Editorial zu BIG Business Crime 2/2024

 In einem inzwischen wieder gelöschten Tweet hat Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD für die Wahl zum europäischen Parlament, Folgendes gepostet: „Natürlich ist Korruption korreliert mit Kultur und Kultur mit Ethnie.“ In verständliches Deutsch übersetzt heißt das, dass bei bestimmten Ethnien Korruption quasi von Natur aus zur Kultur gehöre und deshalb weiter verbreitet sei als bei anderen, beispielsweise unserer eigenen. Klingt überzeugend, wissen wir doch schon, dass es sich in Fragen der Kriminalität generell so verhält. Denken wir nur an die arabischen Clans und all die fremdländischen Mafiosi, die sich in Deutschland tummeln. Da hilft nur eins: Remigration. Dann ist das Problem gelöst.

Zugegeben, das ist eine satirische Zuspitzung, aber anders als mit Überspitzung ist der Argumentation der AfD und ihrer Vertreter schlecht beizukommen. Dabei ist deren Strickmuster recht einfach und immer dasselbe: Es geht darum, alle Fragen und Probleme möglichst in solche der Kultur und der ethnischen Zugehörigkeit zu verwandeln. Dann wird aus dem Interessengegensatz zwischen Oben und Unten, dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital einer zwischen „uns“ und „denen“. Es gilt: „Wir sind das Volk“ – und „die“ eine abgehobene Elite mit globalistischer Agenda, die den Zustrom kulturfremder Wirtschaftsflüchtlinge nicht verhindert, wenn nicht sogar fördert.

„It’s the economy, stupid“ – den Slogan, mit dem Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaftswahlen gewann, möchte man all denen zurufen, die vor allem Kulturkämpfe führen wollen, statt sich um die realen Sorgen und Nöte der Menschen zu kümmern.

Genau diesen Slogan weist aber Maximilian Krah bezeichnenderweise in seinem letztes Jahr erschienenen Buch „Politik von rechts“ strikt zurück, weil sonst „alles am Ende ein Verteilungskampf zwischen gesellschaftlichen Gruppen“ sei. Für rechte Wirtschaftspolitik gelte vielmehr: „Daß dem Einzelnen materielle Güter zugeordnet sind, zum Gebrauch wie zum Aufbau von Vermögen, ist Teil der natürlichen Ordnung“. Schlecht und schädlich sei nur der „globale Kapitalismus einer kleinen Oligarchie“. Hier fallen dann die Namen der üblichen Verdächtigen: Bill Gates und George Soros.

Redaktion BIG Business Crime

Benko als Unternehmer insolvent

 Nach dem Bankrott eines Großteils seiner Signa-Gruppe hat das Landesgericht Innsbruck nun das Konkursverfahren über das Vermögen des Unternehmers René Benko eröffnet. Denn Presseberichten zufolge stellte Benko zuvor am 7. März einen Antrag auf Privatinsolvenz als Einzelunternehmer, bei der er – wie bei einer reinen Privatinsolvenz – ebenfalls mit seinem ganzen Vermögen haftet.

Verarmen wird der Gründer des Firmenimperiums aber nicht. Kurz bevor die Signa Holding Ende November 2023 Insolvenz anmeldete, waren 315 Millionen Euro von dem Konzern an Familien-Stiftungen geflossen, die Benko gegründet hatte. Dazu gehören die Familie-Benko-Stiftung, die Laura-Stiftung (nach seiner Tochter benannt) und die Ingbe-Stiftung (Benkos Mutter als Namensträgerin), die in der Steueroase Liechtenstein sitzt. „Privatstiftungen in dem Fürstentum“, schreibt die Süddeutsche Zeitung am 18. Januar dieses Jahres, „sind bekanntlich besonders diskrete Konstrukte und für ausländische Steuerbehörden kaum zu knacken.“ Es wird davon ausgegangen, dass die gigantische Summe weder zur Insolvenzmasse des Signa-Konzerns noch des Unternehmers Benko gehört, also für die Gläubiger nicht einzutreiben ist. Gewinne der Signa-Unternehmen flossen zwar in die Stiftungen, deren „Begünstigte“ sind aber geheim. Vermutlich gehört René Benko selbst nicht darunter.

Auch verschiedene Luxusgüter, die Benkos glamorösen Lebensstil prägen, stehen nicht in seinem Eigentum, „sondern von Gesellschaften, die im Umfeld von Benko-Privatstiftungen und von Signa-Firmen angesiedelt sind“. (Süddeutsche Zeitung vom 8. März 2024) Seine opulente Villa in Innsbruck gehört ihm ebenso wenig wie sein großes Chalet in einem Nobelskiort am Arlberg oder sein Privatjet. Auf diese Vermögenswerte der Stiftungen, wie auch auf wertvolle Kunstwerke von Pablo Picasso und Jean-Michel Basquiat, kann nicht direkt zugegriffen werden, um Benkos Schulden zu bezahlen.

Benko besetzte zwar zuletzt keine offizielle Management-Position bei Signa, besaß aber Beraterverträge mit einzelnen Gesellschaften der Gruppe. Der Salzburger Wirtschafts-Professor Leonhard Dobusch verweist deshalb auf die Millionen Euro an Beraterhonoraren, die Benko für die Beratung seiner eigenen, formal unabhängigen Signa eingestrichen habe. Es solle auch geschaut werde, was daraus geworden sei. (taz)

Langweilig wird die „Causa Benko“, die sich noch über Jahre hinziehen wird, jedenfalls nicht:

„‚Es ist das das bisher spannendste Verfahren im gesamten Insolvenzkomplex um Signa‘, meint Gerhard Weinhofer von der Gläubigerschutzorganisation Creditreform. ‚Denn jetzt muss René Benko Farbe bekennen und beispielsweise konkret darlegen, welche Rolle die Stiftungen spielen, welche Zwecke sie konkret haben und wo die Gelder, die er als Berater kassiert hat, hingeflossen sind‘.“ (Handelsblatt)

 

Quellen:

Patrick Guyton: „Sozialwohnung droht nicht“, taz (Online) vom 8. März 2024
https://taz.de/Was-Rene-Benkos-Insolvenz-bedeutet/!5997034&s/

Florian Kolf/René Bender: „Landesgericht Innsbruck eröffnet Konkursverfahren gegen René Benko“, Handelsblatt (Online) vom 7. März 2024
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/signa-gruender-landesgericht-innsbruck-eroeffnet-konkursverfahren-gegen-rene-benko/100021721.html 

Klaus Ott/Uwe Ritzer: „Im Namen der Familie“, Süddeutsche Zeitung vom 18. Januar 2024

Alexander Reich: „Armer Mann des Tages: René Benko“, junge Welt (Online) vom 9. März 2024
https://www.jungewelt.de/artikel/470998.armer-mann-des-tages-rené-benko.html 

„Signa-Gründer im Insolvenzverfahren: Benko-Vermögen im Fokus“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 8. März 2024
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/immobilien-signa-gruender-im-insolvenzverfahren-benko-vermoegen-im-fokus-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240308-99-267534 

Zonenbildung: Die neue Geografie des Kapitalismus

Im rechtswissenschaftlichen und politischen Diskurs wird die Auffassung vertreten, das seit Anfang des letzten Jahres in Deutschland geltende Lieferkettengesetz und die aktuelle Debatte um eine entsprechende EU-Richtlinie ließe eine internationale Rechtsentwicklung erkennen, die auf eine Durchsetzung von Normen des Menschenrechts in der globalisierten Wirtschaft gerichtet sei.

