„Sabotage durch Verfahren“

 Die Folgen des Coronavirus bekommt auch die Reiseplattform Airbnb deutlich zu spüren. So erwarten Experten, dass viele Eigentümer Wohnungen, die sie bislang entweder direkt an Touristen oder aber an das Unternehmen vermietet haben, wieder in reguläre Mietwohnungen umwandeln. Die Erlöse von Airbnb sollen deshalb in den Monaten Februar und März dieses Jahres regelrecht eingebrochen sein. Die Hoffnung, dass der Virus das Problem der kriminellen Zweckentfremdung von Wohnraum für immer beseitigt, dürfte sich jedoch als trügerisch erweisen. Denn nach dem Ende der Krise wird das Geschäftsmodell der Onlineplattformen wohl wieder volle Fahrt aufnehmen.

Die Politik bleibt also am Zug – und versagt weitgehend bei der mieterfreundlichen Regulierung des Wohnungsmarkts. So sind seit dem August 2018 im Bundesland Berlin Verstöße gegen das Zweckentfremdungsverbotsgesetz, mit dem der Leerstand und die Überlassung von Wohnungen als Ferienapartments reduziert werden soll, bußgeldbewehrt. Die Umsetzung des Gesetzes aber bleibt weitgehend wirkungslos. „Nach Untersuchungen des rbb und des Tagesspiegel sind rund 85% aller Angebote nicht bei den Bezirksämtern registriert worden und somit illegal. Bei vielen Anwohner/innen wächst der Frust über die Tolerierung von Zweckentfremdung und Leerstand. Bürgerhinweise versanden in Schubladen, die Arbeit der zuständigen Amtsstellen ist alles andere als transparent“, schreibt etwa das Berliner MieterEcho Anfang des Jahres.

Dass es kaum gelingt, mit dem Gesetz zweckentfremdete Wohnungen auf den Wohnungsmarkt zurückzuführen, liegt in erster Linie an der teils völlig überlasteten Verwaltung in den zuständigen Bezirken der Hauptstadt. Die für Recherchen und Vor-Ort-Kontrollen zuständigen Fachabteilungen sind personell stark unterbesetzt, so dass die geforderte Anmeldepflicht der zeitweise an Touristen vermieteten Wohnungen kaum überprüft werden kann. Zudem fehlt es den Bezirken offenbar am Mut, die vorgesehenen Ordnungsgelder (die bis zu 500.000 Euro betragen können) im Falle von Verstößen tatsächlich zu verhängen.

Die gleichen Defizite zeigen sich bei der Durchsetzung der Regelungen des seit 1990 geltenden Wohnungsaufsichtsgesetzes. Die Bezirke sollen unter anderem prüfen, wo in Berlin Eigentümer ihre Wohnungen vernachlässigen und sie verfallen lassen. Für die knapp 1,5 Millionen Mietwohnungen in der Stadt sind in den Verwaltungen der zwölf Bezirken zurzeit nur etwas mehr als 20 Stellen vorhanden, deren Inhaber die notwendigen Instandhaltungsmaßnahmen von Immobilien auf ihre Umsetzung zu kontrollieren haben. In einigen Bezirken steht offensichtlich nur ein Mitarbeiter bzw. eine Mitarbeiterin für die Kontrolle von jeweils über 100.000 Wohnungen bereit. „Es scheint wie so oft in Berlin: Die Regeln sind da, aber die Personalausstattung ist nicht bereit dafür.“ (Tagesspiegel, 1. Februar 2020)

Auch bei der Umsetzung des viel diskutierten Mietendeckels in Berlin werden den bezirklichen Wohnungsämtern wichtige Aufgaben übertragen. Dazu gehört vor allem die Überwachung der Einhaltung der Mietobergrenzen und das Feststellen von Ordnungswidrigkeiten bei Verstößen gegen die gesetzlichen Bestimmungen. Einzelne bezirkliche Wohnungsämter werden von Stadträten geleitet, die der CDU bzw. der AfD angehören – von Parteien also, die den Mietendeckel für verfassungswidrig halten, „so dass es mit dem Willen zu seiner Durchsetzung nicht weit her sein dürfte“. (MieterEcho März 2020)

Gesetzliche Regelungen und Verordnungen bieten der Exekutive durchaus Möglichkeiten, gerade gegen kriminelle Akteure in der Wohnungswirtschaft und darüber hinaus effektiv vorzugehen. Aber der politische Wille dazu fehlt vielfach. Deshalb wird in einer Metropole wie Berlin, in der sich börsennotierte Wohnungskonzerne und international agierende Wohnraumvermittler tummeln, die Durchsetzung vieler rechtlicher Normen den Bezirken als dezentrale Einheiten aufgebürdet. Zum Teil geschieht dies gegen den erklärten Willen der zuständigen Bezirksbürgermeister*innen, die sehr genau wissen, dass sie Regularien umzusetzen haben, die materiell nicht ausreichend unterfüttert sind (unzureichendes Fachpersonal und IT-Kapazitäten).

Ein weiteres prominentes Beispiel verdeutlicht, wie die Substanz eines Gesetzes durch das perfide Agieren der zuständigen Landesregierung unterlaufen wird. Mitte des vergangenen Jahres übergaben Aktivisten dem Berliner Senat 77.000 Unterschriften, die für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ gesammelt worden waren. Durch einen anschließenden Volksentscheid sollen etwa 240.000 Wohnungen von Immobilienkonzernen vergesellschaftet werden. Die rechtliche Prüfung des Volksbegehrens ist jedoch immer noch beim Innensenator anhängig – bereits seit mehr als acht Monaten. Der Publizist Matthias Greffrath nannte dieses taktische Verhalten der Berliner Regierung treffend „Sabotage durch Verfahren“.

Quellen:

Sha Hua, Astrid Dörner u.a.: „Wohnungsmarkt ist vorläufig außer Betrieb“, Handelsblatt, 28. März 2020

„Umsatz von Airbnb halbiert sich“, SPIEGEL Online, 24. März 2020

Heiko Lindmüller: „Zweckentfremdungsverbot: Ein zahnloser Tiger?“, MieterEcho, Januar 2020, Seite 19

Philipp Möller: „Wildwest in den Bezirken“, MieterEcho, März 2020, Seite 14

Julius Betschka: „Warum Berliner Bezirke an der Wohnungsaufsicht scheitern“, Tagesspiegel, 1. Februar 2020

Mathias Greffrath: „Saisonschluss“, Deutschlandfunk: Essay und Diskurs, 15. Dezember 2019

 

Der Autor
Joachim Maiworm
ist Redakteur von BIG Business Crime

Corona-Krise: Wetten auf den Kurs-Kollaps von Unternehmen

Nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg hat Bridgewater Associate, der weltweit größte Hedgefonds, insgesamt 14 Milliarden US-Dollar darauf gewettet, dass Aktien europäischer Konzerne infolge der Corona-Krise weiter fallen würden. Fondschef Ray Dalio soll auch gegen zwölf deutsche Unternehmen spekulieren. Allein vier Milliarden Dollar habe Bridgewater dafür investiert.

Das Instrument solcher Wetten sind sogenannte Leerverkäufe. Aktien, von denen ein Sinken des Kurses erwartet wird, werden dabei vom Besitzer gegen eine Gebühr ausgeliehen und an der Börse verkauft. Fällt danach der Kurs, erfolgt der Rückkauf der Aktien zu dem niedrigeren Preis und die Rückgabe an den eigentlichen Besitzer. Der Kursverlust bzw. die Differenz zwischen dem Verkaufspreis und dem geringeren neuen Preis (abzüglich der Leihgebühr) bildet dabei den Gewinn.

Das Risiko für Bridgewater, der 160 Milliarden Dollar an Vermögen unter anderen von Pensionskassen verwaltet, ist nicht gering: Steigen die Aktienkurse wider Erwarten, geht die Wette schief. Die Fondsgesellschaft steht aber offenbar unter starkem Druck, Profite zu erzielen. Denn seit Jahresbeginn belaufen sich die Verluste der verwalteten Fonds auf immerhin 20 Prozent.

Kritiker wie Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende, fordern ein Verbot von sogenannten Leerverkäufen an den Börsen. Es bestehe die Gefahr von Krisengewinnen durch Händler, die mit Papieren, die ihnen nicht gehören, Druck aufbauen und Werte in den Keller treiben könnten. Während Belgien oder Spanien diese Transaktionen bereits verboten hätten, zögere die deutsche Finanzaufsicht noch.

 

Quellen:

Tobias Tscherrig: „Corona-Pandemie: Angriff der Spekulanten“, Online-Plattform Infosperber, 24. März 2020 (https://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Corona-Pandemie-Angriff-der-Spekulanten)

„‚Mangel an Solidarität war teuer‘: Finanzexperte Schick für Corona-Bonds“, taz-Interview vom 25. März 2020 (https://taz.de/Finanzexperte-Schick-fuer-Corona-Bonds/!5674215/)

Viktor Gojdka: „Leerverkäufe: Spekulanten wetten auf Kurskrach“, Süddeutsche Zeitung, 18. März 2020 (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/leerverkaeufe-spekulanten-wetten-auf-kurskrach-1.4849591)

Digitalwirtschaft ‒ ein sozial-ökologisches Desaster

Google und Co. sind als Datenkraken weithin gefürchtet, die Internetkonzerne treiben in Ballungsgebieten die Gentrifizierung und zugleich prekäre Beschäftigungsmodelle voran soweit bekannt. Weit weniger ist vielen Menschen bewusst, dass die sich umweltfreundlich gebende Digitalwirtschaft auch eine erhebliche ökologische Destruktivkraft darstellt.

Sébastien Broca, Dozent für Informations- und Kommunikationswissenschaften, beschreibt in einem Artikel in der monatlich erscheinenden Zeitung Le Monde diplomatique, wie Konzeption und Anwendung der „Technologien, die dem digitalen Kapitalismus zugrunde liegen (…) ganz sicher keinem ökologischen Imperativ“ folgen.

So stellt der Autor vermehrt Kooperationen zwischen den Tech-Giganten und der Ölindustrie fest. Daten- und Ölgewinnung sind für ihn zwei Seiten derselben Medaille. Amazon rief zum Beispiel den Cloud-Computing-Service AWS Oil and Gas Solutions ins Leben, finanziert Konferenzen der Erdölbranche und stellte zahlreiche auf den Bereich Energie spezialisierte KI-Experten ein. Google schloss Verträge mit Total, Anadarko und Nine Energy Service und implementierte unter dem Dach von Google Cloud seine neue Abteilung Oil, Gas and Energy. Microsoft unterzeichnete Verträge mit Chevron, BP, Equinor und Exxon.

„Die Ölindustrie setzt auf Big Data und KI, um Erdölvorkommen noch genauer zu lokalisieren und durch Automatisierung Kosten zu senken. Die Riesen der Digitalwirtschaft ihrerseits versprechen sich einen lukrativen Markt für ihre Speicher- und Datenverarbeitungsdienste sowie ihre Lösungen im Bereich Maschinelles Lernen.“ Ein von den Ölkonzernen gewünschter Nebeneffekt ist, dass die von Google und Co. bereitgestellten Tools auch eine panoptische Überwachung der Mitarbeiter*innen ermöglicht.

Broca widerspricht der Auffassung, dass dem „Datenkapitalismus“ Adjektive wie „immateriell“, „postindustriell“ oder „grün“ angehängt werden sollten. Der weltweite Energieverbrauch speise sich immer noch zu 80 Prozent aus fossilen Quellen. Die Digitalwirtschaft spiele in dem Kontext eine wichtige Rolle. Auf sie entfielen mehr als 4 Prozent des weltweiten Primärenergieverbrauchs. Die Produktion von Endgeräten und der Netzinfrastruktur schlage in dieser Bilanz am stärksten zu Buche, gefolgt vom Energieverbrauch der Geräte, Netzwerke und Rechenzentren. Amazon beispielsweise betreibe sein Rechenzentrum in Virginia lediglich zu 12 Prozent mit erneuerbaren Energien. Der Konzern nutze vor allem billigen Strom aus Kohle. Auch hätten die Unternehmen kein Interesse an einem umweltfreundlichen Verhalten ihrer Nutzer, „hängt doch ihr künftiger Profit davon ab, dass diese das Licht immer häufiger per Sprachbefehl einschalten, statt einen schnöden Schalter zu betätigen“.

