Organisierte Kriminalität als Profiteur der Corona-Krise (Teil 2)

Nach Auffassung des Generalstaatsanwalts von Siziliens Hauptstadt Palermo, Lo Voi, nimmt die Organisierte Kriminalität (OK) nicht nur Italien, sondern ganz Europa ins Visier, um in Zeiten der grassierenden Covid-Pandemie das große Geschäft zu machen. Die Mafia sei daran interessiert, sich „die Wirtschaft einzuverleiben“, wie es Italiens Antimafia-Staatsanwalt Federico Cafiero De Raho formuliert. Gemeint ist damit unter anderem, dass Organisationen wie die ’Ndrangheta die aktuelle Gelegenheit vor allem dazu nutzen wollen, ihre Gelder zu waschen. Die Mafia will außerdem ihre Aktivitäten in Branchen verstärken, die vom Corona-Lockdown besonders betroffen sind: im Transportgeschäft, Großhandel, Gaststättengewerbe und Tourismus.

In einem Beitrag des Nachrichtensenders n-tv vom 11. April 2020 heißt es dazu:

„Dabei bewegt sie sich gleichzeitig auf drei Ebenen, auf der lokalen, der nationalen und der internationalen. Auf lokaler Ebene bedeutet das, sich als Wohltäter zu stilisieren und Geschäftsinhabern zum Beispiel Überbrückungskredite zu gewähren. Angeblich aus reiner Nächstenliebe. Doch irgendwann wird daraus Wucher oder es werden Gefälligkeiten abverlangt. Auf noch niedrigerer Ebene heißt es, denen unter die Arme zu greifen, die normalerweise von Schwarzarbeit leben und jetzt nicht einmal mehr das Geld haben, um Lebensmittel einzukaufen. Wo der Staat zu langsam handelt, sind Cosa Nostra, ’Ndrangheta oder Camorra zur Stelle. Und das stärkt natürlich die Loyalität der Hilfebedürftigen gegenüber den Mafiosi.“

Generalstaatsanwalt Lo Voi unterstreicht, dass die Mafia erfahrungsgemäß bei jeder Krise sofort zur Stelle ist, auch auf internationaler Ebene. Gesetze und Kontrollmaßnahmen mit Blick auf Geldflüsse und Investitionen seien deshalb nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa zu verschärfen ‒ vor allem bei öffentlichen Ausschreibungen.

Die Corona-Krise erschwert zugleich den Kampf gegen die OK. So verweist der Staatsanwalt in Kalabrien, Nicola Gratteri, darauf, dass hunderte Prozesse gegen mutmaßliche Mafiosis zum Stillstand gekommen seien. Seit dem Beginn der Pandemie werden in Italien offenbar nur noch die dringendsten Prozesse weitergeführt.

Quellen:

Andrea Affaticati: „Einmalige Geldwäsche-Möglichkeit. Mafia wird in ganz Europa einkaufen“, n-tv 11. April 2020

https://www.n-tv.de/panorama/Mafia-wird-in-ganz-Europa-einkaufen-article21707786.html

 „Mafia will von Corona-Krise profitieren“, n-tv, 1. April 2020
https://www.n-tv.de/panorama/Mafia-will-von-Corona-Krise-profitieren-article21684306.html 

 

 

 

 

 

Organisierte Kriminalität als Profiteur der Corona-Krise (Teil 1)

Auch die Organisierte Kriminalität (OK) reagiert auf die Corona-Pandemie: Da bestimmte Geschäftsfelder wie Drogenhandel und Prostitution derzeit nicht funktionieren, orientieren sich organisiert Kriminelle um. Sie versuchen, aus der Krise Profit zu schlagen.

Nach Angaben von Oliver Huth vom Bund Deutscher Kriminalbeamter ziehen beispielsweise die Milliarden-Förderprogramme von Bund und Ländern das organisierte Verbrechen an: „Wir kennen das aus der Vergangenheit, da haben Kriminelle relativ schnell die entsprechenden Gesetzeslücken erkannt, um dieser Subventionen habhaft zu werden.“ (Tagesschau) Laut NRW-Innenminister Herbert Reul konnten schon zwischen 3.500 bis 4.000 gefälschte Anträge aufgedeckt werden, die „frappierend echt“ wirkten (n-tv). Huth, der beim Landeskriminalamt NRW Ermittlungsgruppen gegen die Organisierte Kriminalität leitet, geht davon aus, dass Mafiosi in Deutschland mittels Brandstiftung Versicherungsprämien kassieren (zum Beispiel werden Restaurants, die sich derzeit nicht mehr rechnen, kurzerhand angezündet). Und auch, dass die OK zum Zwecke der Geldwäsche in akut von Insolvenz bedrohten Cafés und Restaurants investiert (Tagesschau). Als weiteres Geschäftsmodell nennt Huth die illegale Müllentsorgung. Besitzer seien gerade jetzt froh, leerstehende Gebäude vermieten zu können. „Plötzlich ist die Lagerhalle voll mit Bauschutt und der Mieter verschwindet auf Nimmerwiedersehen.“ (n-tv) Zudem glaubt Huth mit „absoluter Sicherheit“, dass das Geschäft mit Wucherzinsen und Schutzgelderpressung zunehmen werde. „Egal ob Kriminelle oder unbedarfte Bürger, denen es an Geld fehlt: Sie erhalten Angebote, sich Geld gegen Wahnsinnszinsen zu leihen.“ (n-tv)

Quellen:

Thomas Schmoll: „Geldwäsche-Boom erwartet. Organisierte Kriminalität feiert gerade“, n-tv 21. April 2020

https://www.n-tv.de/politik/Organisierte-Kriminalitaet-feiert-gerade-article21729569.html

Volkmar Kabisch/Jan Lukas Strozyk/Benedikt Strunz: „Organisierte Kriminalität: Auf der Suche nach neuen Geschäften“, NDR 31. März 2020

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/organisierte-kriminalitaet-corona-101.html

Arbeiter*innen in Großbritannien trotzen Antigewerkschaftsgesetzen

 Mit Verweis auf einen aktuellen Artikel in dem linken britischen Magazin Tribune berichtet die junge Welt in ihrer Ausgabe vom 22. April 2020 von mehr als 50 spontanen Streiks, die es in den letzten Wochen in Großbritannien im Zusammenhang mit der Coronakrise gegeben haben soll. Als Gründe für diese Vielzahl an rechtswidrigen Arbeitsniederlegungen werden angeführt: fehlende Schutzausrüstung, Angriffe auf Löhne und Urlaubsansprüche sowie allgemein verschlechterte Arbeitsbedingungen. Neben dem Gesundheitswesen seien die Post, Lieferdepots großer Handelsketten und Großbaustellen betroffen.

Die Streiks sind illegal, da legale Urabstimmungen per Briefwahl erfolgen müssen. Diese sind aber zurzeit nicht möglich, weil die zu ihrer Ausführung gesetzlich vorgeschriebenen Organisationen („balloting organisations“) wegen der Corona-Pandemie nicht arbeitsfähig sind. Arbeitsrechtsexperte Gregor Gall betont in seinem Tribune-Beitrag, dass deshalb derzeit keine rechtmäßigen Streiks bzw. Arbeitskampfmaßnahmen in Großbritannien realisierbar seien.

In der jungen welt beschreibt Christian Bunke die zu den illegalen Streiks führenden unzumutbaren Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Branchen:

„Bei der Post entzünden sich die Spontanstreiks rund um die großen Zentraldepots. So wurde in Kent wegen mangelnder Desinfektionsmittel gestreikt. In Warrington legten die Postler die Arbeit nieder, weil sich ein Kollege mit SARS-CoV-2 infiziert hatte, die Leitung aber weiterarbeiten ließ, als sei nichts geschehen (…). Im Gesundheitswesen sorgt die Unfähigkeit der Regierung zunehmend für Unmut. So stecken 400.000 Einheiten von Schutzkleidung derzeit auf einem Flughafen in der Türkei fest. Die englische Gesundheitsbehörde ‚Public Health England‘ hat die Beschäftigten angewiesen, die Ausrüstung mehrfach zu verwenden, wenn nicht genügend vorhanden ist. Mehr als 50 im Gesundheitsbereich Tätige sind inzwischen an der Lungenkrankheit Covid-19 verstorben (…). Nun zirkuliert laut dem in der Baubranche sehr bekannten Aktivisten Dave Smith ‚auf allen großen Baustellen‘ ein Video, das die Arbeitsbedingungen anprangert. Hunderte Bauarbeiter würden in den kommenden Wochen sterben, weil diese zur Arbeit auf sogenannten nicht essentiellen Baustellen gezwungen würden, heißt es in dem von der Londoner Aktivistengruppe ‚Reel News‘ produzierten Kurzfilm. Von ‚individuellen Beschwerden‘ über die Zustände wird in dem Video abgeraten, weil dies schnell den Job kosten könne. Wichtig sei es, sich mit anderen zusammenzutun und Forderungen kollektiv vorzutragen. Diese Methode habe an manchen Orten bereits zu Baustellenschließungen geführt.“

Quellen:

Christian Bunke: „Streiks in Großbritannien“, junge welt, 22. April 2020

https://www.jungewelt.de/artikel/376922.gro%C3%9Fbritannien-streiks-in-gro%C3%9Fbritannien.html?sstr=streiks 

Gregor Gall: „Right Now in the UK, Strikes Are Effectively Illegal“, Tribune, 16. April 2020

https://www.tribunemag.co.uk/2020/04/right-now-in-the-uk-strikes-are-effectively-illegal

Zwischen Medienhype, staatlicher Repression und realer Bedrohung ‒ „Clans“ im Visier von Politik und Öffentlichkeit

Aktuell steht die sogenannte Clan-Kriminalität (CK) als Teil der organisierten Kriminalität (OK) verstärkt im Fokus von Polizei und medialer Öffentlichkeit. [1] Neben den um ein Vielfaches größeren Flächenländern Bayern und Nordrhein-Westfalen gilt Berlin als eine Hochburg der OK. Unabhängig von ihrer parteipolitischen Provenienz verfolgen die zuständigen Innenminister und -senatoren in den Zentren der OK eine „Null-Toleranz-Politik“ vornehmlich gegen arabische Gruppierungen. Vor allem die Boulevardpresse feiert in weiten Teilen das konsequente Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen die „Clans“. Zugleich wehren sich Kritiker*innen gegen die stigmatisierende Pauschalisierung arabischstämmiger Menschen als kriminelle Bedrohung und die von ihnen als hysterisch erlebte Berichterstattung. „In den Medien wird unser Stadtteil nur in Blaulicht gebadet gezeigt. Bilder von Polizist*innen, die junge Männer abführen, begleitet von bedrohlicher Musik und alarmistischen Überschriften zu Kriminalität und Gewalt. Die Debatte um die sogenannte Clan-Kriminalität ist gezeichnet durch Vorurteile und malt ein verzerrtes Bild von Neukölln als Gefahrenzone“, heißt es beispielsweise in einem Aufruf zu einer Kundgebung, die anlässlich einer von der Fraktion der AfD initiierten Debatte über polizeiliche Razzien Ende Februar 2020 in der Bezirksverordnetenversammlung des Berliner Bezirks stattfand.

