Werner Rügemer beschäftigt sich in seinem neuen Buch nicht primär mit Arbeitsunrecht. Und das Thema Wirtschaftskriminalität spielt darin auch nur eine untergeordnete Rolle. Rügemer liefert vielmehr eine Analyse der als Folge der Bankenkrise von 2007 begonnenen Orientierung kapitalistischer Großunternehmen weg von traditionellen Banken hin zu neuen Kapitalorganisationen.
Den Schwerpunkt des Buches bildet eine Analyse der Geschäftsmodelle von Kapitalriesen vom Schlage des Finanzgiganten BlackRock. Rügemer charakterisiert dieses und ähnliche Unternehmen als eine Art Superhirne des Großkapitals: Unternehmens- und Bankenvorstände, Versicherungen, Milliardärserben und Stiftungen würden gegen Zahlung vergleichsweise geringer Gebühren ihr Vermögen BlackRock und anderen Finanzakteuren anvertrauen und dabei immer reicher werden.
Wie Rügermer meint, sind Steuerhinterziehung durch systematische Nutzung von Finanzoasen sowie Insidergeschäfte bei diesem Unternehmensmodell mittlerweile eher die Regel als Ausnahme, verhängte Strafen würden aus der Portokasse beglichen. Diese neuen Großunternehmen hätten einen wesentlichen Anteil an der Entmachtung der Gewerkschaften, den innerhalb der letzten Jahrzehnte in Gesetzesform gegossenen sozialen Grausamkeiten und dem neoliberalen Durchmarsch auch in den Vorständen staatseigener Unternehmen.
Da die Mehrzahl dieser Unternehmen ihre Wurzeln in den USA habe, sei der wirtschaftliche Aufstieg der US-Wirtschaft und der zeitgleiche ökonomische Niedergang anderer Teilen der Welt maßgeblich von diesen neuen Finanzakteuren befördert.
In den letzten Kapiteln des Buches findet Rügemer lobende Worte für den chinesischen Weg in den Kapitalismus. Die kommunistisch geführten chinesischen Großunternehmen seien „geduldiger“; das chinesische Kapital würde sich mit niedrigeren Profitraten zufrieden geben. Die von den westlichen Finanzakteuren verursachte Schwäche ihrer jeweiligen Staatsmacht habe außerdem den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zusätzlich begünstigt. Zu dieser These kann man allerdings unterschiedlicher Meinung sein.
Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure PapyRossa Verlag, Köln 2018 357 Seiten, 19,90 Euro ISBN: 978-3-89438-675-7
Dass das Wintermärchen einer Fußball-Weltmeisterschaft zur Adventszeit 2022 im heißen Wüstenstaat Katar mit viel Geld ermöglicht wurde, dafür sprechen Indizien. Schließlich ist in der Welt des Fußballs, der „schönsten Nebensache der Welt“, vieles käuflich – außer den Schiedsrichtern, die ihr Gehalt dafür beziehen, dass sie bei den Spielen als „Unparteiische“ agieren und sich deshalb immer mal wieder beschimpfen lassen müssen. Der Versuch, sie zu bestechen, lohnt nicht, weil unter den Argusaugen der gegnerischen Mannschaft und des Publikums, und mittlerweile auch mit Hilfe des „Videobeweises“ ein betrügerisches Pfeifen schnell an den Tag käme.
Die Beweisführung für korruptive Verstrickungen im ganz großen Fußballgeschäft stellt sich hingegen schwieriger dar. Legale Transaktionen und illegitime Praktiken sind hier manchmal zu einem fast unentwirrbaren Knäuel miteinander verwoben. Oder wie will man es nennen, wenn der Sender Al Dschasira mitten im Bewerbungsverfahren für die WM 2022 der FIFA viele hunderte Millionen Dollar für die Senderechte anbot, für den Fall, dass die Weltmeisterschaft in Katar stattfände? Das berichtete jedenfalls n-tv am 10. März 2019. Dazu muss man wissen, dass Al Dschasira von Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani gegründet wurde, bis 2013 Oberhaupt des ölreichen Zwergstaates Katar. Dieses Angebot widersprach eklatant den Anti-Korruptionsregeln der FIFA.