Die Digitalwirtschaft stellt nach Broca eine „Weltwirtschaft“ dar, deren Beziehungen durch eine Unterteilung in Zentrum und Peripherie strukturiert würden. Die Wirtschaftszentren wälzten die ökologischen Kosten der Produktion auf die Peripherien ab. „23 Prozent der weltweiten Kobaltfördermenge und 19 Prozent der gewonnenen seltenen Erden fließen in die Computer und Smartphone-Produktion. Das Kobalt stammt größtenteils aus der Demokratischen Republik Kongo, wo es häufig von Kindern unter Missachtung von Menschenrechten und Umweltstandards abgebaut wird.“

Die digitale Weltwirtschaft – keine Spur von „nachhaltiger Ökobilanz“.

Quelle:

Sébastien Broca: „Saurer Regen aus der Cloud. Die Digitalwirtschaft gibt sich nachhaltig und umweltfreundlich – zu Unrecht“, Le Monde diplomatique, März 2020, Seite 9

Autoherstellern drohen Milliardenstrafe von EU

„Durch die von der EU-Kommission verabschiedeten CO2-Grenzwerte stehen viele Automobilhersteller vor großen Herausforderungen. Und dies nicht nur einmalig im Jahr 2020, denn über die kommenden Jahre werden die CO2-Grenzwerte kontinuierlich weiter gesenkt. Bis 2030 wird aktuell mit einer Senkung der Grenzwerte von 37,5 % gerechnet. Nach aktuellen Hochrechnungen verfehlen allerdings acht von 13 Herstellern bereits im Jahr 2020 die Zielwerte in Höhe von 95g CO2-Ausstoß pro Kilometer. Wenn Automobilunternehmen nicht zeitnah ihre Steuerung und Planung entsprechend anpassen, sind Strafzahlungen in Milliardenhöhe und Reputationsschäden in der Öffentlichkeit die potenziellen Folgen.“

Diese Einschätzung der Unternehmensberatung Deloitte aus dem vergangenen Jahr ergänzt das Informationsportal German Foreign Policy in einem aktuellen Online-Text. Danach würden insbesondere deutsche Kfz-Hersteller die CO2-Grenzwerte der EU nicht einhalten können. Volkswagen müsse laut aktuellen Studien mit Strafen von bis zu 4,5 Milliarden Euro rechnen, Daimler mit einer Milliarde Euro, BMW mit 750 Millionen Euro. Ursache sei nicht zuletzt, dass die Bundesregierung immer wieder zugunsten der deutschen Autokonzerne Einfluss auf die EU-Normgebung genommen und Auflagen gelockert hätte. Dies habe die Branche zwar von aufwendigen Innovationen befreit, sie aber gleichzeitig in technologischen Rückstand gegenüber Unternehmen aus den USA (Tesla) und Japan gebracht. Toyota etwa, Hauptkonkurrent von VW um die Position des Pkw-Weltmarktführers, müsse nur mit Strafzahlungen von 18 Millionen Euro rechnen. Dabei hätten vor allem die deutschen Hersteller sehr viel Zeit gehabt, sich auf die strikteren CO2-Schranken vorzubereiten. So würden die neuen Grenzwerte für jeden Hersteller angepasst, wobei schwere Autos, die besonders von deutschen Herstellern gebaut werden, mehr Treibhausgase ausstoßen dürften als die leichteren Modelle der europäischen Konkurrenz.

Die FAZ lässt in einem Artikel vom 8. März 2020 Thomas Schiller, Branchenexperte von Deloitte, zu Wort kommen. Seiner Meinung nach seien die Gewinnmargen bei den großen SUVs hoch. Mit elektrifizierten SUVs könnten die Hersteller praktisch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aber die Konzerne hätten mit den CO2-Vorgaben noch Jahre zu kämpfen und die damit einhergehende Einbußen an Profitabilität seien nur bedingt abwendbar. Zitat Schiller: „Die Autohersteller haben heute die Wahl, ob sie hohe CO2-Strafen an die EU zahlen oder E-Autos zu Preisen verkaufen, bei denen sie wenig bis nichts verdienen. E-Autos werden noch in den nächsten Jahren ein Zuschussgeschäft sein.“

Quellen:

Deloitte Whitepaper, „Wie zukunftsfähig ist die Automobilindustrie? Steuerung und Planung eines CO2-konformen und gleichzeitig profitablen Produktportfolios“, Stand 7/2019

https://www2.deloitte.com/de/de/pages/consumer-industrial-products/articles/oem-co2-grenzwerte.html

German Foreign Policy, „Dicke Luft bei den deutschen Autobauern“

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8212/

„Studie: Autoherstellern drohen 3,3 Milliarden Euro Strafe von EU“, FAZ vom 8. März.2020

 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/auto-verkehr/co2-grenzwerte-autoherstellern-drohen-3-3-milliarden-euro-strafe-von-eu-16669219.html

 

 

Ein Unternehmenslobbyist an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle scheidet im Mai 2020 nach 12-jähriger Amtszeit aus. Sein Nachfolger an der Spitze des höchsten deutschen Gerichts soll der ehemalige CDU-Spitzenpolitiker und Wirtschaftsanwalt Stephan Harbarth werden.

Während seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter (2009 bis 2018) sollen seine „Nebeneinkünfte“ als Miteigentümer der Anwaltskanzlei Schilling Zutt & Anschütz (SZA) jährlich Millionen Euro betragen haben. Seit dem Jahre 2000 ist SZA die deutsche Niederlassung der US-Großkanzlei Shearman & Stirling. Über SZA beriet Shearman & Stirling unter anderem auch sogenannte Heuschrecken-Investoren.

Nach Angaben des Kölner Publizisten Werner Rügemer vertrat Harbarth in seiner Eigenschaft als Anwalt Konzerne wie Daimler, Allianz, die Pharmakonzerne Sanofi-Aventis und Merck, Südzucker, Springer Science, MVV Energie, Gruner & Jahr, Klett, Crop Energies sowie den Roboterhersteller Kuka. „Da ging es um Fusionen und Übernahmen, Verkauf von Unternehmensteilen, Joint Ventures und Platzierung von Anleihe-Paketen.“

Auf den Nachdenkseiten führt Rügemer sechs Gründe an, die gegen Harbarth als neuen „Hüter des Grundgesetzes“ sprechen:

  • Als CDU-Abgeordneter im Bundestag hat er nach aller Kenntnis gegen das Abgeordneten-Gesetz verstoßen. Es legt fest: Das Mandat ist die Haupttätigkeit. Doch Harbarth war hauptamtlich als Anwalt tätig mit jährlichen Millioneneinkommen.
  • In der Kanzlei Shearman & Stirling, in der Harbarth zunächst Anwalt und dann Miteigentümer war, wurde der größte Steuerbetrug der deutschen Geschichte, der Cum-Ex-Milliarden-Trick, zur juristischen Reife gebracht.
  • Shearman & Stirling ist führende Kanzlei bei den internationalen privaten Schiedsgerichten – keine Gewähr für den Schutz des deutschen Grundgesetzes.
  • Harbarth hat ab 2008 als Anwalt der Wirtschaftskanzlei SZA große Unternehmen vertreten, die Kanzlei vertritt bis heute die Abgas-Betrüger von VW. Im Bundestag verhinderte Harbarth eine Befassung mit VW.
  • Harbarths Kanzlei war und ist zugleich als Steuer-Berater für Unternehmen und für vermögende Privatpersonen tätig. Auch Harbarth war hier tätig.
  • Als Abgeordneter trat er für harte Sanktionen bei Arbeitslosen ein. Er verzögerte möglichst lange den gesetzlichen Mindestlohn – dessen millionenfache, straflose Nichtzahlung durch Unternehmer hat der Rechtskundige nie kritisiert.“

Die Kanzlei Dr. Stoll & Sauer (Lahr/Schwarzwald), unter anderem mit einer Musterfeststellungsklage gegen VW aktiv, hatte am 28. November 2019 eine Beschwerde gegen die Ernennung des ehemaligen Bundesabgeordneten zum Bundesverfassungsrichter eingelegt – beim Bundesverfassungsgericht selbst. Die Begründung lautete, Harbarth könne aufgrund seiner früheren Tätigkeit als Anwalt für die Lobbyisten-Kanzlei Schilling, Zutt & Anschütz nicht objektiv Recht sprechen. Das Gericht stellte jedoch am 18. Februar 2020 mit Beschluss unanfechtbar fest, dass die Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Grundrechte nicht dargelegt hätten. Die Kanzlei prüft derzeit einen Gang zum Europäischen Gerichtshof.

 

Quellen:

 Werner Rügemer: „Unternehmens-Lobbyist als Hüter des Grundgesetzes?“, 9. März 2020

https://www.nachdenkseiten.de/?p=59130

„Verfassungsbeschwerde gegen Ernennung von Harbarth zum Bundesverfassungsrichter nicht angenommen. Kanzlei Dr. Stoll & Sauer prüft weitere Schritte auf europäischer Ebene“, 12. März 2020

https://www.vw-schaden.de/aktuelles/verfassungsbeschwerde-gegen-ernennung-von-harbarth-zum-bundesverfassungsrichter-nicht

 

Die italienische Modeindustrie und der Corona-Virus: Neuer Rassismus gegen Menschen chinesischer Herkunft?

„Hunderttausende Chinesen arbeiten in Italien. Dort wurden so viele Coronavirus-Infektionen festgestellt wie nirgends sonst in Europa. Drohen nun rassistische Übergriffe?“, fragt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) in ihrer Ausgabe vom 10. März 2020. Nach Angaben der FAZ leben heute offiziell mehr als 320.000 Chinesen in Italien, tatsächlich jedoch deutlich mehr, wenn man die eingebürgerten Chinesen und diejenigen ohne Aufenthaltstitel hinzuaddiert.

Prato, nordwestlich von Florenz gelegen, gilt als Drehscheibe für die chinesische Migration nach Italien und bildet zugleich das italienische Zentrum chinesischer Billigmode. Zehntausende Chinesen arbeiten legal und vor allem illegal in Sweatshops ohne Versicherungsschutz und Gesundheitsversorgung. Oft sind die Besitzer der kleinen Fabriken und Werkstätten selbst Menschen chinesischer Herkunft, die als Kleinunternehmer im Auftrag großer italienischer Modemarken extrem billig produzieren, ihre Arbeitskräfte somit für einen Hungerlohn schuften lassen.

Seit der Häufung von Coronavirus-Ansteckungen in Norditalien ist dort die Suche nach einem Sündenbock in vollem Gange. In Online-Medien wird behauptet, es sei kein Zufall, dass die italienischen Coronafälle gerade in jenen Regionen auftreten, wo chinesische Zuwanderer oft unter üblen Bedingungen arbeiten und leben müssen. Die Epidemie nahm in China ihren Ausgang, für die besonders starke Ausbreitung des Virus in Italien werden nun chinesische Firmen und ihre Mitarbeiter*innen verantwortlich gemacht.

Dabei weiß niemand, wie viele der chinesischen Arbeiter*innen tatsächlich infiziert oder ernsthaft krank sind. Ein Zusammenhang zwischen Arbeitsmigrant*innen und allgemeinen Ansteckungsfällen ist wissenschaftlich schlicht nicht erkennbar.