Neben den zuletzt intensivierten öffentlichen und politischen Auseinandersetzungen soll im Folgenden auch der polizeiliche und (populär-)wissenschaftliche Diskurs zur Rolle und Bedeutung der OK bzw. krimineller „Clans“ beleuchtet werden

 

OK, Clan-Kriminalität und Mafia – eine Begriffsklärung

Sogenannte polizeiliche Lagebilder fassen mittels Statistiken und exemplarischer Falldarstellungen die zu einem bestimmten Zeitpunkt aktuellen Erkenntnisse und Entwicklungen in einzelnen Themenfeldern zusammen. Die offizielle Definition organisierter Kriminalität, die den Erhebungen für die Lagebilder im Bund und in den Ländern zugrunde gelegt wird, wurde im Mai 1990 von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Justiz und Polizei vorgelegt. Organisierte Kriminalität ist danach „die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig a) unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder c) unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.“

Nach Meinung vieler Rechtswissenschaftler*innen und Praktiker*innen zeichnet sich die Formulierung durch eine mehrfache Unschärfe aus, die sie für eine exakte Abgrenzung organisierter gegenüber nicht organisierter Kriminalität wertlos macht. Denn zur Bildung einer Gruppe organisierter Krimineller reicht bereits das arbeitsteilige Zusammenwirken von lediglich drei Personen aus. Die durch das Wort „oder“ markierten alternativen Definitionskriterien eröffnen zudem eine Vielzahl von Konstellationen, in denen OK erkennbar sein soll. Bei einer Anhörung im Bundestag im Oktober 1993 spottete denn auch der damalige Präsident des Bundeskriminalamts, Hans-Ludwig Zachert, über diese Definition, die „selbst Eingeweihten nur in glücklichen Stunden verständlich“ sei. [2] Auch die Kriminolog*innen Klaus von Lampe und Susanne Knickmeier sprechen dem Terminus einen relevanten juristischen und polizeilichen Bedeutungsgehalt ab: „Die Definition dient hauptsächlich der Klärung von Zuständigkeiten innerhalb der Strafverfolgungsbehörden sowie der Erstellung von Lagebildern. Demgegenüber ist ihre Bedeutung für die konkrete Ermittlungsarbeit, aber auch für die Gesetzgebung und Rechtsprechung eher gering.“ [3] Insofern sei es problematisch, von „der“ OK zu sprechen oder OK überhaupt als eine analytische Kategorie zu verstehen.

Der Verzicht auf eine begriffliche Eingrenzung eröffnet den Strafverfolgungsbehörden vielmehr die Möglichkeit, je nach Interessenlage Delikte willkürlich als OK zu kategorisieren oder darauf zu verzichten. Damit wird zugleich einer politischen Instrumentalisierung des Phänomens Vorschub geleistet. Von Lampe empfiehlt deshalb, den Begriff „als analytische Kategorie zu verwerfen und die als ‚organisierte Kriminalität‘ etikettierten Erscheinungen jeweils gesondert zu betrachten, ohne sich durch die Annahme eines übergeordneten Zusammenhangs, der durch den OK-Begriff suggeriert wird, den Blick auf die Dinge verstellen zu lassen“. [4]

Ebenso wenig existiert bislang eine bundesweit verbindliche Definition des Begriffs CK. Um diese aber ansatzweise greifbar zu machen, verständigten sich die Bundes- und Landesbehörden auf einzelne Zuordnungskriterien. Laut Bundeslagebericht Organisierte Kriminalität 2018 ist CK „die Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen. Sie ist bestimmt von verwandtschaftlichen Beziehungen, (…) und einem hohen Maß an Abschottung der Täter (…) Dies geht einher mit einer eigenen Werteordnung und der grundsätzlichen Ablehnung der deutschen Rechtsordnung“.  CK kann dabei einen oder mehrere der folgenden Indikatoren aufweisen: „Eine starke Ausrichtung auf die zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprägte Familienstruktur, eine mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen Konzentration, das Provozieren von Eskalationen auch bei nichtigen Anlässen oder geringfügigen Rechtsverstößen, die Ausnutzung gruppenimmanenter Mobilisierungs- und Bedrohungspotentiale“.

Im Lagebild Organisierte Kriminalität Berlin 2018 heißt es ergänzend:

„Der Phänomenbereich ist von einer in weiten Teilen der arabischstämmigen Community bestehenden Parallelgesellschaft geprägt und geht einher mit einer mangelnden Akzeptanz oder sogar Ablehnung des in Deutschland vorherrschenden Werte- und Normensystems. Vielfach treten die kriminellen Clanmitglieder mit Ordnungsverstößen und Straftaten im Bereich der Allgemeinkriminalität in Erscheinung, aber auch im Bereich der Organisierten Kriminalität.“

Kurz gesagt: BKA und LKA Berlin legen den Fokus auf eine bestimmte „Subkultur“, der arabischen, und der von ihr etablierten „Parallelordnung“, getragen von „Clans“ oder „Großfamilien“ als feste, geschlossene Gruppe. Bei der Vorstellung des neuen Lagebilds Organisierte Kriminalität des LKA für Berlin im Dezember 2019 führte Innensenator Andreas Geisel (SPD) diesen Punkt weiter aus. Nicht der Großteil der arabischen Community sei gemeint, sondern nur die Clan-Familien. Eigentlich gehörten nur Teile der „Clans“ zur OK. In diesen Großfamilien bis zu 1.000 Personen seien nicht alle kriminell, aber es gebe eine hohe Zahl von auffälligen Personen. Einige davon seien im Bereich OK unterwegs, andere würden „in der zweiten Reihe parken“ und trügen Rolex. Das sei nicht kriminell, höhle aber den Rechtsstaat aus. Barbara Slowik, Berlins Polizeipräsidentin, ergänzte, CK habe auch damit zu tun, „dass wir gegen ein Dominanzverhalten vorgehen wollen“. Gemeint seien neben dem „Parken in der zweiten Reihe“ auch Hochzeitskorsos. Das sei zwar nicht kriminell, aber da würde es „anfangen“. Auch die Großrazzien in Neuköllner Shisha-Bars und Geschäften seien keine Maßnahmen gegen OK, sondern gegen nicht akzeptable „Regelverstöße“ wie Verletzung des Immissionsschutzes oder Tabakschmuggel. [5]

„Dominanzverhalten“ und „Regelverstöße“: Die Polizeipräsidentin und der Innensenator betonen zwar unisono, dass es wichtig sei, zwischen CK und OK zu unterscheiden. Offensichtlich steht nicht der wirtschaftliche Schaden, sondern das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung im Mittelpunkt des polizeilichen und politischen Vorgehens. Der Lagebericht aus Berlin bestätigt entsprechend, dass die kriminellen Clanangehörigen mit Ordnungswidrigkeiten und Straftaten in Erscheinung treten, „die zu einem überwiegenden Teil auf den Bereich der Allgemein- und Massenkriminalität entfallen“. Aber auch Aktivitäten unterhalb der Schwelle zur Kriminalität stellen nach Auffassung der Polizeichefin und des Senators einen Angriff auf den Rechtsstaat dar.

Italienische Familien, die der klassischen Mafia zugerechnet werden, spielen dagegen in Berlin laut Lagebericht kaum eine Rolle. Denn anders als die libanesischen und andere „Clans“, als deren Markenzeichen die lautstarke Protzerei mit aufgemotzten Luxuskarossen und anderem Machogehabe gilt, bewegt sich die Mafia weitgehend außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. „Kritiker sehen darin die bewusst erklärte Stille eines kriminellen Geschäfts, das vor allem wegen dieser Ruhe prosperiert. So sei es durchaus politisch gewollt, dass die Mafia in Deutschland strukturell unterschätzt wird, damit deren Geld auch weiterhin in den deutschen Wirtschaftskreiskauf fließt.“ [6] Das in der offiziellen OK-Definition zuletzt genannte Kriterium, also die Einflussnahme auf staatliche Institutionen oder die Medien, fehlt bei dem Phänomen der CK. Es ist hingegen charakteristisch für die Mafia in Italien, die bis in die höchsten politischen Kreise hinein vernetzt ist.