Schon 2014 lieferte Thomas Kistner in seinem Buch „Fifa-Mafia“ Hintergründe zur WM-Vergabe an Katar. Glenn Jäger setzt die Recherche dazu nun akribisch und äußerst detailreich fort. Neben verschlungenen Geldflüssen, mehr oder weniger offenen Einflussnahmen und horrenden Investitionen des Emirats in den Fußballsport geht es auch um das Konfliktfeld Naher Osten und vor allem um die politischen und kommerziellen Interessen auf allen beteiligten Seiten. Jäger charakterisiert die Zusammenhänge wie folgt:
„Auf der einen Seite eine monarchistische Golfdiktatur, also ein System mit ausgeprägten Feudalstrukturen, das aber zugleich auf finanzkapitalistisches Umschaltspiel setzt. Auf der anderen demokratisch verfasste Staaten, die sich ihrerseits im Zeichen eines Finanzmarktkapitalismus mit schwindender demokratischer Kontrolle in einem tiefgreifenden Wandel befinden. Die teils desaströsen sozialen Verwerfungen auch in den westlichen Industriestaaten selbst sind es, die einen alarmierenden Begriff mehr und mehr auf die Tagesordnung setzen…
Jean Ziegler, ehemaliger Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, hält für die globalen Verhältnisse fest: ‚Wir erleben eine Refeudalisierung der Welt. Und diese neue Feudalmacht trägt das Antlitz der transkontinentalen Privatgesellschaften.‘ In seinem viel beachteten Buch ‚Imperium der Schande‘ weiß er ‚astronomische Gewinne‘ der ‚kapitalistischen Feudalsysteme‘ ebenso zu beziffern wie anschauliche Beispiele für ein rabiates Vorgehen der ’neuen Fürsten‘ zu geben. Was sich damit begreifen lässt: Zum ’neuen Adel‘ mag auch der eine oder andere ‚FIFA-Fürst‘ gehören, in jedem Fall aber die Vorstandsetagen jener Konzerne, die als bedeutende WM-Sponsoren im globalen Fußballspektakel ein glänzendes Geschäft und neue Absatzmärkte sehen.“ (S. 25)
Dass Katar sich ebenso wie Saudi-Arabien durch Unterstützung dschihadistischer Milizen am Versuch eines militärischen „regime change“ in Syrien beteiligte und ein dankbarer Abnehmer westlicher Rüstungsprodukte ist, war ein weiterer Grund dafür, dass Politiker wie der ehemalige französische Staatspräsident Sarkozy sich für die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft an das Emirat einsetzten. Auch die Arbeitsbedingungen auf den aus dem Sand wachsenden Baustellen dort waren für die Profiteure optimal. Es ging um „unermessliche Bauaufträge, die im Vorfeld der WM u.a. deutsche und französische Unternehmen erhielten“ (S. 291). Zwar hatte Franz Beckenbauer bei einem Besuch 2013 „keine Sklaven gesehen“, aber die Todesrate unter den „Gastarbeitern“ aus Indien und anderen Ländern sprach für sich. Inzwischen sind durch internationalen Protest einige Verbesserungen erreicht worden.
Noch in einem anderen Sinn ist die WM in Katar bezeichnend für den gegenwärtigen Stand der Dinge: „Diese WM wird uns einen Blick in eine gar nicht mehr so ferne Zukunft erlauben. Eine Sportveranstaltung wird nicht mehr für die Zuschauer vor Ort, nicht mehr als Bestandteil einer lokalen Kultur, nicht mehr als völkerverbindendes Fest gefeiert und gelebt. Ein globales Sportereignis ist nur noch eine reine Inszenierung, die über die verschiedensten Kanäle (die klassischen TV-Stationen werden die unwichtigsten sein) in die ganze Welt verbreitet wird. Als gewaltige Vergnügungs-, Werbe- und Geldmaschine.“ („Fußballkultur in Katar?“, www.watson.de, 10. März 2019) Glenn Jäger beschreibt in seinem Buch, wie diese Inszenierung derzeit vorbereitet wird.
Was könnte gegen „mafiöse Geschäfte im internationalen Fußball“ und „kaum noch zu durchschauende Netzwerke“ getan werden? Der Autor schlägt vor: „Für die heutige Zeit wäre dafür eine Unterstellung der FIFA unter die Vereinten Nationen (…) durchaus hilfreich“ (S. 295). Nach den unzureichenden Versuchen zur inneren Reform wäre das ein Schritt zu einer möglichen demokratischen Kontrolle der FIFA und zu ihrer Entflechtung von den Interessen multinationaler Unternehmen. Auch solle keine Fußball-WM mehr an ein Land vergeben werden, das in den letzten zehn Jahren einen Angriffskrieg führte oder ihn aktiv unterstützte. „2006 hätte demnach keine WM in Deutschland ausgetragen werden können, und wäre ihre Vergabe noch so sauber gewesen“ (S. 297). Die „eigentliche Baustelle“, meint Jäger, sei aber die herrschende neoliberale Politik. Jede noch so kleine lokale Initiative gegen sie und ihre schädlichen Auswirkungen sei wichtig. Das Buch endet mit der Aufforderung: “Das Spiel zurückzuholen, ist an uns. Unbenommen: Der Weg ist weit zu einem neuen Gesang. Gehen wir gleich.“
Glenn Jäger:
In den Sand gesetzt. Katar, die FIFA und die Fußball-WM 2022 PapyRossa Verlag, Köln 2018 311 Seiten, 16,90 Euro ISBN: 978-3-89438-662-7
Im Fall der Cum-Ex-Steuerhinterziehung ließen sich Banker, Aktienhändler und Kapitalanlagefonds über Jahre eine nur einmal gezahlte Kapitalertragsteuer mehrfach zurückerstatten. Mehr als 30 Milliarden Euro sollen so am Fiskus vorbeigeschleust worden sein. Nach 2012, als mit einer Gesetzesänderung die Geschäfte unmöglich gemacht worden waren, begann die juristische Aufarbeitung. „Weil das für ausländische Firmen zuständige Bundeszentralamt für Steuern in Bonn sitzt und die Staatsanwaltschaft Köln die meisten Verfahren führt, wird sich vor allem in Nordrhein-Westfalen entscheiden, ob es dem Staat gelingt, die verlorenen Milliarden einzutreiben und Beteiligte anzuklagen“, schriebt die Süddeutsche Zeitung am 24. März 2019.