Quellen:

„Corona und die italienische Modeindustrie. Wie die Ausbeutung chinesischer Arbeiter zur Ausbreitung des Virus beiträgt“,

https://zackzack.at/2020/02/26/corona-und-die-italienische-modeindustrie-wie-die-ausbeutung-chinesischer-arbeiter-zur-ausbreitung-des-virus-beitraegt/

Almut Siefert, „Chinesische Textilindustrie in Italien: Eine Suche nach dem Virensündenbock“, Die Presse vom 7. März 2020

https://www.diepresse.com/5781107/chinesische-textilindustrie-in-italien-eine-suche-nach-dem-virensundenbock

Matthias Rüb, „Einer von Hunderttausenden Chinesen“, FAZ vom 10. März 2020

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/coronavirus-und-italien-drohen-nun-rassistische-uebergriffe-16671001.html

Stadt Hamburg verzichtet auf Rückforderung von 47 Millionen Euro

Seit einigen Jahren bereits gelten die sogenannten Cum-Ex-Geschäfte als ein „milliardenschweres Staatsversagen“ bzw. als einer der „größten bundesdeutschen Steuerskandale“ (Benedict Ugarte Chacón). Andere Experten nennen sie den „größten Steuerraubzug der deutschen Geschichte“ (NDR-Magazin Panorama). So wickelte die Hamburger Warburg Bank über Jahre Cum-Ex-Deals ab und ließ sich einmal bezahlte Steuern mehrfach zurückerstatten.

Nach Angaben von Panorama und der Wochenzeitung Die Zeit wusste die Stadt Hamburg spätestens seit 2016 von ihren Ansprüchen gegen Warburg. Das Hamburger Finanzamt unter der Aufsicht des damaligen Finanzsenators und heutigen Bürgermeisters Tschentscher (SPD) verzichtete jedoch auf die Erstattung von insgesamt 47 Millionen Euro, die sich die Warburg Bank durch Cum-Ex-Geschäfte erschlichen hatte. Ende 2016 verjährten dann die Ansprüche steuerrechtlich. Die Hamburger Behörde blieb untätig, obwohl es zu diesem Zeitpunkt bereits finanzgerichtliche Urteile gab, die Cum-Ex-Geschäfte als illegal bewertet hatten – so Christoph Spengel, Mannheimer Steuerprofessor und Sachverständiger im Cum-Ex-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestag.

Brisant ist zudem, dass sich nach den Recherchen von Panorama und Die Zeit sowohl Tschentscher als auch der zu der Zeit amtierende Erste Bürgermeister und heutige Bundesfinanzminister Olaf Scholz während der laufenden Ermittlungen mit Verantwortlichen der Warburg Bank getroffen hatten, um über den Fall zu reden. Ein Sprecher des SPD-Politikers ließ mittlerweile jedoch verlauten, Scholz habe dabei keinen Einfluss auf das Steuerverfahren genommen.

Dem widerspricht der ehemalige Chef der Warburg Bank Christian Olearius. Aus dessen staatsanwaltlich beschlagnahmten Tagebüchern geht hervor, dass er Scholz bei einem Treffen im November 2017 über den Sachstand des Ermittlungsverfahrens gegen Warburg unterrichtet hatte. Scholz hinterließ in dem Gespräch offensichtlich den Eindruck, dass sich die Bank und auch Olearius selbst „keine Sorgen“ zu machen bräuchten.

Quellen:

Salewski/O. Schröm/B. Strunz, „Cum Ex: Hamburg verzichtete auf 47 Millionen von Warburg Bank“, Panorama (NDR-Magazin) vom 13. Februar 2020

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2020/Hamburg-verzichtete-auf-47-Millionen-von-Warburg-Bank,cumex204.html

Oliver Hollenstein/Karsten Polke-Majewski: „Cum-Ex-Skandal: Cum-Ex wird zum Wahlkampfthema in Hamburg“, Die Zeit vom 14.Februar 2020

https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-02/cum-ex-skandal-olaf-scholz-m-m-warburg

Malte Kreutzfeldt: „Cum-Ex-Skandal: Vorwürfe gegen Hamburger SPD, taz vom 13. Februar 2020

https://taz.de/Cum-Ex-Skandal/!5660012&s=cum+ex/

„Cum-Ex-Vorwürfe beschäftigen Hamburger Wahlkampf“, Neues Deutschland vom 13. Februar 2020

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1132845.cum-ex-cum-ex-vorwuerfe-beschaeftigen-hamburger-wahlkampf.html?sstr=cum

Benedict Ugarte Chacón: „Milliardenschweres Staatsversagen“, BIG, 22. November 2018

http://big.businesscrime.de/artikel/milliardenschweres-staatsversagen/

„Lohnender Betrug“

Zwei aktuelle Studien belegen, dass hierzulande weiterhin Millionen von Erwerbstätigen um den gesetzlichen Mindestlohn gebracht werden und Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Ländern nach wie vor bei der Lohnuntergrenze deutlich hinterherhinkt.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) wertete die Daten des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) für die Jahre 1995 bis 2018 aus. Nachfolgendes Zitat stammt aus einer Pressemitteilung des DIW vom 12. Februar 2020:

„Im Niedriglohnsektor erhielten den Daten zufolge auch im Jahr 2018 auf Basis des vereinbarten Stundenlohns rund 2,4 Millionen Beschäftigte noch keinen Mindestlohn. Zieht man den tatsächlichen Stundenlohn, also inklusive Überstunden, heran, sind es sogar 3,8 Millionen Beschäftigte. Das deutet darauf hin, dass der Mindestlohn häufig auch mit Hilfe von Überstunden umgangen wird.“

Die Tageszeitungen Junge Welt und Neues Deutschland verweisen auf fehlende Kontrollen beim Mindestlohn bzw. auf Verstöße bei der Pflicht zur Dokumentation der Arbeitszeiten:

„Um die Lohndrückerei zu unterbinden, müsste die Arbeitszeit präzise dokumentiert werden. Genau dies hat auch der Europäische Gerichtshof im Mai vergangenen Jahres in einem Grundsatzurteil gefordert. Würden die Vorgaben aus Luxemburg hierzulande umgesetzt, hätten die Beschäftigten ein gesetzliches Instrument, mit dem sie sich gegen die Tyrannei an der Konzernspitze wehren und ihren Lohn im Zweifel einklagen könnten. Der DGB fordert zum Beispiel eine Beweislastumkehr beim Nachweis der geleisteten Arbeitszeit. Bislang sind die Beschäftigten verpflichtet, nachzuweisen, wie viele Arbeitsstunden sie geleistet haben.“ (Junge Welt vom 13. Februar 2020)

„Nach aktuellen Zahlen von Wirtschaftsforschern dürften bis zu 3,8 Millionen Beschäftigte um das Lohnminimum betrogen werden. Wie viele es genau sind, ist schwer zu sagen, denn der Mindestlohn wird zu wenig kontrolliert und wo doch, scheitern die Beamten (…) oftmals an unklaren Aufzeichnungen von Arbeitszeit und Dienstplänen. Und Wirtschaftsverbände, FDP wie auch Union haben nichts Besseres zu tun, als solche Verstöße gegen Dokumentationspflichten auch noch mit ihrer Kritik an ‚zu viel Bürokratie‘ zu legitimieren. Dabei braucht es strengere Vorgaben. Aber auch die Sanktionen sind ein Problem. So sind die Strafen derart niedrig, dass sie geradezu Anreiz sind, auf Dokumentation zu verzichten.“ (Neues Deutschland vom 13. Februar 2020)

Der neue Mindestlohnreport des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung analysiert den deutschen Mindestlohn in Relation zu anderen EU-Ländern. Dazu folgender Auszug aus einer Pressmitteilung des WSI vom 13. Februar 2020:

„Der deutsche Mindestlohn ist mit 9,35 Euro pro Stunde weiterhin spürbar niedriger als die Lohnuntergrenzen in den westeuropäischen Euro-Staaten, die alle 9,66 Euro und mehr Stundenlohn vorsehen. In vier Euro-Ländern beträgt der Mindestlohn nun mehr als 10 Euro, in Luxemburg sogar 12,38 Euro. Auch in Großbritannien wird der Mindestlohn ab April deutlich über dem deutschen Niveau liegen (…) Bislang liegen aber nur in zwei EU-Ländern, Frankreich und Portugal, die Mindestlöhne bei mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns. Dieses Niveau ist aus Sicht vieler Experten die Untergrenze für ein existenzsicherndes Entgelt. Der EU-Durchschnitt beträgt dagegen laut WSI lediglich knapp 51 Prozent, in Deutschland ist das Niveau mit knapp 46 Prozent noch niedriger und war in den vergangenen Jahren rückläufig.“

Quellen:

„Lohnschere in Deutschland schließt sich langsam – Zahl der Geringverdienenden geht zurück“, Pressemitteilung des DIW vom 12. Februar 2020

Steuervermeidung bei Fresenius

Der deutsche Gesundheitsunternehmen Fresenius vermeidet Steuern ebenso wie Amazon und Google. Das stellt eine neue Studie fest, die im Januar 2020 vom Netzwerk Steuergerechtigkeit in Kooperation mit dem Center for International Corporate Tax Accountability & Research (CICTAR) und den europäischen und globalen Dienstleistungsgewerkschaftsbünden (EPSU & PSI) herausgegeben wurde.

Demnach konnte der DAX-Konzern durch „aggressive Steuergestaltung“ in den vergangenen zehn Jahren weltweit die Zahlung von bis zu 2,9 Milliarden Euro Steuern umgehen. Unter anderem verschiebt das Unternehmen Gewinne in fast alle bekannten Steueroasen der Welt und vermeidet damit höhere Unternehmenssteuern in Deutschland und anderen Ländern. Ein Zitat aus der Pressemitteilung:

„Fresenius entzieht sich seiner Steuerpflicht, indem es hohe Gewinne dort ausweist, wo die Unternehmenssteuern niedrig sind. In wichtigen Märkten wie Deutschland und den USA werden die Gewinne künstlich kleingerechnet. Fresenius erzielt seine Umsatzerlöse zwar vorrangig in solchen Ländern mit einem Unternehmenssteuersatz von mindestens 30 Prozent, der globale Steuersatz des Unternehmens betrug im Jahr 2018 nach Angaben von Fresenius selbst aber lediglich 18,2 Prozent vom Gewinn.“

Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit fordert unter anderem, dass Fresenius seine Tochtergesellschaften in Steueroasen auflöst und seine Steuerpraktiken transparent macht. Die Bundesregierung solle „auf eine echte Reform des Systems der internationalen Unternehmensbesteuerung drängen anstatt einseitig die Interessen der deutschen Konzerne zu vertreten und sich dem ruinösen Steuersenkungswettbewerb anzuschließen“.

Quelle:

„Beim Steuertricksen gehören deutsche Unternehmen zur Weltspitze“, Pressemitteilung des Netzwerk Steuergerechtigkeit vom 21.1.2020 

https://netzwerk-steuergerechtigkeit.de/pm_fresenius/

Whistleblower*innen unter Druck

„Gepanschte Krebsmedikamente in der Apotheke. Steuer-Oasen. Doping im Gewichtheber-Weltverband. Ekelfleisch in Wurst und Döner. BSE-Skandal. Weltweite Überwachungs- und Spionagepraxis von Geheimdiensten. Machenschaften im Deutschen Fußballverband und im Weltfußballverband Fifa… die Liste ist lang. Ohne Whistleblower wäre all dies nie aufgedeckt worden“, heißt es in einem Feature des Deutschlandfunks vom 28. Januar 2020.

Die massiven Schwierigkeiten, mit denen Whistleblower*innen konfrontiert wurden, werden am Beispiel von drei Fällen exemplarisch aufgezeigt:

Oliver Schröm, ehemaliger Chefredakteur des gemeinnützigen Recherchezentrums „Correctiv“, deckte für das investigative Netzwerk die sogenannten Cum-Ex-Geschäfte auf. An den Geschäften beteiligt war auch eine Schweizer Privatbank. In der Schweiz wurde jedoch nicht gegen die Täter ermittelt, sondern gegen den Journalisten, der den Steuerraub aufdeckte, und seine Informanten (unter anderem wegen Wirtschaftsspionage).