Unabhängig davon, ob man es für illusionär hält, die kapitalistische Produktionsweise könne die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten – ausgeblendet wird in der Diskussion, dass marktradikale Akteure seit Jahren auch auf juristischer Ebene weltweit erfolgreich in die genau entgegengesetzte Richtung arbeiten. Sie wollen, wie es der Untertitel des neuen Buches von Quinn Slobodian anzeigt, „die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen“. Gemeint sind eigentümliche Enklaven, die sich zwar räumlich innerhalb von nationalstaatlichen Territorien befinden, zugleich aber von den dort geltenden Regeln ausgenommen sind. Der Autor fasst sie unter dem Begriff „Zonen“ zusammen. Dort sollen sich ausschließlich die Gesetze des Marktes entfalten und Investoren selber festlegen können, an welche Regeln sie sich halten wollen. Slobodian nutzt auch die Metapher der Perforation, um zu verdeutlichen, wie der Kapitalismus Löcher in das Territorium des Nationalstaates stanzt, um Ausnahmezonen mit eigenen Gesetzen zu errichten. Mit der Folge, dass neue Rechtsräume entstehen, in denen bislang geltende Steuerpflichten, Arbeitsrechte und Umweltauflagen unterlaufen oder ganz abgeschafft werden.

Slobodian zitiert zu Beginn seines Buches eine provokante Aussage des rechtslibertären Tech-Investors Peter Thiel aus dem Jahr 2009, nach dem Freiheit und Demokratie unvereinbar seien (vgl. Beitrag in BIG Business Crime, Beilage zu Stichwort BAYER Nr. 1/2023). Die Einlassung des US-Milliardärs zeugt dabei nicht von reinem Wunschdenken, denn Slobodian verweist auf mittlerweile weltweit mehr als 5.400 tatsächlich existierende Zonen, die eine verwirrende Vielfalt an Formen annehmen; nach einer offiziellen Einstufung gibt es demnach mindestens 82 Varianten. Darunter fallen einzelne Produktionsstätten, Gewebesteueroasen auf Gemeindebasis, aber auch urbane Megaprojekte und ausgedehnte Sonderwirtschaftszonen. 

Sie alle stehen für einen „Crack Up Capitalism“ (Titel der Originalausgabe) – verstanden als eine Utopie des freien Marktes, die nach Ansicht von Anhängern der Zonenbildung „durch Sezession und Fragmentierung der Nationalstaaten“ verwirklicht werden könne. Die Idee, dass der Kapitalismus sehr viel wichtiger sei als die Demokratie und vor „dem Zugriff des Volkes“ gesichert werden müsse, entspricht nach Meinung des Buchautors einer gezielt entwickelten Geisteshaltung, die seit fünfzig Jahren unmerklich auf dem Vormarsch sei und sich auf „unsere Gesetze, Institutionen und politische Bestrebungen“ auswirke.

Slobodian entwirft im Grunde eine Verfallsgeschichte der Demokratie, wobei er seine Grundthese eines von Zonen übersäten „Zersplitterungskapitalismus“ mit Blick auf mehrere geografische Schwerpunkte und anhand von insgesamt elf Fallstudien abhandelt. Unter anderem beschreibt er markante Entwicklungen in Hongkong und Singapur, London und Liechtenstein, Dubai und Somalia – alles Orte, wo sich Kapitalismus und Demokratie auseinanderentwickeln würden. Dennoch entlarvt der Autor das Ziel, möglichst viele Zonen tatsächlich vom Staat zu „befreien“, als reine Rhetorik, denn letztlich seien sie Werkzeuge des Staates (und des Kapitals). Schließlich würden die Staaten sie einsetzen, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Soll zum einen heißen, dass die Marktradikalen ihre Ziele nicht ohne staatliche Interventionen umsetzen können und sich deshalb nicht zufällig und nur scheinbar auf paradoxe Weise bewundernd über autoritäre Staaten äußern (vor allem über deren „Effizienz“). Heißt zum anderen, dass Staaten wie Saudi-Arabien oder China ihre Position als staatskapitalistische (Groß)Mächte durch den Bau von „extraterritorialen“ Megastädten oder die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen stärken wollen – und sich dabei oft genug über das libertäre Prinzip des Schutzes der Eigentumsrechte brutal hinwegsetzen (Vertreibung von Dorfbewohnern usw.).

Quinn Slobodian: Kapitalismus ohne Demokratie. Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen, ISBN 978-3-518-43146-7,  Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 428 Seiten, 32 Euro

 

Die Steuertricks der Großkonzerne

Unter diesem Titel berichtete Christine Dankbar am 12. Februar 2024 im Wirtschaftsteil der Frankfurter Rundschau über eine neue Studie des Wirtschaftsexperten Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Der Titel ist ein Wiedergänger. Gibt man ihn bei Google in die Suchmaske ein, erscheinen etliche Artikel mit gleich oder ähnlich lautenden Überschriften aus den letzten Jahrzehnten. Es hat sich offenbar nicht viel geändert, trotz aller Reformbemühungen in den USA, der Europäischen Union und den Staaten der OECD.

Gerade die internationalen Digitalriesen wie Google schaffen es nach wie vor, sich trotz exorbitanter Umsätze und traumhafter Gewinnmargen weitgehend um Steuerzahlungen zu drücken. Ihre Hauptmethode dabei ist die geschickte Verlagerung von Gewinnen.

Die neue Studie entstand im Auftrag der Linken im Europaparlament. Grundlage für sie waren die Geschäftsberichte dreier Großunternehmen, die in der EU aktiv sind: Booking.com, Microsoft und Alphabet (der Mutterkonzern von Google).

Dabei zeigt das Beispiel von Booking.com in schlagender Weise, dass zur Steuervermeidung nicht einmal mehr eine Steueroase notwendig ist. Der Hauptsitz des Unternehmens, eines der wenigen großen europäischen Digitalkonzerne, sind die Niederlande. Hier arbeiten weniger als die Hälfte der mehr als 10 000 Angestellten des Konzerns – doch der weitaus größte Teil des Gewinns fällt in diesem Land an.

Wie ist das möglich? Booking.com hat in 71 Ländern Tochtergesellschaften, deren Angestellte aber nach geltendem Steuerrecht nur sogenannte Supportdienste leisten, für die sie vom Mutterkonzern entlohnt werden. Der Löwenanteil der Gewinne wird auf diese Weise scheinbar in den Niederlanden generiert. Dort wird er mit einem effektiven Niedrig-Steuersatz von 15 bis 16 Prozent belastet. Danach werden die Gewinne über eine britische Zwischengesellschaft in die US-amerikanische Zentrale transferiert.

„Diese Struktur vermeidet Steuern auf drei Ebenen“, heißt es in der Studie: „Über den hohen Gewinnanteil der Niederlande und den dortigen Steuervorteil, bei der Umsatzsteuer sowie bei der Besteuerung der Gewinnausschüttung.“ Insgesamt habe sich Booking.com auf diese Weise zwischen 2005 und 2022 Steuerzahlungen in Höhe von 3,6 bis 4 Milliarden Euro erspart – oder, wie man auch sagen könnte, als Zusatzgewinn legal ergaunert. (dem Gemeinwesen entwendet)

In Wirklichkeit ist es noch grotesker: Normalerweise müssen Firmen in den Niederlanden 25 Prozent Unternehmenssteuer zahlen. Doch 2010 erfand man zur „Wirtschaftsförderung“ für „innovative Tätigkeiten“ einen reduzierten Steuersatz von 9 Prozent. Diese „Innovation Box Tax“ trägt den passenden Spitznamen „niederländische Sparbüchse“. Der niederländische Staat hat dennoch etwas davon: Wegen seiner hohen Gewinne zahlte Booking.com von 2003 bis 2021 geschätzte mehr als vier Milliarden Euro Steuern. Die entgingen den anderen Staaten, in denen der Konzern Niederlassungen hat.

Auch Microsoft hat seine Methode, Steuern durch Gewinnverschiebungen zu vermeiden. Sie sieht anders aus als bei Booking.com. Microsoft geht in drei Schritten vor. Zunächst werden die immateriellen Vermögenswerte, also beispielsweise die Programmcodes für Softwareprodukte wie Windows in den USA entwickelt. Diese Vermögenswerte werden dann ins Ausland transferiert – in Steuerparadiese wie Irland, Puerto Rico und Singapur. Danach erst werden sie den Tochtergesellschaften in den einzelnen Ländern zur Verfügung und in Rechnung gestellt. So wird ein Großteil der Gewinne steuersparend erwirtschaftet.

