Kampf um die Beute. Eine Theorie der Bandenherrschaft

„Die Grundform der Herrschaft ist das Racket“, schrieb Max Horkheimer um 1939/40 in einem Textentwurf zur „Dialektik der Aufklärung“. Er entlehnte diesen Begriff der US-amerikanischen Soziologie und bezeichnete damit rivalisierende hierarchisch organisierte Gruppen, die ihren Mitgliedern Schutz nach innen bieten, zugleich aber bedingungslose Loyalität von ihnen fordern. Synonyme sind Clique, Bande oder Gang. Horkheimer und seine Kollegen vom exilierten Institut für Sozialforschung gingen davon aus, dass sich mit dem Ende der liberalistischen Phase des Kapitalismus ein zunehmender ökonomischer Monopolisierungsprozess auf Kosten der Konkurrenz auf dem freien Markt durchgesetzt hatte. Die Sphäre der Zirkulation als Fundament bürgerlicher Demokratie büßte demnach an Bedeutung ein und die Instanzen der Vermittlung (z.B. das Recht) wurden durch Formen unmittelbarer Herrschaft ersetzt.

Gemäß dieser Prämisse verdrängten informelle und gewaltförmig-mafiotische Strukturen mehr und mehr die rechtsstaatlichen Mechanismen und setzten sich in jeder Pore des gesellschaftlichen Lebens fest. Die ganze Gesellschaft, so fasst Thorsten Fuchshuber Horkheimers Überlegungen zusammen, erweise sich sowohl historisch wie auch in der Gegenwart als durch die Gewalt der Rackets bestimmt (vgl. Seite 16).

Dieser universelle, zeitenthobene Ansatz erschließt sich aber heute – mehr als 80 Jahre später – nicht mehr vorbehaltlos. Denn das Besondere unterschiedlicher Formen von Herrschaft geht verloren, wenn sie allesamt unter der Bezeichnung des Rackets subsumiert werden und damit die begriffliche Schärfe schwindet. Andererseits jedoch bietet sich gerade die Offenheit des Racket-Begriffs für zeitgenössische Diagnosen von informeller und autoritärer Herrschaft an.

Fuchshuber bietet deshalb zunächst eine theoriegeschichtliche Einordnung der letztlich Fragment gebliebenen Racket-Theorie, um sie innerhalb des politischen und gesellschaftlichen Kontextes der 1930er Jahre darzustellen, in dem sie entstanden ist. Darauf aufbauend beschreibt der Autor die Verschränkung der Racket-Theorie mit Horkheimers Kritik der politischen Ökonomie, damit die Rackets als ein gesellschaftliches Strukturprinzip (zumindest in Deutschland) und nicht etwa als „eine Macht jenseits des Systems“ (Horkheimer) begreifbar werden. Als ein wesentliches Element der Theorie erläutert Fuchshuber die Subjektkonstitution der „sozial atomisierten Individuen“, die sich den Rackets unterwerfen müssen – als Preis für Protektion und Anteil der „Beute“.

Die unter Konformitätszwang stehenden und „sich so angleichenden atomisierten Einzelnen haben nichts mehr, was sie voneinander trennt und die ‚neue Weise von Unmittelbarkeit‘ (Horkheimer) bedeutet auch Identitätszwang und Hass auf alles Nichtidentische“. (Seite 386) Letzterer erweist sich als funktional, denn die miteinander konkurrierenden Rackets, die im Grunde keine übergeordnete Macht mehr anerkennen, können nur mittels Bestimmung eines gemeinsamen totalen Feindes befriedet werden. Darum erhält der Antisemitismus in diesem Kontext eine zentrale Bedeutung. Dass es in Deutschland zu einem Vernichtungsantisemitismus kommen konnte, deutet die Racket-Theorie als Folge des „im Nationalsozialismus radikalisierte(n) Modus von Inklusion und Exklusion als der jede Racketgesellschaft strukturierendes Moment“ (Seite 594).

Argumente für die Aktualität der Racket-Theorie, also des „Racket(s) als zeitgenössischer Form des Politischen“ (Seite 548), entwickelt der Autor gegen Ende der umfangreichen Studie unter der Überschrift „Staatszerfall, ‚Warlordisierung‘ und Autoritarismus“ – beispielhaft dargestellt anhand der Erosion des staatlichen Gewaltmonopols in Somalia und des autokratischen Herrschaftsstils in Russland („System Putin“). Dabei wird deutlich, dass sich das Auftreten von Rackets nicht nur als Folge eines Staatszerfalls wie am Horn von Afrika erklären lässt. Der Präsident der Russischen Förderation beispielsweise versteht sich als Stabilisator eines Riesenreiches. „Ist Putin also ein Anti-Racketeer“?, fragt Fuchshuber (Seite 551). Er verneint und stellt fest, dass sich Putin lediglich als „Meister an die Spitze der konkurrierenden Rackets“ (Seite 556) gestellt habe und sie keineswegs zerstören wolle. Der russische Präsident fungiere insofern als Vermittler der als Rackets strukturierten Machtfraktionen, wie Fuchshuber bereits in einem Artikel der Jungle World feststellte (vom 19. Januar 2017).

Publikationen aus den letzten Jahren bestätigen die zunehmende Bedeutung der Bildung von „Banden“ als ein die gegenwärtige Gesellschaft strukturierendes Prinzip, auch wenn nicht immer auf die Racket-Theorie und ihre Urheber direkt Bezug genommen wird. Der 2017 verstorbene Publizist Jürgen Roth beschrieb in seinem im selben Jahr veröffentlichten Buch „Die neuen Paten“, wie sich aus dem KGB und dem sowjetischen Staatsapparat hervorgegangene mafiöse kriminelle Vereinigungen in den höchsten Positionen wirtschaftlicher und politischer Macht etablieren konnten. Der Politologe Kai Lindemann interpretierte 2014 in den Blättern für deutsche und internationale Politik den Finanzkapitalismus als „Beutesystem“, dessen Gestalt durch eine Vielzahl informeller Verbindungen zwischen Rackets und ihrer intensiven Verflechtung mit staatlichen und wirtschaftlichen, legalen und illegalen Strukturen bedingt sei (Blätter, 9/2014, Seite 87f.).

BIG-Redakteur Gerd Bedszent verwies in seinem ebenfalls 2014 erschienenen Buch „Zusammenbruch der Peripherie“ darauf, dass in den Zusammenbruchsterritorien des globalen Südens an die Stelle staatlicher Souveränität ein länderübergreifendes „Geflecht informeller Netzwerke“ tritt, an die Stelle „repressiver Gesetzgebung und deren brutaler Durchsetzung ein durch nichts legitimiertes Faustrecht“ („Zusammenbruch der Peripherie“, Seite 32). Ein Aufgreifen der Racket-Theorie würde man sich auch von der Zunft der Wirtschaftskriminologen wünschen. So ist die Existenz der Korruptionsforschung zwar bereits ein Beleg für die Bedeutung von Rackets im Neoliberalismus. Die Disziplin blendet in ihrer Praxis jedoch weitgehend die gesellschaftlichen Grundlagen der Korruption aus.

Die auf über 670 Seiten ausgebreitete akribische Rekonstruktion der Racket-Theorie aus Texten, die zum Teil in den Gesammelten Schriften Horkheimers erschienen sind, aber auch einigen bisher unveröffentlichten und im Max-Horkheimer-Archiv erhaltenen Quellen, erscheint erfreulicherweise zu einer Zeit, in der ein steigendes Interesse am Nachdenken über informelle Herrschaftsformen festzustellen ist.

Thorsten Fuchshuber: Rackets. Kritische Theorie der Bandenherrschaft
ça ira-Verlag, Freiburg/Wien, 2019,
672 Seiten, 29 Euro,
ISBN 978-3-86259-145-9

 

„Schlaraffenland für Betrüger“

Seit die Pflegeversicherung 1995 Gesetz wurde, ist ein gewaltiger und höchst intransparenter Markt mit etwa 13.000 ambulanten Pflegediensten entstanden. Ende Dezember 2019 berichtete der Deutschlandfunk einmal mehr darüber, wie kriminelle Pflegedienste Leistungen abrechnen, die nie erbracht wurden. Kein Wunder, denn die gesetzlichen Pflegekassen gaben 2018 mehr als 23 Milliarden Euro für ambulante Pflege aus – ein lukrativer Markt, der Betrüger anlockt. Der Leiter der Revisionsabteilung bei der Siemens-Betriebskasse (SBK) sprach gegenüber dem Sender von deutlich steigenden Fallzahlen: „Wir haben eine Steigerung von Jahr zu Jahr um 30 Prozent. Die Hinweise, die wir zu untersuchen haben, nehmen deutlich zu.“

Im Oktober 2019 allerdings glückte der Staatsanwaltschaft München ein Schlag gegen kriminelle Pflegedienste in der bayerischen Hauptstadt und Augsburg. Die Schadenssumme betrug acht Millionen Euro. Der leitende Oberstaatsanwalt erkennt im Pflegebetrug jedoch ein strukturelles Problem: „Diese Kombination, dass zum einen sehr viel Geld bewegt wird und zum anderen kaum eine Kontrolle stattfindet, übt natürlich eine große Anziehungskraft auf schwarze Schafe aus. Man könnte vereinfacht sagen: Unser Gesundheitssystem ist in Teilen ein Schlaraffenland für Betrüger.“ (Deutschlandfunk, 30. Dezember 2019)

Einzelne Erfolge wie dieser verdecken die riesige Dunkelziffer. Laut SPIEGEL forderten die Krankenkassen in den Jahren 2016 und 2017 wegen Abrechnungsbetrug in der ambulanten Pflege deutschlandweit 14 Millionen Euro erfolgreich zurück – doppelt so viel wie in den zwei Jahren zuvor. „Doch verglichen mit dem wirklichen Schaden ist diese Summe lächerlich gering. Experten schätzen, dass durch Betrug allein in der ambulanten Pflege rund zwei Milliarden Euro jährlich verloren gehen.“ (Spiegel Online, 16. Oktober 2018)

Eine Fachgebietsleiterin der SBK teilte dem Deutschlandfunk mit, dass man Betrügern leicht auf die Schliche kommen könne, wenn Pflegebedürftige oder deren Angehörige die Tricksereien meldeten. Aber das würde wegen des großen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Kunden und Pflegediensten nicht immer geschehen. Viele Pflegebedürftige und deren Angehörige seien schon froh, wenn sie überhaupt einen Pflegedienst finden würden. Das wollten sie nicht gefährden.

Insofern wird die oftmals geäußerte These erneut bestätigt, dass die Struktur des deutschen Pflegemarktes kriminelles Verhalten begünstigt. Für den langjährigen, durch seine vielen Medienauftritte bekannte „Pflegekritiker“ Claus Fussek ist zum Thema im Grunde „alles gesagt“. In einem Interview äußerte er sich resignativ zur Situation im Pflegebereich: „Das ist ein geschlossenes, kriminelles System.“ (Chrismon, 17. Januar 2018)

 

Quellen:

Michael Watzke, „Betrug in der Pflege: Steigende Verdachtsfälle, schwierige Aufklärung“, Deutschlandfunk, 30. Dezember 2019
https://www.deutschlandfunk.de/betrug-in-der-pflege-steigende-verdachtsfaelle-schwierige.769.de.html?dram:article_id=466588

Christina Gnirke, Wie Krankenkassen beim Betrug in der Pflege zusehen, in: SPIEGEL Online, 16. Oktober 2018
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/wie-krankenkassen-beim-betrug-in-der-pflege-zusehen-a-1232905.html

Esther Niederhammer, „Wehrt euch endlich!“, in: Chrismon, Das Evangelische Magazin, 17. Januar 2018
HYPERLINK: https://www.torial.com/esther.niederhammer/contents/408066

 

Großrazzia in Hamburg: Verdacht der Korruption beim Geschäft mit Krebsmedikamenten

Eine gemeinsame Recherche des ARD-Magazins Panorama und von ZEIT Online ergab, dass der bundesweit größte Hersteller von Infusionen für Krebstherapien, die Firma ZytoService, ein neues Betrugsmodell der ganz großen Art entwickelt hat. Am 17. Dezember 2019 wurde deshalb die größte Razzia durchgeführt, die bislang von der Hamburger Wirtschaftsstaatsanwaltschaft angeordnet worden ist. 420 Polizisten durchsuchten dabei insgesamt 58 Objekte: Arztpraxen, Apotheken, einige Firmensitze, Privathäuser und ein Krankenhaus. Den Beschuldigten (mehrere Ärzte, Apotheker und Pharma-Manager) wird laut Staatsanwaltschaft Hamburg „Bestechung im Gesundheitswesen in besonders schwerem Fall“ und „bandenmäßiger Betrug“ vorgeworfen (Höchststrafe 10 Jahre Gefängnis).

Im Fokus der Ermittlungen stehen dabei die drei Gründer von ZytoService. Sie sollen in den vergangenen Jahren systematisch Ärzte bestochen haben, die offenbar im Gegenzug unter Beteiligung einer konzernnahen Apotheke profitable Rezepte für die Infusionen ausstellten. Diese wurden offensichtlich zu Unrecht bei den Kassen abgerechnet, so dass allein der Techniker Krankenkasse seit Januar 2017 ein Schaden von 8,6 Millionen Euro entstanden sei. Die DAK schätzt ihren Verlust sogar auf 18,2 Millionen Euro.

ZEIT Online schrieb am 18. Dezember 2019: „Es ist nicht der erste Verdacht von Korruption im Milliardenmarkt mit Krebsmitteln. Aber der Fall hat eine neue Dimension, weil es neben klassischer Bestechung um eine neue Methode geht: Statt Ärzte in geheimen Treffen Geld auf Nummernkonten im Ausland zu versprechen, werden die Mediziner ganz offen und auf den ersten Blick legal gekauft.“

Die Masche von ZytoServive läuft demnach so: ZytoService erwarb über ein bundesweit verflochtenes Firmenkonstrukt ganze Arztpraxen. Dabei soll der Konzern ein Vielfaches des üblichen Marktpreises gezahlt haben. Anschließend wurden die Praxen in sogenannte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) umgewandelt. Die dort angestellten Ärzte sollen Rezepte für die Herstellung der Infusionen exklusiv an ZytoService weitergeleitet und dafür eine Beteiligung am Umsatz als Boni erhalten haben.