Offenbar verfügt das Land NRW über zu wenige Ermittler, um mit Umfang und Komplexität der Cum-Ex-Fälle fertig zu werden. Die Aufarbeitung geht also nur schleppend bis überhaupt nicht voran. Sebastian Fiedler, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, befürchtet, dass viele Fälle aus Kapazitätsmangel nie aufgearbeitet würden, mutmaßliche Steuerhinterzieher straffrei davonkämen und das Geld nicht zurückgefordert werden könnte. Mindestens 50 weitere Ermittler in NRW müssten eingesetzt werden, um die die mehreren hundert Verdachtsfälle abarbeiten zu können.
Nach dem großen Steuerbetrug wartet nun also der nächste Skandal: Die Verjährung einiger Cum-Ex-Fälle in NRW.
In der letzten Märzwoche schaffte es das Thema Wirtschaftskriminalität bis zum Aufmacher auf der Titelseite der Berliner Morgenpost. Denn die Schadenssumme durch Wirtschaftskriminalität in Berlin ist 2018 gegenüber dem Vorjahr um 300 Millionen Euro auf knapp eine Milliarde Euro gestiegen. Die Stellen in der zuständigen Abteilung beim Landeskriminalamt (LKA) aber wurden seit 2014 um mehr als die Hälfte reduziert (von 441 Vollzeitstellen auf 211). Das berichtete die Zeitung am 25.3.2019. Der Grund dafür ist laut Gewerkschaft der Polizei (GdP) die Verschiebung von Stellen in andere Abteilungen. Die Zeitung zitiert den Chef des LKA, Christian Steiof, mit den Worten: „„Die Wirtschaftskriminalität haben wir in den letzten Jahren, ich würde mal fast sagen, systematisch an die Wand gefahren.“ Als Grund für den Personalabbau führte er die „extrem aufwendigen Verfahren“ an, während die Ergebnisse vor Gericht „ziemlich dünn“ seien. Zumindest in diesem Bereich scheint die Berliner Politik nicht an einem angemessenen Verfolgungsdruck interessiert zu sein.
Am 21. März 2019 hat der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und der Grünen ein Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen beschlossen. Der ursprüngliche Entwurf war zunächst umstritten, weil kritisiert worden war, Whistleblower und Journalisten könnten in ihrer Arbeit kriminalisiert werden. Neu ist jetzt vor allem, dass beide Personengruppen ausdrücklich gesetzlich vor Strafverfolgung geschützt sind, wenn sie Geschäftsgeheimnisse offenbaren. Der Schutz gilt nicht nur, wenn sie „rechtswidriges“ Verhalten eines Unternehmens aufdecken, sondern auch bei der Enthüllung „sonstigen Fehlverhaltens“. Journalisten können nicht wegen der Verletzung von Geschäftsgeheimnissen strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie aus internen Firmenunterlagen zitieren.
Während des Gesetzgebungsverfahrens hatten sich viele Organisationen und Verbände aus dem bürgerrechtlichen Spektrum für die Rechte von Hinweisgebern und Journalisten eingesetzt. Im Parlament taten sich deshalb Abgeordnete aus der Großen Koalition zusammen, beantragten Änderungen an der Gesetzesvorlage und setzten sich im Sinne eines verbesserten Schutzes von Journalisten und Whistleblowern gegen den Willen der Regierung durch.
Correctiv, nach Selbstauskunft „das erste gemeinnützige Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum“, sprach deshalb in einem Artikel von einer „Sternstunde des Parlaments“.
Joachim Maiworm über Alex Demirović (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie neu denken und Gustav Bergmann/Jürgen Daub/Feriha Özdemir (Hg.): Wirtschaft demokratisch. Teilhabe, Mitwirkung, Verantwortung
„Warum bewegt die Wirtschaftsdemokratie immer noch die Linken? Und warum bewegt sie nicht viel mehr Leute im progressiven Lager?“ Die vom Journalisten Tom Strohschneider Ende des vorigen Jahres in einem Beitrag für die Zeitung Oxi aufgeworfenen Fragen verweisen auf ein grundlegendes Dilemma in der linken Auseinandersetzung um das Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft. Das „klassische“ Grundproblem der Wirtschaftsdemokratie lautet dabei bekanntlich: Wie kann die auf das politische System beschränkte Demokratie in die von autoritären Praktiken geprägte Wirtschaft ausgedehnt werden? Wie lässt sich ein evolutionäres „Hineinwachsen“ demokratischer Bürgerrechte in die Sphäre der demokratiefreien Ökonomie denken?
Angesichts der anhaltenden kapitalistischen Vielfach-Krise sollte die zentrale Forderung der historischen Arbeiterbewegung – die Sicherstellung des Primats der Politik gegenüber der Ökonomie und damit deren Demokratisierung – eigentlich bei betroffenen und politisch engagierten Menschen dauerhaft ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Seit den 1920er Jahren, in denen vor allem sozialdemokratische Gewerkschafter*innen Ideen und Konzepte für eine Wirtschaftsdemokratie entwickelten, kann man hingegen beobachten, dass das Thema immer wieder in Vergessenheit gerät. Es pflegt aber auch periodisch neu zu erwachen und hin zu einer Aktualisierung zu drängen.