Im vergangenen Jahr wurde das Radiofeature „Täter in Uniform. Polizeigewalt in Deutschland“ von Marie von Kuck ausgestrahlt. Bei ihren Recherchen sprach die Autorin unter anderem mit einem Polizisten, der ihr über die Gewaltbereitschaft innerhalb des Polizeiapparats berichtete und dabei ein hohes berufliches und persönliches Risiko einging.

Brigitte Heinisch hatte vor Jahren als Pflegefachkraft in einer Einrichtung des Berliner Gesundheitskonzerns „Vivantes“ gearbeitet – und sich dort gegen die Arbeits- und Pflegebedingungen gewehrt. Ihr wurde mehrfach gekündigt. Wegen fehlender Loyalität zum Arbeitgeber gab ein Arbeitsgericht dem Gesundheitskonzern recht. Heinisch zog bis vor den „Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“ in Straßburg. Über den Fall hatten die Medien ausführlich berichtet; die Altenpflegerin wurde für ihren Mut als Whistleblowerin mit Preisen gewürdigt.

In der Sendung vom 28. Januar kamen außerdem noch zu Wort: Tobias Gostomzyk (Professor für Medienrecht der Technischen Universität Dortmund), Annegret Falter vom Whistleblower-Netzwerk, Sven Giegold (Mitglied der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament) und Martin Herrnkind (Dozent für Kriminologie an der „Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung“ in Altenholz bei Kiel).

Quelle:

Charly Kowalczyk, „Aufklärer unter Verdacht. Was Whistleblowern und investigativen Journalistinnen droht“, Deutschlandfunk: „Das Feature“, 28. Januar 2020 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/was-whistleblowern-und-investigativen-journalistinnen-droht.3720.de.html?dram:article_id=465573)

Nach der Staudamm-Katastrophe in Brasilien: Anklage gegen TÜV-Süd

Am 25. Januar 2019 brach in der Nähe der brasilianischen Kleinstadt Brumadinho ein Staudamm in einer Eisenerzmine des Bergbaukonzerns Vale S.A., der als weltweit größter Eisenerzexporteur gilt. Eine giftige Schlammlawine zerstörte das Minengelände und ein Wohnviertel, verseuchte Ackerböden und Teile eines Flusses, der die Region mit Trinkwasser versorgt hatte. Insgesamt starben mindestens 259 Menschen.

Nur vier Monate zuvor hatte eine brasilianische Tochtergesellschaft des deutschen Unternehmens TÜV Süd die Sicherheit des Damms bescheinigt. Nach einer Information der zuständigen Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Minas Gerais vom 21. Januar 2020 kommt es nun zu einer Anklage. Gegen elf Mitarbeiter von Vale und fünf vom TÜV Süd (einer aus Deutschland) wird der Vorwurf des Mordes erhoben (darunter technische Berater, Ingenieure sowie Mitarbeiter in verantwortlichen Positionen).

Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 22. Januar 2020: „Die Vorwürfe, die die Ermittler im vergangenen Jahr zusammengetragen haben, wiegen schwer. Der Betreiber der Eisenerzmine, der Konzern Vale, und der TÜV Süd hätten bewusst zusammengearbeitet mit dem Ziel, den inakzeptablen Sicherheitszustand mehrerer Staudämme zu verheimlichen‘, heißt es in der Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Daraus ergeben sich mehrere Anklagepunkte, die in ihrer Härte für Überraschung sorgen. So werden der Vale-Konzern und TÜV Süd in Brasilien (…) nicht nur wegen ‚Verbrechen gegen Flora und Fauna‘ sowie wegen Umweltverschmutzung angeklagt ‒ sondern auch wegen Mordes.“

Aber auch die deutsche Justiz wird jetzt tätig. Fünf Hinterbliebene des Dammbruchs hatten im Oktober 2019 gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR) und dem katholischen Hilfswerk Misereor bei der Staatsanwaltschaft München eine Strafanzeige und Anzeige wegen Ordnungswidrigkeit eingereicht. Sie werfen dem verantwortlichen Mitarbeiter von TÜV Süd fahrlässige Tötung, Privatbestechung und fahrlässiges Herbeiführen einer Überschwemmung vor. In der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik heißt es dazu auf Seite 25: „Ihre Anzeige könnte sich als bahnbrechend erweisen: Sie könnte dazu beitragen, der Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen deutscher Unternehmen im Ausland ein Ende zu setzen.“

Quellen:

Klaus Ott/Benedikt Peters, Staudamm-Desaster: „Schwere Vorwürfe gegen den TÜV Süd“, Süddeutsche Zeitung vom 22. Januar 2020
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brasilien-staudamm-tuev-sued-1.4767152

Miriam Saage-Maaß/Claudia Müller-Hoff, „Kontrolle statt Freiwilligkeit: Konzerne an die Kette“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2020, Seite 25-28
https://www.blaetter.de/ausgabe/2020/januar/kontrolle-statt-freiwilligkeit-konzerne-an-die-kette

 

Verpflegung im Krankenhaus macht Patienten noch kränker

 

Laut einer aktuellen Studie des Deutschen Krankenhaus Instituts (DKI) sind seit 2005 die Verpflegungskosten pro Patient und Tag um 9 Prozent gesunken. Im Schnitt gaben Kliniken im Jahr 2018 (die aktuellsten Zahlen) 3,84 Euro pro Tag und Patient für Verpflegung aus, 2005 waren es dagegen noch 4,45 Euro.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat zwar Mindestqualitätsstandards für die Ernährung in Kliniken entwickelt, die Umsetzung ist bislang jedoch weder auf Landes- noch auf Bundesebene verpflichtend. Zum erforderlichen Standard gehört beispielsweise, dass täglich mehrmals Gemüse und Obst und zweimal wöchentlich Fisch auf dem Speiseplan stehen. Bei einem Test eines ARD-Fernsehteams in einem zufällig ausgesuchten Berliner Krankenhaus stellte sich das ausgegebene Essen als weitgehend ungenießbar heraus. Eine Fachärztin für Ernährungsmedizin fasst in der Reportage die vorliegenden Laborergebnisse der Mahlzeiten zusammen. Danach sind die Mahlzeiten „nicht nur ungesund, sondern geradezu toxisch“ und damit für die menschliche Ernährung unbrauchbar. So mangelte es bei dem Essen weitgehend an Vitaminen, während der empfohlene Salzgehalt pro Mahlzeit um ein Vielfaches überschritten wurde.

Eine andere Ärztin kommentiert die Ergebnisse wie folgt: „Ich habe immer das Gefühl, ich würde krank werden, wenn ich dieses Essen jeden Tag essen würde. Wenn ich mir jetzt vorstelle, ich bin schon krank und möchte gesund werden, dann ist dieses Essen bestimmt nicht hilfreich, eher im Gegenteil.“

Fazit: Die Fernseh- und Radioreportage der ARD zur Krankenhausverpflegung zeigt einmal mehr, dass sich das Gesundheitswesen von einem „Solidarsystem“ hin zu einer Gesundheitswirtschaft gewandelt hat. Die Durchökonomisierung der Branche resultiert zum einen in der Tendenz einer gefährlichen Übertherapie, zum anderen in einer systematischen Unterversorgung der Patienten. Die Reportage belegt eindrucksvoll, wohin die politisch gewünschte Profitorientierung der Kliniken und damit die „Notwendigkeit betriebswirtschaftlichen Handelns“ in einem Bereich der Daseinsvorsorge führt.

 

Quellen:

Helena Daehler/ Marcel Trocoli-Castro, „Fit werden mit Krankenhausessen?“, ARD-Mittagsmagazin vom 14.1.2020 und „Es ist nicht nur ungesund, sondern geradezu toxisch“, Inforadio vom 14.Januar 2020

https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/mittagsmagazin/videos/sendung-vom-14-januar-2020-ard-mittagsmagazin-video-100.html

https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2020/01/krankenhaus-essen-patienten-berlin.html

 

Kampf um die Beute. Eine Theorie der Bandenherrschaft

„Die Grundform der Herrschaft ist das Racket“, schrieb Max Horkheimer um 1939/40 in einem Textentwurf zur „Dialektik der Aufklärung“. Er entlehnte diesen Begriff der US-amerikanischen Soziologie und bezeichnete damit rivalisierende hierarchisch organisierte Gruppen, die ihren Mitgliedern Schutz nach innen bieten, zugleich aber bedingungslose Loyalität von ihnen fordern. Synonyme sind Clique, Bande oder Gang. Horkheimer und seine Kollegen vom exilierten Institut für Sozialforschung gingen davon aus, dass sich mit dem Ende der liberalistischen Phase des Kapitalismus ein zunehmender ökonomischer Monopolisierungsprozess auf Kosten der Konkurrenz auf dem freien Markt durchgesetzt hatte. Die Sphäre der Zirkulation als Fundament bürgerlicher Demokratie büßte demnach an Bedeutung ein und die Instanzen der Vermittlung (z.B. das Recht) wurden durch Formen unmittelbarer Herrschaft ersetzt.

Gemäß dieser Prämisse verdrängten informelle und gewaltförmig-mafiotische Strukturen mehr und mehr die rechtsstaatlichen Mechanismen und setzten sich in jeder Pore des gesellschaftlichen Lebens fest. Die ganze Gesellschaft, so fasst Thorsten Fuchshuber Horkheimers Überlegungen zusammen, erweise sich sowohl historisch wie auch in der Gegenwart als durch die Gewalt der Rackets bestimmt (vgl. Seite 16).

Dieser universelle, zeitenthobene Ansatz erschließt sich aber heute – mehr als 80 Jahre später – nicht mehr vorbehaltlos. Denn das Besondere unterschiedlicher Formen von Herrschaft geht verloren, wenn sie allesamt unter der Bezeichnung des Rackets subsumiert werden und damit die begriffliche Schärfe schwindet. Andererseits jedoch bietet sich gerade die Offenheit des Racket-Begriffs für zeitgenössische Diagnosen von informeller und autoritärer Herrschaft an.

Fuchshuber bietet deshalb zunächst eine theoriegeschichtliche Einordnung der letztlich Fragment gebliebenen Racket-Theorie, um sie innerhalb des politischen und gesellschaftlichen Kontextes der 1930er Jahre darzustellen, in dem sie entstanden ist. Darauf aufbauend beschreibt der Autor die Verschränkung der Racket-Theorie mit Horkheimers Kritik der politischen Ökonomie, damit die Rackets als ein gesellschaftliches Strukturprinzip (zumindest in Deutschland) und nicht etwa als „eine Macht jenseits des Systems“ (Horkheimer) begreifbar werden. Als ein wesentliches Element der Theorie erläutert Fuchshuber die Subjektkonstitution der „sozial atomisierten Individuen“, die sich den Rackets unterwerfen müssen – als Preis für Protektion und Anteil der „Beute“.

Die unter Konformitätszwang stehenden und „sich so angleichenden atomisierten Einzelnen haben nichts mehr, was sie voneinander trennt und die ‚neue Weise von Unmittelbarkeit‘ (Horkheimer) bedeutet auch Identitätszwang und Hass auf alles Nichtidentische“. (Seite 386) Letzterer erweist sich als funktional, denn die miteinander konkurrierenden Rackets, die im Grunde keine übergeordnete Macht mehr anerkennen, können nur mittels Bestimmung eines gemeinsamen totalen Feindes befriedet werden. Darum erhält der Antisemitismus in diesem Kontext eine zentrale Bedeutung. Dass es in Deutschland zu einem Vernichtungsantisemitismus kommen konnte, deutet die Racket-Theorie als Folge des „im Nationalsozialismus radikalisierte(n) Modus von Inklusion und Exklusion als der jede Racketgesellschaft strukturierendes Moment“ (Seite 594).