Damit Ärzte sich am Patientenwohl und nicht vorrangig an wirtschaftlichen Interessen orientieren, ist es Apothekern und Herstellern allerdings gesetzlich verboten, sich an Arztpraxen zu beteiligen, um die Nachfrage nach ihren eigenen Produkten kontrollieren zu können. Möglicherweise nutzte ZytoService eine Gesetzeslücke, um diese Bestimmung zu umgehen. Denn gemeinnützige Organisationen oder Krankenhäuser dürfen MVZ kaufen.

ZytoService ist offiziell selbst nicht Gründer und Besitzer der MVZ, sondern eine sehr kleine Hamburger Stadtteilklinik (mit lediglich 15 Betten und ohne eigene onkologische Abteilung). Diese eröffnete seit 2014 bundesweit 15 dieser Versorgungszentren. Zunächst gehörte die Klinik, also die „Mutter“ der MVZ, direkt ZytoService. Mittlerweile aber ist wiederum der Mutterkonzern von ZytoService, die Alanta Health Group, die Inhaberin der Klinik.

ZytoService bzw. die Alanta Health Group verweigerten den Redaktionen von Panorama und ZEIT Online eine diesbezügliche Stellungnahme.

Quellen:

Robert Bongen, Oliver Hollenstein, Niklas Schenck, Oliver Schröm, Caroline Walter: Кrebsmedikamente: Wie man sich einen Onkologen kauft, ZEIT Online, 18.12.2019
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-12/krebsmedikamente-zytoservice-betrug-onkologen-gesetzesluecke-hamburg/komplettansicht

Dies.: „Krebstherapie: Offenbar neues Betrugsmodell“, Panorama, Stand: 18.12.2019
https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Krebstherapie-Offenbar-neues-Betrugsmodell,zytostatika112.ht

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Panorama-vom-19-Dezember-2019,panoramaarchiv492.html

 

Die permanente Angst

Aus den Fabriken des Todes: Mordechai Striglers “Werk C” liegt in deutscher Übersetzung vor

Das Buch “Werk C” ist das dritte von insgesamt vier Büchern des Journalisten Mordechai Strigler (1918–1998). Dieser überlebte im besetzten Polen und in Deutschland insgesamt zwölf Ghettos und Konzentrationslager, darunter das Vernichtungslager Majdanek. Mehrere seiner Verwandten wurden umgebracht. Im April 1945 in Buchenwald befreit, sagte er vor einem Untersuchungsausschuss der US-Armee zu den Verbrechen der Nazis aus. In den Folgejahren legte Strigler, der nach dem Krieg in Paris und ab 1952 in New York lebte, seine Erinnerungen schriftlich nieder. Das Ergebnis ist die Tetralogie “Verloschene Lichter”, die ursprünglich in jiddischer Sprache erschien und derzeit vom Verlag zu Klampen erstmals in deutscher Übersetzung herausgebracht wird. Die beiden ersten Bände “Majdanek” und “In den Fabriken des Todes” erschienen 2016 und 2017 (siehe jW vom 21. August 2017). Der die Reihe abschließende vierte Band ist noch in Arbeit.

Beim titelgebenden “Werk C” handelte es sich um eine von einem Leipziger Unternehmen, der Hugo-Schneider-Aktiengesellschaft (HASAG), betriebene Munitionsfabrik im besetzten Polen. In dieser mussten überwiegend jüdische Häftlinge des Arbeitslagers Skarzysko-Kamienna Granaten und Seeminen für die Wehrmacht herstellen. Strigler hatte im zweiten Band seine Ankunft und die ersten Wochen im Lager geschildert. In der jetzt vorliegenden Fortsetzung beschreibt er die Fabrik als “großes Rad des wahnsinnigen Todes, das Menschen hineinzieht und ihnen das Blut aussaugt”.

Der Autor liefert in seinen Büchern keine Beschreibung von Widerstandsaktionen, sondern thematisiert das Grauen des Arbeits- und Lageralltags, wie ihn die Mehrzahl der jüdischen Häftlinge erlebte. Dieser Alltag bestand vor allem aus Hunger, dem täglichen Kampf um einen Napf Suppe und einen Kanten Brot, aus extrem gesundheitsschädigender Schwerstarbeit, aus Schlägen samt Schikanen von Seiten des Aufsichtspersonals und privilegierter Häftlinge der Lagerverwaltung. Und aus der permanenten Angst, krank zu werden und zu schwach für die Arbeit. Denn dann wurde man entweder vom Werkschutz in den umliegenden Wäldern erschossen oder aber auf “Transport” zurück in eines der Vernichtungslager geschickt. Bei der mit höchstem Tempo zu leistenden Arbeit kam es oft zu Unfällen; nicht wenige Häftlinge wurden in den Fabrikhallen von explodierenden Granaten zerrissen. Tausende überlebten die Arbeit in der Fabrik nicht.

Der übergroße Teil der bekannten Erinnerungsliteratur von Shoa-Überlebenden wurde von jüdischen Häftlingen geschrieben, die in ihren Heimatländern als “assimiliert” galten und es häufig geschafft hatten, in irgendeiner Funktion der Lagerverwaltung das Grauen der Massenvernichtung und des mörderischen Lageralltags zu überleben. Aus Angehörigen dieser Minderheit rekrutierten sich auch die sozialistisch oder zionistisch geprägten Widerstandsgruppen, die den Vernichtungsaktionen der Nazis stellenweise erbitterten Widerstand entgegensetzten und von denen einige im Untergrund überlebten. Strigler, der sein Überleben wohl ebenfalls dem Aufstieg in den Kreis der “Funktionshäftlinge” verdankt, schreibt hingegen aus der Sicht der religiös geprägten und gänzlich unpolitischen Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Polens, die den größten Anteil der in den Lagern Ermordeten ausmachte.

Die Lektüre der Bände Striglers ist in weiten Teilen verstörend und schwer erträglich. Der Autor thematisiert ohne Verklausulierung die Beteiligung von baltischen und ukrainischen “Hilfskräften” der SS an den Massenmorden und die duldende Mittäterschaft polnischer Antisemiten, die sich den Besatzern andienten. Existierte denn, wie der Herausgeber im Vorwort fragt, in dieser Welt des Grauens gar keine Solidarität der Opfer des Naziregimes untereinander? Doch, so etwas gab es. Um darauf zu stoßen, muss man das Buch aber sehr genau lesen.

Strigler porträtiert beispielsweise einen polnischen Arbeiter, der sich nicht an Schikanen und der Ausplünderung der Häftlinge beteiligt, ihnen sogar hin und wieder etwas zu essen zusteckt. Seine Einweisung des neu in der Werkhalle angekommenen Häftlings liest sich fast wie eine Anleitung zur Sabotage: “Mich stört es wenig, wenn die Granate an der Front nicht explodiert (…) Lass uns hoffen, dass es tatsächlich wirkt und ein paar Menschen am Leben bleiben.” An einer anderen Stelle beginnen weibliche Häftlinge plötzlich Lieder der jüdischen Arbeiterbewegung zu singen. Gegen Ende des Buches schildert der Autor zaghafte Versuche einer Selbstorganisation der Häftlinge. So wird ein hochschwangeres Mädchen abgeschirmt, um sie und ihr Kind zu retten.

Dem letzten Band der Tetralogie kann man mit Interesse entgegensehen. Für das sehr informative Vorwort des jüngsten Bandes und die zahlreichen erläuternden Fußnoten sei Herausgeber Frank Beer und dem Verlag zu Klampen ausdrücklich gedankt.

Mordechai Strigler (Hrsg. Frank Beer): Werk C. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes. Übersetzung: Sigrid Beisel. Verlag zu Klampen, Springe 2019, 453 Seiten, 32 Euro

Die Rezension erschien in der vorliegenden Form bereits am 09. Dezember 2019 in der Tageszeitung „junge Welt“ (www.jungewelt.de) auf der Seite „Politisches Buch“. Die beiden ersten Bände von Mordechai Strigler „Majdanek“ und „In den Fabriken des Todes“ wurden in der Ausgabe 4/2017 von BIG Business Crime ausführlich rezensiert.

Die Verbrechen der Pharmaindustrie

 

In der Ausgabe der Tageszeitung junge Welt vom 10. Dezember 2019 berichtet Jan Pehrke, Mitglied der Coordination gegen Bayer-Gefahren e. V., darüber, wie Bayer und andere Pharmakonzerne bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein Arzneimittel, insbesondere Psychopharmaka, an Heimkindern testeten. Drei ehemals Betroffene forderten deshalb im April 2019 auf der letzten Bayer-Hauptversammlung eine Entschuldigung und eine Entschädigung von dem Leverkusener Konzern. Ohne Erfolg, der Bayer-Chef lehnte ab und bestritt, dass es überhaupt Studien in Heimen gegeben habe. Zu Entschädigungszahlungen erklärten sich bislang weder Bayer noch andere Unternehmen aus der Branche bereit. Über die Bewertung der Arzneierprobungen herrsche jedoch heute weitgehend Einigkeit, so der Autor. Er zitiert eine Kieler Medizinethikerin: „Das ist ethisch problematische Forschung. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Das ist ethisch unzulässige Forschung“. Das Vorgehen der Ärzte hätte nach Ansicht der Wissenschaftlerin selbst damaligen Standards nicht entsprochen.

Liest man außer solchen eher medizinhistorischen Berichten weitere Publikationen, die über die gegenwärtigen (wirtschafts-)kriminellen Handlungen in der Branche Aufschluss geben, so zeigt sich deutlich: Die Pharmaindustrie ist nach wie vor für kriminelles Verhalten in besonderer Weise anfällig. Eine branchenspezifische Untersuchung aus dem Jahr 2013 etwa ergab, „dass Pharmaunternehmen bei der Vorbeugung gegen Wirtschaftskriminalität im Vergleich zu anderen Branchen noch Nachholbedarf haben“. Obwohl gerade die Pharmabranche einem erhöhten Korruptionsrisiko ausgesetzt sei, würde deren Bekämpfung im Vergleich zu anderen Branchen weniger Aufmerksamkeit gewidmet (Bussmann, Seite 5 und 16).

Korruption und Bestechung in der Pharmaindustrie sind natürlich nichts Neues. An der Einsicht in die Notwendigkeit, grenzüberschreitend und kooperativ gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen vorzugehen, fehlt es prinzipiell auch nicht. So führte das Europäische Netzwerk gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen (EHFCN) am 19. November 2019 in Berlin bereits zum 13. Mal eine Expertentagung durch. Festgestellt wurde unter anderem, „dass nationale Alleingänge im Kampf gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen angesichts eines offenen Binnenmarktes und grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung nicht länger zielführend erscheinen“. Ein erfolgreiches Vorgehen gegen das wirtschaftskriminelle Agieren stärke hingegen das Vertrauen der EU-Bevölkerung in die Integrität von Gesundheitsversorgung, wie der Präsident des EHFCN-Netzwerks in einer Pressemitteilung erklärte.

Weniger banal und verhalten äußern sich kämpferische Wissenschaftler wie etwa der dänische Medizinforscher Peter Gøtzsche, der im September 2018 aus der renommierten Cochrane Collaboration ausgeschlossen wurde. Dabei handelt es sich laut Wikipedia um „ein globales, unabhängiges Netzwerk (…) aus Wissenschaftlern, Ärzten, Angehörigen der Gesundheitsfachberufe, Patienten und weiteren an Gesundheitsfragen interessierten Personen“. Nach Transparency International sollte er mundtot gemacht werden, „weil er das wissenschaftliche Herangehen der Cochrane Collaboration grundsätzlich und die damit verbundene Pharma-Nähe kritisiert hat“. Gøtzsche kämpft seit Jahren gegen pharmagesponserte Studien und plädiert für die Transparenz klinischer Studiendaten. Denn Pharmafirmen halten seiner Auffassung nach immer wieder Daten zurück, um die Wirksamkeit von Medikamenten behaupten zu können.

In seinem 2015 veröffentlichten Buch „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität“, welches für reichlich öffentliches Aufsehen sorgte, spricht er im Zusammenhang mit der Pharmaindustrie sogar von organisierter Kriminalität. Seine provokante These lautet, dass die Pharmaindustrie mehr Menschen umbringen würde als die Mafia. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus dem gleichen Jahr bestätigte er, dass Unternehmen Arzneimittel auf den Markt drückten, obwohl sie für viele Patienten sogar tödlich seien. Auf die Bitte des Journalisten, Beispiele zu nennen, führte Gøtzsche aus:
„Etwa Schmerzmittel wie Vioxx, von denen bekannt war, dass sie ein Herzinfarktrisiko darstellen und zum Tod führen können. Vioxx kam ohne ausreichende klinische Dokumentation auf den Markt, weshalb Merck vor Gericht stand und 2011 immerhin 950 Millionen Dollar zahlen musste. Bevor es vom Markt genommen wurde, wurde das Mittel bei Rückenschmerzen eingesetzt, bei Tennisarm, bei allen möglichen Leiden. Vielen Patienten wäre es aber schon mit Paracetamol oder auch ganz ohne Medikamente wieder gutgegangen − und jetzt sind sie tot. Das ist eine Tragödie.“

Betrug, Irreführung, Bestechung oder Vermarktung nicht zugelassener Mittel seien die Regel. Diese Straftaten erfüllten die Kriterien für das organisierte Verbrechen, deshalb könne man von Mafia reden.

