Ein Jahr nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan erschienen in der Presse Artikel, die die Ursachen des Debakels der westlichen Interventionsstreitkräfte nicht mehr beschönigen. So unter dem Titel „Der verlorene Krieg“ ein Beitrag von Peter Carstens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. August 2022. Sein bitteres Fazit: „Nach zwei Jahrzehnten am Hindukusch kannte der Westen weder seine Kriegsgegner noch seine afghanischen Verbündeten“. Wie konnte dies auch anders sein, wenn von vornherein mit dem Geldkoffer gearbeitet wurde, um sich Bündnispartner und Vasallen unter den afghanischen Stammesfürsten und Warlords des seit Jahrzehnten laufenden Bürgerkriegs  einzukaufen.

Der andere, noch gravierendere Irrtum: Dass es gelingen könnte, eine Modernisierung nach westlichem Muster mit gewaltsamen Mitteln in diesem Land zu erzwingen. Als sich 1978 die kommunistische Partei Afghanistans, die vor allem in der städtischen Elite und im Militär verankert war, an die Macht geputscht hatte, führte die ZEIT ein Interview mit dem neuen Ministerpräsidenten Nur Muhammad Taraki. Auf die Frage, was seine Regierung zu unternehmen gedenke, wenn sich die Mullahs auf dem Land dagegen wehren würden, dass für Mädchen eine Schulbildung eingeführt werden soll, antwortete er: „Dann muss eben Blut fließen“. Da war eigentlich schon klar, dass es so kaum etwas werden konnte mit dem sozialen Fortschritt in Afghanistan. 

Das Blutvergießen begann und ging weiter, mit der Assistenz äußerer Mächte. Zunächst scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, ihren Bündnispartnern in Kabul den Machterhalt in der Auseinandersetzung mit widerstrebenden Kräften zu sichern. Der  US-Oberstratege Brzezinski freute sich darüber, dass sie in die Falle gegangen war und nun ihr „Vietnam“ erlebte. Aber die USA und ihre Verbündeten wurden nicht schlauer daraus und handelten nicht klüger. Im „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 war Afghanistan das erste Ziel. Viel Kenntnis über das Land und eine konsistente Strategie, wie mit ihm umgegangen werden sollte, gab es nicht.

Der kolonialistische Blick der westlichen Interventen war quasi auf das Bakschisch als universelles Schmiermittel fixiert. So blühten der Opportunismus und die Korruption in Afghanistan wie die Mohnpflanzen auf den Feldern. Dazu kamen dann Luftangriffe von US-Kampfflugzeugen auf friedliche Hochzeitsgesellschaften, die aus der Höhe mit Ansammlungen von Taliban-Kämpfern verwechselt wurden. Und Kriegsverbrechen anderer Art, wie man von Afghan:innen im bundesrepublikanischen Exil hören kann. Sie werden nie einen Richter finden. Nur die Bundeswehr habe sich da nichts vorzuwerfen – sieht man einmal von Oberst Klein ab.

Zum Schluss kulminierten die Fehleinschätzungen. Auch den westlichen Geheimdiensten entging, dass die afghanische Armee und die Regierung in Kabul keineswegs bereit waren, gegen die Taliban weiterzukämpfen, nachdem feststand, dass die Truppen der USA und ihrer Verbündeten sich zurückziehen würden. Die Generäle und führenden Politiker Afghanistans hatten längst im Ausland ihr Schäfchen ins Trockene gebracht. Peter Carstens resümierte in seinem  Artikel:

„Die Korruption in der Armee war lange bekannt, unternommen wurde dagegen wenig. Das viele Geld, das der Westen in Afghanistan seit 2002 investiert hat, sei ‘nicht immer da angekommen, wo es ankommen sollte’, so der Diplomat Markus Potzel (bisher Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan – R.D.) überaus diplomatisch… Allein Amerika hatte 850 Milliarden Dollar für den Militäreinsatz ausgegeben und weitere 145 Milliarden für den zivilen Aufbau. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in den Jahren 2010/2011 steckte Washington jährlich um die 100 Milliarden Dollar in den Krieg. Und auch Deutschland gab insgesamt etwa 20 Milliarden Euro aus, den Großteil davon für das Militär und seine Helfer, die Ortskräfte. Diplomat Potzel meint: ‘Da hatten sich die afghanischen Eliten sehr gut eingerichtet und wir letzten Endes auch. Das war so eine Art Stillhalteabkommen.’ So blieb Afghanistan eines der korruptesten Länder der Erde und eines der größten Drogenanbaugebiete der Welt.“

Die vorgebrachte Begründung für den militärischen Einsatz in Afghanistan, es gehe darum, den Terror zu bekämpfen, Entwicklung zu ermöglichen, Brunnen zu bohren und Schulen zu bauen, enthüllt sich im Licht dieser Zahlen als schönfärberische Behauptung. Profitiert haben in erster Linie die westliche Rüstungsindustrie und einige Exportunternehmen, in zweiter Linie die korrupten afghanischen Politiker und Warlords, erst in dritter Linie Angehörige einer dünnen Mittelschicht in den afghanischen Städten sowie Frauen und Mädchen, die zur Schule und Universität gehen und Berufe ergreifen konnten, die ihnen vorher verschlossen waren. Besonders Letztgenannte sind nach dem Sieg der Taliban gefährdet und müssen um Leib und Leben fürchten, wenn sie in irgendeiner Form mit den westlichen Interventen zusammengearbeitet haben.

Die Armut und Verelendung im Land, die vorher schon endemisch war, wächst nun von Tag zu Tag. Dazu tragen verschärfte Sanktionen und das bisherige Einfrieren des afghanischen Staatsvermögens durch die USA bei.

Es ist ein Skandal, dass es keine grundsätzliche Debatte über den Afghanistaneinsatz gegeben hat und geben wird, in der geklärt werden könnte, welche Alternativen möglich gewesen wären und wieviel Sinnvolleres mit dem vielen aufgewandten Geld für eine nicht bevormundende Förderung der Zivilgesellschaft und für Projekte der Entwicklungshilfe in Afghanistan hätte getan werden können. Auch der Artikel von Peter Carstens enthielt dazu keinerlei Hinweise. Er beschränkte sich darauf, die schlechte Performance der Bundesregierung im Fall Afghanistan und die fehlende Ehrung der Veteranen des Afghanistankrieges zu kritisieren. Aber etwas anderes wäre ja von der FAZ auch nicht zu erwarten.