Obwohl beispielsweise in Irland bestimmte Steuervermeidungsmodelle mittlerweile kassiert wurden, erfreut sich Microsoft immer noch an den Vorteilen des dortigen Standorts: Laut Geschäftsberichten bezahlte Microsoft in den Jahren 2020/21 etwa drei Milliarden US-Dollar Steuern in Irland, was einer Steuerquote von 7,2 Prozent entspricht. Das ist erheblich geringer als der offizielle Steuersatz von 12,5 Prozent.

Auch Alphabet nutzte die irischen Verhältnisse, hat aber den größten Teil seiner Gewinne wieder in die USA zurücktransferiert. Die Steuerquote des Konzerns sank dennoch weiter ab: Im Jahr 2022 wurden gerade einmal 15,9 Prozent an Steuern gezahlt. Alphabet machte sich dabei eine Kombination von Steuerprivilegien zunutze.

Der Dreh ist bei allen Unterschieden immer der gleiche: Die Gewinne werden dorthin verschoben, wo am wenigsten Steuern anfallen. Digitalkonzernen fällt das begreiflicherweise leichter als Industriefirmen. Sie handeln mit immateriellen Werten und Dienstleistungen, die sich bequemer und unauffälliger transferieren lassen.

In Italien und Frankreich wird mittlerweile in diesen Zusammenhängen ermittelt, in Deutschland jedoch bisher nicht. Nicht umsonst hat ja die Bundesrepublik den Ruf, innerhalb von Europa ein Steuerparadies zu sein. Die neue Studie belegt aber vor allem, dass die bisherigen Reformen nicht ausreichten und dass Steuerschlupflöcher in der EU demzufolge viel konsequenter geschlossen werden müssen.

„Die Tech-Giganten nutzen alle Tricks, um ihre Milliarden-Profite kleinzurechnen“, kommentiert Martin Schirdewan, Vorsitzender der Linkspartei und Spitzenkandidat bei den Wahlen zum europäischen Parlament, das Ergebnis der Studie. „Es kann doch nicht sein, dass Booking.com weniger Steuern zahlt als ein mittelständisches Unternehmen aus Franken.“ Bisher kann es genau das.

Quellen:

Christine Dankbar: „Neue Studie deckt Steuertricks auf: So drücken sich Großkonzerne vor Abgaben“,
Frankfurter Rundschau (Online) vom 11. Februar 2024
https://www.fr.de/wirtschaft/steuertricks-tech-konzerne-booking-microsoft-alphabet-europa-linke-schirdewan-92826722.html 

„Digitalkonzerne fair besteuern!“, Autor: Christoph Trautvetter, Studie im Auftrag von: Martin Schirde-wan, Mitglied des Europäischen Parlaments und Ko-Vorsitzender der Fraktion The Left im Europäi-schen Parlament, Brüssel, 2024
https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/wp-content/uploads/2024/02/Digitalkonzerne-fair-besteuern-DIE-LINKE-Copy.pdf 

 

 

 

 

 

 

Die dunkle Seite der Zukunftsstadt: das Projekt „Neom“ in Saudi Arabien  

 Mitten in der Wüste von Saudi-Arabien, im Nordwesten des Königreichs, soll das wohl gigantischste Bauvorhaben der Welt nach und nach Kontur annehmen – „Neom“.* Veranschlagt auf 500 Milliarden Dollar wird es bis 2040, so die Planung, eine Region fast so groß wie Belgien umfassen und neben dem Skiressort Trojena (Ausrichter der Asiatischen Winterspiele 2029), dem Industriestandort Oxagon und der Luxusinsel Sindalah eine Stadt der Superlative als eigentliches Herzstück aufbieten: „The Line“. Konzipiert auf eine Länge von 170 Kilometern und mit gerade einmal 200 Meter Breite beginnt sie am Roten Meer und führt – wie mit dem Lineal gezogen – ins Landesinnere. Zwei gegenüberliegende Reihen von 500 Meter hohen verspiegelten Wolkenkratzern sollen sich künftig horizontal in die Wüste erstrecken. Sollte die futuristische Stadt im Jahr 2040 wirklich fertiggestellt sein, werden dort einmal neun Millionen Menschen leben – auf nur 34 Quadratkilometern, nicht mehr als einem Zehntel der derzeitigen Fläche von München. Das öffentliche Leben spielt sich in der Vorstellung der Planer in der engen, aber begrünten „Schlucht“ zwischen den beiden Hochhausreihen ab. Obwohl das Projekt von vielen Kritikern als reines Fantasieprodukt verhöhnt wurde, sollen im Februar dieses Jahres von der Projektleitung veröffentlichte Luftaufnahmen bereits erste Baufortschritte zeigen.

Warum das alles? Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman stellte das Projekt im Jahr 2017 erstmals vor und versprach im Rahmen seiner „Vision 2030“ nichts weniger, als eine „zivilisatorische Revolution“ auf den Weg zu bringen. Das Leben in „Neom“ solle zu einhundert Prozent klimaneutral sein: mit Solarstrom, Windkraft, und überhaupt den neuesten Technologien, aber ohne motorisierten Individualverkehr. Alle Wege würden zu Fuß (oder aber mit Aufzügen) erledigt. Daneben soll ein unterirdischer Hochgeschwindigkeitszug die gesamte Distanz von „The Line“ in zwanzig Minuten bewältigen. Geplant ist, dass alle für die Bewohner wichtigen Einrichtungen in nur fünf Fußminuten zu erreichen sind.

Mit dieser Idee einer „nachhaltigen“ Stadt will der Prinz offensichtlich zum einen das ramponierte Image seines Landes aufpolieren. Zum anderen gilt es, angesichts langfristig versiegender Ölmilliarden neue Einnahmequellen zu erschließen, vor allem auch mittels erneuerbarer Energien. Damit es aber gelingt, die Wirtschaft in nur wenigen Jahren weitreichend umzubauen und auf High-Tech-Standard zu bringen, müssen weltweit und massiv Investoren und qualifizierte Arbeitskräfte angelockt werden (zum Beispiel als Bewohner von „The Line“). Die geplante Transformation setzt deshalb eine – wenn auch territorial sehr begrenzte – Öffnung des Landes samt gesellschaftlicher Liberalisierung voraus.

Kritische Beobachter nehmen jedoch die Zukunftsträume der vom saudischen Prinzen eingekauften „Neom“-Propagandisten unter Beschuss, die in ihren Promo-Videos von einer naturverbundenen Planstadt als „Sprungbrett des menschlichen Fortschritt“ fantasieren (Frankfurter Rundschau).

Kein ökologisches Vorzeigeprojekt

Dass „Neom“ mit den Prinzipien von Nachhaltigkeit und Klimaneutralität rein gar nichts zu tun hat, stellen Fachleute immer wieder fest. Allein der Bau von „The Line“ verschlingt Unmengen an Beton und Glas. Die dabei anfallenden CO2-Emissionen werden mehr als das Doppelte von dem umfassen, was Deutschland derzeit pro Jahr ausstößt. Das Projekt – so bringt es ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen auf den Punkt – „dürfte in etwa so nachhaltig sein wie eine Skianlage in der Wüste“. (www.md.de)

Massive Verletzung der Menschenrechte

Das Megaprojekt entsteht auch nicht im Niemandsland – wie es die offizielle Sprachregelung weismachen will. Geschätzt 20.000 Menschen aus lokalen Stämmen werden aus ihrer Heimat vertrieben. Ein lautstarker Kritiker der Zwangsumsiedlung wurde 2020 von saudischen Spezialkräften erschossen, mehrere Todesurteile, erfolgten, drakonische Haftstrafen wurden wegen vermeintlichem Terrorismus erlassen: alles im vergangenen Jahr dokumentiert in einem UN-Report des Hochkommissars für Menschenrechte (vgl. Handelsblatt).

Die Arbeits- und Lebensbedingungen für die auf den Baustellen Arbeitenden sind offensichtlich inakzeptabel. So werden zum Beispiel nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen in den Camps der Arbeitskräfte, die für jeweils 10.000 Menschen ausgelegt sind, Beschäftigte aus Indien und Pakistan zu sechst in kleinen Räumen eingezwängt. Kritische Stimmen halten die Situation vor allem der asiatischen Niedriglöhner für noch problematischer als beim Bau der Fußballstadien zur Weltmeisterschaft in Katar (vgl. Frankfurter Rundschau).