US-Behörden ziehen offensichtlich praktische Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen und zeigen sich bei ihren Ermittlungen wenig zimperlich. Spiegel Online berichtete am 27. November 2019, dass Pharmakonzerne juristisch mit Drogendealern gleichgestellt werden sollen. „Den Pharmakonzernen wird vorgeworfen“, so das Magazin, „mit ihren Produkten zu der Schmerzmittelepidemie beigetragen zu haben, die in den vergangenen Jahren (…) zu Hunderttausenden Toten durch Überdosierungen führte“. Die Justizbehörden prüfen demnach, ob Hersteller und Händler abhängig machender Opioide gegen das bundesweite Suchtmittelgesetz „Controlled Substances Act“ verstoßen haben und entsprechend verfolgt werden können.

 

Quellen:

Kai Bussmann/Michael Burkhart/Steffen Salvenmoser: „Wirtschaftskriminalität – Pharmaindustrie“, hrsg. von PricewaterhouseCoopers AG und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2013
https://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/assets/pharmabranche-fehlt-rezept-gegen-korruption.pdf

EHFCN, Gemeinsame Pressemitteilung vom 19. November 2019: Internationale Konferenz setzt auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Kampf gegen Betrug und Korruption
https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/presse/pressemitteilungen/2019/Gm_PM_2019-11-19_Konferenz_Betrug_im_Gesundheitswesen.pdf

Jan Pehrke: „Bayers Menschenversuche“, in: junge Welt, 19. Dezember 2019
https://www.jungewelt.de/artikel/368448.medizingeschichte-bayers-menschenversuche.html?sstr=pharmaindustrie

Markus C. Schulte von Drach: „Kritik an Arzneimittelherstellern: Die Pharmaindustrie ist schlimmer als die Mafia“, Süddeutsche Zeitung, 6. Februar 2015
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/kritik-an-arzneimittelherstellern-die-pharmaindustrie-ist-schlimmer-als-die-mafia-1.2267631?print=true

„Plan der US-Behörden: Pharmakonzerne sollen mit Drogendealern gleichgestellt werden“, in: SPIEGEL Online, 27. November 2019
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/us-behoerden-wollen-pharmakonzerne-mit-drogen-dealern-gleichstellen-a-1298430.html

Transparency International Deutschland: „Erklärung zum Ausschluss von Peter Gøtzsche aus dem Cochrane-Netzwerk“, Berlin, 22. Januar 2019
https://www.transparency.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles/2019/19-01-22_Erklaerung_Goetzsche_Transparency_Deutschland.pdf


Joachim Maiworm
ist Redakteur von BIG Business Crime

 

 

„Organisierte Verantwortungslosigkeit“ – Die deutsche Textilindustrie und die Notwendigkeit eines Lieferkettengesetzes

Im April 2013 ereignete sich das bislang größte Unglück in der Bekleidungsindustrie: In Bangladesch stürzte das Gebäude der Textilfabrik Rana Plaza ein. Damals starben über 1.100 Menschen, 2.500 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Im Jahr zuvor kamen bei einem schweren Fabrikbrand der Firma Ali Enterprises im pakistanischen Karatschi 260 Menschen ums Leben.

Beide Fabriken produzierten für den Weltmarkt. Hauptkunde von Ali Enterprises war der deutsche Billiganbieter KiK, der damals nach eigenen Angaben für 70 Prozent der Aufträge verantwortlich war. Trotz des zweifellos vorhandenen Einflusses auf seine Zulieferer unterließ es der Discounter offensichtlich, auf einen ausreichenden Brand- und Arbeitsschutz hinzuwirken.

Als Reaktion auf diese Unglücke kam eine längst überfällige Diskussion über die Verantwortung von Unternehmen aus den nördlichen Industriestaaten für die desaströsen Arbeitsverhältnisse im globalen Süden international in Gang. Debattiert wurde über fehlenden Arbeitsschutz, Hungerlöhne, überlange Arbeitstage, Kinderarbeit, den Umgang mit gefährlichen Chemikalien und mangelhaften Brandschutz. Deutsche Textilfirmen lassen mittlerweile nahezu vollständig in Asien produzieren. Industrie und Politik versprechen seit geraumer Zeit, für bessere Bedingungen in den dortigen Zulieferfirmen zu sorgen.

Sechs bzw. sieben Jahre nach Rana Plaza und Ali Enterprises ist nach einhelliger Meinung kritischer Experten jedoch kaum etwas geschehen. Die Produktion läuft wie gehabt, Arbeitsausbeutung und Fabrikunfälle sind weiter an der Tagesordnung. KiK-Chef Patrick Zahn, der sein Unternehmen selbst als „echtes Schwergewicht“ im deutschen Einzelhandel bezeichnet, verteidigte die für die Arbeiter*innen verheerende Produktion in Ländern wie Bangladesch und Pakistan.

Im Nachhaltigkeitsbericht 2017 seines Unternehmens unterstrich Zahn klipp und klar die „oberste Priorität, das Unternehmen profitabel und auf Wachstumskurs zu halten. Denn nur, wenn der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens langfristig gesichert ist, kann nachhaltige Entwicklung gewährleistet werden.“ An anderer Stelle erklärte er, es sei keine Option, sich aus diesen Ländern zurückzuziehen. Damit wäre den Menschen dort überhaupt nicht geholfen (vgl. SPIEGEL Online vom 29. November 2018).

Intransparente Produktionsstruktur

Umgekehrt wird wohl eher ein Schuh draus: Die Profite auch der deutschen Textilkonzerne werden durch die miserablen Arbeitsbedingungen in den verzweigten Lieferketten mit rechtlich selbständigen Subunternehmen überhaupt erst ermöglicht. Die Komplexität des Systems bietet den Auftraggebern zugleich eine gute Ausrede dafür, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Darauf verweist Thomas Seibert, bei medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. In einem Radiogespräch stellte er jüngst klar, die Undurchschaubarkeit der Produktionsstruktur bilde letztlich die Voraussetzung für die Gewinnerzielung der Unternehmen in den Industriestaaten (vgl. SWR2 Forum vom 9. September 2019).

Je weiter unten Betriebe in der Lieferkette der globalen Produktions- und Vertriebsnetze angesiedelt sind, desto ungeschützter sind die Arbeitsbedingungen bei ihnen. Aus der Debatte verdrängt wird, so Seibert, dass dieses System gewollt ist, weil nur auf diesem Wege die ungeheuren Profitmargen realisiert werden können. Die Produktion von Bekleidung wurde schließlich aus Gründen der Kostensenkung in andere Länder verlagert, zuletzt nach Südasien, wo sie am billigsten ist. Strikte Preisvorgaben und eng gesetzte Liefertermine sorgen dabei für einen verschärften Arbeitsdruck auf Kosten der Beschäftigten.

Die Hauptbetroffenen der Standortverlagerungen und des Preiskampfs in der Textilbranche sind darum nicht die Menschen hierzulande, sondern die Näher*innen vornehmlich in Bangladesch und Pakistan. Zunächst sorgte der Aufstieg der westlichen Wirtschaftsmächte für einen rapiden Verfall der traditionellen Wirtschaftsstrukturen des globalen Südens. Zwar schafft die Verlegung von Produktionsstätten bzw. die Vergabe von Aufträgen an dort ansässige Subunternehmen dann in diesen Regionen dringend benötigte Arbeitsplätze. Zugleich zeigen die Fabrikunfälle aber auf drastische Weise, wie unmenschlich die Arbeitsbedingungen entlang der globalen Produktionsketten sind.

Die Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten durch deutsche Textilkonzerne stellt deshalb grundsätzlich die Frage nach ihrer moralischen und rechtlichen Verantwortung. Über Jahre war beispielsweise KiK nach der vermeidbaren Katastrophe von Ali Enterprises einer scharfen öffentlichen Kritik ausgesetzt – juristisch aber nicht belangbar.

Betroffene von Menschenrechtsverstößen am Arbeitsplatz haben tatsächlich kaum eine Möglichkeit, die ausländischen mitverantwortlichen Unternehmen auf Schadensersatz zu verklagen. Diese können für die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit im Ausland nicht zur Rechenschaft gezogen werden. So wies etwa Anfang 2019 das Landgericht Dortmund die Klage von vier pakistanischen Betroffenen der Ali Enterprises-Katastrophe vom September 2012 wegen Verjährung ab. Da sich das Unglück in Pakistan ereignete, wurde der Fall nach pakistanischem Recht entschieden. Und danach waren die Ansprüche verjährt. Dieser Fall belegt, dass die Verantwortung deutscher Unternehmen für ihre Zulieferfirmen juristisch völlig unzureichend geregelt ist.

UNO-Leitlinien und Nationaler Aktionsplan

Die im Jahr 2011 von den Vereinten Nationen verabschiedeten „Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ reflektieren dieses Defizit, indem sie auf die Schutzpflicht des Staates zur Einhaltung der Menschenrechte – auch gegen Übergriffen von Dritten, zum Beispiel Unternehmen – verweisen. Allerdings sind die Vorgaben als nicht rechtlich bindend formuliert und setzen deshalb auf Empfehlungen als Steuerungsinstrument. So heißt es etwa: „Staaten sollten klar die Erwartung zum Ausdruck bringen, dass alle in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen und/oder ihrer Jurisdiktion unterstehenden Wirtschaftsunternehmen bei ihrer gesamten Geschäftstätigkeit die Menschenrechte achten“, oder so schlicht wie zahnlos: „Wirtschaftsunternehmen sollten die Menschenrechte achten“.

Im Dezember 2016 setzte Deutschland die UN-Leitprinzipien in Form des „Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ um. Auch hier verzichtet die Bundesregierung auf verbindliche, strafbewehrte Regelungen für deutsche Unternehmen, baut stattdessen auf das Prinzip der „freiwilligen Selbstverpflichtung“. Originalton: „Die Bundesregierung erwartet von allen Unternehmen, den im Weiteren beschriebenen Prozess der unternehmerischen Sorgfalt mit Bezug auf die Achtung der Menschenrechte in einer ihrer Größe, Branche und Position in der Liefer- und Wertschöpfungskette angemessenen Weise einzuführen.“

In diesen Kontext gehört auch das von der Bundesregierung im Oktober 2014 als Reaktion auf die tödlichen Unfälle in Bangladesch und Pakistan ins Leben gerufene „Bündnis für nachhaltige Textilien“, das offiziell auf eine Verbesserung der Produktions- und Umweltbedingungen in der weltweiten Textilproduktion zielt – „von der Rohstoffproduktion bis zur Entsorgung“. Nach über fünf Jahren beteiligen sich aber nur etwa 50 Prozent der Unternehmen aus der Textilbranche an dem Zusammenschluss, bestehend aus Vertreter*innen der Wirtschaft, von Nichtregierungsorganisationen (NGO), Gewerkschaften und der Bundesregierung. Es überrascht nicht, dass sich auch das Textilbündnis an den unverbindlichen internationalen Vereinbarungen und Leitlinien orientiert und damit auf rein freiwillige Maßnahmen setzt.

Der „Grüne Knopf“

Im September 2019 brachte dann Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) mit dem „Grünen Knopf“ ein zusätzliches Steuerungsinstrument an den Start: ein staatliches Textilsiegel. Und reicherte damit den bereits bestehenden Siegel-Dschungel weiter an. Ein Siegel, das den Verbrauchern zwar Orientierung verspricht, aber angesichts Dutzender anderer Labels, die ebenfalls für „ökologische und soziale Nachhaltigkeit“ bürgen sollen, wohl eher für Verwirrung als für mehr Klarheit sorgen wird. Mit dem Siegel sollen die Produkte von Unternehmen ausgezeichnet werden, die – so der politische Fachjargon – in ihrem „Lieferketten-Management“ transparent sind und aufzeigen können, dass und wie ihre Produkte sozial und ökologisch „fair“ hergestellt werden.

Minister Müller bei der offiziellen Präsentation des „Grünen Knopfes“ am 9. September 2019: „Fair Fashion ist ein Mega-Trend. Für drei Viertel der Verbraucher ist faire Kleidung wichtig. Doch bisher fehlt die Orientierung. Mit dem Grünen Knopf ändert sich das. Mit jeder Kaufentscheidung können wir jetzt einen Beitrag leisten: Für eine gerechte Globalisierung, bei der Mensch und Natur nicht für unseren Konsum ausgebeutet werden. Für Menschlichkeit und Humanität“.

NGOs wie zum Beispiel medico international kritisieren das staatliche Siegel, weil einmal mehr an Unternehmen appelliert wird, bestimmte Standards einzuhalten, ohne dass sie dazu rechtlich verpflichtet werden. Wer nicht mitmachen will, darf weiter schädlich für Mensch und Natur produzieren wie bisher. Im Fokus der Maßnahme stehen dagegen die Konsumenten, denen eine Entscheidungshilfe beim Kauf von Textilien angeboten wird. Letztlich wird ihnen die Verantwortung für Menschenrechtsverbrechen entlang der Lieferketten aufgebürdet.

Die Überprüfung der Unternehmen und ihrer Produkte erfolgt durch Privatfirmen, die von den Unternehmen als Auftraggeber bezahlt werden. Mit diesem System wurden bisher überwiegend negative Erfahrungen gemacht. Die entwicklungspolitische Expertin und Autorin Gisela Burckhardt stellt in ihrem 2014 erschienenen Buch „Todschick“ fest, dass sich das Geschäft mit Zertifikaten sowie Audits in asiatischen Bekleidungsfabriken zu einer „wahren Goldgrube für Prüfgesellschaften“ entwickelt habe und zu einem „Milliardengeschäft“ geworden sei. „Was zählt, ist das Stück Papier, das eine Überprüfung der jeweiligen Fabrik bescheinigt. Details will niemand wissen – auch nicht wie die Fabrik eigentlich zu diesem Zertifikat gekommen ist.“ (Seite 107f.)