Während die „Clans“ nach Darstellung von Polizei und Medien die Rechtsordnung und den angeblich von ihnen als schwächlich erlebten Rechtsstaat verachten, zielt die Mafia nicht primär auf eine Schwächung oder gar Vernichtung der herrschenden Staatsordnung. Mafiagruppierungen verstehen sich eher als Wirtschaftsunternehmen, welche die politischen Verhältnisse indirekt zu beeinflussen suchen, um die Rahmenbedingungen für das eigene (kriminelle) wirtschaftliche Handeln positiv zu gestalten. „In diesem Sinne“, schreibt Martin Ludwig Hofmann, „dürfte sich die Mehrzahl der ‚Ehrenmänner‘ durchaus als Bürger und Mitglieder des Staates empfinden, dem sie so lange Loyalität entgegenbringen, so lange die staatlichen Interessen nicht mit den eigenen kollidieren. Die Mafia-Clans positionieren sich damit selbst ‚innerhalb‘ des staatlichen Gefüges befindlich und knüpfen zur Festigung dieses ‚Innerhalb‘ den Kontakt zu lokalen (und darüber hinaus) Vertretern der Politik und der staatlichen Administration. Dieser Kontakt wiederum scheint oft von beiden Seiten gesucht zu werden, da er nicht nur den Vertretern der Mafia einen Nutzen verspricht“. [7] Auch Sandro Mattioli vom Verein Mafianeindanke, nach eigenen Angaben die wichtigste Antimafia-Organisation hierzulande, bestätigt, dass die italienische Mafia in Deutschland „möglichst unter dem Radar“ agiert und sich im legalen Wirtschaftsleben etabliert hat, etwa im Baugewerbe oder in der Gastronomie. [8]

Die durchlässige Grenze zwischen Mafia-Organisationen und staatlichen Institutionen sowie dem regulären Wirtschaftsleben ist sicherlich ein entscheidender Grund dafür, dass der Staat im Gegensatz zum entschlossenen Durchgreifen gegen vornehmlich arabischstämmige „Clans“ kaum Interesse zeigt, die italienische Mafia effektiv zu verfolgen. So moniert Mafianeindanke, dass der Berliner Senat kein Personal bereitstellt, um in der Hauptstadt gegen die ‘Ndrangheta als eine der global bedeutendsten kriminellen Organisationen vorzugehen. Auch kritisiert der Verein die Ergebnisse des aktuellen Bundeslageberichts zur OK. Laut BKA wurde 2018 gegen 124 Mitglieder der ‘Ndrangheta in Deutschland ermittelt, während nach Informationen der Bundesregierung von mindestens 800 bis 1.000 Mitglieder der kalabrischen Mafia auszugehen ist. Der weitaus größte Teil der Mafiosi in Deutschland bleibt danach also unbehelligt. [9]

 

Defizitäre Forschung

Im Februar 2018 erschien eine wissenschaftliche Einschätzung der OK-Forschungslandschaft in Deutschland. Das Ergebnis war niederschmetternd: Die Forscher*innen stellten eine ausgeprägte Diskrepanz zwischen der relativ großen Zahl „einschlägiger“ Veröffentlichungen und dem vergleichsweise geringen Umfang empirischer Forschung fest. Die bisherige Forschung sei „insulär“, die wenigen Untersuchungen bauten also nicht aufeinander auf und könnten nur begrenzt den Erkenntnisstand erweitern. [11] Ein wesentliches Forschungsproblem besteht offensichtlich in dem schwierigen Datenzugang der Kriminolog*innen, denn diese seien nahezu ausschließlich auf Ermittlungsergebnisse von Polizei- und Justizbehörden angewiesen. Die exekutiven Organe, die sich praktisch mit der OK auseinandersetzen, bieten jedoch nicht die für die wissenschaftliche Reflektion nötige Distanz zum Untersuchungsobjekt. Zudem stellen Polizei und Staatsanwaltschaften ihre zum Teil geheimen Ermittlungsergebnisse nur ungern Externen zur Verfügung. Die „Beobachtungsferne“ der Kriminologie führt deshalb naturgemäß zu unbefriedigenden empirischen Forschungsergebnissen.

Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas in erster Linie im Bereich der Rechtswissenschaften erfolgt, die notwendige interdisziplinäre Kooperation von Kriminologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft aber offensichtlich nur rudimentär stattfindet. Soziologische Leerstellen, wie die Frage nach der tatsächlichen Lebenswirklichkeit (krimineller) Milieus jenseits von Klischeevorstellungen über sogenannte Clans oder Großfamilien, werden deshalb durch sensationslüsterne TV-Reportagen oder reißerisch aufgemachte Presseartikel ausgefüllt, bei denen nicht selten die Tendenz zu einer Ethnisierung der Kriminalität auszumachen ist.

Daneben bewegen sich an der Schnittstelle von Forschung und polizeilicher Arbeit Fachorgane wie etwa die „Kriminalistik: Unabhängige Zeitschrift für die kriminalistische Wissenschaft und Praxis“, die ein wichtiges Forum für die polizeiliche Diskussion um OK darstellt. Im Editorial des Heftes 5/2019, dessen Schwerpunkt der CK gewidmet ist, beschwört der Chefredakteur „das immense Gefahrenpotential krimineller arabischer Clans“ und betont, dass es „allerhöchste Zeit“ wird, „konsequent gegen Clans unter Einsatz aller rechtlichen Möglichkeiten“ vorzugehen. [12] Auch Magazine wie dieses prägen den Diskurs um OK und CK neben populärwissenschaftlichen Monografien und vor allem der Boulevardpresse entscheidend mit.

 

Wie reagiert die Politik

Einen Eindruck von der herrschenden „Null-Toleranz-Politik“ zur Bekämpfung von OK und Clan-Kriminalität vermittelt das Vorgehen der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Innenminister Herbert Reul (CDU) betonte wiederholt in der Öffentlichkeit, dass der eingeschlagene Weg, regelmäßig Razzien durchzuführen, fortgesetzt und sogar intensiviert werden soll (so zum Beispiel am 23. Dezember 2019 im Radiosender WDR 5). Zur bisher größten Razzia Anfang 2019 rückten über 1.300 Beamte von Polizei sowie Zoll- und Ordnungsamt aus und durchsuchten Shisha-Bars, Wettbüros und Teestuben im Ruhrgebiet. Diese Großaktion bildete den Auftakt zu der mittlerweile viel zitierten „Strategie der 1.000 Nadelstiche“ gegen „Clans“ in Nordrhein-Westfalen. Passend dazu schlug im Herbst letzten Jahres eine von der NRW-Regierung eingesetzte Kommission vor, Polizei und Justiz mit deutlich mehr Befugnissen auszustatten. Sowohl die personellen wie die technischen und rechtlichen Möglichkeiten sollten erweitert und den beteiligten Behörden dadurch eine bessere Zusammenarbeit ermöglicht werden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Zoll- und Steuerfahndung, Ausländer- und Ordnungsämter).

In NRW gibt es laut LKA rund 100 kriminelle Familienclans, die sich lokal auf Essen, Duisburg, Gelsenkirchen und Recklinghausen konzentrieren. 36 Prozent der Tatverdächtigen, so heißt es weiter, seien deutsche Staatsbürger, die man nicht abschieben könne. „Gegen diejenigen Straftäter, die keine deutschen Staatsbürger sind, müssen die ausländerrechtlichen Maßnahmen allerdings konsequent ausgeschöpft werden“, forderte die Kommission. (General-Anzeiger Bonn vom 23. September 2020) Mitte 2020 wird deshalb in Essen im Rahmen der neuen Sicherheitskooperation Ruhr gegen CK eine behördenübergreifende Dienststelle ihre Arbeit aufnehmen, in der Maßnahmen gebündelt und koordiniert werden sollen. (vgl. General-Anzeiger Bonn vom 12. Januar 2020)

Begründet wird das rabiate Durchgreifen vor allem mit einem angeblich von der Öffentlichkeit als Bedrohung empfundenes Auftreten krimineller Familienclans. Denen werden laut aktuellem Lagebild zur OK in NRW Straftaten wie eine „vermeintliche Besetzung des öffentlichen Raums“, „häufig fehlenden Respekt gegenüber der Polizei und Rettungsdiensten“ sowie ein „aggressives Auftreten im Rahmen von sogenannten ‚Tumultlagen‘“ vorgeworfen. Zudem sei die Etablierung einer Parallelgesellschaft und -justiz (mit claninternen Streitschlichtern) feststellbar. Dieser Entwicklung soll durch einen „maximalen Kontroll- und Verfolgungsdruck“ entgegengewirkt werden.

Teile der Medien assistierten der staatlichen Repressionsstrategie, als Anfang Februar im Rahmen einer Razzia in Bottrop, Recklinghausen und anderen Orten insgesamt 20 Shisha-Bars und Cafés von Polizei und Zoll kontrolliert worden waren. „NRW: Nächster Schlag gegen Clans im Ruhrgebiet“ titelte etwa das Onlineportal DerWesten.de (Funke Mediengruppe). Das Missverhältnis von Großaufgebot an eingesetztem Personal und Ermittlungsergebnis wird am Ende des Artikels deutlich. Ein „verbotenes Messer“, unverzollter Shisha-Tabak und 39 Päckchen Tabletten, „die noch überprüft werden müssen“, wurden konfisziert.

Im Juli 2018 beschlagnahmte die Polizei in Berlin bei einer aus dem Libanon eingewanderten Familie vorläufig 77 Immobilien im Gesamtwert von rund 9,3 Millionen Euro. Dieses von Boulevard-Blättern als großen Schlag gegen die Clan-Kriminalität gefeierte polizeiliche Vorgehen entspricht der Erkenntnis, dass die Geldwäschebekämpfung die wichtigste, aber auch kontrollintensivste Komponente bei der Bekämpfung der OK darstellt. So richtig aber der Ansatzpunkt ist, mit Maßnahmen gegen die Sekundärkriminalität auch implizit die Primärkriminalität einzudämmen, so verhalten agiert der Staat letztlich auf diesem Feld. „Ein perfider Grund für die Nonchalance ist: Die deutsche Wirtschaft profitiert von dem schmutzigen Geld. Der Immobilienboom beschert dem Bausektor güldene Zeiten“, kommentierte die Süddeutsche Zeitung am 27. Oktober 2019.

Notare und Makler werden in Deutschland offenkundig nicht kontrolliert, obwohl sie bei Immobiliengeschäften eine entscheidende Rolle spielen. Michael Findeisen von der Bürgerbewegung Finanzwende etwa kritisiert die Situation in Berlin. „Da gab es früher einen Wirtschaftssenator von den Linken, jetzt ist es eine grüne Senatorin. Beide Parteien erklären sich ja immer als Schild und Speer im Kampf gegen Geldwäsche. Das ist halt ernüchternd. Da sitzen wirklich auf fünf Planstellen, da sind ein bis zwei immer krank, Leute rum, die zigtausende Gewerbeunternehmen, die unter das Geldwäschegesetz fallen, durch Prüfungen, Vor-Ort-Prüfungen prüfen sollen.“ [13] Aus politischen Gründen (auch illegale Investitionen sind Investitionen) und wegen der Stärke der Finanzlobby weicht der Staat offenbar davor zurück, die Vermögensabschöpfung aus kriminellen Geschäften in den Griff zu bekommen.