Die Frage einer möglichen Demokratisierung der Wirtschaft erregte im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 bei Gewerkschaften und linken Theoretikern vorübergehend wieder mehr Aufmerksamkeit. Bis dann die Debatten, wie stets, nach wenigen Jahren wieder abebbten. Wie zwei aktuell erschienene Sammelbände zeigen, scheint sich das Interesse am Gegenstand aber wieder einmal neu zu beleben. Beide Studien lassen sich gewinnbringend parallel lesen und helfen dabei, sich eine Orientierung über die Vielschichtigkeit des Themas zu verschaffen.
Beide Bücher bieten ein weit gefächertes Angebot an Sichtweisen, überschneiden sich allerdings teilweise in ihren Problemstellungen: Wenn es etwa um die verfassungsrechtlichen Bedingungen einer Demokratisierung der Ökonomie geht, eine Reform des Unternehmensrechts diskutiert und die Frage nach der Legitimität des privaten Eigentums an Produktionsmitteln aufgeworfen wird, oder aber wenn Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Alternativökonomie angestellt werden.
Bemerkenswert ist, dass die erneut in Gang kommende Debatte diesmal nicht allein von Kreisen der politischen Linken ausgeht, sondern auch von Teilen des „aufgeklärten“ Managements und des universitären Forschungsbetriebs getragen wird. Aus Sicht unternehmerischer Führungskräfte sorgt die technologische Entwicklung der Produktivkräfte (Stichwort: „Digitalisierung“) bereits seit Jahren dafür, dass antiquierte Führungsstile in Unternehmen an Grenzen stoßen und in einzelnen Branchen Platz für ein neues intelligentes Management geschaffen wird.
Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften haben sich unter dem Label „Plurale Ökonomik“ Lehrende und Studierende zusammengefunden, die den Schulterschluss mit den Sozial- und Geisteswissenschaften suchen, um gesellschaftskritische Denkansätze (zum Beispiel Postwachstum und Ökologie) auch in ihrem Studiengang zu fördern – und dabei aufgeschlossenen Führungskräften in der Wirtschaft beratend zur Seite stehen. Der Begriff der Wirtschaftsdemokratie lässt sich dadurch allerdings nur noch schwer fassen und berührt mosaikartig eine Vielzahl von Aspekten.
„Wirtschaftsdemokratie neu denken“
Der vor allem in linken Kreisen bekannte Frankfurter Sozialwissenschaftler Alex Demirović gilt seit vielen Jahren als Experte für diesen Themenkomplex. Die meisten Beiträge des von ihm herausgegebenen Buches „Wirtschaftsdemokratie neu denken“ basieren auf der Prämisse, dass Defizite und Erosion von Mitbestimmung in den Betrieben oder Unternehmen eine kritische Überprüfung des Konzeptes von Wirtschaftsdemokratie nötig machen. Die beiden ersten Aufsätze, verfasst von Heinz Bierbaum und Richard Detje/Dieter Sauer, die jeweils im gewerkschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Umfeld arbeiten bzw. forschen, führen dabei überzeugend in wesentliche Schlüsselfragen des Themas ein.
Heinz Bierbaum, zwischen 1980 und 1996 Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall, vertritt ein Konzept von Wirtschaftsdemokratie, welches über den Kapitalismus hinausweist und eine gesellschaftliche Steuerung der Wirtschaft anstrebt. Für Bierbaum bildet die Mitbestimmung zunächst den Referenzpunkt: „Die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie ergibt sich geradezu aus der Kritik und den Grenzen eben der Mitbestimmung. Ein wesentlicher Ausgangspunkt ist die fehlende wirtschaftliche Mitbestimmung, die auf der betrieblichen Ebene überhaupt nicht gegeben und auf Unternehmensebene nur in verkümmerter Form vorhanden ist.“ (Seite 14)
Der Autor reflektiert damit die historisch gescheiterten Versuche einer Umsetzung der Idee von der Demokratisierung der Wirtschaft. In den 1920er Jahren noch als Übergang in eine sozialistische Gesellschaftsordnung gedacht, mutierte sie nach 1945 zu einer zentralen Stütze der Integration der Arbeiter*innen in die betriebliche Herrschaft („Sozialpartnerschaft“). Wirtschaftsdemokratische Initiativen setzen nach Bierbaum zwar auf der einzelwirtschaftlichen Ebene an (steuernder und kontrollierender Einfluss auf die Investitions-, Beschäftigungs- und Arbeitspolitik der Unternehmen), müssen aber in übergreifende Konzepte eingebunden werden (zum Beispiel volkswirtschaftliche Rahmenplanung). Ein wesentliches Hindernis für die wirtschaftsdemokratischen Zielsetzungen sind für ihn die Eigentumsverhältnisse. Solange die Produktionsmittel sich in privaten Händen befinden, ließe sich eine Wirtschaft, die sich am gesellschaftlichen Bedarf orientiert, nicht verwirklichen.
Bierbaum zeigt sich somit als typischer Vertreter des ursprünglichen Konzepts der Wirtschaftsdemokratie, indem er sich für eine sozialistische Transformation einsetzt, also für eine Politik der schrittweisen Veränderungen, durch die die Bedingungen für einen Sozialismus nach und nach geschaffen werden sollen. Allerdings zweifelt er an der Konfliktbereitschaft von gewerkschaftlichen und betrieblichen Vertreter*innen als mögliche Träger einer ökonomischen Demokratisierung. Einen vorsichtigen Ausweg sieht er in der Mitarbeiterbeteiligung, womit er nicht eine Partizipation am Gewinn, sondern am Unternehmen selbst meint. Nur durch die Wiederaneignung der durch die Arbeit geschaffenen Werte könne wirksam Einfluss auf die Unternehmenspolitik genommen werden. Die Solidarwirtschaft würdigt der Autor, weil sie zeige – wenn auch in ihrer Reichweite sehr begrenzt –, dass innerhalb kapitalistischer Verhältnisse andere Formen des Wirtschaftens möglich seien.