Die Autorin führt in ihrem Buch eine Reihe von Unternehmen an, bei denen massive Defizite im sozialen Bereich (fehlende Organisationsfreiheit, erzwungene Überstunden) sowie beim Arbeits- und Gebäudeschutz auftraten mit zum Teil verheerenden Folgen (Brände, eingestürzte Gebäude). In allen Fällen lagen von „unabhängigen“ Prüfern ausgestellte Zertifikate vor, die die Einhaltung der Unternehmens- und Produktkriterien bescheinigten. Aber auch die definierten Standards selbst sind teilweise mehr als fraglich. Beispielsweise erhält den „Grünen Knopf“ bereits jedes Unternehmen, welches garantiert, dass die Beschäftigten vor Ort den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Der aber bewegt sich in asiatischen Ländern nicht annähernd auf existenzsicherndem Niveau.

Lieferkettengesetz anstatt freiwillige Standards

Damit deutsche Unternehmen nicht länger mit der Verlagerung der Produktion in Billigstlohnländer auch ihre unternehmerische Verantwortung abschütteln können, fordern Vertreter*innen entwicklungspolitischer NGOs seit Jahren eine gesetzliche Regelung mit klaren strafbewehrten Regelungen, die die rechtliche Lücke schließt und die Achtung der Menschenrechte in den globalen Lieferketten verbindlich vorgibt. Deshalb stellte sich im September 2019 in Berlin die „Initiative Lieferkettengesetz“ vor, ein breites Bündnis aus 64 zivilgesellschaftlichen Organisationen, zu deren Initiatoren unter anderen Brot für die Welt, Misereor, Greenpeace und Oxfam zählen, aber auch der DGB und die Gewerkschaft ver.di.

In einer Petition fordert das Bündnis die Bundeskanzlerin auf, „endlich einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, mit dem Unternehmen dazu verpflichtet werden, sich an Menschenrechte und Umweltstandards zu halten“. Ein eigener Gesetzesvorschlag wird zwar nicht präsentiert, aber zentrale Anforderungen für ein wirksames Lieferkettengesetz formuliert.

Danach sollen alle Unternehmen erfasst werden, die in Deutschland geschäftstätig und für die gesamte Lieferkette von der Rohstoffgewinnung bis zur Abfallentsorgung verantwortlich sind. Sie werden verpflichtet, die Risiken und möglichen Auswirkungen ihrer Geschäfte für Menschenrechte und Umwelt zu ermitteln, sie zu analysieren und „angemessene Maßnahmen zur Prävention bzw. zur Abmilderung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden [zu] ergreifen“ (vgl. Hintergrundpaper: Die Initiative Lieferkettengesetz, September 2019).

Unternehmen haben zudem die Einhaltung der Sorgfaltspflichten zu dokumentieren und öffentlich darüber zu berichten. „Lückenhafte oder fehlerhafte Berichterstattung sollte dabei an Konsequenzen wie Bußgelder oder den Ausschluss von öffentlichen Aufträgen geknüpft sein.“ Ein Lieferkettengesetz muss neben dem Präventionsgedanken („Sorgfaltspflicht“) außerdem eine Haftung vorsehen, „wenn ein Unternehmen keine angemessenen Sorgfaltsmaßnahmen ergriffen hat, um einen vorhersehbaren und vermeidbaren Schaden zu verhindern“. Geschädigten ausländischen Betroffenen muss der Zugang zur bundesdeutschen Justiz ermöglicht werden, damit sie auch vor deutschen Gerichten ihr Recht einfordern können.

Beide Komponenten sollen über die Verwaltungsrechts- und die Zivilrechtsschiene durchgesetzt werden (mit verwaltungs- und zivilrechtlichen Sanktionsmitteln). Würde ein solches Gesetz eingeführt, hätten Unternehmen, die im Ausland Menschenrechte ignorierten, zumindest Bußgelder und Zivilklagen zu fürchten. Der Fokus liegt ausdrücklich nicht auf dem Strafrecht. Vielmehr ergänzt die Intervention der Initiative die davon unabhängig laufende Forderung, endlich auch in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht als Mechanismus einzuführen, um juristische Personen wie Unternehmen und Verbände im Falle von Wirtschaftskriminalität mit strafrechtlichen Sanktionen belegen zu können.

Die derzeitige Praxis, Menschenrechtsverletzungen auf globaler Ebene in erster Linie mit den Mitteln des sogenannten Soft Laws, also mit Leitlinien und Übereinkünften, die im engeren Sinne nicht rechtsverbindlich sind, bewältigen zu wollen, „stellt letztlich eine Bankrotterklärung demokratischer Institutionen dar, die nicht (mehr) für einen Ausgleich zwischen Gemeinwohlbelangen und Wirtschaftsinteressen sorgen wollen“. (Kaleck/Saage-Maaß, Seite 43)

Während die internationalen Wirtschaftsbeziehungen über ein dichtes rechtliches Normenwerk abgesichert werden und sich dort unternehmerische Interessen über verbindliches Recht durchsetzen lassen (zum Beispiel mittels Investitionsschutzabkommen und Vertragsrecht), entledigen sich Unternehmen der Verantwortung gegenüber ihren Lohnarbeiter*innen über das System der globalen Lieferketten. Die Forderung nach einem Lieferkettengesetz zeigt einmal mehr, dass das Recht den herrschenden Machtbeziehungen immer wieder hinterherläuft.

Literatur:

Gisela Burckhardt: Todschick. Edle Labels, billige Mode – unmenschlich produziert, München 2014.

Wolfgang Kaleck/Miriam Saage-Maaß: Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte, Berlin 2016.

Wirtschaft und Menschenrechte. Das Ende der Freiwilligkeit (ein Dossier von Brot für die Welt und Misereor in Zusammenarbeit mit der Redaktion „Welt-Sichten“), in: Welt-Sichten, 6/2019.

Joachim Maiworm
lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime.

Der Gott des Geldes

 

Eine junge Frau wird beschuldigt, durch Hochverrat einen mehrere Tage andauernden wirtschaftlichen Zusammenbruch mitverschuldet zu haben. In dieser Zeit herrschte in Deutschland das nackte Chaos, über hundert Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Es entstand ein Schaden in Milliardenhöhe. Die junge Frau beteuert ihre Unschuld. Ist sie unschuldig?

In der den Großteil des hier rezensierten Buches umfassenden Rückblende kann der Leser die Beschuldigte als zunächst arglose und nichtsahnende Bankkundin erleben, bevor ein Wirrwarr unvermittelt hereinbrechender Abenteuer sie aus der Bahn wirft. Ereignisse, in die, wie sich herausstellt, auch höhere Bankmitarbeiter und Polizeibeamte verstrickt sind. Auf eine fehlerhafte Geldabhebung folgt ein Kidnapping, auf dieses folgen dann irrwitzige Verfolgungsjagden durch eine im Chaos versinkende Stadt. Denn bei der einen fehlerhaften Abhebung war es nicht geblieben. Zuerst brach eine Bank zusammen, dann eine zweite und schließlich schaffte ein geheimnisvoller Unbekannter den Einbruch ins Allerheiligste: die Zentrale der Bundesbank. Währenddessen sitzt die vermeintliche Mittäterin in Beugehaft und überlegt verzweifelt, wie sie ihrem Sohn seine lebenswichtigen Medikation zukommen lassen kann.

Ist der Zusammenbruch des deutschen Finanzwesens nun das Werk hinterlistiger russischen Hacker? Oder stecken ganz andere Personen hinter dem Bankencrash? Eine Erpressung? Aber warum gibt es dann keine Forderung? Der Einzige, der darüber Auskunft geben könnte, ist und bleibt verschwunden.
Als Folge des Crashs müssen sich große Teile der Bevölkerung jedenfalls ernsthaft überlegen, wie man ohne Bargeld in einer immer brutaler agierenden Gesellschaft klarkommt. Unbesoldete Polizisten weigern sich nämlich, ihren Dienst weiter zu versehen. Polizei- und Militärführung streiten sich über Kompetenzen, während die Preise für Sachwerte ins Unermessliche steigen und aufgebrachte Demonstranten die Kanzlerin mit Steinen bewerfen…

Dass der Autor Gerhart J. Rekel mit seinem Thriller etwas drastisch an die mittlerweile fast vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwundene Finanzkrise des Jahres 2008 erinnert, macht ihn sympathisch. Und dass Finanzhaie im Verlaufe seines Romans nicht gerade als Sympathieträger herüberkommen, ebenfalls. Rekel hat allerdings noch nicht so richtig mitbekommen, dass derzeit ganz andere Leute die deutsche Kanzlerin mit Wurfgeschossen bombardieren wollen. Als Österreicher mag man ihm das jedoch nachsehen.

Aber ob, wie der Autor im Verlauf der Romanhandlung suggeriert, einfach nur ein heftiger Schreckschuss genügen würde, damit irgendwelche ominösen Verantwortlichen zur Vernunft kommen und nun endlich das weltweit verschachtelte Banken- und Finanzsystem reformieren, sollte man doch eher bezweifeln. Schließlich ist nach der Krise immer gleichzeitig vor der nächsten Krise. So war es stets und so wird es bleiben. Jedenfalls solange, wie wir Kapitalismus haben.

Gerhard J. Rekel: Der Gott des Geldes, Roman, Verlag Wortreich, 2018,
ISBN 978-3-903091, 275 Seiten, 14,90 Euro

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.

 

Putsch für mehr Elektronikschrott

Die Existenz des chemischen Elementes Lithium ist seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt, Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es erstmals in Reinform gewonnen. Die industrielle Verwertung des Alkalimetalls und seiner Verbindungen hielt sich jedoch bis zum Ende des 2. Weltkriegs sehr in Grenzen. Ein Bedarf an größeren Mengen entstand erst während des Kalten Krieges. Das Militär benötigte damals Lithium für die Entwicklung und den Bau von Wasserstoffbomben – welche aber glücklicherweise nie zum Einsatz kamen.

In den 1980er Jahren wurde von britischen Wissenschaftlern die Möglichkeit des Baus neuartiger Akkumulatoren unter Verwendung von Lithium-Ionen entwickelt. Ein erster kommerziell nutzbarer Lithium-Ionen-Akkumulator wurde 1991 von einem japanischen Unternehmen auf den Markt gebracht. Bis in unserer Gegenwart hinein werden auf diesem Prinzip beruhende Akkumulatoren hergestellt und finden in einer Vielzahl von Geräten Anwendung. Ein großer Teil des vom US-Militär angehäuften Lithiumvorrates konnte dadurch für zivile Zwecke verwendet werden.

Mit dem Beginn des Zeitalters von Internet und der Handymania erhöhte sich die Nachfrage nach dem zuvor kaum beachteten Rohstoff Lithium schlagartig. Und kürzlich tat sich noch eine weitere Verwendungsmöglichkeit auf: Das Elektroauto. Dessen Umweltbilanz ist zwar heftig umstritten. Das Schrumpfen der weltweit bekannten Erdöllagerstätten veranlasste aber nicht wenige Autohersteller, dennoch in diese Technologie zu investieren.

Mit wachsendem Bedarf an Lithium setzte während der letzten Jahre eine fieberhafte Suche nach weiteren Lagerstätten ein. Fündig wurde man unter anderem im Zentrum Südamerikas, in Bolivien. Der abgelegene Andenstaat verfügt über Salzwasserseen, aus denen vergleichsweise kostengünstig Lithiumhydroxid gewonnen werden kann. Als tatsächlich ein Vertrag zwischen dem bolivianischen Staatsunternehmen YLB und dem in Baden-Württemberg beheimateten Unternehmen ACI Systems Alemania (ACISA) über die gemeinsame Förderung und Verarbeitung von Lithium aus dem Salzsee Uyuni zustande kam, überschlugen sich deutsche Politiker und Unternehmenssprecher in begeisterten Kommentaren. Dass Bolivien von einem Präsidenten regiert wird, der als Interessenvertreter von Gewerkschaften und landwirtschaftlichen Kooperativen an die Macht kam, geriet während dieser Euphorie vorübergehend in den Hintergrund.

Bolivien gilt als wirtschaftlich unterentwickelt und als ärmster Staat Südamerikas. Das Land verfügt zwar über einige Erdgaslagerstätten. Diese waren mit der neoliberalen Welle unter dem Druck westlicher Geldgeber privatisiert worden. Da ausländische Konzerne hauptsächlich mit eigenen Spezialisten arbeiten, ging der geförderte Reichtum demzufolge an der Bevölkerungsmehrheit vorbei. Ein weiterer Grund für Unzufriedenheit war das Antidrogenprogramm der USA. Leidtragende dieses Programms waren nämlich hauptsächlich Agrargemeinden im Andenhochland, für die der Anbau der Kokapflanze oftmals die einzige nennenswerte Erwerbsquelle ist.

Auf einer Welle von Sozialprotesten reitend konnte 2005 die Partei „Movimiento al Socialismo“ (MAS) die Wahlen gewinnen und Evo Morales wurde Präsident der Republik Bolivien. Dieser re-verstaatlichte unverzüglich die Erdgasförderung, dazu noch weitere Industrieunternehmen sowie von Grundbesitzern nicht genutzte Agrarflächen. Eine umfassende Agrarreform blieb allerdings aus. Morales konnte auch die folgenden Wahlen stets gewinnen, jedoch nur auf der Grundlage von umstrittenen Verfassungsänderungen.

Entgegen allen Prognosen neoliberaler Denkfabriken konnte sich Bolivien in der Ära Morales wirtschaftlich stabilisieren. Die Lage der Bevölkerung verbesserte sich spürbar. Ein Großteil der Staatseinnahmen floss in Sozialprogramme, in den Bildungssektor und in die medizinische Infrastruktur. Selbst der Internationale Währungsfonds attestierte dem charismatischen und betont antiwestlich auftretenden Präsidenten eine „angemessene Wirtschaftspolitik“.