Auch eine Reihe deutscher Unternehmen und Top-Manager mischen bei dem Projekt im autokratisch regierten Wüstenstaat kräftig mit, weil sich dort – wie auch bei vielen anderen Modernisierungsprojekten – viel Geld verdienen lässt.

Deutsche Unternehmen profitieren

So berät Ex-Siemens-Chef Klaus Kleinfeld, von 2017 bis 2018 CEO von „Neom“, seitdem ganz offiziell den saudischen Herrscher und behielt den Posten auch – trotz des grausamen Mordes an dem Journalisten Jamal Khashoggi. Siemens bewirbt sich um Aufträge für die Konstruktion der Hochgeschwindigkeitsbahn; eine Tochter von Thyssen-Krupp ist am Bau der größten Wasserstofffabrik der Welt in der „Neom“-Region beteiligt. Die bayerische Bauer AG setzt in der ersten Projektphase riesige Betonpfähle in den Sandboden.

Die Firma Volocopter GmbH aus Bruchsal wird Lufttaxis für „The Line“ liefern. Im November 2022 wurde bekanntgegeben, „Neom“ werde mit 175 Millionen Dollar bei dem Start-Up einsteigen (vgl. ingeneur.de). Mitte des letzten Jahres verkündete das Unternehmen, es seien erste erfolgreiche Testflüge eines senkrecht startenden elektrischen Lufttaxis erfolgt. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass „Neom“ laut CEO des saudischen Projekts „globaler Beschleuniger und Inkubator von Lösungen für die dringendsten Herausforderungen der Welt“ sei (vgl. Webseite des Unternehmens: https://www.volocopter.com/de/newsroom/volocopter-flug-in-neom/).

Das deutsche Architekturbüro Laboratory for Visionary Architecture (LAVA), das einen Teil von „Neom“ entwirft, antwortete auf die Frage von Journalisten, wie es sicherstelle, dass es nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitrage: „Wir bauen kein Gefängnis dort, wir bauen auch kein Gerichtsgebäude (…) dann wäre man da direkt involviert.“ (Deutschlandfunk) Stattdessen entwerfe man Konzepte für Trojena, „Neoms“ geplantes Naherholungsgebiet in den Bergen. In dem Bereich, für das LAVA arbeite, seien keine Menschenrechtsverletzungen bekannt.

Und auch Thyssen-Krupp, Velocopter und Bauer bekräftigen auf Nachfrage: Man bekenne sich zu den Menschenrechten und prüfe, ob sie eingehalten werden. Offensichtlich mit dem Ergebnis, dass bislang keine Konsequenzen für das eigene Engagement zu ziehen sind (ebd.).

Cognitive City: die perfekte Welt der Überwachung

Selbsternannte „Öko-Städte“ werden als „intelligente Städte“ vermarktet. Der Anspruch, eine CO2-freie „Stadt der Zukunft“ zu entwickeln, setzt deshalb voraus, mittels KI-gesteuerter Systeme eine optimierte Infrastruktur bereitzustellen. Dabei reicht es nicht mehr, am Konzept einer sogenannten Smart City festzuhalten. Der neue Leitbegriff lautet „Cognitive City“: „Wurden in aktuellen Smart Cities bisher etwa zehn Prozent der möglichen Nutzerdaten verwendet, sollen es in der Stadt NEOM 90 Prozent sein“. (Business Insider) Dienstleistungen von der Müllabfuhr über das Gesundheitswesen bis hin zu den Zugfahrzeiten, so heißt es weiter, sollen nach dem Willen der Planer durch Daten aus Quellen wie Smartphones und Überwachungstechnologie geregelt werden.

Kritischen Beobachtern ist dabei nicht entgangen, dass die Datensammelwut in einem hochtechnologisierten Gebiet auch als Instrument für eine umfassende Überwachung durch staatliche Sicherheitsdienste eingesetzt werden kann. Vor etwa einem Jahr wurde denn auch darüber spekuliert, ob China den Saudis aufgrund der sich verbessernde Beziehungen zwischen beiden Ländern eine entsprechende erprobte Überwachungstechnologie bereitstellen könnte (ebd.).

Der renommierte Architekturkritiker Deyan Sudjic stellt fest, dass autoritäre Regime ein „tiefverwurzeltes und wohlbegründetes Misstrauen gegenüber konventionellen Städten“ hätten. Denn Städte seien „lästige, unkontrollierbare Orte, die zu Ungehorsam“ neigten (Sudjic, Seite 80). Stattdessen bauten die Machthaber neue Hauptstädte gerne weit weg von Andersdenkenden. Da Mohammed bin Salman jegliche Widerstände gegen seine Version einer Modernisierung des Landes im Keim erstickt, erscheint eine künftige Totalüberwachung des öffentlichen Lebens auch in „Neom“ wahrscheinlich. Die umfangreichen Daten der Bewohner (Bewegungsprofile, Konsumverhalten, biometrische Erkennungszeichen) werden dabei wohl nicht allein im staatlichen Interesse gespeichert und ausgewertet, sondern auch von den Unternehmen und deren Investoren.

Ein neues Recht

Um ausländische Investoren in Scharen anziehen und ihnen Rechtssicherheit in geschäftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht bieten zu können, soll für die innovative Region das in Saudi-Arabien geltende und von der Scharia dominierte rigide islamische Recht nicht gelten. Wie die neuen Regeln genau aussehen werden, scheint allerdings noch unklar zu sein – vermutlich aber werden sie wesentlich weniger restriktiv als im Rest des Landes ausfallen. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian interpretiert „Neom“ als ein „Laboratorium für Experimente mit dem privaten Regieren“. Die Zone solle nicht vom saudischen Staat, sondern von ihren Aktionären betrieben werden, von einer autonomen Regierung, deren Gesetze von den Investoren in einem Statut festgelegt würden. Die Anteilsscheine sollen an der Börse in Riad gehandelt werden. Die einzige Pflicht der Direktoren würde darin bestehen, die Investitionen der Aktionäre zu schützen. Mohammed bin Salam, so Slobodian, hätte „Neom“ denn auch als „erste kapitalistische Stadt der Welt“ bezeichnet (Slobodian, Seite 327).

Bestätigt wird die Sicht Slobodians vom deutschen Berater des saudischen Kronprinzen. Originalton Klaus Kleinfeld:

„Und dann dürfen wir hier alles ausprobieren, ohne dass wir erst auf eine bestehende Infrastruktur Rücksicht nehmen müssen. Auch neue Formen der Gesetzgebung: Wir haben die volle gesetzgeberi-sche Autorität!
Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz hat uns aufgegeben: ‚Schreibt die Gesetze in der denkbar
Investoren-freundlichsten Art und Weise. Und genau das passiert jetzt gerade, mit Hilfe zweier großer
internationaler Anwaltskanzleien.“ (Deutschlandfunk)

„The Line“ ist allerdings nicht die erste Idee für eine am Reißbrett entworfene Öko-Megastadt, die darauf gerichtet ist, den Kapitalismus von allen Beschränkungen zu befreien. Bekanntlich lässt sich das nirgendwo sonst so leicht verwirklichen wie in einer beinharten Autokratie. Der Journalist Claas Gefroi ordnet das Projekt „Neom“ in eine seit Jahren ablaufende Entwicklung ein, die weltweit vorangetrieben werde – mit einer klaren Zielstellung. Neue Städte und Wirtschaftsregionen würden geplant, „die von privaten Kapitalgebern und Unternehmen finanziert, besessen und verwaltet werden und als möglichst autonome Gebiete nicht oder nur noch rudimentär dem Rechts- und Steuersystem des jeweiligen Landes unterliegen“. Auf Grundlage einer auf Ungleichheit und Eigentumsrechten fixierten Ideologie solle ein politisch-ökonomisches System etabliert werden, „das auf maximaler Ungleichheit basiert, jegliche soziale und finanzielle Absicherung der Besitzlosen durch den Staat unterbindet und generell jedwede staatliche Steuerung und Kontrolle ablehnt“. Im Kern, so Gefroi, gehe es um eine Umwandlung von Staatsgebieten in Privatterritorien: „Die Folgen einer solchen libertären Entwicklung wären fatal“. (Gefroi, Seite 46)

*„Neo“ im Kunstwort „Neom“ ist eine Entlehnung aus dem Altgriechischen und repräsentiert das Neue; die Endung „m“ bezieht sich auf das Arabische und steht für die Zukunft (mustaqbal).