 

Schluss

Von „Clans“ verübte Kriminalität in Deutschland ist nichts Neues. Sie wird dabei schon seit vielen Jahren als „importierte Kriminalität“ vornehmlich libanesischer oder auch türkisch-kurdischer Herkunft thematisiert und skandalisiert. [14] Diese Variante der OK gilt insofern als Phänomen, das gleichsam von außen einen ansonsten „gesunden“ Rechtsstaat attackiert und gefährdet. OK und Wirtschaftskriminalität generell sind aber aus der gesellschaftlichen Mitte erwachsen. Unbestritten ist ein wichtiger Grund für kriminelles Verhalten von sogenannten Clans die bewusst unterbliebene Integrationspolitik gegenüber arabischen Menschen, die als Bürgerkriegsflüchtlinge seit Ende der 1970er Jahre in die Bundesrepublik einreisten.  Mafia-Gruppen bleiben dagegen weitgehend unbehelligt, da sie zumeist unauffällig agieren und keine Provokation der Mehrheitsbevölkerung darstellen, somit auch nicht nach offizieller Lesart den „Rechtsfrieden“ bedrohen. Aber auch Deutsche ohne Migrationshintergrund sind wirtschaftskriminell – und verursachen damit das Gros des wirtschaftlichen Schadens. Sie verfügen jedoch über wirksamere Verschleierungsmöglichkeiten als diejenigen, die pauschal den „Clans“ zugerechnet werden und sichtbarer Teil des öffentlichen Lebens sind. Dieser Teil der Wirklichkeit wird weitgehend verdrängt, da sich viele Menschen von Delikten wie Subventionsbetrug oder Steuerhinterziehung in Millionenhöhe zudem nicht direkt betroffen fühlen.

Deshalb sind übersteigerte Bedrohungsszenarien populärwissenschaftlicher Art ärgerlich. „Unterdessen ist längst der soziale Frieden in Gefahr. Deshalb ist es an der Zeit, sich ehrlich zu machen, gegenüber Kriminellen, die unseren Wohlstand – mittelbar aber auch unsere Freiheit – bedrohen“, warnt zum Beispiel der Journalist Olaf Sundermeyer in seinem Buch „Bandenland“ mit Blick auf die CK. [15] „Clans verhalten sich in ihrer deutschen Umgebung wie die Stämme in der Wüste: Alles, was außerhalb der Clans liegt, ist Feindeslands und frei zu erobern“, ergänzt der Migrationsforscher Ralph Ghadban. [16] Nicht OK und CK aber stellen eine fundamentale Bedrohung für die Gesellschaft dar, vielmehr das – „mafiöse“ – Zusammenspiel von kriminellen und gesellschaftlichen Eliten.

Eine besonders zynische Note erhält die alarmierende und effekthascherische Darstellung der CK schließlich vor dem Hintergrund der Morde an Menschen mit migrantischem Hintergrund. Anlässlich der Bekanntgabe seiner Kandidatur für den CDU-Vorsitz verknüpfte Friedrich Merz die Bekämpfung von Rechtsradikalismus mit einem härteren Vorgehen gegen „Clans“ in sogenannten Problemvierteln. Ganz im Sinne des Bundesinnenministers Horst Seehofer, der schon im Herbst 2018 vor dem Hintergrund der rassistischen Demonstrationen in Chemnitz die Migration als „Mutter aller Probleme“ bezeichnete.

Äußerungen wie diese trugen und tragen dazu bei, dass ein gesellschaftliches Klima entsteht, das Rechtsradikale zusätzlich motiviert, in die Offensive zu gehen. Seit 2010 wurden beispielsweise im Berliner Bezirk Neukölln immer wieder Wohnungen, Cafés und Autos beschädigt oder sogar angezündet. Auch erhielten Menschen, die sich gegen rechts engagieren, wiederholt Morddrohungen. Bewohner*innen des Kiezes sprechen seitdem von einem durch die Anschläge erzeugten „Klima der Angst“. Das Verhalten der Polizei trug dabei nicht zur Bildung eines Sicherheitsgefühls bei. Denn Anschlagswarnungen wurden nicht ernst genommen, manche glauben sogar an eine Verwicklung von Beamten in die Taten. Der Verfolgungsdruck muss also verstärkt werden – dort, wo gesellschaftlich integrierte Bürger*innen ihre wirtschaftskriminellen Geschäfte abwickeln und Nazi-Banden ganze Stadtbezirke in Angst versetzen.

 

Anmerkungen:

[1] Kritiker*innen lehnen die Begriffe „Clan“ oder „arabische Großfamilien“ aus guten Gründen als politische Kampfbegriffe ab.

[2] Zitiert nach Klaus von Lampe: „Geschichte und Bedeutung des Begriffs ‚organisierte Kriminalität‘“, in: Meropi Tzanetakis/Heino Stöver (Hrsg.), Drogen, Darknet und Organisierte Kriminalität. Herausforderungen für Politik, Justiz und Drogenhilfe, Baden-Baden, 2019, Seite 37

[3] Klaus von Lampe/Susanne Knickmeier: Organisierte Kriminalität: Die aktuelle Forschung in Deutschland, Berlin, Februar 2018, Seite 8

[4] von Lampe, 2019, Seite 38

[5] Vgl. Susanne Memarnia: „Organisierte Kriminalität in Berlin: Zweite-Reihe-Parken ist nicht OK“, taz vom 11. Dezember 2019

[6] Olaf Sundermeyer: Bandenland. Deutschland im Visier von organisierten Kriminellen, München, 2017, Seite 15

[7] Martin Ludwig Hofmann: Monopole der Gewalt. Mafiose Macht, staatliche Souveränität und die Wiederkehr normativer Theorie, Bielefeld, 2003, Seite 96f.

[8] Peter Podjavorsek: „Organisierte Kriminalität. Warum sich die Politik so schwertut“, Deutschlandfunk Kultur – Zeitfragen, 17. Februar 2020

[9] Vgl. Text vom 24. September 2019 unter https://mafianeindanke.de/category/mafia-de/ndrangheta-de/

[10] von Lampe/Knickmeier, Seite 73

[11] Vgl. Peter Podjavorsek

[12] Bernd Fuchs: „Editorial“, in: Kriminalistik 5/2019, Seite 274

[13] Vgl. Peter Podjavorsek

[14] Vgl. Markus Henninger: „‚Importierte Kriminalität‘ und deren Etablierung“, in: Kriminalistik 12/2019, S. 282-296; Nachdruck aus dem Jahr 2002)

[15] Olaf Sundermeyer, Seite 13

[16] Ralph Ghadban: Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr, Berlin, 2020, Seite 183

 

Joachim Maiworm
lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Eine kürzere Fassung seines Artikels ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

Anhang

Offizielle Kennzahlen der OK und der Clan-Kriminalität
(am Beispiel des Bundes und Berlins)

 

 

 

 

 

„Clan-Kriminalität“ und die Medien

Die Ethnisierung sozialer Probleme ist ein gerne gebrauchtes Ablenkungsmittel, um Sündenböcke für sie benennen zu können. Nicht nur Rechtsextreme und Rechtspopulisten bedienen sich dieses Mittels. Auch in der „bürgerlichen Mitte“, bei ihren Parteien und Medien gibt es eine Tendenz, weniger nach den sozialen und ökonomischen Ursachen von Kriminalität zu fragen, als die ethnische Herkunft der Täter zum Thema zu machen.

Im seit den 1980er Jahren beliebt gewordenen Begriff „Ausländerkriminalität“ kam diese Tendenz zum Ausdruck. Er suggerierte, dass es unter den „ausländischen“ Bewohnerinnen und Bewohnern der Bundesrepublik eine besondere Affinität zu kriminellen Handlungen gebe oder dass es zumindest aussagekräftig sei, ihr normabweichendes Verhalten pauschal mit dem der Allgemeinheit statistisch zu vergleichen. Dabei wurden unter „Ausländer“ völlig disparate Gruppen zusammengefasst – von seit langem im Land lebenden Migranten über Asylbewerber bis hin zu vorübergehend Eingereisten. Die stets überproportional wirkenden Zahlen zur „Ausländerkriminalität“ täuschten auch deshalb, weil Altersstruktur, Geschlechterverteilung und Schichtzugehörigkeit der „Ausländer“ sich von der Mehrheitsgesellschaft erheblich unterschieden. Diese Merkmale sind es aber, die in erster Linie für die Kriminalitätsbelastung bestimmend sind.

Die Rolle der Presse in diesem Zusammenhang haben wir an der Fachhochschule Frankfurt a. M. in den 1990er Jahren bei einem deutsch-französischen Forschungsprojekt exemplarisch untersucht. Ergebnis war, dass nicht nur Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot, sondern regelmäßig auch Kriminalität mit der Zuwanderung und Anwesenheit von „Fremdethnischen“ in Verbindung gebracht wurde. Die Position einer Zeitung im politischen Spektrum entschied dabei über den Grad der Stigmatisierung dieser Gruppen *).

Inzwischen ist in der Bundesrepublik kaum noch von hier lebenden „Ausländern“ die Rede, sondern mehr von Menschen „mit Migrationshintergrund“. Das trägt der Tatsache der realen Einwanderung Rechnung. Der Begriff „Ausländerkriminalität“ kam daher aus der Mode. Aber nach wie vor berichten die Medien – entgegen einer vom Presserat gesetzten Regel – gerne mehr oder weniger offen über die ethnische Zugehörigkeit von Tatverdächtigen, Angeklagten und Verurteilten. Es reicht ja oft schon der nicht deutsch klingende Vorname.

Seit einiger Zeit erscheinen nun in Zeitungen und Zeitschriften groß aufgemachte Artikel über die Kriminalität bestimmter „Clans“. Gemeint sind damit nicht etwa betrügerische Machenschaften von Cliquen der Manager-Elite, wie beispielsweise bei den Cum/Ex-Geschäften. Auch nicht die Geschäfte der italienischen Mafia, die es geschafft hat, in Deutschland Rückzugsräume einzurichten und weitgehend unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung zu bleiben. Es geht vielmehr um aus dem Nahen Osten zugewanderte Großfamilien, von denen etliche Mitglieder Straftaten begehen, die dem Bereich der Organisierten Kriminalität zugerechnet werden können. Ihr Treiben sei – angeblich auch aus Rücksicht auf den sonst eventuell erhobenen Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit – lange Zeit nicht genügend von Polizei und Gerichten verfolgt worden.