Auf allgemeine Ablehnung stießen allerdings die von Morales betriebene Aufweichung des Verbotes von Kinderarbeit sowie die Freigabe von Urwaldflächen für Brandrodungen. Infolge der widersprüchlichen und sich teilweise ausschließenden Interessen seiner Wählerschaft verlor der zunehmend autoritär regierende Präsident in der Endphase seiner Herrschaft das Vertrauen von Teilen seiner Basis. Die indigenen Ethnien der Tieflandregionen betrachteten ihn beispielsweise als Verräter an ihrer Sache und warfen ihm vor, ausschließlich die Interessen der Kokabauern des Hochlandes zu vertreten.

Auch der mit der deutschen Firma abgeschlossene Joint-Venture-Vertrag über die Förderung von Lithium war in Bolivien nicht unumstritten. Kritiker aus den eigenen Reihen warfen der Regierung einen Ausverkauf nationaler Ressourcen vor. Vertreter der Bergregion, in dem der lithiumhaltige See liegt, forderten einen größeren Anteil an den voraussichtlich erzielten Erlösen. Die am 4. November 2019 bekannt gewordene Annullierung des Vertrages war wohl einer der Auslöser für eine Reihe von Protesten der vergleichsweise wohlhabenden städtischen Bevölkerung.

Der Firmenchef der Firma ACI Systems erklärte gegenüber der deutschen Tagesschau: „Wir werden daher erst einmal wie geplant am Projekt weiterarbeiten“. Es folgte eine Medienkampagne: Von den deutschen Medien und Politikern wurde Evo Morales als notorischer Umweltsünder dargestellt, der verantwortungsvolle Autofahrer dazu zwingen wolle, statt mit modernen E-Autos weiter mit benzinfressenden Dreckschleudern zu fahren. Ausgeblendet wurde dabei, dass Elektroautos gar nicht mit Lithium betankt werden. Das Element ist kein Energieträger, sondern nur Bestandteil wichtiger Bauteile des Akkumulators.

Das Aufladen dieser Akkumulatoren kann zwar mit regenerativ erzeugter Energie erfolgen, aber auch mittels dreckiger Kohleverbrennung oder gar mit Atomstrom. Die Energiebilanz von Elektroautos ist, wie gesagt, sehr umstritten. Und die massenhafte Produktion dieser Autos dürfte das nächste Umweltproblem in Gestalt von zu entsorgenden Bergen von Lithiumakkumulatoren erzeugen. Auf Armutsregionen, die mangels anderer Einnahmequellen den reicheren Industriestaaten gegen Bezahlung ihren Dreck abnehmen, dürfte mit dem Elektroauto eine neue Schwemme an hochgiftigem Schrott hereinbrechen.

Natürlich hatte Evo Morales, als er den Joint-Venture-Vertrag per Dekret stoppte, nicht die Sauberkeit des Planeten im Sinne. Umweltschutzmaßnahmen betrachtet er als Problem der wohlhabenden europäischen Staaten. Es ist aber anzunehmen, dass Morales den Vertrag im Interesse der bolivianischen Seite nachbessern wollte. Es handelte sich also um den Bestandteil eines finanziellen Tauziehens zwischen zwei Vertragspartnern – in diesem Fall der bolivianischen Regierung auf der einen und dem baden-württembergische Unternehmen auf der anderen Seite. Letzteres hatte allerdings die deutsche Regierung und ihr Auswärtiges Amt sowie diverse parteinahe Stiftungen im Rücken. Und diese unterstützen seit Jahren die bürgerlichen Oppositionsparteien Boliviens gegen den gewählten Präsidenten.

Es ist nicht bekannt, ob die Annullierung des Vertrages einziger Grund für die Welle von Unruhen und Krawallen war, die in den letzten Wochen Bolivien an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Es dürfte aber der Hauptgrund gewesen sein. Regierungsgegner hatten gewaltsam Rundfunk, und Fernsehsender besetzt, Abgeordnete und Mandatsträger der regierenden Partei angegriffen. Bekanntlich verzichtete Morales am 10. November auf sein Amt und ging ins Exil, nachdem sich zuerst die Polizei auf die Seite der Regierungsgegner gestellt hatte und die Militärführung ihn dann ultimativ zum Rücktritt aufforderte. Proteste von Morales Anhängern wurden gewaltsam aufgelöst, es gab zahlreiche Tote.

Die jetzt amtierende selbsternannte Übergangpräsidentin Jeanine Añez gilt als erklärte Gegnerin der indigenen Agrarbevölkerung und als erbitterte Kritikerin der von Morales umgesetzten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Regierung der Bundesregierung Deutschland sowie mehrere ihrer Politiker begrüßten den kaum verbrämten Putsch. Nach den letzten gegenwärtig vorliegenden Informationen steuert Bolivien auf die Installation einer vom Militär gestützten rechtsgerichteten Diktatur zu. Oder auf einen Bürgerkrieg.

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime.

„Wir fühlten uns wie die Größten“ – Kronzeuge im Cum-Ex-Prozess sagte aus

 In einem Artikel im Handelsblatt vom 1. November 2019 berichteten Volker Votsmeier und Sönke Iwersen über die Aussage des Kronzeugen Benjamin Frey (Name geändert) im Prozess zu dem wohl größten Steuerbetrug der deutschen Wirtschaftsgeschichte vor dem Landgericht Bonn. Frey war 2011 Partner in einer der einflussreichsten Rechtsanwaltskanzleien Deutschlands. Zu ihren Kunden zählten viele der vermögendsten Deutschen. Sie hatte gute Verbindungen zu den größten Banken.

Als Jana S., Sachbearbeiterin im Bundeszentralamt für Steuern, mit Frey und dessen Kollegen zu tun bekam, stoppte sie beantragte Steuererstattungen in dreistelliger Millionenhöhe. Das Handelsblatt beschrieb den Vorgang wie folgt: „Sie schob damit einen Keil in die Maschine, mit der Frey für sich und seine Geschäftspartner Unsummen verdiente. Die Maschine hieß Cum-Ex. Aktien mit (cum) und ohne (ex) Dividendenanspruch wurden dabei so gehandelt, dass die Beteiligten sich das Mehrfache dessen von den Finanzämtern ‚erstatten‘ ließen, das sie abführten. Eine ganze Dekade lang kamen schwerreiche Investoren, ihre Steuerberater, Rechtsgutachter und Banken damit durch. Dann stellte sich Jana S. quer.“

Frey und seine Kollegen drohten der Sachbearbeiterin damit, sie persönlich auf Schadensersatz zu verklagen und finanziell zu ruinieren. Jana S. ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Sie weigerte sich, Steuern zu erstatten, die gar nicht abgeführt worden waren. Das löste schließlich ein Ermittlungsverfahren aus. Die Aufklärung eines riesigen Skandals begann.

Der Schaden, der durch Cum-Ex-Geschäfte entstand, soll zwölf Milliarden Euro betragen. Diese Schätzung wird von Benjamin Frey als zu niedrig angesehen. Der Abfluss von Steuergeldern sei deutlich größer gewesen. Frey ist Beschuldigter in mehreren Strafverfahren und einer der ersten Insider, die bei der Aufarbeitung der Cum-Ex-Affäre auspackten. Im Bonner Prozess trat er als Kronzeuge gegen zwei britische Aktienhändler auf. Sie werden beschuldigt, für eine Schadenssumme von rund 400 Millionen Euro verantwortlich zu sein.

„Quer durch die Republik ermitteln Staatsanwaltschaften in mehr als 70 Komplexen gegen rund 500 Beschuldigte. Dem Handelsblatt liegt die Aufstellung eines Whistleblowers vor, der sich zwischen 2014 und 2015 intensiv mit der Steuerfahndung Wuppertal austauschte. Seine Liste enthält die Namen von 130 Banken, die an Cum-Ex-Geschäften beteiligt gewesen sein sollen. Es gibt kaum ein Geldhaus, das darauf fehlt.“

Benjamin Frey arbeitete zu Beginn seiner Karriere als Anwalt in einer US-amerikanischen Sozietät. Später machte er sich zusammen mit Partnern selbstständig. „Ihre Kanzlei wurde in Cum-Ex-Kreisen zu einer Art Zentrale. Sein Schreibtisch stand im 32. Stock des Frankfurter Bürohochhauses Skyper. Frey: ‚Wir fühlten uns wie die Größten.‘ Ab 2006 gehörten Frey und seine Partner zu den nachgefragtesten Namen in der Cum-Ex-Beratung – und akquirierten selbst häufig neue Investoren. Viele zufriedene Kunden brachten neue in die Kanzlei, das Geschäft brummte.“

Dann reagierte endlich das Justizministerium. Es wurden Regelungen eingeführt, die deutschen Banken vorschrieben, bei Cum-Ex-Aktiendeals für eine korrekte Versteuerung zu sorgen. Das sei aber nur ein Brandbeschleuniger gewesen, sagt Frey. Weil in den entsprechenden Paragrafen von inländischen Banken die Rede war, wickelte man die krummen Geschäfte nun eben über ausländische Banken ab. „Frey erinnert sich an das Credo seines ehemaligen Partners Hanno Berger: Was nicht ausdrücklich im Gesetz steht, gilt nicht… Wer Zweifel an der Maschine Cum-Ex äußerte, wurde von Berger scharf angegangen. Frey erinnert sich an die Worte des Star-Juristen: ‚Wer ein Problem damit hat, dass wegen unserer Arbeit weniger Kindergärten gebaut werden: Da ist die Tür!’“
In dem Artikel des Handelsblatts hieß es weiter: „Lüge ist ein wiederkehrendes Motiv in dieser Affäre. Viele Investoren behaupten bis heute, sie hätten nie gewusst, woher die sagenhaften Gewinne bei der Cum-Ex-Methode stammten. Die einen beteuern, sie hätten auch nie gefragt, die anderen sagen, man habe sie auf Nachfrage falsch informiert. Frey berichtet freilich auch von einem Fall, wo ein Kunde seiner Kanzlei genau nachrechnete, und sich gerade deshalb beschwerte. Dann drohte er mit Gewalt… ‚Der Mann wollte zehn Millionen Euro Nachschlag‘, erinnert sich Frey. ‚Andernfalls würde er eine bekannte Rockergang einschalten.’“
Frey erinnerte sich weiter, dass schließlich 2,5 Millionen Euro an den Kunden gezahlt wurden. Man habe bei den Steuerdeals eben auch noch versucht, sich gegenseitig zu übervorteilen, nach dem Motto: „Jeder bescheißt jeden.“
Nach 2012 gab es, als Folge vermehrter Betriebsprüfungen, immer mehr juristische Fachaufsätze, die Cum-Ex-Geschäfte als legal einstuften. Auch Freys Kanzlei vergab solche Aufträge gegen gutes Honorar an geeignete Experten, bekannte Jura-Professoren und renommierte Anwälte. Frey: „Das war letztlich alles Mietschreiberei.“
Auch die Lobbyarbeit über Kontakte in die Finanzverwaltung, die Justiz und in Ministerien sei wichtig gewesen. Man wollte alle Gesetzesänderungen schon kennen, bevor sie stattfanden. Frey sagte aus, er sei auch vom Deutschen Sparkassen- und Giroverband mit Informationen versorgt worden.
„Dann dürfen ihn auch die Anwälte der fünf Finanzinstitute befragen, die das Gericht dem Bonner Verfahren hinzugezogen hat: die Hamburger Privatbank M. M. Warburg, deren Tochter Warburg Invest, das US-Institut BNY Mellon, die französische Société Generale sowie die Fondsgesellschaft Hansa Invest. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen die Zusammenarbeit mit den beiden Angeklagten bei Cum-Ex-Geschäften vor – und den daraus entstandenen Gewinn. Im Raum steht eine mögliche Vermögensabschöpfung von rund 389 Millionen Euro. Die fünf davon bedrohten Banken verwehren sich gegen dieses Ansinnen des Gerichts.“

 

„15 Jahre Verfassungsbruch“ – zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen

Die Höhe der Grundsicherung („Hartz IV“) deckt offiziell das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum ab und liegt zurzeit für einen allein lebenden Erwachsenen bei 424 Euro (432 Euro ab 2020), plus Kosten für Unterkunft und Heizung. Doch allein im Jahr 2018 verhängten die Jobcenter knapp über 900.000 Sanktionen und stürzten damit hunderttausende Leistungsbeziehende in eine materielle (und häufig psychische) Notlage. Fast 15 Jahre nach Einführung des Hartz-IV-Regimes urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 5. November 2019 endlich über die Zulässigkeit der Hartz-IV-Sanktionen.

Zunächst, worum geht es? Lehnt bislang ein Erwerbsloser ein Jobangebot oder eine Maßnahme ab, werden die Leistungen um 30 Prozent gekürzt, im Wiederholungsfall um 60 Prozent, bei weiterer Weigerung entfällt die Leistung ganz, samt Wohn- und Heizkosten. Verhängte Sanktionen gelten dabei immer drei Monate. Wer ohne überzeugenden Grund einen Meldetermin versäumt, verliert zehn Prozent des monatlichen Regelsatzes (diese Fälle machen 77 Prozent aller Sanktionen aus). Bei Menschen unter 25 Jahren wird noch härter durchgegriffen. Ihnen droht schon beim ersten Verstoß die Totalsanktionierung.

Die besonders scharfen Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren waren jedoch nicht Teil des Verfahrens in Karlsruhe. Für alle anderen entschied das Gericht nun, dass Kürzungen von 60 Prozent und mehr nicht weiter zumutbar sind. Derartige drastische Kürzungen darf es ab sofort nicht mehr geben, 30 Prozent und weniger sind dagegen weiterhin erlaubt (in der Folge sind mit der Entscheidung aber offensichtlich auch für die Gruppe der jungen Leistungsbeziehenden Kürzungen um mehr als 30 Prozent Vergangenheit).