Argumente für die Aktualität der Racket-Theorie, also des „Racket(s) als zeitgenössischer Form des Politischen“ (Seite 548), entwickelt der Autor gegen Ende der umfangreichen Studie unter der Überschrift „Staatszerfall, ‚Warlordisierung‘ und Autoritarismus“ – beispielhaft dargestellt anhand der Erosion des staatlichen Gewaltmonopols in Somalia und des autokratischen Herrschaftsstils in Russland („System Putin“). Dabei wird deutlich, dass sich das Auftreten von Rackets nicht nur als Folge eines Staatszerfalls wie am Horn von Afrika erklären lässt. Der Präsident der Russischen Förderation beispielsweise versteht sich als Stabilisator eines Riesenreiches. „Ist Putin also ein Anti-Racketeer“?, fragt Fuchshuber (Seite 551). Er verneint und stellt fest, dass sich Putin lediglich als „Meister an die Spitze der konkurrierenden Rackets“ (Seite 556) gestellt habe und sie keineswegs zerstören wolle. Der russische Präsident fungiere insofern als Vermittler der als Rackets strukturierten Machtfraktionen, wie Fuchshuber bereits in einem Artikel der Jungle World feststellte (vom 19. Januar 2017).

Publikationen aus den letzten Jahren bestätigen die zunehmende Bedeutung der Bildung von „Banden“ als ein die gegenwärtige Gesellschaft strukturierendes Prinzip, auch wenn nicht immer auf die Racket-Theorie und ihre Urheber direkt Bezug genommen wird. Der 2017 verstorbene Publizist Jürgen Roth beschrieb in seinem im selben Jahr veröffentlichten Buch „Die neuen Paten“, wie sich aus dem KGB und dem sowjetischen Staatsapparat hervorgegangene mafiöse kriminelle Vereinigungen in den höchsten Positionen wirtschaftlicher und politischer Macht etablieren konnten. Der Politologe Kai Lindemann interpretierte 2014 in den Blättern für deutsche und internationale Politik den Finanzkapitalismus als „Beutesystem“, dessen Gestalt durch eine Vielzahl informeller Verbindungen zwischen Rackets und ihrer intensiven Verflechtung mit staatlichen und wirtschaftlichen, legalen und illegalen Strukturen bedingt sei (Blätter, 9/2014, Seite 87f.).

BIG-Redakteur Gerd Bedszent verwies in seinem ebenfalls 2014 erschienenen Buch „Zusammenbruch der Peripherie“ darauf, dass in den Zusammenbruchsterritorien des globalen Südens an die Stelle staatlicher Souveränität ein länderübergreifendes „Geflecht informeller Netzwerke“ tritt, an die Stelle „repressiver Gesetzgebung und deren brutaler Durchsetzung ein durch nichts legitimiertes Faustrecht“ („Zusammenbruch der Peripherie“, Seite 32). Ein Aufgreifen der Racket-Theorie würde man sich auch von der Zunft der Wirtschaftskriminologen wünschen. So ist die Existenz der Korruptionsforschung zwar bereits ein Beleg für die Bedeutung von Rackets im Neoliberalismus. Die Disziplin blendet in ihrer Praxis jedoch weitgehend die gesellschaftlichen Grundlagen der Korruption aus.

Die auf über 670 Seiten ausgebreitete akribische Rekonstruktion der Racket-Theorie aus Texten, die zum Teil in den Gesammelten Schriften Horkheimers erschienen sind, aber auch einigen bisher unveröffentlichten und im Max-Horkheimer-Archiv erhaltenen Quellen, erscheint erfreulicherweise zu einer Zeit, in der ein steigendes Interesse am Nachdenken über informelle Herrschaftsformen festzustellen ist.

Thorsten Fuchshuber: Rackets. Kritische Theorie der Bandenherrschaft
ça ira-Verlag, Freiburg/Wien, 2019,
672 Seiten, 29 Euro,
ISBN 978-3-86259-145-9

 

„Schlaraffenland für Betrüger“

Seit die Pflegeversicherung 1995 Gesetz wurde, ist ein gewaltiger und höchst intransparenter Markt mit etwa 13.000 ambulanten Pflegediensten entstanden. Ende Dezember 2019 berichtete der Deutschlandfunk einmal mehr darüber, wie kriminelle Pflegedienste Leistungen abrechnen, die nie erbracht wurden. Kein Wunder, denn die gesetzlichen Pflegekassen gaben 2018 mehr als 23 Milliarden Euro für ambulante Pflege aus – ein lukrativer Markt, der Betrüger anlockt. Der Leiter der Revisionsabteilung bei der Siemens-Betriebskasse (SBK) sprach gegenüber dem Sender von deutlich steigenden Fallzahlen: „Wir haben eine Steigerung von Jahr zu Jahr um 30 Prozent. Die Hinweise, die wir zu untersuchen haben, nehmen deutlich zu.“

Im Oktober 2019 allerdings glückte der Staatsanwaltschaft München ein Schlag gegen kriminelle Pflegedienste in der bayerischen Hauptstadt und Augsburg. Die Schadenssumme betrug acht Millionen Euro. Der leitende Oberstaatsanwalt erkennt im Pflegebetrug jedoch ein strukturelles Problem: „Diese Kombination, dass zum einen sehr viel Geld bewegt wird und zum anderen kaum eine Kontrolle stattfindet, übt natürlich eine große Anziehungskraft auf schwarze Schafe aus. Man könnte vereinfacht sagen: Unser Gesundheitssystem ist in Teilen ein Schlaraffenland für Betrüger.“ (Deutschlandfunk, 30. Dezember 2019)

Einzelne Erfolge wie dieser verdecken die riesige Dunkelziffer. Laut SPIEGEL forderten die Krankenkassen in den Jahren 2016 und 2017 wegen Abrechnungsbetrug in der ambulanten Pflege deutschlandweit 14 Millionen Euro erfolgreich zurück – doppelt so viel wie in den zwei Jahren zuvor. „Doch verglichen mit dem wirklichen Schaden ist diese Summe lächerlich gering. Experten schätzen, dass durch Betrug allein in der ambulanten Pflege rund zwei Milliarden Euro jährlich verloren gehen.“ (Spiegel Online, 16. Oktober 2018)

Eine Fachgebietsleiterin der SBK teilte dem Deutschlandfunk mit, dass man Betrügern leicht auf die Schliche kommen könne, wenn Pflegebedürftige oder deren Angehörige die Tricksereien meldeten. Aber das würde wegen des großen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Kunden und Pflegediensten nicht immer geschehen. Viele Pflegebedürftige und deren Angehörige seien schon froh, wenn sie überhaupt einen Pflegedienst finden würden. Das wollten sie nicht gefährden.

Insofern wird die oftmals geäußerte These erneut bestätigt, dass die Struktur des deutschen Pflegemarktes kriminelles Verhalten begünstigt. Für den langjährigen, durch seine vielen Medienauftritte bekannte „Pflegekritiker“ Claus Fussek ist zum Thema im Grunde „alles gesagt“. In einem Interview äußerte er sich resignativ zur Situation im Pflegebereich: „Das ist ein geschlossenes, kriminelles System.“ (Chrismon, 17. Januar 2018)

 

Quellen:

Michael Watzke, „Betrug in der Pflege: Steigende Verdachtsfälle, schwierige Aufklärung“, Deutschlandfunk, 30. Dezember 2019
https://www.deutschlandfunk.de/betrug-in-der-pflege-steigende-verdachtsfaelle-schwierige.769.de.html?dram:article_id=466588

Christina Gnirke, Wie Krankenkassen beim Betrug in der Pflege zusehen, in: SPIEGEL Online, 16. Oktober 2018
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/wie-krankenkassen-beim-betrug-in-der-pflege-zusehen-a-1232905.html

Esther Niederhammer, „Wehrt euch endlich!“, in: Chrismon, Das Evangelische Magazin, 17. Januar 2018
HYPERLINK: https://www.torial.com/esther.niederhammer/contents/408066

 

Großrazzia in Hamburg: Verdacht der Korruption beim Geschäft mit Krebsmedikamenten

Eine gemeinsame Recherche des ARD-Magazins Panorama und von ZEIT Online ergab, dass der bundesweit größte Hersteller von Infusionen für Krebstherapien, die Firma ZytoService, ein neues Betrugsmodell der ganz großen Art entwickelt hat. Am 17. Dezember 2019 wurde deshalb die größte Razzia durchgeführt, die bislang von der Hamburger Wirtschaftsstaatsanwaltschaft angeordnet worden ist. 420 Polizisten durchsuchten dabei insgesamt 58 Objekte: Arztpraxen, Apotheken, einige Firmensitze, Privathäuser und ein Krankenhaus. Den Beschuldigten (mehrere Ärzte, Apotheker und Pharma-Manager) wird laut Staatsanwaltschaft Hamburg „Bestechung im Gesundheitswesen in besonders schwerem Fall“ und „bandenmäßiger Betrug“ vorgeworfen (Höchststrafe 10 Jahre Gefängnis).

Im Fokus der Ermittlungen stehen dabei die drei Gründer von ZytoService. Sie sollen in den vergangenen Jahren systematisch Ärzte bestochen haben, die offenbar im Gegenzug unter Beteiligung einer konzernnahen Apotheke profitable Rezepte für die Infusionen ausstellten. Diese wurden offensichtlich zu Unrecht bei den Kassen abgerechnet, so dass allein der Techniker Krankenkasse seit Januar 2017 ein Schaden von 8,6 Millionen Euro entstanden sei. Die DAK schätzt ihren Verlust sogar auf 18,2 Millionen Euro.

ZEIT Online schrieb am 18. Dezember 2019: „Es ist nicht der erste Verdacht von Korruption im Milliardenmarkt mit Krebsmitteln. Aber der Fall hat eine neue Dimension, weil es neben klassischer Bestechung um eine neue Methode geht: Statt Ärzte in geheimen Treffen Geld auf Nummernkonten im Ausland zu versprechen, werden die Mediziner ganz offen und auf den ersten Blick legal gekauft.“

Die Masche von ZytoServive läuft demnach so: ZytoService erwarb über ein bundesweit verflochtenes Firmenkonstrukt ganze Arztpraxen. Dabei soll der Konzern ein Vielfaches des üblichen Marktpreises gezahlt haben. Anschließend wurden die Praxen in sogenannte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) umgewandelt. Die dort angestellten Ärzte sollen Rezepte für die Herstellung der Infusionen exklusiv an ZytoService weitergeleitet und dafür eine Beteiligung am Umsatz als Boni erhalten haben.

Damit Ärzte sich am Patientenwohl und nicht vorrangig an wirtschaftlichen Interessen orientieren, ist es Apothekern und Herstellern allerdings gesetzlich verboten, sich an Arztpraxen zu beteiligen, um die Nachfrage nach ihren eigenen Produkten kontrollieren zu können. Möglicherweise nutzte ZytoService eine Gesetzeslücke, um diese Bestimmung zu umgehen. Denn gemeinnützige Organisationen oder Krankenhäuser dürfen MVZ kaufen.

ZytoService ist offiziell selbst nicht Gründer und Besitzer der MVZ, sondern eine sehr kleine Hamburger Stadtteilklinik (mit lediglich 15 Betten und ohne eigene onkologische Abteilung). Diese eröffnete seit 2014 bundesweit 15 dieser Versorgungszentren. Zunächst gehörte die Klinik, also die „Mutter“ der MVZ, direkt ZytoService. Mittlerweile aber ist wiederum der Mutterkonzern von ZytoService, die Alanta Health Group, die Inhaberin der Klinik.

ZytoService bzw. die Alanta Health Group verweigerten den Redaktionen von Panorama und ZEIT Online eine diesbezügliche Stellungnahme.