An dieser negativen Einschätzung knüpfen die beiden Sozialforscher Richard Detje und Dieter Sauer an, die auf Basis eigener Befragungsstudien über die Auswirkungen jahrzehntelanger neoliberaler Herrschaft auf die „Tiefenstrukturen des Alltagsbewusstseins“ berichten. Sie bestätigen die Ergebnisse auch anderer sozialwissenschaftlicher Studien, nach denen eine zunehmende Delegitimierung des politischen Systems nicht zu einer Systemkritik am Kapitalismus geführt habe. Detje und Sauer sehen eine Ursache in einer fehlenden glaubwürdigen und offensiv vertretenen linken Alternative, die nur Passivität oder einen Rückzug ins Irrationale offen lässt (Seite 26).
Die pessimistische Krisenanalyse der beiden Autoren basiert unter anderem auf dem Formwandel der Herrschaft in der Arbeitswelt (indirekte Steuerung als neuer Zwangszusammenhang). Mitbestimmung sei heute „zu einem Governance-Konzept einer kooperierenden Modernisierung in den Unternehmen“ geworden. Dem Governance-Diskurs liegt bekanntlich die Prämisse zugrunde, es sei für das Management effizienter, autoritäre Anweisungen „von oben“ durch eine egalitäre Einbindung der Beschäftigten zu ersetzen – zweifellos eine mittlerweile etablierte Form innerbetrieblicher Herrschaft.
In einem weiteren Beitrag skizziert Andreas Fisahn, Professor für Öffentliches Recht, den wichtigen Zusammenhang von Wirtschaftsdemokratie und Rechtsgeschichte und klopft das Thema auf seine verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen ab, untersucht insbesondere die Frage, wie weit eine Demokratisierung der Wirtschaft verfassungsrechtlich gehen kann (Enteignung, Vergesellschaftung). Bezugnehmend auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts vertritt er den Standpunkt einer wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes, um die Idee des Primats der Politik gegenüber ökonomischer Entscheidungsgewalt zu stärken.
Alexandra Scheele, Arbeits- und Wirtschaftssoziologin, knüpft mit dem Begriff der Geschlechterdemokratie an den Begriff der Wirtschaftsdemokratie an. Sie moniert, dass die fehlende Beteiligung von Frauen an den wirtschaftlichen Entscheidungen auf allen Ebenen der Arbeitspolitik keine besondere Berücksichtigung erfährt. Die Demokratisierung der Wirtschaft müsse über den „klassischen“ Begriff der Wirtschaft hinausgehen, das „Ganze der Arbeit“ (also einschließlich der Reproduktionsarbeit) so zum Gegenstand demokratischer Entscheidungen werden. Wirtschaftsdemokratie sei insofern als Geschlechterdemokratie zu entwerfen. Martin Beckmann, Referent unter anderem für Dienstleistungspolitik bei der ver.di-Bundesverwaltung, unterstreicht in seinem Beitrag eine steigende Relevanz des öffentlichen Eigentums auf kommunaler Ebene für die letzten Jahre, will aber noch nicht von einer allgemeinen Trendumkehr bei der Privatisierungspolitik sprechen.
Weitere Beiträge des Buches behandeln die demokratischen Potenziale des Gesundheitssystems (Beispiel Krankenhaus) und des Bildungswesens, demokratische Unternehmen in Belegschaftsbesitz, selbstverwaltete Betriebe als alternative Wirtschaftsmodelle und internationale Erfahrungen (Selbstverwaltungssystem im sozialistischen Jugoslawien sowie Beispiel von Arbeiter*innen aus verschiedenen Kontinenten, die die kollektive Kontrolle über ihre Arbeitsplätze übernahmen).
Die Herausgeberinnen des Bandes „Wirtschaft demokratisch. Teilhabe, Mitwirkung, Verantwortung“ sowie mehrere der insgesamt 16 Autorinnen forschen und lehren am Lehrstuhl für Innovations- und Kompetenzmanagement an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Siegen. Seit einigen Semestern werden einige der im Buch versammelten Forschungsfragen in Seminaren und Vorlesungen im dortigen Studiengang Plurale Ökonomie erörtert, den Herausgeber Bergmann mit initiiert hat. Im Mittelpunkt ihres Sammelbandes steht die bürgerrechtlich hergeleitete Idee, eine „demokratiekonforme Marktwirtschaft“ zu ermöglichen, die auf einer Vielfalt von Beteiligungs- und Partizipationsformen für die Beschäftigten sowie einer neuen Unternehmensform gründen soll.