Die Verfassungsrichter/innen erklärten die Sanktionen damit zwar nur für teilweise verfassungswidrig, ernteten dafür aber auch in kritischen Kreisen Zustimmung. So begrüßte etwa das Bündnis „Auf Recht Bestehen“, getragen unter anderen von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, dem Bundeserwerbslosenausschuss ver.di, dem Erwerbslosenforum Deutschland, dem Frankfurter Arbeitslosenzentrum (FALZ) und der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), in einer ersten Stellungnahme das Urteil, „wonach die bestehende Sanktionsregelung zum großen Teil als verfassungswidrig anzusehen ist und in der bestehenden Form nicht mehr angewendet werden darf“. Das Bündnis fordert allerdings nach wie vor die Abschaffung des gesamten Sanktionssystem im SGB II.

Das Problem für Betroffene und Gegner des Zwangsapparats „Hartz IV“: Das Gericht bestätigte durch sein Urteil grundsätzlich, dass die Richtwerte des soziokulturellen Existenzminimums für „unkooperative“ Hartz-IV-Beziehende weiterhin abgesenkt werden dürfen. Im Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 zur Bemessung eines menschenwürdigen Existenzminimums hatte es dagegen noch geheißen: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ (Az. 1 BvL 1/09)

Die vielzitierte Menschenwürde scheint demnach keineswegs absolut zu gelten und sehr wohl einer Abwägung zugänglich zu sein. Christoph Butterwegge, Ex-Professor für Politikwissenschaft an der Uni Köln, analysierte am 5.11.2019, noch vor dem Urteilsspruch, im Neuen Deutschland („Ohne Sanktionen kollabiert das Hartz-IV-System“) dessen gesellschaftspolitischen Kontext:

„Mit seiner Entscheidung in der Sache hat sich Karlsruhe sehr viel Zeit gelassen, was nicht zuletzt ihrer enormen Tragweite geschuldet sein dürfte. Tatsächlich handelt es sich politisch um ein heißes Eisen, denn Hartz IV bildet das Herzstück des neoliberalen Wohlfahrtsstaates, und die Sanktionen bilden das Herzstück von Hartz IV. Schon ihre Androhung gleicht Daumenschrauben, die Hartz-IV-Betroffene gefügig machen sollen. Ohne die Sanktionen wäre Hartz IV daher ein zahnloser Tiger. Würden die Sanktionen verworfen, könnte das System insgesamt kollabieren. Mit den Sanktionen fielen nach Art eines Dominoeffekts womöglich auch die übrigen Bausteine des bestehenden Arbeitsmarktregimes.“

Fazit: Trotz der nach dem Urteil des BVerfG umzusetzenden Abmilderungen der bisherigen Sanktionspraxis bleiben unterm Strich „15 Jahre Verfassungsbruch“, wie die junge welt am 6. November 2019 einen Artikel zum Thema betitelte. Und ein Ende ist nicht abzusehen.

EU verbietet hochwirksames Insektizid: Sieg im Kampf gegen das Artensterben?

Der Abgeordnete der Grünen im Europaparlament Sven Giegold sprach von einem „guten Tag für die Umwelt, Gesundheit und für Europa“, nachdem eine Mehrheit der EU-Staaten im Oktober entschieden hatte, die Zulassung für das vom Bayer-Konzern vertriebene Insektengift Thiacloprid Ende April 2020 auslaufen zu lassen. Das in die Wirkstoffgruppe der Neonikotinoide fallende Insektizid Thiacloprid gilt Studien zufolge als eine Ursache für das weltweite Bienensterben. Auch kann eine Gefahr für andere Insekten, Pflanzen und Menschen (vor allem durch die Belastung des Grundwassers) nicht ausgeschlossen werden. Erst im letzten Jahr hatten die EU-Mitgliedsländer drei Insektengifte mit einer ähnlichen Wirkung aus dem Verkehr gezogen. Diese Entscheidung wird als Erfolg des zivilgesellschaftlichen Engagements gewertet. Denn unter anderem hatten mehr als 380.000 Menschen zuletzt eine Petition gegen die Wiederzulassung des Pestizids unterschrieben.

Thiacloprid ist zwar das vierte Neonikotinoid, das in der EU verboten wird. Aber trotz der Warnungen aus Expertenkreisen (z.B. BUND, Greenpeace, Umweltinstitut München) vor den dramatischen Folgen war der Einsatz der synthetisch hergestellten Wirkstoffe über Jahre auf dem EU-Markt erlaubt. Waren die Umweltschützer diesmal erfolgreicher als die Industrielobbyisten, wie ein taz-Autor die EU-Entscheidung kommentierte? Ein Leserbriefschreiber der Zeitung bleibt skeptisch: „So, so, Ende April 2020 läuft also die Zulassung des o.g Pestizids aus. Und das feiern die Grünen als Sieg im Kampf gegen das Bienensterben? Für mich stellt dieses Datum eine Verlängerung des Insektenkillens um ein Jahr dar. Die Zeit der Frühjahrsblüher und damit das Erwachen der Insekten nach der Winterpause ist ab spätestens März in vollem Gange. Das bedeutet, genau in der Phase des Wiedererwachens der Insektenpopulationen immer feste druff, ein weiteres Jahr. Da kann man nur den Kopf schütteln, in welchem Umfang sich erneut die Lobbyisten der Landwirte und der Chemieindustrie durchgesetzt haben.“

Quellen:

„Großer Erfolg für Bienen und Gesundheit: EU verbietet das Neonikotinoid Thiacloprid ab Mai 2020“, Mitteilung von Sven Giegold (Mitglied der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament) vom 22.10.2019:

https://sven-giegold.de/grosser-erfolg-fuer-bienen-und-gesundheit-eu-verbietet-thiacloprid/

Eric Bonse, „EU gegen Insektengift: Aus für Thiacloprid“, taz, 23.10.2019

https://taz.de/EU-gegen-Insektengift/!5633023&s=Thiacloprid/

Christine Vogt (Umweltinstitut München), „Thiacloprid: Kommt das Verbot?“, 5.6.2019

http://www.umweltinstitut.org/aktuelle-meldungen/meldungen/2019/pestizide/thiacloprid-kommt-das-verbot.html

Zähmung krimineller Unternehmen durch das Strafrecht?

Ende Juli 2019 überraschte die New York Times ihre Leserschaft mit einem provokanten Gastbeitrag: Der ehemalige Partner einer großen amerikanischen Anwaltskanzlei stellte in einem Artikel klipp und klar fest, dass Unternehmen rechtlich verpflichtet seien, wie „Soziopathen“ zu agieren. Sie dürften gar nicht anders, als allein dem Gebot der Profitmaximierung zu gehorchen, weil es die von Shareholdern einklagbare Pflicht verlange. Reine Profitmaximierung aber sei legalisiertes asoziales Verhalten. Sein Vorschlag: Zumindest Großunternehmen sollten neu verfasst werden. Die Erzielung höchst möglicher Gewinne als Unternehmensziel solle unangetastet bleiben, jedoch eingebunden werden in ein vom Unternehmen selbst zu definierendes aber rechtlich bindendes gemeinwohlorientiertes Statut. Das Management habe also die Interessen der Angestellten, der Kunden, der Umwelt und der künftigen Generationen bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. Die Süddeutsche Zeitung zeigte sich von dem Vorschlag angetan, denn „ohne Gemeinwohlprinzipien systemisch auch in den Unternehmen zu verankern“, so der Autor Andreas Zielcke in einem Debattenbeitrag, ,,gräbt der Kapitalismus sich ‒ samt uns ‒ das Wasser ab“. (1)

Richtig ist, dass die von Unternehmen verursachten Schäden an Mensch und Natur überwiegend das Ergebnis juristisch zulässiger Geschäftsmodelle sind. Der US-Anwalt bietet denn auch eine pointierte Beschreibung der legalen aber „antisozialen“ Funktion von Unternehmen, koppelt sie jedoch mit der altbekannten Idee der Corporate Governance, das heißt damit, „Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung“ in Form einer Selbstverpflichtung in die geschäftliche Praxis zu implementieren. Das aber kommt letztlich einer Quadratur des Kreises gleich. Konsequenter, wenn auch weniger öffentlichkeitswirksam, ist dagegen der Versuch, zumindest die kriminellen Machenschaften von Unternehmen und Konzernen juristisch zu sanktionieren. So mehren sich in Folge der internationalen Finanzkrise und zahlreicher Unternehmensskandale in den letzten Jahren ‒ vor allem der illegalen Manipulationen verschiedener Autohersteller („Dieselgate“) ‒ die Stimmen, endlich auch in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht einzuführen.

Zum Beispiel hält der Deutsche Richterbund die Einführung eines Strafrechts, mittels dem Unternehmen und „Verbände“ mit einer Kriminalstrafe belegt werden können, für verfassungsrechtlich zulässig und begrüßt die aktuellen Diskussionen rund um das Thema. Kritische Stimmen aus der Rechtswissenschaft, einzelne politische Parteien, aber auch Organisationen wie Brot für die Welt, der Bund Deutscher Kriminalbeamter oder Transparency Deutschland ‒ sie alle fordern die Einführung eines Unternehmensstrafrechts. Eine Forschungsgruppe legte 2017 den „Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes“ vor, die Landesregierung von NRW präsentierte bereits im Jahr 2013 einen Gesetzentwurf im Bundesrat, die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken reichten 2016 bzw. im Februar 2019 entsprechende Anträge im Bundestag ein.

Das breite Spektrum von Akteuren aus Politik, Rechtswissenschaft und -praxis sowie Zivilgesellschaft, das sich pro Unternehmensstrafrecht positioniert, reagiert dabei nicht zuletzt auf eine veränderte öffentliche Wahrnehmung der Wirtschaftskriminalität. Zunehmend stößt auf Kritik, dass Unternehmen strafrechtlich immun sind und Konzerne nicht bestraft werden können, unabhängig davon, ob einzelne Manager oder Mitarbeiter wegen persönlichen Fehlverhaltens zur Rechenschaft gezogen werden. Denn Deutschland gehört weltweit zu den wenigen Ländern, in denen sich bisher nur natürliche Personen strafbar machen können, sich aber juristische Personen, also auch Unternehmen, durch Strafrecht nicht erreichen lassen. Lediglich Angestellte eines Unternehmens, aber nicht das Unternehmen als Gesamteinheit und eigentlicher Akteur hinter den Mitarbeitern, sind im Rahmen des Strafrechts haftbar.

Um strafrechtliche Sanktionen einzuführen zu können, müssen also verschiedene rechtsdogmatische Hürden übersprungen werden. Juristische Personen als solche sind nach geltendem Recht handlungs- und schuldunfähig. Sie können nur durch ihre Organe handeln (Vorstand, Aufsichtsrat, Mitarbeiter) und lediglich mit Geldbußen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht belegt werden (maximal zehn Millionen Euro nach § 30 OwiG). Großkonzerne können Geldbußen in dieser Größenordnung „aus der Portokasse“ bezahlen, wie kritische Stimmen vielfach monieren. Eine Präventivwirkung des Gesetzes entfällt deshalb weitgehend. Und das, obwohl Unternehmen und Verbände mehr Einfluss auf die Gesellschaft ausüben als einzelne Personen, und ihre Straftaten weitaus größere Schäden anrichten: „Es erscheint befremdlich, dass ein einfacher Fahrraddiebstahl eine Straftat darstellt, während kriminogene Aufsichtsmängel in einem Konzern ‚nur‘ als Ordnungswidrigkeiten mit einem Bußgeld belegt werden können.“ (2)

Ein weiteres wesentliches Defizit besteht darin, dass bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten bislang nicht das Legalitäts- sondern das Opportunitätsprinzip greift. Im ersten Fall sind Staatsanwaltschaften gezwungen, bei einem Anfangsverdacht zu ermitteln, im letzteren liegt es in ihrem Ermessen, ob sie aktiv werden wollen oder nicht. Mangels Personal und eigener Fachkenntnisse schrecken in der Folge viele Staatsanwaltschaften vor Verfahren gegen Unternehmen zurück, da ihnen unter anderem die oftmals verschleierten Verantwortungs- und Entscheidungsstrukturen von Unternehmen die Arbeit erschweren und der hohe Ermittlungsaufwand im Verhältnis zu den relativ schwachen Sanktionen kaum vertretbar erscheint. (3)

Kritiker des Ist-Zustandes erwarten deshalb nur von harten Sanktionen eines Unternehmensstrafrechts einen spürbaren präventiven Effekt, da angenommen werden darf, dass Unternehmen rational betriebswirtschaftlich vorgehen. (4) Denn Unternehmenskriminalität ist „kalkulierte Kriminalität“. (5) Die Frage der Gesetzestreue verengt sich aus dieser Sicht in der Wirtschaft zu einer Kosten-Nutzen-Rechnung, das heißt das Entdeckungsrisiko und die zu erwartenden Sanktionen werden dem erhofften Vorteil gegenübergestellt.

Tatsächlich will die Bundesregierung jetzt endlich das Sanktionsrecht für Unternehmen reformieren. Im Koalitionsvertrag vom März 2018 hatten Union und SPD bereits vereinbart, sicherzustellen, „dass bei Wirtschaftskriminalität grundsätzlich auch die von Fehlverhalten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern profitierenden Unternehmen stärker sanktioniert werden“. Justizministerin Lambrecht (SPD) legte, wenn auch reichlich spät, am 23. August 2019 einen neuen Gesetzentwurf vor, der für die Öffentlichkeit noch unter Verschluss gehalten wird (Stand: 23.8.2019). Für die Ermittlungsbehörden wird eine Verpflichtung zur Strafverfolgung eingeführt. Den Begriff „Unternehmensstrafen“ diskret meidend, sollen laut Medienberichten Unternehmen künftig bis zu zehn Prozent ihres Umsatzes als Geldsanktion bezahlen, wenn eine „Leitungsperson“, so der Entwurf, eine vorsätzliche Straftat begeht. Vorgesehen ist allerdings auch, Sanktionen lediglich „unter Vorbehalt“ zu verhängen, wenn etwa das Unternehmen verspricht, strenge Compliance-Regeln einzuführen. Strafmildern kann danach wirken, wenn Unternehmen interne Untersuchungen anstellen und dabei mit der Staatsanwaltschaft kooperieren (vgl. Christian Rath, „Kriminelle Konzerne sollen zahlen“, in: taz vom 23.8.2019).