Quellen:

Robert Bongen, Oliver Hollenstein, Niklas Schenck, Oliver Schröm, Caroline Walter: Кrebsmedikamente: Wie man sich einen Onkologen kauft, ZEIT Online, 18.12.2019
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-12/krebsmedikamente-zytoservice-betrug-onkologen-gesetzesluecke-hamburg/komplettansicht

Dies.: „Krebstherapie: Offenbar neues Betrugsmodell“, Panorama, Stand: 18.12.2019
https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Krebstherapie-Offenbar-neues-Betrugsmodell,zytostatika112.ht

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Panorama-vom-19-Dezember-2019,panoramaarchiv492.html

 

Die permanente Angst

Aus den Fabriken des Todes: Mordechai Striglers “Werk C” liegt in deutscher Übersetzung vor

Das Buch “Werk C” ist das dritte von insgesamt vier Büchern des Journalisten Mordechai Strigler (1918–1998). Dieser überlebte im besetzten Polen und in Deutschland insgesamt zwölf Ghettos und Konzentrationslager, darunter das Vernichtungslager Majdanek. Mehrere seiner Verwandten wurden umgebracht. Im April 1945 in Buchenwald befreit, sagte er vor einem Untersuchungsausschuss der US-Armee zu den Verbrechen der Nazis aus. In den Folgejahren legte Strigler, der nach dem Krieg in Paris und ab 1952 in New York lebte, seine Erinnerungen schriftlich nieder. Das Ergebnis ist die Tetralogie “Verloschene Lichter”, die ursprünglich in jiddischer Sprache erschien und derzeit vom Verlag zu Klampen erstmals in deutscher Übersetzung herausgebracht wird. Die beiden ersten Bände “Majdanek” und “In den Fabriken des Todes” erschienen 2016 und 2017 (siehe jW vom 21. August 2017). Der die Reihe abschließende vierte Band ist noch in Arbeit.

Beim titelgebenden “Werk C” handelte es sich um eine von einem Leipziger Unternehmen, der Hugo-Schneider-Aktiengesellschaft (HASAG), betriebene Munitionsfabrik im besetzten Polen. In dieser mussten überwiegend jüdische Häftlinge des Arbeitslagers Skarzysko-Kamienna Granaten und Seeminen für die Wehrmacht herstellen. Strigler hatte im zweiten Band seine Ankunft und die ersten Wochen im Lager geschildert. In der jetzt vorliegenden Fortsetzung beschreibt er die Fabrik als “großes Rad des wahnsinnigen Todes, das Menschen hineinzieht und ihnen das Blut aussaugt”.

Der Autor liefert in seinen Büchern keine Beschreibung von Widerstandsaktionen, sondern thematisiert das Grauen des Arbeits- und Lageralltags, wie ihn die Mehrzahl der jüdischen Häftlinge erlebte. Dieser Alltag bestand vor allem aus Hunger, dem täglichen Kampf um einen Napf Suppe und einen Kanten Brot, aus extrem gesundheitsschädigender Schwerstarbeit, aus Schlägen samt Schikanen von Seiten des Aufsichtspersonals und privilegierter Häftlinge der Lagerverwaltung. Und aus der permanenten Angst, krank zu werden und zu schwach für die Arbeit. Denn dann wurde man entweder vom Werkschutz in den umliegenden Wäldern erschossen oder aber auf “Transport” zurück in eines der Vernichtungslager geschickt. Bei der mit höchstem Tempo zu leistenden Arbeit kam es oft zu Unfällen; nicht wenige Häftlinge wurden in den Fabrikhallen von explodierenden Granaten zerrissen. Tausende überlebten die Arbeit in der Fabrik nicht.

Der übergroße Teil der bekannten Erinnerungsliteratur von Shoa-Überlebenden wurde von jüdischen Häftlingen geschrieben, die in ihren Heimatländern als “assimiliert” galten und es häufig geschafft hatten, in irgendeiner Funktion der Lagerverwaltung das Grauen der Massenvernichtung und des mörderischen Lageralltags zu überleben. Aus Angehörigen dieser Minderheit rekrutierten sich auch die sozialistisch oder zionistisch geprägten Widerstandsgruppen, die den Vernichtungsaktionen der Nazis stellenweise erbitterten Widerstand entgegensetzten und von denen einige im Untergrund überlebten. Strigler, der sein Überleben wohl ebenfalls dem Aufstieg in den Kreis der “Funktionshäftlinge” verdankt, schreibt hingegen aus der Sicht der religiös geprägten und gänzlich unpolitischen Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Polens, die den größten Anteil der in den Lagern Ermordeten ausmachte.

Die Lektüre der Bände Striglers ist in weiten Teilen verstörend und schwer erträglich. Der Autor thematisiert ohne Verklausulierung die Beteiligung von baltischen und ukrainischen “Hilfskräften” der SS an den Massenmorden und die duldende Mittäterschaft polnischer Antisemiten, die sich den Besatzern andienten. Existierte denn, wie der Herausgeber im Vorwort fragt, in dieser Welt des Grauens gar keine Solidarität der Opfer des Naziregimes untereinander? Doch, so etwas gab es. Um darauf zu stoßen, muss man das Buch aber sehr genau lesen.

Strigler porträtiert beispielsweise einen polnischen Arbeiter, der sich nicht an Schikanen und der Ausplünderung der Häftlinge beteiligt, ihnen sogar hin und wieder etwas zu essen zusteckt. Seine Einweisung des neu in der Werkhalle angekommenen Häftlings liest sich fast wie eine Anleitung zur Sabotage: “Mich stört es wenig, wenn die Granate an der Front nicht explodiert (…) Lass uns hoffen, dass es tatsächlich wirkt und ein paar Menschen am Leben bleiben.” An einer anderen Stelle beginnen weibliche Häftlinge plötzlich Lieder der jüdischen Arbeiterbewegung zu singen. Gegen Ende des Buches schildert der Autor zaghafte Versuche einer Selbstorganisation der Häftlinge. So wird ein hochschwangeres Mädchen abgeschirmt, um sie und ihr Kind zu retten.

Dem letzten Band der Tetralogie kann man mit Interesse entgegensehen. Für das sehr informative Vorwort des jüngsten Bandes und die zahlreichen erläuternden Fußnoten sei Herausgeber Frank Beer und dem Verlag zu Klampen ausdrücklich gedankt.

Mordechai Strigler (Hrsg. Frank Beer): Werk C. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes. Übersetzung: Sigrid Beisel. Verlag zu Klampen, Springe 2019, 453 Seiten, 32 Euro

Die Rezension erschien in der vorliegenden Form bereits am 09. Dezember 2019 in der Tageszeitung „junge Welt“ (www.jungewelt.de) auf der Seite „Politisches Buch“. Die beiden ersten Bände von Mordechai Strigler „Majdanek“ und „In den Fabriken des Todes“ wurden in der Ausgabe 4/2017 von BIG Business Crime ausführlich rezensiert.

Die Verbrechen der Pharmaindustrie

 

In der Ausgabe der Tageszeitung junge Welt vom 10. Dezember 2019 berichtet Jan Pehrke, Mitglied der Coordination gegen Bayer-Gefahren e. V., darüber, wie Bayer und andere Pharmakonzerne bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein Arzneimittel, insbesondere Psychopharmaka, an Heimkindern testeten. Drei ehemals Betroffene forderten deshalb im April 2019 auf der letzten Bayer-Hauptversammlung eine Entschuldigung und eine Entschädigung von dem Leverkusener Konzern. Ohne Erfolg, der Bayer-Chef lehnte ab und bestritt, dass es überhaupt Studien in Heimen gegeben habe. Zu Entschädigungszahlungen erklärten sich bislang weder Bayer noch andere Unternehmen aus der Branche bereit. Über die Bewertung der Arzneierprobungen herrsche jedoch heute weitgehend Einigkeit, so der Autor. Er zitiert eine Kieler Medizinethikerin: „Das ist ethisch problematische Forschung. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Das ist ethisch unzulässige Forschung“. Das Vorgehen der Ärzte hätte nach Ansicht der Wissenschaftlerin selbst damaligen Standards nicht entsprochen.

Liest man außer solchen eher medizinhistorischen Berichten weitere Publikationen, die über die gegenwärtigen (wirtschafts-)kriminellen Handlungen in der Branche Aufschluss geben, so zeigt sich deutlich: Die Pharmaindustrie ist nach wie vor für kriminelles Verhalten in besonderer Weise anfällig. Eine branchenspezifische Untersuchung aus dem Jahr 2013 etwa ergab, „dass Pharmaunternehmen bei der Vorbeugung gegen Wirtschaftskriminalität im Vergleich zu anderen Branchen noch Nachholbedarf haben“. Obwohl gerade die Pharmabranche einem erhöhten Korruptionsrisiko ausgesetzt sei, würde deren Bekämpfung im Vergleich zu anderen Branchen weniger Aufmerksamkeit gewidmet (Bussmann, Seite 5 und 16).

Korruption und Bestechung in der Pharmaindustrie sind natürlich nichts Neues. An der Einsicht in die Notwendigkeit, grenzüberschreitend und kooperativ gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen vorzugehen, fehlt es prinzipiell auch nicht. So führte das Europäische Netzwerk gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen (EHFCN) am 19. November 2019 in Berlin bereits zum 13. Mal eine Expertentagung durch. Festgestellt wurde unter anderem, „dass nationale Alleingänge im Kampf gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen angesichts eines offenen Binnenmarktes und grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung nicht länger zielführend erscheinen“. Ein erfolgreiches Vorgehen gegen das wirtschaftskriminelle Agieren stärke hingegen das Vertrauen der EU-Bevölkerung in die Integrität von Gesundheitsversorgung, wie der Präsident des EHFCN-Netzwerks in einer Pressemitteilung erklärte.

Weniger banal und verhalten äußern sich kämpferische Wissenschaftler wie etwa der dänische Medizinforscher Peter Gøtzsche, der im September 2018 aus der renommierten Cochrane Collaboration ausgeschlossen wurde. Dabei handelt es sich laut Wikipedia um „ein globales, unabhängiges Netzwerk (…) aus Wissenschaftlern, Ärzten, Angehörigen der Gesundheitsfachberufe, Patienten und weiteren an Gesundheitsfragen interessierten Personen“. Nach Transparency International sollte er mundtot gemacht werden, „weil er das wissenschaftliche Herangehen der Cochrane Collaboration grundsätzlich und die damit verbundene Pharma-Nähe kritisiert hat“. Gøtzsche kämpft seit Jahren gegen pharmagesponserte Studien und plädiert für die Transparenz klinischer Studiendaten. Denn Pharmafirmen halten seiner Auffassung nach immer wieder Daten zurück, um die Wirksamkeit von Medikamenten behaupten zu können.

In seinem 2015 veröffentlichten Buch „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität“, welches für reichlich öffentliches Aufsehen sorgte, spricht er im Zusammenhang mit der Pharmaindustrie sogar von organisierter Kriminalität. Seine provokante These lautet, dass die Pharmaindustrie mehr Menschen umbringen würde als die Mafia. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus dem gleichen Jahr bestätigte er, dass Unternehmen Arzneimittel auf den Markt drückten, obwohl sie für viele Patienten sogar tödlich seien. Auf die Bitte des Journalisten, Beispiele zu nennen, führte Gøtzsche aus:
„Etwa Schmerzmittel wie Vioxx, von denen bekannt war, dass sie ein Herzinfarktrisiko darstellen und zum Tod führen können. Vioxx kam ohne ausreichende klinische Dokumentation auf den Markt, weshalb Merck vor Gericht stand und 2011 immerhin 950 Millionen Dollar zahlen musste. Bevor es vom Markt genommen wurde, wurde das Mittel bei Rückenschmerzen eingesetzt, bei Tennisarm, bei allen möglichen Leiden. Vielen Patienten wäre es aber schon mit Paracetamol oder auch ganz ohne Medikamente wieder gutgegangen − und jetzt sind sie tot. Das ist eine Tragödie.“

Betrug, Irreführung, Bestechung oder Vermarktung nicht zugelassener Mittel seien die Regel. Diese Straftaten erfüllten die Kriterien für das organisierte Verbrechen, deshalb könne man von Mafia reden.