Umso sensationeller gestalten sich die Berichte über neuerdings verstärkt stattfindende Polizeirazzien in diesem Milieu. Man kann den Eindruck gewinnen, dass an die Stelle des diskriminierenden Begriffs „Ausländerkriminalität“ der scheinbar objektive der „Clan-Kriminalität“ getreten ist. Dieser kann aber eine ähnliche Funktion erfüllen: Er lässt organisiertes Verbrechen als ein „uns fremdes“ Problem von kulturell Fremden erscheinen.

Dass es bei der „Clan-Kriminalität“ keineswegs nur um Tatbestände geht, die nicht geleugnet werden können und sollen, zeigt eine Passage aus einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Dort stand über den Ministerpräsidenten von NRW und Aspiranten auf den CDU-Vorsitz Armin Laschet zu lesen: „Laschet gilt als Muslimversteher, doch ins Innenministerium hat er sich den harten Hund Herbert Reul geholt, der einen Kreuzzug gegen kriminelle Clans führt“ (16. Februar 2020). Was hat das eine denn mit dem anderen zu tun? Und welche Assoziationen sollen hier mit dem Wort „Kreuzzug“ geweckt werden?

Nach den rassistischen Morden in Hanau hat die Rapperin Ebow, eine Deutsche kurdischer Herkunft, in einem Interview im Spiegel über den Täter und die Tat gesagt: „Bevor sein Bekennerschreiben analysiert wurde, waren erst mal Clans in Verdacht. Zunächst wurde von ‚Shisha-Morden‘ gesprochen, genauso wie die Mordtaten des NSU anfangs ‚Döner-Morde‘ genannt wurden“ (Spiegel online, 24. Februar 2020). Diese versuchte Täter-Opfer-Umkehr gehört zur nicht nur bei deutschen Behörden, sondern auch bei größeren Teilen der deutschen Bevölkerung zu beobachtenden strukturellen Rechtsblindheit.

Dazu passt, dass Friedrich Merz, Mitbewerber für den CDU-Vorsitz, auf die Frage nach seinen Konzepten zur Bekämpfung der Gefahr von Rechts geantwortet hat, dass er „Themen wie Clan-Kriminalität und schärfere Grenzkontrollen stärker in den Fokus stellen wolle“ (Spiegel online, 25. Februar 2020).

In einem Artikel von Sanem Kleff und Benno Plassmann in der taz vom 27. Januar 2020 heißt es: „Razzien bei ‚Clans‘ vermitteln ein rassistisch geprägtes Bild von organisierter Kriminalität. Demokratiegefährdend aber sind ganz andere Strukturen.“ Sowieso betreffe „der weitaus größte Teil bekannter Fälle Gruppierungen, die von Deutschen dominiert waren.“ Der Lagebericht Organisierte Kriminalität des Bundeskriminalamts für 2018 melde „6.483 Tatverdächtige, von denen nur 7,2 Prozent als ‚Zuwanderer‘ erfasst wurden… Diese Gruppe Tatverdächtiger wurde vom BKA erstmals gesondert erfasst, wobei als Symbol zur Kennzeichnung der Gruppe ausgerechnet das Piktogramm eines überfüllten Flüchtlingsboots gewählt wurde.“

Wenn es schon die Zahlen nicht hergeben, muss es wenigstens die Symbolik tun.

In einem Beitrag zum Thema „Clan-Kriminalität“ in der Zeitschrift Ossietzky  gibt Ulla Jelpke den Rat, man solle auch einmal über deutsche Familienclans sprechen, die „durch Kolonialkriege, Kriegsproduktion und durch die Ausbeutung von Zwangsarbeit reich wurden. Sprechen wir beispielsweise einmal über den Hohenzollern-Clan, der die Dreistigkeit besitzt, nun seine aufgrund seiner Kollaboration mit den Nazis enteigneten Schlösser zurückzufordern“ (Heft 4, 22. Februar 2020).

*) Vgl. Reiner Diederich / Lothar Kupp: Das Bild des Fremden in der Presse von Marseille und Frankfurt a. M., Forschungsbericht, Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule Frankfurt am Main, 2000

Reiner Diederich
war bis 2006 Professor für Soziologie und Politische Ökonomie an der FH Frankfurt am Main. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

 

Clan-Kriminalität in Vergangenheit und Gegenwart

In den Medien taucht in jüngster Zeit vermehrt der Begriff „Clan-Kriminalität“ auf. Gemeint sind zumeist Strukturen der Organisierten Kriminalität, die sich personell aus Angehörigen ethnischer Minderheiten zusammensetzen. Diese kriminellen Strukturen gelten als extrem patriarchal organisiert und auf Grundlage eines anachronistischen Wertesystem handelnd. Das Eindringen von verdeckten Ermittlern in solche in sich abgeschotteten Clans gilt nach Auffassung von Kriminologen als außerordentlich schwierig.

Die Ursachen für das Auftreten von Clan-Kriminalität in Deutschland werden zumeist in der seit den 1980er Jahren andauernden Migration aus dem nahöstlichen Raum ausgemacht. Im Zusammenhang mit Straftaten, die diesen kriminellen Clans zugeschrieben werden oder die nachweislich von ihnen verübt wurden, skandieren rechtsradikale Propagandisten mit ermüdender Regelmäßigkeit Parolen wie „Grenzen dicht!“, „Deutschland den Deutschen!“ und seit einiger Zeit auch „Merkel muss weg!“. Ist die Clan-Kriminalität in den entwickelten kapitalistischen Zentren aber tatsächlich ein Produkt der Globalisierung unserer Neuzeit – so wie sie sie von rechten Denkfabriken gern dargestellt wird? Tatsächlich ist nur der Begriff neu, nicht aber das Phänomen selbst.

Wanderungen größerer Menschengruppen hat es schon immer gegeben. Organisiertes Verbrechen gibt es, seit Gesetze zur Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten erlassen und durchgesetzt werden. Und Gruppen von Migrant*innen, zumal dann, wenn diese bewusst ausgegrenzt und diskriminiert werden, neigen naturgemäß dazu, in sich geschlossene Wirtschaftseinheiten auf der Basis ethnischer Herkunft oder religiösem Bekenntnis ihrer Akteure zu schaffen. In solchen Strukturen herrschen dann andere Regularien und Moralvorstellungen als in der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Bei den von kriminellen Clans des 19. Jahrhunderts verübten Straftaten handelte es sich übrigens zum großen Teil um Armutskriminalität. Nur selten schafften die Anführer solcher Clans den Sprung in die große Geschäftswelt. So etwas wurde dann erst im frühen 20. Jahrhundert möglich.

Gehen wir aber einmal zurück in das 19. Jahrhundert und greifen uns als Beispiel die USA heraus: heute eine kapitalistische Großmacht, damals ein aufstrebendes Entwicklungsland, welches gerade die einengenden Zwänge der britischen Kolonialherrschaft abgeschüttelt hatte. Bekanntlich besteht die Bevölkerung der USA fast ausschließlich aus Migrant*innen und deren Nachkommen; der Anteil indigener Bevölkerungsgruppen ist extrem gering. Die USA gilt in ihrem Selbstverständnis als kultureller Schmelztiegel – danach nahmen die meisten nicht englischsprachigen Einwanderer*innen relativ schnell Sprache und Kultur der Bevölkerungsmehrheit an. Es lohnt sich allerdings, dieses Selbstverständnis kritisch zu hinterfragen.

Noch bei der ersten Volkszählung des Jahres 1790 gaben etwa 80 Prozent der Bevölkerung des neugegründeten Staates zur Frage ihrer nationalen Herkunft England, Schottland, Wales und Nordirland an. Zwar stammten schon damals größere Bevölkerungsgruppen aus Deutschland, Irland, den Niederlanden, Frankreich und Schweden. Die ganz großen Migrationsschübe aus nicht-englischsprachigen Ländern kamen jedoch erst danach über den Großen Teich. Und diese Migrant*innen wurden von den bereits ansässigen und integrierten Bevölkerungsgruppen keineswegs immer willkommen geheißen.

Die Ursachen für die großen Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts waren in etwa dieselben, wie in unserer Gegenwart auch: Kriege, Hungersnöte, Massenarbeitslosigkeit, ausufernde staatliche Repression… Allein in den 1840er Jahren flüchteten beispielsweise wegen einer Hungerkatastrophe etwa zwei Millionen Menschen aus dem britisch beherrschten Irland; etwa eine Million der Irininnen und Iren, die im Land geblieben waren, verhungerte. Mehrere Millionen Menschen verließen etwas später das von Wirtschaftskrisen und heftigen sozialen Unruhen geschüttelte Königreich Italien. Allein von 1906 bis 1910 ließen sich etwa zwei Millionen Italiener in den USA nieder. Die Ankömmlinge aus diesen überwiegend katholischen Ländern bildeten für lange Zeit Parallelgesellschaften in den protestantisch dominierten USA. Die Mafia-Netzwerke, welche ihre Wurzeln in der italienischen Einwanderung hatten, sind legendär und bilden bis in unsere Gegenwart hinein den historischen Hintergrund für zahlreiche gelungene oder auch weniger gut gelungene Hollywoodfilme.

Das Schicksal der Armutsflüchtlinge aus Irland ist hingegen kaum ins öffentliche Bewusstsein unserer Gegenwart eingegangen. Diese Bevölkerungsgruppe war im 19. Jahrhundert heftig diskriminiert, bildete lange Zeit den Bodensatz der US-Gesellschaft. Die Mehrzahl der bettelarm ankommenden Iren war weder gewillt noch verfügten sie über die finanziellen Mittel, sich irgendwo im Landesinneren eine bürgerliche Existenz aufzubauen. In den Hafenstädten an der Ostküste der USA bildeten sich demzufolge fast ausschließlich irisch bewohnte Armutsviertel, die von kriminellen Banden beherrscht wurden. In ähnlich abgeschlossenen Wohnvierteln hausten damals übrigens auch andere ethnische Minderheiten. Nach den Iren waren die Einwanderer aus den deutschen Kleinstaaten und aus der Schweiz die zweitgrößte Nationalität. Von einem multikulturellen „Schmelztiegel“ konnte damals zumindest an der Ostküste der USA keine Rede sein. Vor allem die Stadt New York wurde Schauplatz mittels brutaler Gewalt ausgetragener Bandenkriege, regelmäßig flankiert von Hungeraufständen, Krawallen und Plünderungen wohlhabender Viertel.