Quellen:

Thoralf Cleven: „Megacity Neom: Gigantomanie im Wüstensand“, Frankfurter Rundschau (Online) vom 5. Januar 2023

Anna Gauto: „Neom-Projekt für deutsche Firmen lukrativ – aber auch sauber?“, Handelsblatt (Online) vom 20. Februar 2024
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/saudi-arabien-neom-projekt-fuer-deutsche-firmen-lukrativ-aber-auch-sauber-01/100014785.html 

Claas Gefroi: „Durch die Wüste“, Konkret, 7/2023, Seite 44-46

Dominik Hochwarth: „‚The Line‘ Saudi Arabien: Mehr als ein Märchen aus 1001 Nacht?“, ingenieur.de (VDI Verlag), 6. März 2024
https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/bau/saudische-megacity-the-line-mehr-als-ein-maerchen-aus-1001-nacht/

Tom Porter: „Der saudische Kronprinz will eine milliardenschwere Smart City in der Wüste errichten: China soll dafür Überwachungstechnologie bereitstellen“, Business Insider, 24. Februar 2023
https://www.businessinsider.de/politik/welt/neom-der-saudische-kronprinz-plant-ueberwachte-smart-city/ 

Quinn Slobodian: „Kapitalismus ohne Demokratie“, Berlin, 2023

Deyan Sudjic: „Neom, die Wüstendystopie“, Merkur, April 2023, Seite 77-80

Marc Thörner: „Blut, Sand und Beton“, Deutschlandfunk/WDR (Erstsendung am 20. Februar 2024)
https://www.hoerspielundfeature.de/blut-sand-und-beton-100.html 

 

 

 

 

Krieg als Konjunkturprogramm

 Kapitalismus beruht auf Wachstum. Und kommt das Wirtschaftswachstum (aus welchen Gründen auch immer) ins Stocken, haben wir es über kurz oder lang mit einer Krise zu tun. Krisen gibt es seit dem frühen Kapitalismus – zunächst allerdings im überschaubaren Rahmen. Es gab damals beispielsweise noch genügend Regionen (sogar ganze Kontinente) mit vormoderner oder nicht vorhandener Wirtschaft, in die Unternehmen expandieren konnten, wenn die Wirtschaft ihres Staates ins Stocken geriet. Und es existierten noch reichlich ungenutzte technische Möglichkeiten für die Weiterentwicklung oder auch Neugründung von Industrien.

Die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 war dann aber nicht nur besonders heftig. Sie hatte zudem ihre Hauptursache nicht in vorübergehender Störung des Wirtschaftswachstums (war also keine Durchsetzungskrise der Kapitallogik), sondern entstand im Gegenteil aus der verqueren Logik eben dieses Wirtschaftswachstums. Nach dem Ende einer gigantischen Konjunkturwelle – die wiederum aus dem damaligen Siegeszug fordistischer Massenproduktion resultierte – hatte die kapitalistisch strukturierte Industrieproduktion sich in einer Fülle nicht absetzbarer Waren selbst erstickt. Und es bedurfte weltweit massiver Interventionen der jeweiligen Staatsapparate, ihre Volkswirtschaft wieder zum Laufen zu bringen.

Diese Interventionen erfolgten freilich von den betroffenen Regierungen auf sehr unterschiedliche Weise. In einigen Staaten wurde mittels entsprechender Sozialgesetzgebung wieder Massenkonsum erzeugt – was dann die Wirtschaft erneut ankurbelte. Diese Methode war letztlich die Geburt des keynesianischen Wohlfahrtstaates. Im Deutschland des Reichskanzlers Adolf Hitler erfolgte das Konjunkturprogramm allerdings ganz anders – mittels kreditfinanzierter Hochrüstung, die die Leute wieder in Arbeit und Lohn bringen sollte und dies vorübergehend sogar tat. Voraussehbare Folge war dann allerdings die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges – mit weltweit über 50 Millionen Toten.

Auf den Krieg folgte die Nachkriegskonjunktur, dann erneute Krisen, Hochrüstungsprogramme (es blieb glücklicherweise, jedenfalls in Europa, beim „Gleichgewicht des Schreckens“), schließlich dann der Siegeszug von Mikroelektronik und Netzkultur (aus dem dann wieder eine massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen resultierte). Und nach dem Auslaufen dieser vorübergehenden Konjunkturwelle hatten wir von 2007 bis 2009 plötzlich die nächste Weltwirtschaftskrise. Die konnte im weltweiten Maßstab nur mittels einer gigantischen, nie wieder abtragbaren Staatsverschuldung bewältigt werden. Dass auf sie in vergleichsweise kurzer Zeit wieder die nächste Weltwirtschaftskrise folgen würde, war abzusehen. Und auch, dass diese Krise nicht mehr mittels einer simplen Kreditaufnahme bewältigt werden könne.

Damit haben wir es nun seit mehreren Jahren zu tun – inklusive verzweifelter Versuche diverser Wirtschaftsunternehmen, Staatsapparate und multistaatlicher Organisationen, eine neue Konjunkturwelle herbeizuzaubern.

Geht es derzeit in Deutschland etwa um einen besonders perfiden Versuch, konjunkturellen Aufschwung zu erzwingen – wieder einmal mittels kreditfinanzierter Hochrüstung? Es mag so scheinen. Dass solche Hochrüstungsprogramme nur ein Vorgriff auf dann unweigerlich folgende Wellen von Vernichtung und Raub sein können, scheint bei deutschen Eliten nie angekommen zu sein.

Beim derzeitigen Krieg in der Ukraine handelt es sich um eine Spätfolge des Zerfalls der Sowjetunion in den 1990er Jahren. Die Ukraine als industriell unterentwickeltes Gebiet gehörte – wie andere Regionen auch – zu den Verlierern dieses Zerfallsprozesses. Beim jetzigen Krieg geht es – abgesehen von allen Fragen der politischen Verfasstheit und des Völkerrechts – darum, ob die Ukraine als wirtschaftliches Anhängsel Russlands wieder ein Spielball russischer Oligarchen und Staatsunternehmen wird oder aber endgültig ein Spielball westlicher Großunternehmen bleibt. Ein größerer Teil der ukrainischen Agrarflächen und Industrieobjekte befindet sich jedenfalls bereits im Besitz westlicher Unternehmen. Und die westliche Rüstungsindustrie profitierte bisher mächtig vom Krieg – ebenso allerdings russische Rüstungsschmieden. Und keines der Unternehmen, die am Krieg verdienen, ist naturgemäß an einem Friedensschluss interessiert.

Es besteht mittlerweile die reale Gefahr, dass der bisher lokal begrenzte Konflikt in Richtung eines atomar geführten Weltkrieges eskaliert. Die Zahl der Opfer eines solchen Krieges ist schwer voraussehbar – sie dürfte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zahl der Opfer des letzten Weltkrieges weit übersteigen.