US-Behörden ziehen offensichtlich praktische Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen und zeigen sich bei ihren Ermittlungen wenig zimperlich. Spiegel Online berichtete am 27. November 2019, dass Pharmakonzerne juristisch mit Drogendealern gleichgestellt werden sollen. „Den Pharmakonzernen wird vorgeworfen“, so das Magazin, „mit ihren Produkten zu der Schmerzmittelepidemie beigetragen zu haben, die in den vergangenen Jahren (…) zu Hunderttausenden Toten durch Überdosierungen führte“. Die Justizbehörden prüfen demnach, ob Hersteller und Händler abhängig machender Opioide gegen das bundesweite Suchtmittelgesetz „Controlled Substances Act“ verstoßen haben und entsprechend verfolgt werden können.

 

Quellen:

Kai Bussmann/Michael Burkhart/Steffen Salvenmoser: „Wirtschaftskriminalität – Pharmaindustrie“, hrsg. von PricewaterhouseCoopers AG und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2013
https://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/assets/pharmabranche-fehlt-rezept-gegen-korruption.pdf

EHFCN, Gemeinsame Pressemitteilung vom 19. November 2019: Internationale Konferenz setzt auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Kampf gegen Betrug und Korruption
https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/presse/pressemitteilungen/2019/Gm_PM_2019-11-19_Konferenz_Betrug_im_Gesundheitswesen.pdf

Jan Pehrke: „Bayers Menschenversuche“, in: junge Welt, 19. Dezember 2019
https://www.jungewelt.de/artikel/368448.medizingeschichte-bayers-menschenversuche.html?sstr=pharmaindustrie

Markus C. Schulte von Drach: „Kritik an Arzneimittelherstellern: Die Pharmaindustrie ist schlimmer als die Mafia“, Süddeutsche Zeitung, 6. Februar 2015
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/kritik-an-arzneimittelherstellern-die-pharmaindustrie-ist-schlimmer-als-die-mafia-1.2267631?print=true

„Plan der US-Behörden: Pharmakonzerne sollen mit Drogendealern gleichgestellt werden“, in: SPIEGEL Online, 27. November 2019
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/us-behoerden-wollen-pharmakonzerne-mit-drogen-dealern-gleichstellen-a-1298430.html

Transparency International Deutschland: „Erklärung zum Ausschluss von Peter Gøtzsche aus dem Cochrane-Netzwerk“, Berlin, 22. Januar 2019
https://www.transparency.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles/2019/19-01-22_Erklaerung_Goetzsche_Transparency_Deutschland.pdf


Joachim Maiworm
ist Redakteur von BIG Business Crime

 

 

„Organisierte Verantwortungslosigkeit“ – Die deutsche Textilindustrie und die Notwendigkeit eines Lieferkettengesetzes

Im April 2013 ereignete sich das bislang größte Unglück in der Bekleidungsindustrie: In Bangladesch stürzte das Gebäude der Textilfabrik Rana Plaza ein. Damals starben über 1.100 Menschen, 2.500 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Im Jahr zuvor kamen bei einem schweren Fabrikbrand der Firma Ali Enterprises im pakistanischen Karatschi 260 Menschen ums Leben.

Beide Fabriken produzierten für den Weltmarkt. Hauptkunde von Ali Enterprises war der deutsche Billiganbieter KiK, der damals nach eigenen Angaben für 70 Prozent der Aufträge verantwortlich war. Trotz des zweifellos vorhandenen Einflusses auf seine Zulieferer unterließ es der Discounter offensichtlich, auf einen ausreichenden Brand- und Arbeitsschutz hinzuwirken.

Als Reaktion auf diese Unglücke kam eine längst überfällige Diskussion über die Verantwortung von Unternehmen aus den nördlichen Industriestaaten für die desaströsen Arbeitsverhältnisse im globalen Süden international in Gang. Debattiert wurde über fehlenden Arbeitsschutz, Hungerlöhne, überlange Arbeitstage, Kinderarbeit, den Umgang mit gefährlichen Chemikalien und mangelhaften Brandschutz. Deutsche Textilfirmen lassen mittlerweile nahezu vollständig in Asien produzieren. Industrie und Politik versprechen seit geraumer Zeit, für bessere Bedingungen in den dortigen Zulieferfirmen zu sorgen.

Sechs bzw. sieben Jahre nach Rana Plaza und Ali Enterprises ist nach einhelliger Meinung kritischer Experten jedoch kaum etwas geschehen. Die Produktion läuft wie gehabt, Arbeitsausbeutung und Fabrikunfälle sind weiter an der Tagesordnung. KiK-Chef Patrick Zahn, der sein Unternehmen selbst als „echtes Schwergewicht“ im deutschen Einzelhandel bezeichnet, verteidigte die für die Arbeiter*innen verheerende Produktion in Ländern wie Bangladesch und Pakistan.

Im Nachhaltigkeitsbericht 2017 seines Unternehmens unterstrich Zahn klipp und klar die „oberste Priorität, das Unternehmen profitabel und auf Wachstumskurs zu halten. Denn nur, wenn der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens langfristig gesichert ist, kann nachhaltige Entwicklung gewährleistet werden.“ An anderer Stelle erklärte er, es sei keine Option, sich aus diesen Ländern zurückzuziehen. Damit wäre den Menschen dort überhaupt nicht geholfen (vgl. SPIEGEL Online vom 29. November 2018).

Intransparente Produktionsstruktur

Umgekehrt wird wohl eher ein Schuh draus: Die Profite auch der deutschen Textilkonzerne werden durch die miserablen Arbeitsbedingungen in den verzweigten Lieferketten mit rechtlich selbständigen Subunternehmen überhaupt erst ermöglicht. Die Komplexität des Systems bietet den Auftraggebern zugleich eine gute Ausrede dafür, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Darauf verweist Thomas Seibert, bei medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. In einem Radiogespräch stellte er jüngst klar, die Undurchschaubarkeit der Produktionsstruktur bilde letztlich die Voraussetzung für die Gewinnerzielung der Unternehmen in den Industriestaaten (vgl. SWR2 Forum vom 9. September 2019).

Je weiter unten Betriebe in der Lieferkette der globalen Produktions- und Vertriebsnetze angesiedelt sind, desto ungeschützter sind die Arbeitsbedingungen bei ihnen. Aus der Debatte verdrängt wird, so Seibert, dass dieses System gewollt ist, weil nur auf diesem Wege die ungeheuren Profitmargen realisiert werden können. Die Produktion von Bekleidung wurde schließlich aus Gründen der Kostensenkung in andere Länder verlagert, zuletzt nach Südasien, wo sie am billigsten ist. Strikte Preisvorgaben und eng gesetzte Liefertermine sorgen dabei für einen verschärften Arbeitsdruck auf Kosten der Beschäftigten.

Die Hauptbetroffenen der Standortverlagerungen und des Preiskampfs in der Textilbranche sind darum nicht die Menschen hierzulande, sondern die Näher*innen vornehmlich in Bangladesch und Pakistan. Zunächst sorgte der Aufstieg der westlichen Wirtschaftsmächte für einen rapiden Verfall der traditionellen Wirtschaftsstrukturen des globalen Südens. Zwar schafft die Verlegung von Produktionsstätten bzw. die Vergabe von Aufträgen an dort ansässige Subunternehmen dann in diesen Regionen dringend benötigte Arbeitsplätze. Zugleich zeigen die Fabrikunfälle aber auf drastische Weise, wie unmenschlich die Arbeitsbedingungen entlang der globalen Produktionsketten sind.

Die Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten durch deutsche Textilkonzerne stellt deshalb grundsätzlich die Frage nach ihrer moralischen und rechtlichen Verantwortung. Über Jahre war beispielsweise KiK nach der vermeidbaren Katastrophe von Ali Enterprises einer scharfen öffentlichen Kritik ausgesetzt – juristisch aber nicht belangbar.

Betroffene von Menschenrechtsverstößen am Arbeitsplatz haben tatsächlich kaum eine Möglichkeit, die ausländischen mitverantwortlichen Unternehmen auf Schadensersatz zu verklagen. Diese können für die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit im Ausland nicht zur Rechenschaft gezogen werden. So wies etwa Anfang 2019 das Landgericht Dortmund die Klage von vier pakistanischen Betroffenen der Ali Enterprises-Katastrophe vom September 2012 wegen Verjährung ab. Da sich das Unglück in Pakistan ereignete, wurde der Fall nach pakistanischem Recht entschieden. Und danach waren die Ansprüche verjährt. Dieser Fall belegt, dass die Verantwortung deutscher Unternehmen für ihre Zulieferfirmen juristisch völlig unzureichend geregelt ist.

UNO-Leitlinien und Nationaler Aktionsplan

Die im Jahr 2011 von den Vereinten Nationen verabschiedeten „Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ reflektieren dieses Defizit, indem sie auf die Schutzpflicht des Staates zur Einhaltung der Menschenrechte – auch gegen Übergriffen von Dritten, zum Beispiel Unternehmen – verweisen. Allerdings sind die Vorgaben als nicht rechtlich bindend formuliert und setzen deshalb auf Empfehlungen als Steuerungsinstrument. So heißt es etwa: „Staaten sollten klar die Erwartung zum Ausdruck bringen, dass alle in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen und/oder ihrer Jurisdiktion unterstehenden Wirtschaftsunternehmen bei ihrer gesamten Geschäftstätigkeit die Menschenrechte achten“, oder so schlicht wie zahnlos: „Wirtschaftsunternehmen sollten die Menschenrechte achten“.

Im Dezember 2016 setzte Deutschland die UN-Leitprinzipien in Form des „Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ um. Auch hier verzichtet die Bundesregierung auf verbindliche, strafbewehrte Regelungen für deutsche Unternehmen, baut stattdessen auf das Prinzip der „freiwilligen Selbstverpflichtung“. Originalton: „Die Bundesregierung erwartet von allen Unternehmen, den im Weiteren beschriebenen Prozess der unternehmerischen Sorgfalt mit Bezug auf die Achtung der Menschenrechte in einer ihrer Größe, Branche und Position in der Liefer- und Wertschöpfungskette angemessenen Weise einzuführen.“

In diesen Kontext gehört auch das von der Bundesregierung im Oktober 2014 als Reaktion auf die tödlichen Unfälle in Bangladesch und Pakistan ins Leben gerufene „Bündnis für nachhaltige Textilien“, das offiziell auf eine Verbesserung der Produktions- und Umweltbedingungen in der weltweiten Textilproduktion zielt – „von der Rohstoffproduktion bis zur Entsorgung“. Nach über fünf Jahren beteiligen sich aber nur etwa 50 Prozent der Unternehmen aus der Textilbranche an dem Zusammenschluss, bestehend aus Vertreter*innen der Wirtschaft, von Nichtregierungsorganisationen (NGO), Gewerkschaften und der Bundesregierung. Es überrascht nicht, dass sich auch das Textilbündnis an den unverbindlichen internationalen Vereinbarungen und Leitlinien orientiert und damit auf rein freiwillige Maßnahmen setzt.