Banden irischer Elendsmigrant*innen bekämpften einander, schlossen aber auch Bündnisse gegen andere Banden, die sich entweder aus Einheimischen oder aber aus Angehörigen anderer Minderheiten rekrutierten. Die Bevölkerung der irisch dominierten Wohnviertel stützte sich auf die Bandenstrukturen, um sich gegen Angriffe von Polizei und Nationalgarde zur Wehr setzen zu können. Die Banden waren aber auch tragende Kraft bei rassistischen Pogromen, die sich hauptsächlich gegen Angehörige der afroamerikanischen Minderheit richteten.

In die Geschichte eingegangen sind vor allem die „Draft Riots“ von 1863, ein Aufstand der irischen Bevölkerungsgruppe der Stadt New York, der sich gegen die während des US-amerikanischen Bürgerkrieges dekretierte Einführung der Wehrpflicht richtete. Die Militärführung der Nordstaaten musste damals mehrere Regimenter von der Front abziehen, um die in der Stadt ausufernde Gewalt samt Plünderungen beenden zu können. Der 2002 produzierte und mehrfach ausgezeichnete Monumentalfilm „Gangs of New York“ (Regie: Martin Scorsese) spielt vor dem Hintergrund dieser Ereignisse. Das Drehbuch benutzte als Quelle das gleichnamige Buch des US-amerikanischen Kriminalhistorikers Herbert Asbury.

Was aber war die ökonomische Basis dieser Bandenherrschaft? Wie Asbury in seinem Buch beschreibt, erhoben die Bandenführer Schutzgelder von den in solch abgeschotteten Vierteln wie Pilze aus dem Boden schießenden Kneipen, Tanzlokalen, Spielhöllen, Schnapsbrennereien und Bordellen oder aber sie betrieben solche Unternehmen selbst. Da die Staatsmacht in den von Banden beherrschten Vierteln faktisch ohnmächtig war, bezahlten die in ihnen aktiven Unternehmen keine oder fast keine Steuern und Abgaben, brauchten sich beim Betreiben ihrer Einrichtungen auch an keinerlei öffentliche Vorgaben und Regularien zu halten. Die Banden profitierten also von den von ihnen selbst geschaffenen rechtsfreien Räumen.

Wie es in Asburys Buch weiter heißt, konnten sie aber auch deshalb weitgehend ungestört agieren, weil maßgebliche Politiker der damals in den USA in Entstehung begriffenen Parteienlandschaft sich von den kriminellen Netzwerken Vorteile erhofften und Bündnisse mit den wichtigsten Bandenführern geschlossen hatten. Besonders heftig bekämpften die irischen Banden damals Gegner der Sklaverei, da sie – nicht ganz zu Unrecht – im Falle einer allgemeinen Sklavenbefreiung einen Zustrom von Afroamerikanern aus den Südstaaten in die bisher von ihnen kontrollierten Städte des Nordens befürchteten. Die Bandenführer organisierten im Auftrag von Politikern, die eine Abschaffung der Sklaverei ebenfalls ablehnten, Stimmenkauf und ganz unverfrorene Wahlfälschungen. Im Gegenzug versprachen Politiker den Banden, sich für die schnellstmögliche Einbürgerung der von ihnen repräsentierten Einwanderergruppen einzusetzen.

Zusätzlich zum Erheben von Schutzgeldern und dem Betreiben illegaler Einrichtungen kam in den von Banden beherrschen Gebieten natürlich noch die ganz normale Straßenkriminalität hinzu: Diebstahl, Raubmord, Piraterie, Schmuggel, Einbruch, Hehlerei… Die Staatsgewalt reagierte auf die zunehmende Rechtsunsicherheit damit, dass auf frischer Tat ertappte Straftäter oft nach einem eher kurzen Prozess sofort gehängt wurden. Wie Asbury schreibt, wurden allein im Jahre 1860 in der Stadt New York mehr als 58.000 Personen wegen verschiedener Verbrechen verurteilt; etwa 80 Prozent von ihnen waren nicht in den USA geboren (Asbury, Seite 147).

Bei den bereits genannten „Draft Riots“ des Jahres 1863 brauchte das Militär der Nordstaaten vier Tage, um die in New York ausufernden Plünderungen und Gewalttaten zu beenden. Bei den Unruhen sollten etwa 2000 Menschen ums Leben gekommen sein; 100 Gebäude wurden niedergebrannt, 200 geplündert und verwüstet (Asbury, Seite 203). Wie Asbury in seinem Buch meint, flauten die Bandenkriege dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab, ganz beendet wurden sie aber erst um das Jahr 1910. Dies ist kein Zufall.

Die im Vorfeld des Ersten Weltkrieges massiv expandierende fordistische Industrieproduktion (Fließbandfertigung) entwickelte vorübergehend einen Riesenhunger nach Arbeitskräften. Die Einbeziehung der Bevölkerung der bisher weitgehend abgeschotteten Einwandererviertel in die Fabrikarbeit erreichte in vergleichsweise kurzer Zeit genau das, was zuvor weder Schnellgerichte noch knüppelschwingende Polizeitrupps und schießwütige Nationalgardisten vermocht hatten: das Ende der kriminellen Clans. Die in sich abgeschotteten Familienzusammenhänge lockerten sich. Die neu heranwachsende Generation ergriff ihre Chance und verließ die Armutsghettos. Schutzgelderpresser mutierten zu Polizeibeamten, Bandenführer zu vermeintlich seriösen Geschäftsleuten, Kleinkriminelle zu gewerkschaftlich organisierten Fließbandarbeitern.

Die US-Gesellschaft war dann zumindest in ihren Industrieregionen an der Ost- und Westküste mehrere Jahrzehnte lang wirklich der kulturelle Schmelztiegel, als der sie sich bis heute gern präsentiert. Ähnlich verlief die Entwicklung übrigens auch in anderen Industriestaaten. Bei zahlreichen Einwohnern des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen erinnert heute noch der polnisch klingende Namen daran, dass es sich um Nachfahren von Bergleuten aus Schlesien handelt, die man ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das damals wirtschaftlich florierende Ruhrgebiet geholt hatte.

Woraus resultiert nun aber die in unserer Gegenwart unübersehbare Wiederauferstehung von Armutsvierteln in den Städten samt sich darin entwickelnder Clan-Kriminalität? Ist sie das Ergebnis der gnadenlosen Durchrationalisierung von Industrieproduktion durch neoliberal geschultes Management während der letzten Jahre und Jahrzehnte? Ist es die weltweite Zunahme industriell betriebener Agrarproduktion inklusive massivem Arbeitskräfteabbau? Ist es das absehbare Ende der Expansion des Kapitalismus, welcher sich mittlerweile auch auf die allerletzten Regionen unseres Planeten ausgebreitet hat? Ist es der Zusammenbruch von Versuchen nachholender Modernisierung in zahlreichen Staaten Afrikas und Asiens? Oder all das zusammen? Oder ist es schlicht das Fehlen von Verteilungsgerechtigkeit unter den Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftens?

Im verqueren Weltbild von derzeit (leider) im Aufwind befindlichen rechtsradikalen Politaktivisten kommt dergleichen natürlich alles nicht vor. Von diesen propagierte Rezepturen gegen die unbestreitbare zunehmende Clan-Kriminalität sind nichts als eine Neuauflage von all dem, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Sachen staatlicher Repression ausprobiert wurde, letztlich kaum etwas bewirkt hat und auch nichts hätte bewirken können.

Es ist übrigens bezeichnend, dass es sich bei den rechtsradikalen Politaktivisten in Deutschland nicht selten um vorbestrafte Kleinkriminelle handelt – bekannte Figur: der PEGIDA-Gründer Lutz Bachmann. Und vor einiger Zeit konnten findige Journalisten ermitteln, dass ausgerechnet die sich als Ordnungspartei, als Interessenvertreterin von Polizei und Militär präsentierende AfD selbst ein Problem in Sachen Kriminalität hat: Der Anteil von vorbestraften Mandatsträgern ist bei ihr nachweislich wesentlich höher, als bei allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien (Kock / Müller). Dies mag verwundern, aber nur auf den ersten Blick. Gewesene oder Noch-Beamte sind auch nur Menschen und demzufolge für Straftaten anfällig. Und die Geschichte hat gezeigt, dass sich in repressiven Diktaturen deren führende Repräsentanten oftmals ganz ungeniert die Taschen vollstopften.

In der Bundesrepublik wurde bisher mehr oder auch weniger erfolgreich versucht, einer beginnenden Ghettoisierung von Minderheiten gegenzusteuern, kriminellen Clans so den Boden zu entziehen oder ihren Vormarsch zumindest auszubremsen. Für die im ebenfalls Vormarsch befindliche Rechte sind Sozialprojekte zur Förderung von Angehörigen ethnische Minderheiten hingegen ein Werk des Teufels. Nachgewiesene Fälle von Clan-Kriminalität werden dahingehend instrumentalisiert, solche Förderungen ganz zu streichen.

Es handelt sich bei der Ideologie rechter Parteien und zunehmend auch von Politikern der sogenannten bürgerlichen Mitte schlicht um die Propagierung von Verteilungskämpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen um knapper werdende Soziallleistungen. Der Rückblick auf in der Vergangenheit tobende Bandenkriege zeigt, zu was für Zuständen die Umsetzung einer solchen Ideologie letztlich führen kann.

 

Verwendete Literatur

Herbert Asbury: „Gangs of New York“, Wilhelm Heyne Verlag, München 2003

Alexej Kock / Uwe Müller: „Fast jeder zehnte AfD-Abgeordnete hat Ärger mit dem Gesetz“, in: „Die Welt“ vom 6. Mai 2018

Gerd Bedszent
lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

Sozialer Status und Existenzsicherung in Zeiten der Pandemie

Um „die Wirtschaft“ abzusichern, werden Milliardenpakete geschnürt und Zuschüsse sowie billige Kredite an Unternehmen verteilt. Die Armen aber müssen warten. Seit Beginn der Ausbreitung des Coronavirus haben sich deshalb Gruppen und Organisationen, die sich für Menschen in prekären Lebenssituationen einsetzen, zu Wort gemeldet, die sich abzeichnende Notsituation Betroffener gegenüber Politik und Öffentlichkeit geschildert und sozialpolitische Forderungen erhoben.