Was muss geschehen, damit „Arbeitnehmerinnen“ in einem Betrieb oder Unternehmen ihren Bürgerstatus beibehalten können? Wie können sie mitgestalten und mitentscheiden? Die Herausgeberinnen definieren im einleitenden Beitrag drei wesentliche Forschungsfelder, die auch den Band inhaltlich strukturieren: „Teilhabe“, „Partizipation“ und „Verantwortung“. Zunächst wirft der erste Teil die Frage nach einer „gerechten“ Beteiligung der Mitwirkenden am ökonomischen Erfolg auf und bringt eine neue Rechtsform von Unternehmen ins Spiel, die eine solche Beteiligung ermöglichen soll. Im zweiten Abschnitt wird das Potenzial der deliberativen Entscheidungsfindung in Unternehmen oder Organisationen untersucht (moderne Partizipationskultur). Der letzte Teil schließlich diskutiert die gesellschaftliche Verantwortung bzw. die „mitweltverträgliche“ Unternehmenspolitik. Dabei spielt das Problem der gegenwärtigen Haftungsbegrenzung bei den Eigentümern eine entscheidende Rolle. Die drei Themenfeldern decken aus Sicht der Herausgeber*innen den Komplex „Wirtschaftsdemokratie“ angemessen ab. Der Fokus liegt eindeutig auf der einzelbetrieblichen Ebene, denn in sieben der 16 Texte werden Einzelaspekte des „demokratischen Unternehmens“ behandelt.
Andreas Neumann, Geschäftsführer eines AWO-Kreisverbandes, stellt seine Idee einer neuen Unternehmensform vor, die alle beteiligten Akteure am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben lässt. Neben den bestehenden Unternehmensverfassungen soll eine weitere etabliert werden, die eine „faire“ Verteilung der Wertschöpfung unter den Stakeholdern (Kapitalgeber, Beschäftigte, Staat) garantiert. Sein Modell sieht vor, dass der Staat in einem ersten Schritt auf die gewinnbasierte Körperschaftssteuer verzichtet, wodurch der Verteilungsspielraum erhöht wird. Die Kapitalgeber erhalten einen Anspruch auf eine feste Verzinsung, da sie das unternehmerische Risiko tragen. Jeder darüber hinausgehende Gewinn wird nach einem festzulegenden Schlüssel an Beschäftigte und Staat verteilt. Der Autor will die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens in jedem Fall schützen, tritt aber zugleich dem Narrativ entgegen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erfordere eine anhaltende Lohnzurückhaltung. Aus Sicht Neumanns stellt sich auf diese Weise eine Win-Win-Win-Situation in einer „demokratiekonformen Marktwirtschaft“ bzw. in einem „demokratischen Unternehmen“ ein.
Der Beitrag von Heinz-J. Bontrup, Wirtschaftsprofessor in Gelsenkirchen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik („Memorandum-Gruppe“), fällt insofern aus dem Rahmen des Sammelbandes, als er den Fokus nicht in erster Linie auf Veränderungen in den Unternehmen legt, sondern zunächst die ideologischen Verblendungen der Marktapologeten aufs Korn nimmt. Entgegen der „behaupteten ‚Wettbewerbswelt‘“ erkennt er „ungeheure Machtzusammenballungen“ bei den Kapitalgesellschaften und Konzernen, die die Welt beherrschen (Seite 41). Durch das neoliberale Dogma und die Herrschaft der Finanzmärkte sei der Einfluss von Politik und Gewerkschaften immer weiter erodiert, mit dem Ergebnis einer extremen Umverteilung beim Volkseinkommen. Daneben kritisiert er die Asymmetrie der Verfassung und des nachgeordneten Arbeitsrechts, da das Kapital einseitig dominiere. Ohne – auch verfassungsrechtliche – Einschränkungen der Kapitalmacht seien wirtschaftsdemokratische Verhältnisse als ein Gegenmittel gegen die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ der „marktkonformen Demokratie“ nicht möglich.
Bontrup bietet insgesamt eine auf 33 Seiten angelegte und mit empirischem Material angereicherte fulminante Beschreibung der gegenwärtigen Verfassung der kapitalistischen Ökonomie. Allzu viel Hoffnung macht der Autor den Freundinnen und Freunden der Idee einer Wirtschaftsdemokratie jedoch nicht: „Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, wie schwer die Umsetzung einer Wirtschaftsdemokratie in den Unternehmen ist.“ (Seite 52)
Im Anschluss an die weit angelegte polit-ökonomische Analyse von Bontrup diskutiert Jürgen Daub, wie eine Demokratisierung betrieblicher Sozialverhältnisse im Rahmen der veränderten Produktionsverhältnisse möglich ist. Mit seinem Ansatz des „Industrial Citizenship“ ist die Ausweitung allgemeiner Bürgerrechte auf den Produktionsbereich gemeint („Wirtschaftsbürger am Arbeitsplatz“). Mit dem Begriff grenzt sich Daub von der Mitbestimmung im klassischen Sinn ab, die als „Pazifizierung des Klassengegensatzes“ verstanden keine allgemeine staatsbürgerliche Demokratieerweiterung in die Unternehmen darstelle. Er zitiert aus einer Monographie von Alex Demirović aus dem Jahr 2007, in der dieser schreibt, dass beispielsweise Betriebsratsarbeit „nicht (…) als solche schon als demokratische Beteiligung aufgefasst“ werden kann (Seite 75). Wirtschaftsbürgerrechte bezeichnet Daub dagegen als einen „zutiefst liberalen Ansatz“ (Seite 78), der auf der Grundlage von Bildung für alle einen „fairen“ Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und Fürsorge garantieren soll. Wie dieser Ansatz praktische Umsetzung erfahren kann, erläutert der Autor in seinem Aufsatz allerdings nicht. Dies bleibt anderen Autoren und Autorinnen des Buches überlassen, die in mehreren Texten vielfältige Formen der Partizipation in Unternehmen beschreiben.