Der „Grüne Knopf“

Im September 2019 brachte dann Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) mit dem „Grünen Knopf“ ein zusätzliches Steuerungsinstrument an den Start: ein staatliches Textilsiegel. Und reicherte damit den bereits bestehenden Siegel-Dschungel weiter an. Ein Siegel, das den Verbrauchern zwar Orientierung verspricht, aber angesichts Dutzender anderer Labels, die ebenfalls für „ökologische und soziale Nachhaltigkeit“ bürgen sollen, wohl eher für Verwirrung als für mehr Klarheit sorgen wird. Mit dem Siegel sollen die Produkte von Unternehmen ausgezeichnet werden, die – so der politische Fachjargon – in ihrem „Lieferketten-Management“ transparent sind und aufzeigen können, dass und wie ihre Produkte sozial und ökologisch „fair“ hergestellt werden.

Minister Müller bei der offiziellen Präsentation des „Grünen Knopfes“ am 9. September 2019: „Fair Fashion ist ein Mega-Trend. Für drei Viertel der Verbraucher ist faire Kleidung wichtig. Doch bisher fehlt die Orientierung. Mit dem Grünen Knopf ändert sich das. Mit jeder Kaufentscheidung können wir jetzt einen Beitrag leisten: Für eine gerechte Globalisierung, bei der Mensch und Natur nicht für unseren Konsum ausgebeutet werden. Für Menschlichkeit und Humanität“.

NGOs wie zum Beispiel medico international kritisieren das staatliche Siegel, weil einmal mehr an Unternehmen appelliert wird, bestimmte Standards einzuhalten, ohne dass sie dazu rechtlich verpflichtet werden. Wer nicht mitmachen will, darf weiter schädlich für Mensch und Natur produzieren wie bisher. Im Fokus der Maßnahme stehen dagegen die Konsumenten, denen eine Entscheidungshilfe beim Kauf von Textilien angeboten wird. Letztlich wird ihnen die Verantwortung für Menschenrechtsverbrechen entlang der Lieferketten aufgebürdet.

Die Überprüfung der Unternehmen und ihrer Produkte erfolgt durch Privatfirmen, die von den Unternehmen als Auftraggeber bezahlt werden. Mit diesem System wurden bisher überwiegend negative Erfahrungen gemacht. Die entwicklungspolitische Expertin und Autorin Gisela Burckhardt stellt in ihrem 2014 erschienenen Buch „Todschick“ fest, dass sich das Geschäft mit Zertifikaten sowie Audits in asiatischen Bekleidungsfabriken zu einer „wahren Goldgrube für Prüfgesellschaften“ entwickelt habe und zu einem „Milliardengeschäft“ geworden sei. „Was zählt, ist das Stück Papier, das eine Überprüfung der jeweiligen Fabrik bescheinigt. Details will niemand wissen – auch nicht wie die Fabrik eigentlich zu diesem Zertifikat gekommen ist.“ (Seite 107f.)

Die Autorin führt in ihrem Buch eine Reihe von Unternehmen an, bei denen massive Defizite im sozialen Bereich (fehlende Organisationsfreiheit, erzwungene Überstunden) sowie beim Arbeits- und Gebäudeschutz auftraten mit zum Teil verheerenden Folgen (Brände, eingestürzte Gebäude). In allen Fällen lagen von „unabhängigen“ Prüfern ausgestellte Zertifikate vor, die die Einhaltung der Unternehmens- und Produktkriterien bescheinigten. Aber auch die definierten Standards selbst sind teilweise mehr als fraglich. Beispielsweise erhält den „Grünen Knopf“ bereits jedes Unternehmen, welches garantiert, dass die Beschäftigten vor Ort den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Der aber bewegt sich in asiatischen Ländern nicht annähernd auf existenzsicherndem Niveau.

Lieferkettengesetz anstatt freiwillige Standards

Damit deutsche Unternehmen nicht länger mit der Verlagerung der Produktion in Billigstlohnländer auch ihre unternehmerische Verantwortung abschütteln können, fordern Vertreter*innen entwicklungspolitischer NGOs seit Jahren eine gesetzliche Regelung mit klaren strafbewehrten Regelungen, die die rechtliche Lücke schließt und die Achtung der Menschenrechte in den globalen Lieferketten verbindlich vorgibt. Deshalb stellte sich im September 2019 in Berlin die „Initiative Lieferkettengesetz“ vor, ein breites Bündnis aus 64 zivilgesellschaftlichen Organisationen, zu deren Initiatoren unter anderen Brot für die Welt, Misereor, Greenpeace und Oxfam zählen, aber auch der DGB und die Gewerkschaft ver.di.

In einer Petition fordert das Bündnis die Bundeskanzlerin auf, „endlich einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, mit dem Unternehmen dazu verpflichtet werden, sich an Menschenrechte und Umweltstandards zu halten“. Ein eigener Gesetzesvorschlag wird zwar nicht präsentiert, aber zentrale Anforderungen für ein wirksames Lieferkettengesetz formuliert.

Danach sollen alle Unternehmen erfasst werden, die in Deutschland geschäftstätig und für die gesamte Lieferkette von der Rohstoffgewinnung bis zur Abfallentsorgung verantwortlich sind. Sie werden verpflichtet, die Risiken und möglichen Auswirkungen ihrer Geschäfte für Menschenrechte und Umwelt zu ermitteln, sie zu analysieren und „angemessene Maßnahmen zur Prävention bzw. zur Abmilderung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden [zu] ergreifen“ (vgl. Hintergrundpaper: Die Initiative Lieferkettengesetz, September 2019).

Unternehmen haben zudem die Einhaltung der Sorgfaltspflichten zu dokumentieren und öffentlich darüber zu berichten. „Lückenhafte oder fehlerhafte Berichterstattung sollte dabei an Konsequenzen wie Bußgelder oder den Ausschluss von öffentlichen Aufträgen geknüpft sein.“ Ein Lieferkettengesetz muss neben dem Präventionsgedanken („Sorgfaltspflicht“) außerdem eine Haftung vorsehen, „wenn ein Unternehmen keine angemessenen Sorgfaltsmaßnahmen ergriffen hat, um einen vorhersehbaren und vermeidbaren Schaden zu verhindern“. Geschädigten ausländischen Betroffenen muss der Zugang zur bundesdeutschen Justiz ermöglicht werden, damit sie auch vor deutschen Gerichten ihr Recht einfordern können.

Beide Komponenten sollen über die Verwaltungsrechts- und die Zivilrechtsschiene durchgesetzt werden (mit verwaltungs- und zivilrechtlichen Sanktionsmitteln). Würde ein solches Gesetz eingeführt, hätten Unternehmen, die im Ausland Menschenrechte ignorierten, zumindest Bußgelder und Zivilklagen zu fürchten. Der Fokus liegt ausdrücklich nicht auf dem Strafrecht. Vielmehr ergänzt die Intervention der Initiative die davon unabhängig laufende Forderung, endlich auch in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht als Mechanismus einzuführen, um juristische Personen wie Unternehmen und Verbände im Falle von Wirtschaftskriminalität mit strafrechtlichen Sanktionen belegen zu können.

Die derzeitige Praxis, Menschenrechtsverletzungen auf globaler Ebene in erster Linie mit den Mitteln des sogenannten Soft Laws, also mit Leitlinien und Übereinkünften, die im engeren Sinne nicht rechtsverbindlich sind, bewältigen zu wollen, „stellt letztlich eine Bankrotterklärung demokratischer Institutionen dar, die nicht (mehr) für einen Ausgleich zwischen Gemeinwohlbelangen und Wirtschaftsinteressen sorgen wollen“. (Kaleck/Saage-Maaß, Seite 43)

Während die internationalen Wirtschaftsbeziehungen über ein dichtes rechtliches Normenwerk abgesichert werden und sich dort unternehmerische Interessen über verbindliches Recht durchsetzen lassen (zum Beispiel mittels Investitionsschutzabkommen und Vertragsrecht), entledigen sich Unternehmen der Verantwortung gegenüber ihren Lohnarbeiter*innen über das System der globalen Lieferketten. Die Forderung nach einem Lieferkettengesetz zeigt einmal mehr, dass das Recht den herrschenden Machtbeziehungen immer wieder hinterherläuft.

Literatur:

Gisela Burckhardt: Todschick. Edle Labels, billige Mode – unmenschlich produziert, München 2014.

Wolfgang Kaleck/Miriam Saage-Maaß: Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte, Berlin 2016.

Wirtschaft und Menschenrechte. Das Ende der Freiwilligkeit (ein Dossier von Brot für die Welt und Misereor in Zusammenarbeit mit der Redaktion „Welt-Sichten“), in: Welt-Sichten, 6/2019.

Joachim Maiworm
lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime.

Der Gott des Geldes

 

Eine junge Frau wird beschuldigt, durch Hochverrat einen mehrere Tage andauernden wirtschaftlichen Zusammenbruch mitverschuldet zu haben. In dieser Zeit herrschte in Deutschland das nackte Chaos, über hundert Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Es entstand ein Schaden in Milliardenhöhe. Die junge Frau beteuert ihre Unschuld. Ist sie unschuldig?

In der den Großteil des hier rezensierten Buches umfassenden Rückblende kann der Leser die Beschuldigte als zunächst arglose und nichtsahnende Bankkundin erleben, bevor ein Wirrwarr unvermittelt hereinbrechender Abenteuer sie aus der Bahn wirft. Ereignisse, in die, wie sich herausstellt, auch höhere Bankmitarbeiter und Polizeibeamte verstrickt sind. Auf eine fehlerhafte Geldabhebung folgt ein Kidnapping, auf dieses folgen dann irrwitzige Verfolgungsjagden durch eine im Chaos versinkende Stadt. Denn bei der einen fehlerhaften Abhebung war es nicht geblieben. Zuerst brach eine Bank zusammen, dann eine zweite und schließlich schaffte ein geheimnisvoller Unbekannter den Einbruch ins Allerheiligste: die Zentrale der Bundesbank. Währenddessen sitzt die vermeintliche Mittäterin in Beugehaft und überlegt verzweifelt, wie sie ihrem Sohn seine lebenswichtigen Medikation zukommen lassen kann.

Ist der Zusammenbruch des deutschen Finanzwesens nun das Werk hinterlistiger russischen Hacker? Oder stecken ganz andere Personen hinter dem Bankencrash? Eine Erpressung? Aber warum gibt es dann keine Forderung? Der Einzige, der darüber Auskunft geben könnte, ist und bleibt verschwunden.
Als Folge des Crashs müssen sich große Teile der Bevölkerung jedenfalls ernsthaft überlegen, wie man ohne Bargeld in einer immer brutaler agierenden Gesellschaft klarkommt. Unbesoldete Polizisten weigern sich nämlich, ihren Dienst weiter zu versehen. Polizei- und Militärführung streiten sich über Kompetenzen, während die Preise für Sachwerte ins Unermessliche steigen und aufgebrachte Demonstranten die Kanzlerin mit Steinen bewerfen…

Dass der Autor Gerhart J. Rekel mit seinem Thriller etwas drastisch an die mittlerweile fast vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwundene Finanzkrise des Jahres 2008 erinnert, macht ihn sympathisch. Und dass Finanzhaie im Verlaufe seines Romans nicht gerade als Sympathieträger herüberkommen, ebenfalls. Rekel hat allerdings noch nicht so richtig mitbekommen, dass derzeit ganz andere Leute die deutsche Kanzlerin mit Wurfgeschossen bombardieren wollen. Als Österreicher mag man ihm das jedoch nachsehen.

Aber ob, wie der Autor im Verlauf der Romanhandlung suggeriert, einfach nur ein heftiger Schreckschuss genügen würde, damit irgendwelche ominösen Verantwortlichen zur Vernunft kommen und nun endlich das weltweit verschachtelte Banken- und Finanzsystem reformieren, sollte man doch eher bezweifeln. Schließlich ist nach der Krise immer gleichzeitig vor der nächsten Krise. So war es stets und so wird es bleiben. Jedenfalls solange, wie wir Kapitalismus haben.

Gerhard J. Rekel: Der Gott des Geldes, Roman, Verlag Wortreich, 2018,
ISBN 978-3-903091, 275 Seiten, 14,90 Euro

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.