Die Höhe der Grundsicherung („Hartz IV“) deckt offiziell das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum ab und liegt zurzeit für einen allein lebenden Erwachsenen bei 424 Euro (432 Euro ab 2020), plus Kosten für Unterkunft und Heizung. Doch allein im Jahr 2018 verhängten die Jobcenter knapp über 900.000 Sanktionen und stürzten damit hunderttausende Leistungsbeziehende in eine materielle (und häufig psychische) Notlage. Fast 15 Jahre nach Einführung des Hartz-IV-Regimes urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 5. November 2019 endlich über die Zulässigkeit der Hartz-IV-Sanktionen.
Zunächst, worum geht es? Lehnt bislang ein Erwerbsloser ein Jobangebot oder eine Maßnahme ab, werden die Leistungen um 30 Prozent gekürzt, im Wiederholungsfall um 60 Prozent, bei weiterer Weigerung entfällt die Leistung ganz, samt Wohn- und Heizkosten. Verhängte Sanktionen gelten dabei immer drei Monate. Wer ohne überzeugenden Grund einen Meldetermin versäumt, verliert zehn Prozent des monatlichen Regelsatzes (diese Fälle machen 77 Prozent aller Sanktionen aus). Bei Menschen unter 25 Jahren wird noch härter durchgegriffen. Ihnen droht schon beim ersten Verstoß die Totalsanktionierung.
Die besonders scharfen Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren waren jedoch nicht Teil des Verfahrens in Karlsruhe. Für alle anderen entschied das Gericht nun, dass Kürzungen von 60 Prozent und mehr nicht weiter zumutbar sind. Derartige drastische Kürzungen darf es ab sofort nicht mehr geben, 30 Prozent und weniger sind dagegen weiterhin erlaubt (in der Folge sind mit der Entscheidung aber offensichtlich auch für die Gruppe der jungen Leistungsbeziehenden Kürzungen um mehr als 30 Prozent Vergangenheit).
Die Verfassungsrichter/innen erklärten die Sanktionen damit zwar nur für teilweise verfassungswidrig, ernteten dafür aber auch in kritischen Kreisen Zustimmung. So begrüßte etwa das Bündnis „Auf Recht Bestehen“, getragen unter anderen von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, dem Bundeserwerbslosenausschuss ver.di, dem Erwerbslosenforum Deutschland, dem Frankfurter Arbeitslosenzentrum (FALZ) und der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), in einer ersten Stellungnahme das Urteil, „wonach die bestehende Sanktionsregelung zum großen Teil als verfassungswidrig anzusehen ist und in der bestehenden Form nicht mehr angewendet werden darf“. Das Bündnis fordert allerdings nach wie vor die Abschaffung des gesamten Sanktionssystem im SGB II.
Das Problem für Betroffene und Gegner des Zwangsapparats „Hartz IV“: Das Gericht bestätigte durch sein Urteil grundsätzlich, dass die Richtwerte des soziokulturellen Existenzminimums für „unkooperative“ Hartz-IV-Beziehende weiterhin abgesenkt werden dürfen. Im Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 zur Bemessung eines menschenwürdigen Existenzminimums hatte es dagegen noch geheißen: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ (Az. 1 BvL 1/09)
Die vielzitierte Menschenwürde scheint demnach keineswegs absolut zu gelten und sehr wohl einer Abwägung zugänglich zu sein. Christoph Butterwegge, Ex-Professor für Politikwissenschaft an der Uni Köln, analysierte am 5.11.2019, noch vor dem Urteilsspruch, im Neuen Deutschland („Ohne Sanktionen kollabiert das Hartz-IV-System“) dessen gesellschaftspolitischen Kontext:
„Mit seiner Entscheidung in der Sache hat sich Karlsruhe sehr viel Zeit gelassen, was nicht zuletzt ihrer enormen Tragweite geschuldet sein dürfte. Tatsächlich handelt es sich politisch um ein heißes Eisen, denn Hartz IV bildet das Herzstück des neoliberalen Wohlfahrtsstaates, und die Sanktionen bilden das Herzstück von Hartz IV. Schon ihre Androhung gleicht Daumenschrauben, die Hartz-IV-Betroffene gefügig machen sollen. Ohne die Sanktionen wäre Hartz IV daher ein zahnloser Tiger. Würden die Sanktionen verworfen, könnte das System insgesamt kollabieren. Mit den Sanktionen fielen nach Art eines Dominoeffekts womöglich auch die übrigen Bausteine des bestehenden Arbeitsmarktregimes.“
Fazit: Trotz der nach dem Urteil des BVerfG umzusetzenden Abmilderungen der bisherigen Sanktionspraxis bleiben unterm Strich „15 Jahre Verfassungsbruch“, wie die junge welt am 6. November 2019 einen Artikel zum Thema betitelte. Und ein Ende ist nicht abzusehen.