Begriffe wie „agile Unternehmen“, „soziokratische Unternehmensführung“, „holokratische Formen der Entscheidungsfindung“ oder schlicht „Scrum“ verweisen auf Managementmethoden, die vermutlich einem Großteil der Leserschaft dieser Rezension nicht viel sagen, aber allesamt bezwecken, die Mitarbeitenden jenseits einer autoritären Unternehmensführung in Prozesse der Entscheidungsfindung am Arbeitsplatz einzubeziehen. „Scrum“, so viel sei immerhin verraten, kommt aus dem Rugby und meint das dichte, angeordnete Gedränge und wird für die kleinen, selbstorganisierten Teams in Unternehmen verwendet (Seite 157). Die eigentliche Zielstellung der managementorientierten „Demokratisierungsansätze“ wird allerdings im Buch klar angesprochen. Der Abbau von Hierarchien in Unternehmen, in denen neue technologische Möglichkeiten (Digitalisierung) ein entscheidende Rolle spielen und deren Chefs auf die Entfaltung der Kreativität der Mitarbeitenden angewiesen sind, wird als notwendig erachtet, um wettbewerbsfähig zu bleiben (Seite 176).
Fazit
Die Idee der Wirtschaftsdemokratie wird mittlerweile nicht mehr allein aus sozialistischer oder gewerkschaftlicher Perspektive thematisiert. Mit ausgeklügelten Methoden versucht auch das moderne Management, mittels Anerkennung und einer Vielfalt an Partizipationsformen intensive Bindungen an die Unternehmen zu erzeugen und damit ein effektiveres Arbeiten zu ermöglichen. Dabei können zweifellos reale Freiheitsgewinne entstehen, wie sie insbesondere im Band „Wirtschaft demokratisch“ als eine Form der Demokratisierung gedeutet werden. Die sich aufdrängende Ambivalenz bleibt allerdings in den managementorientierten Beiträgen des Buchs weitgehend ausgeblendet. Die verschiedenen Blickwinkel, aus denen der Komplex Wirtschaftsdemokratie bearbeitet wird, erzeugt zudem eine problematische Unübersichtlichkeit.
Da die nicht nur von der Arbeiterbewegung vertretende tradierte Vorstellung, Demokratie einfach so auf das ökonomische Leben auszuweiten, nicht mehr trägt, muss – so der Tenor des von Alex Demirović herausgegebenen Buches – eine Erweiterung der Idee der Wirtschaftsdemokratie erfolgen. Das trägt allerdings dazu bei, den Sinngehalt des Begriffs weiter aufzulösen. „Wirtschaftsdemokratie“ droht somit zu einem Container-Begriff zu werden, dem beliebige Bedeutungen beigemessen werden können. Dieser Falle ist jedoch kaum zu entkommen. Es kann somit festgestellt werden: Die in den beiden Bänden versammelten Aufsätze tragen eine Fülle von relevanten Aspekten zum Thema zusammen, die die Leser*innen selbst zu einer brauchbaren Essenz umformen müssen, damit in ihren Köpfen ein fassbares „Konzept“ von Wirtschaftsdemokratie entstehen kann.
Aufgrund der zahlreichen vorgestellten Perspektiven lassen sich selbstverständlich weitere Kritikpunkte nennen. Zu erwähnen bleibt vor allem das grundsätzliche Problem, dass die Idee einer Demokratisierung auch der Wirtschaft Illusionen eines harmonischen Zusammenwirkens von Unternehmern und abhängig Beschäftigten fördern können. So schreiben Bergmann & Co in ihrer Einleitung, dass Lösungen eher akzeptiert werden und qualitativ besser sind, „wenn alle Interessen und Sichtweisen berücksichtigt werden“ (Seite 11). Gerät wirtschafts- oder sozialwissenschaftliche Theorie zu einer Konsensmaschine, werden allerdings reale Interessengegensätzen verschleiert.
Natürlich muss man konstatieren, dass die Autor*innen beider Bände keine Antwort auf eine der entscheidenden Schlüsselfragen geben können, die sich alle diejenigen zu stellen haben, die daran festhalten, dass die Demokratisierung von Betroffenen getragen und nicht für sie organisiert werden soll: Wie kann eine andere Form der Steuerung der Wirtschaft gekoppelt werden mit der (Selbst)Aktivierung „von unten“? Wer soll die Veränderungen herbeiführen? Dass angesichts des neoliberal geformten Alltagsbewusstsein der Menschen die Verfasserinnen der Aufsätze ebenso hilflos vor diesem Problem stehen wie die meisten Leserinnen und Leser, kann ihnen deshalb nicht angelastet werden.
Deutlich wird, dass ausgearbeitete (Denk-)Modelle lediglich Orientierungen bieten und nur begrenzt weiterhelfen können. Die Theoretiker*innen der Wirtschaftsdemokratie müssen letztlich darauf setzen, dass die Praxis der Menschen selbst emanzipatorische Politik in Bewegung setzt – und sich von deren Ideen durchaus inspirieren lässt. Beide Bücher bieten in jedem Fall genügend analytischen Stoff für eine intelligente Auseinandersetzung über Anachronismus und Aktualität der Wirtschaftsdemokratie.