Summa summarum bleibt festhalten, dass ein Unternehmensstrafrecht als sinnvolle Ergänzung des Individualstrafrechts als wirklich „scharfes Schwert“ nur funktionieren kann, wenn es denn tatsächlich hinsichtlich krimineller Geschäftsführungspraktiken präventiv wirkt. Ob die geplanten Verschärfungen des vom Bundesjustizministerium auf den Weg gebrachten Gesetzes wirklich kriminalitätsdämpfende Wirkungen entfalten werden, bleibt abzuwarten. Wenn Regierung und Gesetzgeber eine Politik der Deregulierung betreiben, sich aber im Nachhinein und auf Druck von außen vorsichtig für ein Strafrecht ins Zeug legen, um billigend in Kauf genommene kriminelle Effekte ihrer eigenen Politik zu mildern, darf das durchaus positiv bewertet werden. Mit einer „Bekämpfung“ der destruktiven Logik der kapitalistischer Marktwirtschaft hat die Einführung eines Unternehmensstrafrechts allerdings nichts zu tun. Und an der „Interessenkonformität der großen Konzerne mit den politischen Entscheidungsträgern“ (Thilo Bode) und der rechtlichen Privilegierung der Konzerne ändern die geplanten strafrechtlichen Maßnahmen grundsätzlich auch nichts.

Anmerkungen:

(1) Süddeutsche Zeitung vom 2. August 2019

(2) Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes, Köln, 2017, Seite 13

(3) vgl. Antrag der Bundestagsfraktion Die Linke: „Deutschland braucht ein Unternehmensstrafrecht“, Drucksache 19/7983, 21. Februar 2019, Seite 4

(4) So fordert beispielsweise Die Linke als oppositionelle Fraktion im Bundestag in ihrem Antrag unter anderem Geldsanktionen, die sich an der Wirtschaftskraft des Unternehmens und dem begangenen Unrecht orientieren, nach Begehung von Straftaten Unternehmen von öffentlichen Aufträgen und öffentlichen Geldern auszuschließen, als letztes Mittel sogar Betriebsschließungen und die Auflösung von Unternehmen.

  • Christoph Kathollnig: Unternehmensstrafrecht und Menschenrechtsverantwortung, Wien/Graz, 2016, Seite 55

Der Autor
Joachim Maiworm
ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Zeitschrift „Stichwort BAYER“ Nr. 4/2019 erschienen.

Kampf um Steuerschlupflöcher

Der Verein LobbyControl hat eine Protestaktion gestartet: Gegen einen „neuen Lobby-Coup“ der großen Immobilienkonzerne. Denn die wollen die Besteuerung sogenannter Share Deals stoppen, wie es in einem Newsletter des Vereins vom 26. September 2019 heißt.

 

Bei Share Deals geht es nicht um den Verkauf einer Immobilie, sondern der Anteile an einer Firma, welche diese Immobilie im Besitz hält. Kritik und Protest gegen diese Vorgehensweise richten sich vor allem dagegen, dass Share Deals von Unternehmen als Steuerschlupflöcher genutzt werden, um Grunderwerbsteuer zu sparen. Weil sich Investoren auf diese Weise in den letzten Jahren massiv in Immobilien eingekauft haben, entgehen dem Staat dabei jährlich rund eine Milliarde Euro Steuergeld.

Im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD heißt es noch, dass „effektive und rechtssichere gesetzliche Regelungen“ umgesetzt werden sollen, „um missbräuchliche Steuergestaltungen bei der Grunderwerbsteuer mittels Share Deals“ beenden zu können (Seite 110). Doch ein von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) vorgelegter Gesetzentwurf („Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetzes“) von Ende Juli 2019 kommt den Konzernen offensichtlich weit entgegen – die Schließung des Steuerschlupflochs droht zu scheitern.

In dem Newsletter von LobbyControl heißt es dazu:

„Denn ursprünglich war die Share Deals-Reform als Teil des Jahressteuergesetzes geplant. Solche Gesetzespakete werden normalerweise von den Regierungsparteien nicht wieder aufgeschnürt. Doch dann löste das Finanzministerium die Share Deals aus dem Paket heraus – ohne Begründung. Dadurch kann die Reform nun vollends entkernt werden. (…) Börsennotierte Unternehmen sollen nach Beschluss des Bundesrats von jeglicher Verschärfung der Share-Deals-Regelung verschont bleiben. Das heißt: Steuerfreiheit ausgerechnet für Konzerne wie Vonovia und Deutsche Wohnen, die größten Profiteure der Wohnungskrise.“ 

Das Gesetz soll Ende Oktober im Bundestag beschlossen werden. Und der Druck der Lobbyisten wird bis dahin gewiss nicht nachlassen.

Der Appell von LobbyControl:

https://www.lobbycontrol.de/2018/08/wohnen-aktion/

Menschenhandel in der Bauwirtschaft als Geschäftsmodell

Im Kampf gegen Schwarzarbeit im Baugewerbe haben am 21. August 2019 über 1.900 Bundespolizisten und Zollfahnder in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt mehr als 80 Baustellen, Geschäftsräume, Steuerberaterbüros, Wohnungen und Sammelunterkünfte durchsucht. Bei den Kontrollen ging es vor allem um die Beschlagnahmung von Akten, das Sichern von Dateien auf Smartphones, Festplatten und weiteren Datenträgern. Der Schaden beträgt nach offiziellen Angaben mindestens 1,7 Millionen Euro.

186 Personen sollen laut Presseberichten vernommen worden sein, festgenommen wurde aber niemand. Alle 41 Hauptzollämter in Deutschland waren an der Aktion beteiligt. Das Zollkriminalamt, die Ausländerbehörde und die Bundespolizei unterstützten die Großrazzia. Das federführende Hauptzollamt Berlin teilte mit, dass sich die Ermittlungen vor allem gegen den Tatverdacht des „Menschenhandels zur Arbeitsausbeutung“ sowie des „bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern“ richteten. Auch sei Hinweisen auf Sozialversicherungsbetrug und Verstößen gegen das Mindestlohngesetz nachgegangen worden.

Zum Ergebnis der Ermittlungen im Jahr 2018: „Im vergangenen Jahr war die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Berliner Hauptzollamts bei rund 1.600 Prüfungen wegen Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung im Einsatz, das waren rund 100 Fälle mehr als 2017. Dabei wurden 4.100 Ermittlungsverfahren eingeleitet sowie Buß- und Verwarnungsgelder in Höhe von rund 1,4 Millionen Euro verhängt. Die Schadenssumme lag den Angaben zufolge bei 88,6 Millionen Euro. Neben dem Baugewerbe waren damals nach Zollangaben vor allem Hotels, Gaststätten, Speditionsfirmen sowie Reinigungsunternehmen überprüft worden.“ (Süddeutsche Zeitung vom 21.8.2019)

Nikolaus Landgraf, Regionalleiter der IG Bau, Agar und Umwelt Berlin-Brandenburg äußerte Zustimmung für die Aktion. So suchten angesichts des aktuellen Booms in der Bauwirtschaft viele Unternehmer nach Personal, versuchten aber die Kosten zu drücken und ließen verstärkt Scheinselbstständige und illegale Beschäftigte unter zum Teil menschenunwürdigen Konditionen arbeiten. Ein mafiaartig organisiertes Netzwerk sei so entstanden, das mit illegalen Vermittlungsfirmen zusammenarbeite und Billigarbeitskräfte auf den Baustellen hin- und herschiebe. Vor allem ging es dabei um Menschen aus Südosteuropa und der früheren Sowjetunion.

Auch die Fachgemeinschaft Bau Berlin und Brandenburg lobte den Großeinsatz. Durch Schwarzarbeit gingen dem Staat jedes Jahr Milliarden an Steuereinnahmen und Sozialversicherungsabgaben verloren, teilte die Hauptgeschäftsführerin des Verbandes mit. Schwarzen Schafen auf dem Bau müsse klar sein, dass Verstöße konsequent geahndet würden. Schwarzarbeit sei das „Krebsgeschwür der Bauwirtschaft“.

Dass wirtschaftskriminelles Handeln struktureller Bestandteil des „Immobilienverwertungskonsortiums aus Bauwirtschaft, Banken und Politik“ (Wolf Wetzel), sprich der „Immobilienmafia“, ist ‒ dazu äußerte sich die Sprecherin der Interessenvertretung der mittelständischen Bauwirtschaft in Berlin und Brandenburg jedoch nicht.

Quellen:

Tomas Morgenstern, „Großrazzia gegen Schwarzarbeit“, in: Neues Deutschland vom 21.8.2019

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1124656.illegale-beschaeftigung-grossrazzia-gegen-schwarzarbeit.html?sstr=schwarzarbeit

Ralf Wurzbacher, „Goldgrube Menschenhandel“, in: Junge Welt vom 23.8.209

https://www.jungewelt.de/artikel/361338.arbeitsausbeutung-goldgrube-menschenhandel.html?sstr=goldgrube

„Gegen Schwarzarbeit: Baustellen, Büros, Wohnungen durchsucht“, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.8.2019

https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-berlin-gegen-schwarzarbeit-baustellen-bueros-wohnungen-durchsucht-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-190821-99-544675

„FG Bau begrüßt Großrazzia gegen Schwarzarbeit“, Pressemitteilung der Fachgemeinschaft Bau Berlin und Brandenburg vom 21.8.2019

https://fg-bau.de/news-veranstaltungen/pressemitteilungen/einzelansicht/news/fg-bau-begruesst-grossrazzia-gegen-schwarzarbeit/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=2d7e14d0caec1ecd70eb4e05e6e6b589

Unternehmensverantwortung und Menschenrechte: Bündnis fordert „Lieferkettengesetz“

Vor sieben Jahren kamen bei einem Brand in einer KiK-Zulieferfabrik in Pakistan 258 Menschen ums Leben. Der Brandschutz dort war mangelhaft, der deutsche Textil-Discounter als Hauptkunde fühlte sich offenkundig für die Arbeitsbedingungen nicht zuständig. Aus Anlass diese Jahrestages startete nun ein Bündnis eine bundesweite Kampagne.

In einer Mitteilung der „Initiative Lieferkettengesetz“ vom 10. September 2019 heißt es: „Dieser Fabrikbrand ist kein Einzelfall: Immer wieder kommt es in den Lieferketten von deutschen Unternehmen zu Ausbeutung und Umweltzerstörung. Damit sich das endlich ändert, setzt sich mit der Initiative Lieferkettengesetz ein Bündnis aus 64 zivilgesellschaftlichen Organisationen für einen gesetzlichen Rahmen ein.“

Deutsche Unternehmen sollen danach gesetzlich zur Einhaltung von Menschenrechts- und Umweltstandards verpflichtet werden. Um die Bundesregierung zum Handeln zu bewegen, wurde eine Petition gestartet, in der das Bündnis von der Bundeskanzlerin fordert, bis 2020 ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen. Danach müssten Unternehmen „geeignete Maßnahmen ergreifen, um Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen in ihrem Geschäftsbereich zu vermeiden. Bei Schäden an Menschen und Umwelt könnten Unternehmen haftbar gemacht werden“.

Einige Fallbeispiele auf der Webseite der Initiative belegen, wie weltweit Mensch und Natur „unter den gewissenlosen Geschäften deutscher Unternehmen“ leiden.

Quellen:

https://lieferkettengesetz.de/

Bernd Müller: „Opfer der Lieferkette“, in: Junge Welt, 12.9.2019

https://www.jungewelt.de/artikel/362645.produktion-opfer-der-lieferkette.html?sstr=lieferkette

 

 

Transnationale Antikorruptionsbewegung

Die Ausgabe der linken Monatszeitung ak (Analyse & Kritik) vom 20. August 2019 widmet ihren Schwerpunkt dem „Aufstieg der transnationalen Antikorruptionsbewegung“. Unter anderem werden folgende Leitfragen gestellt: „Was firmiert im öffentlichen Diskurs unter ‚Korruption‘ und wie lassen sich die dahinter stehenden Phänomene aus linker Perspektive analysieren? Warum übersetzt die Rechte Korruptionsskandale so viel erfolgreicher in politische Macht als die Linke? Haben auch ‚unpolitische‘ Anti-Korruptions-Proteste einen sozialen Kern, den die Linke freilegen muss?“

ak-Redakteurin Hannah Schultes analysiert einleitend das Verständnis von Korruption in seiner internationalen Dimension. Unter anderem verweist sie auf die legalen Formen von Korruption, die es „trotz der vorhandenen diskursmächtigen Antikorruptionsindustrie“ gäbe. Als Beispiel führt sie die Schlupflöcher im Steuerrecht an, die den „Steuerraub durch sogenannte Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte“ ermöglichten. Die Verletzung des Rechts erschienen in der Regel skandalöser als der „systematische Einfluss von Kapitalinteressen auf die gesetzliche Ebene“. Das vorherrschende Korruptionsverständnis dränge demnach den alltäglichen „legitimen Lobbyismus“ in den Hintergrund.

Wie neoliberale bzw. rechtskonservative und -populistische Kräfte das Phänomen der Korruption in Schwellenländern, Ländern des „Südens“ und postsozialistischen Staaten politisieren, wird in den folgenden Artikeln exemplarisch an der Situation in Brasilien, Haiti und Rumänien dargestellt.