Deutsche Wirtschaftsunternehmen scheinen in einer solchen Situation aber vordergründig erst einmal weitere Expansionsmöglichkeiten zu wittern – und ihre Lobbyisten demzufolge entsprechend instruiert zu haben. Ein Beispiel: Anstatt ein Ende der Eskalation anzustreben, forderte in Deutschland kürzlich der Städte- und Gemeindebund ein Milliardenpaket zum Schutz der Bevölkerung vor einem möglichen Krieg aufzulegen. Dies hört sich zwar zunächst vernünftig an. Gemeint ist allerdings ein Bauprogramm – in erster Linie für Atombunker. Konkret forderte Hauptgeschäftsführer André Berghegger mehr Bunker in Deutschland. Von den 2000 während des Kalten Krieges errichteten öffentlichen Schutzräumen seien nur noch 600 vorhanden: „Es ist dringend notwendig, stillgelegte Bunker wieder in Betrieb zu nehmen“. Außerdem sollten neue, moderne Schutzräume gebaut und zusätzliche Sirenen installiert werden. Besonders die letzte Forderung dürfte bei denen, die noch den Zweiten Weltkrieg und die Hochzeiten des Kalten Krieges miterlebt haben, böse Erinnerungen aus Kindheit und Jugend wachrufen.

Dass im Fall eines atomar geführten Krieges solche „Schutzräume“ nur sehr bedingt – und dann auch nur für relativ kurze Zeit – Teile der Bevölkerung schützen können, wird derzeit in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. Auch nicht, dass anstelle einer weiteren Eskalation Verhandlungen mit der Gegenseite vernünftig wären. In einem atomar geführten Krieg kann es jedenfalls keine Sieger geben – auch wenn danach überlebende Teile der Bevölkerung es schaffen, noch ein paar Monate in unterirdischen Bunkern auszuharren.

Gibt es in dieser Situation denn gar keinen Lichtblick? Doch. Ausgerechnet Papst Franziskus als weltweites Oberhaupt aller Katholiken kritisiert die Waffenindustrie als „Drahtzieher der Kriege“ und fordert zum wiederholten Mal ein „Nein zum Krieg“ auf allen Seiten. Und laut Umfragen lehnt eine Mehrheit der Bundesbürger die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine ab und ist nach wie vor für mehr diplomatische Bemühungen um einen Waffenstillstand mit anschließenden Verhandlungen.

Was hat dies alles aber nun mit Wirtschaftskriminalität zu tun? Krieg bedeutet Raub und Zerstörung, ist also verbrecherisch. Und Geschäftemacherei mit dem Tod anderer ist dem Grunde nach kriminell.

Quelle:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/staedte-und-gemeindebund-fordert-bau-neuer-bunker-a-37bdc35e-0b5b-4e6b-ae22-e6f050611818

 

René Benkos exklusiver Zugang zur Macht

Nach dem großen Crash des Signa-Konzerns ist der ehemalige Selfmade-Milliardär René Benko aus der Öffentlichkeit verschwunden. Anfragen von Journalisten zu seinem kollabierenden Immobilienimperium beantwortet er nicht. Die mediale Recherche aber geht unvermindert weiter, um vor dem Hintergrund der undurchsichtigen Konzernstruktur Licht in die fragwürdigen Finanzströme und die politischen Verbindungen Benkos zu bringen. Denn die Folgen der Signa-Pleite sind gravierend: von Jobverlust betroffene Beschäftigte, verlorene Staatshilfen, Bauruinen, Politikversagen (und ja, auch geprellte Großinvestoren).

Hamburgs Polit-Elite in der Mitverantwortung

Im Januar 2024 rutschte Hamburgs Prestigeobjekt Elbtower, als eines der höchsten Gebäude Deutschlands von einem Stararchitekten entworfen, in die Insolvenz. Heute symbolisiert die Bauruine sowohl den Niedergang der Signa-Gruppe als auch das herrschende autokratische Politikverständnis, das Spekulanten à la Benko den Weg zum Aufstieg ebnete. Denn gleich mehrere Erste Bürgermeister sorgten in der Hansestadt dafür, dass eine deutsche Projektgesellschaft des Signa-Konzerns den Zuschlag für das Bauvorhaben erhielt. Im Februar 2018 stellte der damalige Amtsinhaber Olaf Scholz (SPD) im Rahmen einer Pressekonferenz das Projekt der Öffentlichkeit vor. Offensichtlich wurde der Kaufvertrag über das Grundstück schon zwei Tage davor abgeschlossen; die Zustimmung der politischen Gremien der Stadt Hamburg erfolgte dagegen erst ein Jahr nach der Präsentation.

Ein ehemaliger Abgeordneter der hamburgischen Bürgerschaft (CDU) berichtete gegenüber der ARD, dass es sich um ein „absolutes Geheimverfahren“ gehandelt habe, um eine „große Mauschelei“, von der die Volksvertreter:innen nur durch Zufall erfahren hätten. Schon damals sei Signa ein „höchst problematischer Bewerber“ mit einem schlechten Ruf gewesen. 122 Millionen Euro sollte das Baugrundstück für Signa kosten, zwei andere Bieter hätten bis zu 13 Millionen Euro mehr geboten, wie sich später herausgestellt habe.

Benkos Kontakt zu Scholz hatte der ehemalige SPÖ-Bundeskanzler und Signa-Lobbyist Alfred Gusenbauer hergestellt. Im März 2018 traf Benko dann Peter Tschentscher (SPD), den Nachfolger von Scholz als Erster Bürgermeister. Bereits zwei Tage danach wurde ein Beratervertrag zwischen Signa und der Agentur von Ole von Beust (CDU), dem ehemaligen Ersten Bürgermeister, abgeschlossen. Dessen Aufgabe bestand darin, Kontakte zur lokalen Politik und Verwaltung herzustellen und damit politische Zustimmung zu organisieren. Die Baugenehmigung, so eine ARD-Doku zum Fall Benko, sei dann unter Tschentscher in nicht einmal drei Monaten durchgewunken worden. Außerdem sei das Bauvolumen (Bruttogeschossfläche) nachträglich um 18 Prozent vergrößert worden, ohne dass sich der Kaufpreis erhöht hätte – nach Aussage des CDU-Abgeordneten ein völlig unübliches Verfahren im Baugeschäft und somit ein Geschenk an Benko.

 

Benko zieht Berliner Senat über den Tisch

 Mit diesen Worten beschrieb schon Mitte 2023 Katalin Gennburg, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus, einen Deal zwischen dem Senat der Hauptstadt und der Signa Holding. Im August 2020 schloss der damalige rot-rot-grüne Senat eine Absichtserklärung („Letter of Intent“) mit Signa als Eigentümerin des Warenhauskonzerns Galeria Karstadt Kaufhof ab. „Arbeitsplätze gegen Baugenehmigungen von Großprojekten“ hieß die Devise. Nach Gennburg war das Versprechen der Signa-Gruppe, vier Galeria-Standorte zu erhalten, rechtlich allerdings nicht bindend, die milliardenschweren Baugenehmigungen in Berlin dagegen sehr wohl rechtswirksam (vgl. MieterEcho und ARD-Doku). Das ernüchternde Resultat: Vier Jahre später existieren zwei der vier Warenhaus-Filialen nicht mehr, zugesagte Millioneninvestitionen blieben zudem aus. Eine wichtige Rolle bei der gemeinsamen Absichtserklärung von Senat und Signa dürfte die Unternehmensagentur Joschka Fischer & Company gespielt haben. Als Benkos Lobbyist in Berlin sollte der Ex-Außenminister die Kontakte zu den Politiker:innen auf Bezirksebene und im Abgeordnetenhaus herstellen und vor allem bei den Grünen für ein besonders umstrittenes Bauvorhaben werben.