Der Erwerbslosenverein Tacheles e.V. veröffentlichte bereits am 21. März 2020 „29 Vorschläge“, die zum Teil sofort oder aber nach vorheriger Gesetzesänderung umgesetzt werden könnten, um die Versorgung aller einkommensschwacher Haushalte sicherzustellen. Um Preissteigerungen und Mehrkosten (Schließung vieler Tafeln) zu kompensieren, wird beispielsweise eine Einmalzahlung in Höhe von 500 Euro für alle Beziehenden von Grundsicherung, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungen, Wohngeld oder einer niedrigen Rente vorgeschlagen. Daneben sollte während der laufenden Coronakrise der jeweilige Regelbedarf dieser Gruppen temporär um einen Zuschlag von 100 Euro erhöht werden. Damit könnten anfallende Mehrkosten für gesundes, vitaminreiches Essen abgefedert und die wegfallende kostenlose Essensversorgung von Kindern wegen Kita- und Schulschließungen ersetzt werden. Außerdem wären zu erwartende steigende Lebensmittelpreise auszugleichen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert laut Pressemitteilung vom 31. März 2020 ebenfalls „eine sofortige Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung um 100 Euro pro Monat und Haushaltsmitglied, um insbesondere eine ausgewogene Ernährung sicherzustellen“. Zusätzlich hält er eine Einmalzahlung von 200 Euro für coronakrisenbedingte Mehraufwendungen für notwendig (etwa für Arzneimittel oder zur Begleichung erhöhter Energiekosten).

Auch für den Politologen und Armutsforscher Christoph Butterwegge wirkt sich die Corona-Krise nicht allein auf die Immunschwachen, sondern ebenfalls auf die Einkommensschwachen fatal aus. So verweist er darauf, dass die Einnahmen von Bettler*innen, Pfandsammler*innen und Verkäufer*innen von Straßenzeitungen sinken würden, da die Straßen wegen der Infektionsgefahr leergefegt seien und alle Leute eine Infektion fürchteten. Damit, so Butterwegge, werde die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der Ärmsten vollends zerstört. Deshalb fordert auch er einen Rettungsschirm für die Allerärmsten. Konkret erwarte er einen „Ernährungszuschlag“ von monatlich 100 Euro für Hartz-IV-Bezieher*innen sowie Empfänger*innen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Über 940 gemeinnützige Tafeln in Deutschland sammeln überschüssige Lebensmittel von Händlern bzw. Herstellern und verteilen diese regelmäßig an mehr als 1,6 Millionen bedürftige Menschen. Über 400 davon wurden bis Ende März 2020 wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Auch die Dachorganisation der politisch durchaus umstrittenen Tafelbewegung, die Tafel Deutschland e.V., forderte in einem Brief an Bundessozialminister Hubertus Heil unter anderem eine vorübergehende Erhöhung der ALG-II-Sätze.

Die Folgekosten der Corona-Krise könnten sich auch für Teile der Mieterschaft dramatisch entwickeln. Unter dem Eindruck der akuten Krisenlage verbesserte die Bundesregierung zwar den Kündigungsschutz für Mieter*innen. Danach dürfen coronabedingte Mietrückstände aus dem Zeitraum von April bis Juni 2020 nicht zu Kündigungen der Wohnungen führen. Die entstandenen Mietschulden müssen jedoch bis Juli 2022 beglichen werden, zuzüglich etwa vier Prozent Zinsen. Die Regelung bedeutet also lediglich eine Verschiebung der Mietzahlungen für Betroffene der Krise, jedoch keinen Erlass. Am 27. März 2020 veröffentlichten deshalb mehr als 150 Wissenschaftler*innen einen offenen Brief „zur Wohnungsfrage in Zeiten von Corona“, in dem die alleinige Übernahme der angefallenen Mietschulden durch die Immobilienwirtschaft als Folgekosten der Pandemie gefordert wird. Neben einem sofortigen Moratorium von Kündigungen, Zwangsräumungen, Mieterhöhungen, Energie- und Wassersperren für Wohn- und Gewerbemieter*innen wird zudem die Unterbringung Wohnungs- und Obdachloser in Hotels und leeren Wohnungen gefordert.

Mit der Mitteilung vom 7. April 2020 schließt sich ein Zusammenschluss mehrerer sozialer Organisationen (Flüchtlingsrat Berlin, Bündnis solidarische Stadt, Wohnungslosenparlament u.a.) diesen Forderungen an und stellt fest:

“Während zahlreiche Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung zum Schutz vor dem Coronavirus verordnet werden, leben zehntausende Menschen in Berlin in Geflüchteten-, Wohnungslosen- und Obdachlosenunterkünften, auf engstem Raum in Mehrbettzimmern, mit Gemeinschaftsbädern und/oder Gemeinschaftsküchen (…) Kontakt- und Abstandsverbote einzuhalten ist in dieser Situation unmöglich. Hinzu kommen mehrere tausend obdachlos auf der Straße lebende Menschen, die sich so gut wie gar nicht vor dem Virus schützen können.“

Deshalb setzen sich die Organisationen für die umgehende Unterbringung aller Wohnungs- und Obdachlosen in Wohnungen, leerstehenden Hotelzimmern und Ferien- oder Businessappartements ein und fordern die Auflösung von Massenunterkünften, in denen der Infektionsschutz nicht umsetzbar ist.

Quellen:

„Tacheles ‒ Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Krise für einkommensschwache Haushalte. Ein umfassendes Forderungspaket an die Politik und Verwaltung, 21. März 2020

https://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/2626/

„Corona-Krise: Paritätischer fordert Notprogramm für Menschen in Hartz IV“, Pressemeldung vom 31. März 2020

https://www.der-paritaetische.de/presse/corona-krise-paritaetischer-fordert-notprogramm-fuer-menschen-in-hartz-iv/

Christoph Butterwegge: „Weniger Ungleichheit durch die Corona-Krise? Wirtschaftliche und soziale Folgen der Pandemie“, 8. April 2020

https://www.blickpunkt-wiso.de/post/weniger-ungleichheit-durch-die-corona-krise-wirtschaftliche-und-soziale-folgen-der-pandemie–2362.html

Thoralf Cleven: „Armutsforscher fordert ‚Rettungsschirm für die Allerärmsten‘“, 31. März 2020

https://www.rnd.de/politik/armut-in-der-corona-krise-armutsforscher-fordert-rettungsschirme-fur-die-allerarmsten-XV6L5CYRD5FV3KRUFBCPJHQ7TQ.html

„Immobilienwirtschaft an den Kosten der Corona-Krise beteiligen. Offener Brief von Wissenschaftler*innen zur Wohnungsfrage in Zeiten von Corona“, 27. März 2020

https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/announcement/view/72

„Tafeln fordern stärkere Hilfen für arme Menschen in der Corona-Krise“, Pressemitteilung der Tafel Deutschland e.V. vom 30. März 2020

https://www.tafel.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2020/tafeln-fordern-staerkere-hilfen-fuer-arme-menschen-in-der-corona-krise/

„Menschenleben schützen! Massenunterkünfte auflösen! Wohnungen statt Lager!“

Gemeinsame Pressemitteilung von We’ll Come United Berlin und Brandenburg, AK Wohnungsnot, Unter Druck e.V., Women in Exile, Selbstvertretung wohnungsloser Menschen/Wohnungslosentreffen, Wohnungslosenparlament, Bündnis solidarische Stadt, Flüchtlingsrat Berlin e.V., 7. April 2020

https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/07-04-2020-menschenleben-schuetzen-massenunterkuenfte-aufloesen-wohnungen-statt-lager/

 

 

Fehlender Gesundheitsschutz beim Krisengewinner Amazon

Zu den größten ökonomischen Gewinnern der Corona-Pandemie gehören die großen amerikanischen internetbasierten Konzerne. Von der Verlagerung des Konsums in den Onlinehandel profitiert vor allem Amazon. Der Online-Konzern kündigte deshalb an, allein in den USA 100.000 neue Mitarbeiter*innen einzustellen (aktuell beschäftigt das Unternehmen dort rund 800.000 Menschen). Zugleich wächst aber die Wut der Beschäftigten über die Arbeitsbedingungen. Weltweit protestieren Angestellte des Unternehmens gegen einen offensichtlich mangelhaften Schutz vor Infektionen am Arbeitsplatz, also in den großen Hallen, in denen zum Teil Tausende Menschen mit dem Verpacken und Verschicken von Waren beschäftigt sind.

Ein Lagerarbeiter in New York hatte deshalb einen spontanen Streik mitorganisiert und wurde aus diesem Anlass Ende März dieses Jahres entlassen. Die Reaktion des Konzerns erwies sich allerdings als PR-Desaster, denn sowohl der Bürgermeister Bill de Blasio als auch die zuständige Generalstaatsanwältin zeigten sich verärgert. De Blasio gab bekannt, dass er eine Untersuchung des Vorfalls durch den Menschenrechtsbeauftragten der Stadt angeordnet habe; die Staatsanwältin bezeichnete die Entlassung als „unmoralisch und unmenschlich“. (Wirtschaftswoche, 1. April 2020)

Auch in Deutschland stehen die Arbeitsbedingungen bei Amazon in der Kritik. Die taz berichtet, dass viele Angestellte an einzelnen Standorten mit Bussen zur Arbeit gefahren würden. An den Haltestellen und in den Bussen ließen sich Kontakte zwischen den oft dicht an dicht gedrängt stehenden Menschen kaum vermeiden. Am Arbeitsplatz sei der Mindestabstand zwischen den Beschäftigten nicht einhaltbar. Eine Mitarbeiterin wirft dem Management vor, dieses würde sich aus der Verantwortung stehlen, „schön sicher in ihrem Homeoffice, während sich das Fußvolk infiziert“. (taz, 3. April 2020)

Andreas Gangl, Beschäftigter bei Amazon in Bad Hersfeld und Gewerkschaftsaktivist, fordert deshalb wie viele seiner Kolleg*innen, das Lager dort komplett zu schließen und die Leute bezahlt freizustellen. Bad Hersfeld sei letztlich nicht versorgungsrelevant: „Wegen Klamotten und Alkohol muss man nicht weiterarbeiten.“ (SoZ 03/2020)