Mario Schenk, Brasilien-Kenner und Wissenschaftler an der FU Berlin, zeigt auf, dass der Wahlerfolg Bolsonaros nicht zuletzt auf eine Dämonisierung der ehemaligen Regierungspartei PT und des linken Ex-Präsidenten Lula basiert. Das Versprechen, Kriminalität und Korruption zu bekämpfen, brachte Bolsonaro an die Macht, Lula und die PT wurden zum Zentrum der Korruption erklärt (u.a. im Zusammenhang mit der Auftragsvergabe durch den staatlichen Erdölkonzern Petrobas). „Heute scheint klar“, so der Autor, „dass Bolsonaro die Präsidentschaft einem wahren Justiz-Komplott gegen den aussichtsreicheren Kandidaten Lula verdankt“. Claire Antone Payton (University of Virginia) beschreibt die massive Regierungskorruption bei öffentlichen Bauprojekten in Haiti und wie „internationale Großmächte“ sich ihren Einfluss über korrupte Strukturen in dem Karibikstaat sichern. Alexandra Ghit (Geschlechterforscherin und Autorin für das linke Online-Magazin LeftEast) erläutert, dass der vorherrschende Anti-Korruptions-Diskurs in Rumänien neoliberal geprägt ist und mit Law-and-Order-Forderungen verknüpft wird.

 

Quelle:

 ak 651 vom 20.8.2019

 https://www.akweb.de/

 

Demokratisierung der Wirtschaft – zentraler Hebel gegen Kapitalkriminalität?

            „Die Begrenztheit des Demokratiebegriffs der Kapitalseite wird vor allem deutlich,
wenn man ihr Verhältnis zum sozialen Rechtsstaat untersucht.
Daß dieser Rechtsstaat nach dem Grundgesetz ein sozialer und demokratischer ist,
wird akzeptiert. Aber nur, wenn der Demokratieanspruch nicht an die Wirtschaft
selbst gerichtet ist. Dies ist die bedingungslose Voraussetzung
der Kapitaleigner zur Anerkennung der Demokratie überhaupt.“ (1)

 

Die repräsentative Demokratie steht gegenwärtig massiv unter Druck. Auf der einen Seite nutzen rechtsautoritäre Kräfte den Frust vieler Menschen über „die Politik“ für ihre politischen Ziele, auf der anderen Seite wird immer deutlicher, dass die wirklich wichtigen politischen Entscheidungen von Akteuren bestimmt werden, die über keine politische Legitimation verfügen und in der Regel für die Öffentlichkeit unsichtbar bleiben. Da wirtschaftliche Macht in politischen Einfluss mündet, stellt die Demokratie für die ökonomischen Machtzentren, die sich auf politisch-industrielle Netzwerke stützen können, tatsächlich keine Gefahr dar. So wird das bürgerliche Ideal der politischen Gleichheit aufgrund der eigentumsbasierten ökonomischen Machtverteilung schlicht ad absurdum geführt. Wer also tatsächlich mehr Demokratie in der gesellschaftlichen und politischen Sphäre will, muss deshalb auch daran interessiert sein, die Macht der Wirtschaft so weit wie möglich zu beschränken.

Deshalb wird die Eigentumsfrage ‒ wie in Ansätzen heute bereits ‒ die zukünftigen Auseinandersetzungen immer stärker prägen. Denn die Befehlsgewalt der Kapitaleigner bzw. der Geschäftsführungen über die Organisation des Arbeits- und Produktionsprozesses basiert schließlich auf dem Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln. So wird die Demokratisierung der „demokratiefreien“ Wirtschaft zu einer Schlüsselfrage, um den autoritären Kapitalismus bei seiner Entfaltung zu behindern oder gar zu stoppen.

Es zeigt sich jedoch ein weites Spektrum an Ideen und Praktiken, die unter dem Begriff der Wirtschaftsdemokratie gefasst werden können. Sollte aus historischer Sicht das Konzept gemäß gewerkschaftlicher Vorstellungen den Weg zum Sozialismus ebnen, verengte sich in der Folge unter dem Druck der Kapitalseite die Perspektive zunehmend auf die Institutionen der Mitbestimmung (die selbst permanent und massiv von Wirtschaftsverbänden und Unternehmen unter Beschuss genommen werden). Den Gegenpol bilden seit vielen Jahren Theorie und Praxis einer „Solidarischen Ökonomie“, die auf den Willen der Menschen gründet, selbst zu entscheiden, was sie für wen herstellen und wie sie dies tun. Diese Vorstellung von wirtschaftlicher Demokratie auf Basis einer Kultur der Kooperation reicht also deutlich weiter als die gewerkschaftlichen Ansätze, die sich auf die Mitbestimmung der Beschäftigten in gewinnorientierten Unternehmen beschränken.

Als gemeinsame politische Anknüpfungspunkte, die eine Klammer der unterschiedlichen Aktivitäten für eine Demokratisierung der Wirtschaft bilden können, bieten sich somit zum einen die verschiedenen Kämpfe gegen den Demokratieabbau an: in den Betrieben (gegen prekarisierte Arbeitsverhältnisse) und in den Kommunen (gegen die Privatisierung der Daseinsvorsorge und die Verbetriebswirtschaftlichung landeseigener Unternehmen; Kampf gegen die Immobilienmafia aus Bauwirtschaft, Banken bzw. Kapitalorganisationen und Politik). Zum anderen sind die vielfältigen Formen eines „anderen Wirtschaftens“ (Gemeinwohlökonomie) zu fördern, das heißt alle Bereiche zu stärken, die auf Muster kooperativen Handelns setzen und nicht der Profitwirtschaft unterliegen.

Es fehlt also nicht an bereits bestehenden Konfliktfeldern, an denen angedockt werden könnte. Die Idee, das Wirtschafts- und Arbeitsleben radikal zu demokratisieren, ist wieder hochaktuell – auch wenn sie vielleicht zurzeit nur der kleinste gemeinsame Nenner auf der Suche nach Alternativen zur neoliberalen „Demokratie“ ist.

            „Eine Frage zum Schluss: (…) Wie wäre es, wenn wir uns die Definitionsmacht
darüber, was legitimerweise unter Wirtschaft verstanden werden kann, aneignen?
Wenn wir das, was gemeinhin unter Wirtschaft verstanden wird,
nicht mehr hinnehmen, sondern stattdessen darauf bestehen,
dass Wirtschaft dazu da sein muss, die Bedürfnisse aller Menschen auf
dieser Erde zu befriedigen, und dass dies eine Frage der Demokratie
und Menschenrechte ist? Müssten wir dann nicht aufhören,
die herrschende Ökonomie als Wirtschaft zu bezeichnen,
und stattdessen im Klartext sagen, dass es sich dabei
um Verbrechen handelt?“  (2)

 

Anmerkungen:

(1) Hans See: „Können wir Menschen gleichberechtigt zusammenarbeiten oder brauchen wir Chefs und Eigentümer? Erfahrungen bei der Glashütte Süßmuth GmbH“, in: Friedrich Heckmann/Eckart Spoo (Hg.): Wirtschaft von unten. Selbsthilfe und Kooperation, Heilbronn, 1997, S. 68

(2) Elisabeth Voß: „Solidarische Ökonomie“, in: Motz (Berliner Straßenmagazin), Ausgabe vom 8.5.2013, S. 5

 

Der Autor Joachim Maiworm
lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime.

 

 

Usedom-Krimi

Die Mühlen der Justiz mahlen im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern langsam, dafür manchmal auch gerecht. Innenminister Lorenz Caffier (CDU) unterlag am 13. August 2019 vor dem Landgericht Stralsund mit einer Klage auf Unterlassung und Zahlung von 2000 Euro Schmerzensgeld dem SPD-Mitglied Günter Jikeli. Dieser darf auch weiterhin behaupten, der Innenminister habe sich 2011 auf rechtswidrige Weise am Nepperminer See auf der Ferieninsel Usedom die Baugenehmigung für ein Ferienhaus verschafft.

Der CDU-Politiker hatte sich durch diese Behauptung diskreditiert gefühlt und geklagt. Die Richter sahen den Sachverhalt anders. Jikelis Behauptung habe zwar die Persönlichkeitsrechte des Ministers berührt, doch das Recht auf freie Meinungsäußerung wiege schwerer.

Ob der CDU-Politiker sich nun tatsächlich rechtswidrig eine Baugenehmigung inmitten eines Naturschutzgebietes verschafft hatte, war allerdings nicht Gegenstand des Verfahrens. Die Umweltschutzorganisation BUND fordert jedenfalls schon jetzt den Abriss des betreffenden sowie dreier weiterer Ferienhäuser.

Quelle: Ostsee-Zeitung.de vom 13. August 2019

 

 

Kollegiales Brevier

Gedanken und Vorschläge zur Gestaltung politischer Schriften

Politisch interessierte und zugleich engagierte Menschen sind oft ziemlich ratlos, wenn sie zum wiederholten Male feststellen müssen, dass sich viele Mitbürger*innen anscheinend kaum noch über die systematische Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen aufregen. Um das zu ändern, versuchen die Unermüdlichen unter ihnen, wenigstens die schlimmsten Machenschaften aufzudecken, indem sie Petitionen starten, (Volks-)Initiativen ins Leben rufen, Demos organisieren und/oder Vereine gründen.

Bestandteil all dieser aufklärerischen und widerständigen Bemühungen ist die Weiterverbreitung unterdrückter Informationen und die schriftliche Darlegung von Argumenten und Schlussfolgerungen. (Die Verbreitung von Propagandaschriften der radikalen Rechten klammere ich hier ganz bewusst aus.) Am Ende aller Bemühungen, größere Bevölkerungsgruppen aufzuklären und gegen die aufgezeigten Missstände zu mobilisieren, steht aber oft die frustrierende Erfahrung, dass die zu diesem Zweck verfassten Artikel und Bücher zumeist nur diejenigen erreichen, die ohnehin schon gut informiert sind.

Bei der Betrachtung der für das leider zunehmende Desinteresse an linksorientierten Argumenten häufig genannten Gründe fällt schnell auf, dass der Fokus auf dem nicht erreichten Publikum liegt. Allerdings geht es dabei nicht so sehr um direkte Beschuldigungen, sondern vielmehr um den Versuch, das Verhalten großer Teile der Bevölkerung als zwangsläufige Folge des neoliberalen Siegeszuges zu interpretieren. Hierzu einige Beispiele:

  • In unserem derzeitigen Schul- und Bildungswesen wird eigenständiges Denken und Handeln eher bestraft als gefördert.
  • Die Menschen werden dermaßen mit seichten Unterhaltungsangeboten überschwemmt, dass sie zu einem Verständnis anspruchsvollerer Inhalte schon gar nicht mehr in der Lage sind.
  • Die diversen Selbstoptimierungswellen haben dazu geführt, dass das Denken vieler Menschen nur noch um ihr Aussehen beziehungsweise ihr Erscheinungsbild kreist.
  • Die permanenten (nicht nur elektronischen) Reizüberflutungen verhindern ein längerfristiges Verweilen bei ein- und demselben Gegenstand.
  • Vor diesem Hintergrund durchbrechen nur noch Angst auslösende Signale das politische Desinteresse und befördern zugleich das Verweilen in den hierauf bezogenen „Filterblasen“.
  • Der tägliche Überlebenskampf der Geringverdiener und prekär Beschäftigten ist so kräftezehrend, dass eine Beteiligung am politischen Diskurs praktisch ausgeschlossen ist.
  • Die völlig Abgehängten haben mit ihren Perspektiven auch jede Würde und Selbstachtung verloren, was sie für gemeinschaftsschädliche Heilsversprechungen empfänglich macht.

Die Plausibilität der hier skizzierten Erklärungsversuche kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch selbst verursachte Gründe für die mangelnde Aufmerksamkeit gibt, von der nicht zuletzt jene Schriften betroffen sind, die sich explizit dem Gemeinwohl beziehungsweise den Belangen der weniger privilegierten Bürger*innen verpflichtet fühlen. Um es noch drastischer auszudrücken: Nicht selten sind ausgerechnet die aufklärerisch gemeinten Texte in einer elitären und damit abstoßenden Sprache verfasst.

Dabei gibt es meines Erachtens so etwas wie eine „intellektuelle Bringschuld“. Wer in seinem Leben eine gute (Aus-)Bildung genießen durfte, kann nicht einfach erwarten, dass diejenigen, denen es nicht so ergangen ist, bereit sind, sich nur deshalb mit schwer verständlichen Texten abzuquälen, weil es darin um eine Verbesserung ihrer Lebenssituation geht.

Umgekehrt kann aber von gut ausgebildeten Menschen, die es mit ihrem Anliegen ernst meinen, durchaus erwartet werden, dass sie sich um sprachliche Vereinfachungen bemühen. Wie so etwas gelingen könnte, soll hier in Form eines kleinen „kollegialen Breviers“ vorgestellt werden:

a)        Seid euch stets dessen bewusst, dass viele derjenigen, die ihr erreichen wollt, kaum Zeit haben und schon allein deshalb keine langen Texte lesen können.

b)        Greift beim Schreiben eurer Texte unbedingt die Fragen auf, die für die jeweiligen Betroffenen momentan im Mittelpunkt stehen.

c)         Drückt euch so verständlich und kurz wie möglich aus, auch wenn ihr dafür gegebenenfalls auf interkollegiale Hochschätzung verzichten müsst.

d)        Bemüht euch außerdem um eine Verdichtung der Kernaussagen zu zündenden Slogans, die aber eindeutig und sachlich richtig sein müssen.

e)        Fazit: Erhöht die potenzielle Wirksamkeit eurer Botschaften dadurch, dass ihr „Leserfreundlichkeit“ und zutreffende Inhalte miteinander kombiniert

f)         Scheut euch nicht vor der Verwendung ungewöhnlicher Darstellungsformen wie einst, als Fabeln oder Schwänke Träger widerständiger Gedanken waren.

Die Autorin

Magda von Garrel ist Sonderpädagogin und Diplom-Politologin