An der Grenze der Bezirke Neukölln und Kreuzberg wollte Signa vor einigen Jahren auf einer zentralen Liegenschaft ein altes Karstadt-Gebäude abreißen, dann für 500 Millionen Euro einen neuen Gebäudekomplex mit Kaufhaus, Hotel, Büros und Wohnungen errichten. Im Rahmen eines städtebaulichen „Werkstattverfahrens“ sollte frühzeitig eine breite Mitwirkungsmöglichkeit der Öffentlichkeit gewährleistet werden – so die offizielle Darstellung. Für die Präsidentin der Architektenkammer Berlin, Theresa Keilhacker, kam das einer letztlich von Signa über Jahre organisierten „gelenkten Beteiligung“ gleich. Die Bürger:innen dürften bei solchen Verfahren zwar ihre Meinungen kundtun, so die Architektin, aber danach passiere alles hinter verschlossenen Türen. Stadt und Investor würden entscheiden, welche Wünsche berücksichtigt würden. Und im Gegensatz zu einem normalen Planungswettbewerb erfahre niemand außerhalb, warum (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2024). Berlins Lokalpolitikerin Katalin Gennburg hält diese Form der Bürgerbeteiligung für eine Farce. Sie würde formal durchgeführt und medial ausgeschlachtet, aber den Einwendungen der Bürger:innen kein Gewicht einräumen: „Das Verfahren von Signa war von Beginn an antidemokratisch und ist ohne Abstimmungen im Parlament gelaufen.“ (MieterEcho)

 

Staatshilfen perdu

Die enge politische Verbindung von Benko zur Politik zeigt sich auch bei der Gewährung öffentlicher Hilfen. Im Zuge der Coronakrise pumpte die Bundesregierung während der ersten beiden Insolvenzen von Galeria Karstadt Kaufhof über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) insgesamt  680 Millionen Euro in das Unternehmen – obwohl es sich bereits vor der Pandemie in einer wirtschaftlichen Schieflage befand und der WSF schon damals mit einer erneuten Insolvenz gerechnet hatte (vgl. Deutsche Wirtschaftsnachrichten). Nach Expertenmeinung handelte es sich dabei offensichtlich um einen Rechtsbruch, da Unternehmen nach  EU-Richtlinien nur unterstützt werden dürfen, wenn sie noch über ausreichend Eigenkapital verfügen: „Bei Galeria war das zu diesem Zeitpunkt bereits bei null.“ (ebd.) Das war kaum ein Problem für Benko, denn der verfügte offenbar auch über einen direkten Kontakt zum Ex-Finanzsenator Berlins, Ulrich Nußbaum, der als damaliger Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium für die Staatshilfen an Galeria Karstadt Kaufhof zuständig war. Von den 680 Millionen an staatlichen Hilfen ist aber offenbar nur ein kleiner Teil ausreichend abgesichert worden, weshalb sie für die Steuerzahler weitgehend verloren sein dürften. 

Benko interessierte sich nur wenig für ein profitables langfristiges Handelsgeschäft, dagegen sehr für wertvolle Immobilien und spekulative Geschäfte. Nach der kompletten Übernahme von Galeria Karstadt Kaufhof im Jahr 2019 wurden der Warenhauskonzern und die Immobiliensparte unter dem Dach der Signa rechtlich voneinander getrennt. Damit müssen die Kaufhäuser Miete an Signa zahlen, und zwar extrem hohe. Und die trieben den Handelskonzern in den Ruin. Würden marktübliche Mieten gezahlt, seien die Warenhäuser durchaus profitabel, bestätigte jüngst der Galeria-Chef in einem Spiegel-Interview (sieben bis elf Prozent des Umsatzes, statt über 30 Prozent wie im Falle eines Kölner Galeria-Hauses).

Die überhöhten Mieten bliesen über Jahre die Immobilienwerte auf, so dass Benko Investoren, Banken und Ratingagenturen von seinem Geschäftsmodell überzeugen und immer wieder günstig an frisches Geld kommen konnte. Auch die Millionen an Staatshilfen (Steuergelder), als Stützung der Kaufhäuser gedacht, flossen direkt in die Kasse von Signa. Benko ließ sich also staatliche Gelder für das Handelsgeschäft zuschießen, trieb damit die Immobilienwerte an und schüttete zugleich auf dieser Basis bis 2021 jährlich hohe dreistellige Millionenbeträge als Dividenden an die Investoren aus.

 

Geld vom Insolvenzverwalter

Viel Geld fordern auch die mehr als 300 Gläubiger von der seit vergangenen November insolventen Signa Holding – insgesamt etwa 8,6 Milliarden Euro. Der Insolvenzverwalter erkennt derzeit davon jedoch nur knapp ein Prozent an: 80,3 Millionen. Die Süddeutsche Zeitung findet es bemerkenswert, dass einige von denen, die Millionensummen von der Signa Holding fordern, maßgeblich dazu beigetragen haben, die Holding in die Zahlungsunfähigkeit zu steuern. Ganz vorne mit dabei sei René Benko selbst. Er wolle gewissermaßen von sich selber Geld, denn die Holding gehöre ihm mehrheitlich.

„Allein die österreichische Familie Benko Privatstiftung fordert 75 Millionen Euro von der Holding. Weitere 57 Millionen Euro wollen Gesellschaften aus einem weiteren privaten Stiftungskonstrukt mit dem Namen von Laura Benko. Rechnet man die Forderungen aller Signa-Tochtergesellschaften zusammen, kommt man schnell auf eine Summe von mehr als 1,6 Milliarden Euro. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich dahinter beim ein oder anderen Fall auch der Name René Benko verbirgt. So viel, wie Benko von sich selber, will sonst niemand.“ (Süddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024)

 

Quellen:

„René Benko: Der Zocker und die Politik“, ARD-Doku (WDR und NDR), Erstausstrahlung 7. Februar 2024, ein Film von Ingolf Gritschneder und Georg Wellmann

https://www.ardmediathek.de/video/story/rene-benko-der-zocker-und-die-politik/ard/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2FyZC1zdG9yeS8yMDI0LTAyLTA3XzIyLTUwLU1FWg

Kristina Gnirke/Alexander Kühn: „Wir trennen uns von Führungskräften“ (Interview mit Galeria-Chef Olivier van den Bossche und Insolvenzverwalter Stefan Denkhaus), Der Spiegel vom 3. Februar 2024, Seite 66-67

Lea Hampel: „Big in Berlin“, Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2024

Michael Kläsgen/Uwe Ritzer/Meike Schreiber: „Benko will viel Geld von Benko“, Süddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024

„Klassenpolitik am Hermannplatz“, Interview mit Katalin Gennburg, MieterEcho, Juni 2023, Seite 12-13

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2023/me-single/article/klassenpolitik-am-hermannplatz/

Stephanie Schoen: „Signa-Pleite: Sind 660 Millionen Euro Steuergelder für Galeria Karstadt Kaufhof futsch?“, Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 28. Februar 2024

https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/707608/signa-pleite-sind-680-millionen-euro-steuergelder-fuer-galeria-karstadt-kaufhof-futsch

Weitere informative Quellen:

„Der Elbtower in Hamburg: Desaster mit Ansage“, Handelsblatt-Crime (Podcast vom 11. Februar 2024)

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/der-elbtower-in-hamburg-desaster-mit-ansage/29648986.html

Gudrun Giese, „Benko hat Schäfchen im Trockenen“, junge Welt vom 29. Februar 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/470332.immobilienspekulation-benko-hat-schäfchen-im-trockenen.html

 

 

 

 

 

 

Regime Change von rechts?

Martin Sellner gehört zu den ständigen Autoren der Zeitschrift „Sezession“, die bis zu dessen Auflösung vom Institut für Staatspolitik, dem neurechten Thinktank Götz Kubitscheks in Schnellroda (Sachsen-Anhalt)  herausgegeben wurde. Von 2015 bis 2023 war er Sprecher der Identitären Bewegung in Österreich. Ende November 2023 trug er bei dem von der investigativen Plattform Correctiv aufgedeckten Treffen von AfD-Mitgliedern und anderen Rechten in einer Potsdamer Villa einen „Masterplan“ zur „Remigration“ von Flüchtlingen und „nicht assimilierbaren“ Eingewanderten vor. Dazu hat er inzwischen auch ein weiteres Buch im selben Verlag wie das hier rezensierte vorgelegt.

Regime Change von rechts – schon der Titel verweist darauf, worum es Sellner vordringlich geht: Die Umfunktionierung und Neubewertung öffentlichkeitswirksamer Begriffe. Stammt regime change aus dem Vokabular westlicher politischer Strategen, die darunter den „Systemwechsel von autoritären Regimen zu Demokratien“ (Wikipedia) verstehen, so will Sellner einen anderen, in gewisser Weise entgegengesetzten Richtungswechsel. Er nennt es „Orbanisierung“, also den ungarischen Weg zu einer gelenkten Demokratie. Militante Strategien lehnt er dabei gleichermaßen ab wie ein bloßes Vertrauen auf parlamentarische Verfahren. Die begrenzte Regelverletzung hat er ebenso wie anderes den linken Bewegungen entlehnt und bei den Identitären schon mit mehr oder weniger Erfolg praktiziert. Er hält viel von „anschlussfähiger Provokation“.