Die taz beschreibt die wirtschaftliche Bedeutung des Konzerns: „Wie kaum ein anderes Unternehmen profitiert Amazon von der Coronakrise. Insgesamt 13 Logistikzentren mit mehr als 13.000 festangestellten Mitarbeiter*innen gibt es in Deutschland. Allein in den vergangenen zwei Wochen hat der Konzern weltweit rund 10 Milliarden Dollar Gewinn erzielt, die Amazon-Aktie ist mitten in einer der schwärzesten Börsenzeiten um 15 Prozent in die Höhe geschnellt. (…)

Das Vermögen von Amazon-Gründer Jeff Bezos liegt nach aktueller Schätzung bei 119,9 Milliarden US-Dollar. Tendenz: steigend. Allein der deutsche Ableger von Amazon hat im zweiten Halbjahr 2019 einen Umsatz von 15,6 Milliarden Euro erzielt. Theoretisch könnte der Händler den Versand von nicht systemrelevanten Produkten bis zum Ende der Pandemie einstellen – und so eine weitere Verbreitung des Virus unter Mitarbeitenden eindämmen. Doch niemand hat an der Coronakrise bislang mehr verdient als der reichste Mann der Welt.“ (taz, 3. April 2020)

Quellen:

„Amazon gerät wegen Kündigung von Streik-Organisator unter Druck“, WirtschaftsWoche, 1. April 2020

https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/online-haendler-amazon-geraet-wegen-kuendigung-von-streik-organisator-unter-druck/25702256.html

Sarah Ulrich: „Die Angst geht um: Amazon-Mitarbeiter in Coronakrise“, taz, 3. April 2020

https://taz.de/Amazon-Mitarbeiter-in-Coronakrise/!5673469/

„Corona Prime bei Amazon. Damit das Geschäft läuft“, Gespräch mit Andreas Gangl, SoZ 03/2020

https://www.sozonline.de/2020/03/corona-prime-bei-amazon/

 

 

Gegen Demokratieabbau in der Corona-Krise

In den letzten Wochen wurden mit Blick auf den Gesundheitsschutz im politischen Schnellverfahren elementare Grundrechte außer Kraft gesetzt oder massiv eingeschränkt. LobbyControl e.V. verweist in aktuellen Beiträgen darauf, dass die Corona-Krise die Gefahr in sich berge, gesellschaftliche Machtungleichgewichte zu verstärken und soziale Spaltungen zu vergrößern. „Uns treibt dabei die Frage um: Wer nimmt Einfluss auf die Lastenverteilung in der Krise – und wer profitiert am Ende davon? Wir wollen in dieser schwierigen Zeit einmal mehr verhindern, dass finanzstarke Lobbygruppen politische Entscheidungsprozesse einseitig verzerren oder ausnutzen. Deswegen brauchen wir Transparenz, Ausgewogenheit und eine breite Beteiligung in politischen Entscheidungsprozessen.“

Insbesondere müssten die eingeführten Grundrechtseinschränkungen laufend überprüft und hinsichtlich Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit kritisch diskutiert werden. Das Ziel des Schutzes der Gesundheit der Menschen sei gegen die Einschränkungen von Freiheitsrechten sorgsam abzuwägen und einschränkende Maßnahmen seien zeitlich klar zu befristen.

In bisher zwei Ausgaben der „Lobby-News rund um Corona“ bietet LobbyControl auf seiner Webseite ausgewählte Artikel und Kommentare zur aktuellen Krisensituation. 

Quelle:

LobbyControl, „Lobbyismus und Demokratie in der Corona-Krise“, 3. April 2020

(https://www.lobbycontrol.de/2020/04/lobbyismus-und-demokratie-in-der-corona-krise/?pk_source=nl&pk_campaign=20200403)

 

 

„Sabotage durch Verfahren“

 Die Folgen des Coronavirus bekommt auch die Reiseplattform Airbnb deutlich zu spüren. So erwarten Experten, dass viele Eigentümer Wohnungen, die sie bislang entweder direkt an Touristen oder aber an das Unternehmen vermietet haben, wieder in reguläre Mietwohnungen umwandeln. Die Erlöse von Airbnb sollen deshalb in den Monaten Februar und März dieses Jahres regelrecht eingebrochen sein. Die Hoffnung, dass der Virus das Problem der kriminellen Zweckentfremdung von Wohnraum für immer beseitigt, dürfte sich jedoch als trügerisch erweisen. Denn nach dem Ende der Krise wird das Geschäftsmodell der Onlineplattformen wohl wieder volle Fahrt aufnehmen.

Die Politik bleibt also am Zug – und versagt weitgehend bei der mieterfreundlichen Regulierung des Wohnungsmarkts. So sind seit dem August 2018 im Bundesland Berlin Verstöße gegen das Zweckentfremdungsverbotsgesetz, mit dem der Leerstand und die Überlassung von Wohnungen als Ferienapartments reduziert werden soll, bußgeldbewehrt. Die Umsetzung des Gesetzes aber bleibt weitgehend wirkungslos. „Nach Untersuchungen des rbb und des Tagesspiegel sind rund 85% aller Angebote nicht bei den Bezirksämtern registriert worden und somit illegal. Bei vielen Anwohner/innen wächst der Frust über die Tolerierung von Zweckentfremdung und Leerstand. Bürgerhinweise versanden in Schubladen, die Arbeit der zuständigen Amtsstellen ist alles andere als transparent“, schreibt etwa das Berliner MieterEcho Anfang des Jahres.

Dass es kaum gelingt, mit dem Gesetz zweckentfremdete Wohnungen auf den Wohnungsmarkt zurückzuführen, liegt in erster Linie an der teils völlig überlasteten Verwaltung in den zuständigen Bezirken der Hauptstadt. Die für Recherchen und Vor-Ort-Kontrollen zuständigen Fachabteilungen sind personell stark unterbesetzt, so dass die geforderte Anmeldepflicht der zeitweise an Touristen vermieteten Wohnungen kaum überprüft werden kann. Zudem fehlt es den Bezirken offenbar am Mut, die vorgesehenen Ordnungsgelder (die bis zu 500.000 Euro betragen können) im Falle von Verstößen tatsächlich zu verhängen.

Die gleichen Defizite zeigen sich bei der Durchsetzung der Regelungen des seit 1990 geltenden Wohnungsaufsichtsgesetzes. Die Bezirke sollen unter anderem prüfen, wo in Berlin Eigentümer ihre Wohnungen vernachlässigen und sie verfallen lassen. Für die knapp 1,5 Millionen Mietwohnungen in der Stadt sind in den Verwaltungen der zwölf Bezirken zurzeit nur etwas mehr als 20 Stellen vorhanden, deren Inhaber die notwendigen Instandhaltungsmaßnahmen von Immobilien auf ihre Umsetzung zu kontrollieren haben. In einigen Bezirken steht offensichtlich nur ein Mitarbeiter bzw. eine Mitarbeiterin für die Kontrolle von jeweils über 100.000 Wohnungen bereit. „Es scheint wie so oft in Berlin: Die Regeln sind da, aber die Personalausstattung ist nicht bereit dafür.“ (Tagesspiegel, 1. Februar 2020)

Auch bei der Umsetzung des viel diskutierten Mietendeckels in Berlin werden den bezirklichen Wohnungsämtern wichtige Aufgaben übertragen. Dazu gehört vor allem die Überwachung der Einhaltung der Mietobergrenzen und das Feststellen von Ordnungswidrigkeiten bei Verstößen gegen die gesetzlichen Bestimmungen. Einzelne bezirkliche Wohnungsämter werden von Stadträten geleitet, die der CDU bzw. der AfD angehören – von Parteien also, die den Mietendeckel für verfassungswidrig halten, „so dass es mit dem Willen zu seiner Durchsetzung nicht weit her sein dürfte“. (MieterEcho März 2020)

Gesetzliche Regelungen und Verordnungen bieten der Exekutive durchaus Möglichkeiten, gerade gegen kriminelle Akteure in der Wohnungswirtschaft und darüber hinaus effektiv vorzugehen. Aber der politische Wille dazu fehlt vielfach. Deshalb wird in einer Metropole wie Berlin, in der sich börsennotierte Wohnungskonzerne und international agierende Wohnraumvermittler tummeln, die Durchsetzung vieler rechtlicher Normen den Bezirken als dezentrale Einheiten aufgebürdet. Zum Teil geschieht dies gegen den erklärten Willen der zuständigen Bezirksbürgermeister*innen, die sehr genau wissen, dass sie Regularien umzusetzen haben, die materiell nicht ausreichend unterfüttert sind (unzureichendes Fachpersonal und IT-Kapazitäten).

Ein weiteres prominentes Beispiel verdeutlicht, wie die Substanz eines Gesetzes durch das perfide Agieren der zuständigen Landesregierung unterlaufen wird. Mitte des vergangenen Jahres übergaben Aktivisten dem Berliner Senat 77.000 Unterschriften, die für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ gesammelt worden waren. Durch einen anschließenden Volksentscheid sollen etwa 240.000 Wohnungen von Immobilienkonzernen vergesellschaftet werden. Die rechtliche Prüfung des Volksbegehrens ist jedoch immer noch beim Innensenator anhängig – bereits seit mehr als acht Monaten. Der Publizist Matthias Greffrath nannte dieses taktische Verhalten der Berliner Regierung treffend „Sabotage durch Verfahren“.

Quellen:

Sha Hua, Astrid Dörner u.a.: „Wohnungsmarkt ist vorläufig außer Betrieb“, Handelsblatt, 28. März 2020

„Umsatz von Airbnb halbiert sich“, SPIEGEL Online, 24. März 2020

Heiko Lindmüller: „Zweckentfremdungsverbot: Ein zahnloser Tiger?“, MieterEcho, Januar 2020, Seite 19

Philipp Möller: „Wildwest in den Bezirken“, MieterEcho, März 2020, Seite 14

Julius Betschka: „Warum Berliner Bezirke an der Wohnungsaufsicht scheitern“, Tagesspiegel, 1. Februar 2020

Mathias Greffrath: „Saisonschluss“, Deutschlandfunk: Essay und Diskurs, 15. Dezember 2019

 

Der Autor
Joachim Maiworm
ist Redakteur von BIG Business Crime