insofern ist die Kritik nachvollziehbar.

Die von Geffken bemängelte fehlende scharfe Kontur des Begriffs liegt aber offensichtlich darin begründet, dass die Unterscheidung von legalen, kriminellen und lediglich moralisch zu verurteilenden Handlungen in der Arbeitswirklichkeit in der Praxis oftmals nur schwer möglich ist. Dazu ein weiteres Zitat von Rügemer:

„Kein Bereich des Rechts in der EU kennt ein solches verrechtliches Unrecht und ein solches Vollzugsdefizit und eine solche Grau- und Dunkelzone der systemischen Illegalität – außer vielleicht beim sexuellen Missbrauch in der für ein solches Unrechtssystem systemrelevanten katholischen Kirche.“ (Seite 32)

Diese von den Instanzen der EU absichtsvoll komplex und unübersichtlich konstruierte rechtliche Regulierung der abhängigen Arbeit ermöglicht es letztlich Politik und Kapital, menschenunwürdige Niedriglohnarbeit weitgehend reibungslos zu organisieren.

Rügemer hat mit seinem „Imperium EU“ ein beeindruckendes, detailliert recherchiertes Handbuch zum Klassencharakter der EU vorgelegt. Dabei handelt es sich ausdrücklich nicht um ein nüchtern verfasstes juristisches Lehrbuch – vielmehr beschreibt der Autor kämpferisch und oft polemisch zugespitzt die „Lage der arbeitenden Klasse in der EU“ und motiviert damit nicht zuletzt zum widerständigen Handeln gegen die vielfältigen Mechanismen des „ArbeitsUnrechts“ mitten in Europa.

 

Anmerkungen:

[1] Rolf Geffken: „Zerstörung des Normalen. Der Kampf ums Arbeitsrecht ist Klassenkampf“, UZ vom 24. Dezember 2020

https://www.unsere-zeit.de/trashed-6-139756/

[2] Werner Rügemer: „Unternehmer als straflose Rechtsbrecher“, BIG Business Crime Nr. 4/2017, Seite 28

Werner Rügemer: Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, Neue Gegenwehr. Köln 2020, PapyRossa, 319 Seiten, 19,90 Euro