Die Umwertung und Platzierung des Begriffs „Remigration“ in der Öffentlichkeit ist ein weiteres Beispiel. Ursprünglich ein neutraler wissenschaftlicher Begriff für die Rückwanderung von Migrierten, wird er von Sellner und der AfD als Bezeichnung für die von ihnen propagierte forcierte Abschiebung von Ausländern ohne Aufenthaltstitel benutzt, aber auch für das Herausdrängen von straffällig Gewordenen und Unangepassten aus dem Land, die bereits einen deutschen Pass besitzen. Dabei soll es nach Sellner juristisch korrekt und möglichst human zugehen, während der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, der Sellners Bücher und Pläne enthusiastisch begrüßt, in diesem Zusammenhang, eine Formulierung des Philosophen Sloterdijk aufgreifend, von einer dazu notwendigen „wohltemperierten Grausamkeit“ spricht.

Dass „Remigration“ wegen der Berichte über das Potsdamer Treffen und der darauf folgenden Welle von Massendemonstrationen gegen rechts als Begriff eine steile Karriere in den Medien erlebte, wertet Sellner als großen Erfolg. Auch dass das Wort zum „Unwort des Jahres 2023“ erklärt wurde, nutze seiner Bekanntheit. Es mit dem richtigen, rechten Inhalt zu füllen sei nun die nächste Aufgabe. Das entspricht dem im Buch ausgebreiteten Konzept, auf längere Sicht eine „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) voranzubringen, die Definitionshoheit über Begriffe zu erreichen oder das Wording und Framing, wie es im denglischen Neusprech heißt, zu bestimmen. Es geht um einen Kampf um die kulturelle Hegemonie, die die Voraussetzung dafür sei, politische Macht zu erringen. Darin folgt Sellner wie die Neue Rechte seit langem dem, was Antonio Gramsci in Mussolinis Kerker für die italienische kommunistische Partei als erfolgversprechende Strategie entwickelt hat. Berührungsängste kennen sie dabei nicht. Ganz am Ende seines Buches zitiert Sellner sogar zustimmend aus Lenins „Was tun?“.

Selbstverständlich ist das alles Taktik. Schließlich geht es darum, eine Revolution im Dienste des Bestehenden zu inszenieren. Sellner nennt sie Reconquista – nicht zufällig ist das auch die Bezeichnung für die Wiedereroberung muslimisch besetzter Territorien im mittelalterlichen Spanien, die nicht nur mit der Zwangschristianisierung oder Vertreibung der Mauren, sondern auch mit der der Juden einherging.

An keiner Stelle seines Buches findet sich bei Sellner eine Erkenntnis oder Kritik dessen, was das Wesen der Kapitalverwertung ausmacht oder auch nur eine ernsthafte Beschreibung von deren Krisen mitsamt ihren katastrophalen Auswirkungen auf Mensch und Natur. Alles erscheint vielmehr in erster Linie als bloß kulturelles bzw. ethnisches Phänomen und Problem. Dementsprechend sei das Hauptziel des angestrebten Regime Changes von rechts die „Erhaltung der ethnokulturellen Identität“ des deutschen Volkes. Ohne sie sei alles nichts. Es gehe gegen den „großen Austausch“ weiter Teile der Bevölkerung durch Fremde als perfiden Plan „globalistischer Eliten“, gegen den „universalistischen Schuldkult“, den die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland aufgezwungen hätten, um es klein zu halten. Erst danach sei eine Beschäftigung mit der sozialen oder ökologischen Frage sinnvoll, bei der es selbstverständlich unterschiedliche Meinungen und Lösungsansätze geben könne. Sellner verspricht: „Für eine ‚identitäre Einheitsfront‘ muss niemand seine Überzeugung aufgeben.“

Man sieht, dass er sich hier den Weg zu Bündnissen aller Art offen halten will, nicht nur zu einer Querfront mit Linken. Wie überhaupt Sellners Buch eine Wendigkeit und Flexibilität beweist, die man Vertretern der extremen Rechten vielleicht nicht so ohne weiteres zutraut. Sellner hat nicht nur Gramsci gelesen, den er mehrfach zitiert, sondern auch beispielsweise den US-amerikanischen Protestforscher Gene Sharp und andere einschlägige Literatur, der er wesentliche Einsichten in das Entstehen von Bewegungen und die Möglichkeiten zu ihrer Beeinflussung verdankt. Nicht umsonst bezeichnet Björn Höcke Sellners Opus als „Handbuch für die deutsche Volksopposition“. Über viele Seiten werden dazu sehr konkrete Handlungsanweisungen gebracht und Ratschläge für alle Fälle vermittelt.

Aufstand der Kulturen

Martin Sellner beruft sich in seinem Buch auf Alain de Benoist, der für die französische Nouvelle Droite als erster die „metapolitische“ Umfunktionierung linker Theorieansätze und Begriffe für die Zwecke der Rechten vorgenommen hat. Deshalb hier aus dessen Manifest „Aufstand der Kulturen” von 1999 noch einige Zitate, die Sellners ideologischen Hintergrund beleuchten können. Da ist beispielsweise vom „westlichen Imperialismus” die Rede, gegen den „die Völker” kämpfen sollen. Für die Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturen wird die „Logik des Kapitals” verantwortlich gemacht, die „den Menschen auf den Zustand einer Ware” reduziere, „deren Standort man verlegen” kann. Weltweit dominiere eine „Neue Klasse”, die überall den „gleichen Menschentypus” erzeuge: „Kalte Sachkundigkeit, von der Wirklichkeit losgelöste Rationalität, abstrakter Individualismus, ausschließlich auf Nutzen ausgerichtete Überzeugungen…”

Ein Kernsatz lautet: „Gegen die Allmacht des Geldes, der obersten Macht in der modernen Gesellschaft, gilt es, die Trennung von Reichtum und politischer Macht möglichst durchzusetzen.”
Die alte Unterscheidung zwischen „schaffendem” und „raffendem Kapital” klingt von Ferne in folgender Formulierung an: „Der Industriekapitalismus wurde allmählich von einem Finanzkapitalismus beherrscht, der kurzfristig eine Höchstrentabilität auf Kosten des tatsächlichen Zustands der Nationalökonomien und des langfristigen Interesses der Völker anstrebt”.
Wenn der Widerspruch nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen „Geld” und „Volk” bzw. den „Interessen der Völker” gesucht und gefunden wird, könnte es weiter gehen bis zu einer Ethnisierung des „schlechten” Kapitals – als „angelsächsisches” oder, bei den Neonazis, „jüdisches” Finanzkapital. Alain de Benoist – wie auch Sellner – geht nicht so weit. Er begnügt sich mit der Ablenkungs- und Sündenbockfunktion, die der Begriff des internationalen „Finanzkapitalismus” bereits bietet.
So läuft trotz des Einsatzes von viel scheinbar kapitalismuskritischem Vokabular doch wieder alles auf die Botschaft von der Verteidigung der nationalen und kulturellen Identität gegen den christlichen, aufklärerischen oder sozialistischen „Universalismus” hinaus. „Für starke Identitäten”, „Für das Recht auf Verschiedenheit”, „Gegen die Immigration” sind die charakteristischen Forderungen dazu in den Kapitelüberschriften des Manifests. Der Mensch wird im Stil von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt als „territoriales Tier” bezeichnet; seine „Entwurzelung” sei „eine soziale Pathologie unserer Zeit” (zit. nach Alain de Benoist: Aufstand der Kulturen – Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Junge Freiheit Verlag 2019).

 

Martin Sellner: Regime Change von rechts. Eine strategische Skizze. Verlag Antaios, Schnellroda, 4., überarbeitete Auflage, Januar 2024. 304 Seiten, 20 Euro. ISBN: 978-3-949041-54-9