Gustav Bergmann/Jürgen Daub/Feriha Özdemir (Hg.): Wirtschaft demokratisch. Teilhabe, Mitwirkung, Verantwortung V&R unipress, Göttingen 2019 353 Seiten, 30,00 Euro ISBN 978-3-8470-0927-6
NGOs wenden sich in einer öffentlichen Aktion gegen den intransparenten Einfluss kommerzieller Interessen auf politische Institutionen. So teilten Lobbycontrol und Foodwatch im Februar mit, dass beispielsweise Coca-Cola die rumänischen EU-Ratspräsidentschaft sponsert– und zugleich gegen höhere Recyclingvorgaben oder eine in vielen EU-Ländern diskutierte Zuckersteuer kämpft. Österreich ließ seine EU-Ratspräsidentschaft 2018 unter anderen von Porsche und Audi finanziell fördern, Malta vor zwei Jahren von Konzernen wie BMW oder Microsoft. „Bei den Ratspräsidentschaften geht es mitunter zu wie bei einer Formel-1-Veranstaltung oder den Pressekonferenzen der UEFA-Champions-League. Konzernlogos, so weit das Auge reicht“, heißt es in einem Newsletter von Lobbycontrol. Die Organisation kritisiert den „Kuschelkurs“ mit den Konzernen und stellt die Frage, ob sich Deutschland bei seiner Präsidentschaft 2020 ebenfalls sponsern lässt. Denn auch hierzulande unterstützen Konzerne Ministerien und staatliche Einrichtungen, Parteien und ihre Jugendorganisationen. Aktuell fehlt es laut Lobbycontrol beim Parteisponsoring an Transparenz und Regeln. Kein Wunder, so heißt es, dass immer mehr Unternehmen nicht mehr auf Parteispenden sondern auf Sponsoring setzen. Auch Foodwatch fordert nachdrücklich klare Richtlinien beim Sponsoring von politischen Organen durch Unternehmen, um Interessenkonflikte zu vermeiden.
Oxfam-Aktivist*innen demonstrierten am 14. Februar 2019 unter dem Motto „Aldi, du brichst uns das Herz!“ vor Filialen des Discounters in Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und den USA. Sie wollten damit auf Menschenrechtsverletzungen in Aldis Lieferkette aufmerksam machen.
Die Hilfsorganisation hatte im Juni des letzten Jahres einen Report über Supermarktkonzerne und ihre Zulieferer veröffentlicht. Die Geschäftspolitik der vier deutschen Handelsunternehmen Lidl, Aldi, Rewe und Edeka kamen dabei weit schlechter weg als die ihrer Konkurrenten aus Großbritannien und den USA, wie beispielsweise Walmart, Tesco oder Sainsbury’s. Oxfam hatte die Bedingungen in vier Bereichen überprüft: Transparenz und Rechenschaftslegung, Umgang mit Kleinbauern, Beachtung der Rechte von Frauen sowie Schutz der Arbeitskräfte. Vor allem entsprechen die Bedingungen, unter denen die Lebensmittel in den ärmeren Weltregionen für die deutschen Einzelhandelsriesen produziert werden, häufig nicht den internationalen Arbeits- und Menschenrechtsstandards.
Das Besondere der Kampagne ist, dass Oxfam nicht die Lebensmittelproduzenten ins Visier nimmt, sondern bei den Supermärkten ansetzt. Damit reagiert die Organisation auf das gestiegene Machtpotenzial von Aldi & Co. Aldi hatte als Reaktion auf die Studie von Mitte 2018 Verbesserungen angekündigt, verschweigt jedoch nach Angaben von Oxfam nach wie vor, wo und unter welchen Bedingungen die vom Konzern vertriebenen Lebensmittel produziert werden.
2012 starben in Pakistan 258 Beschäftigte eines Zulieferers des Textil-Discounters KiK bei einem Fabrikbrand. Die Frage nach der Verantwortung des deutschen Unternehmens bleibt jedoch ungeklärt. Das Landgericht Dortmund wies am 10. Januar 2019 die Klage von vier pakistanischen Betroffenen, die die Mitverantwortung von KiK für den mangelnden Brandschutz in der Fabrik klären sollte, wegen Verjährung ab. Die Kläger hatten ein Schmerzensgeld von je 30.000 Euro gefordert. Unterstützt wurden sie in dem Verfahren von den NGOs European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) sowie Medico International.
Kritische Stimmen wiesen nach der Entscheidung auf die unzureichenden gesetzlichen Grundlagen in Deutschland hin, um deutsche Firmen bei Menschen- und Arbeitsrechtsverstößen im Ausland zur Verantwortung ziehen zu können. Es fehlten klare gesetzliche Regelungen unternehmerischer Sorgfaltspflichten auf europäischer und weltweiter Ebene. Das Verfahren sollte aus Sicht der Kläger und der sie unterstützenden Organisationen deutlich machen, dass Unternehmen wie KiK für Mindeststandards in Zulieferbetrieben rechtlich einzustehen haben, also global agierende Konzerne auch für lebensgefährliche und ausbeuterische Arbeitsbedingungen in ihren Tochter- bzw. Zulieferbetrieben verantwortlich sind.
Freiwillige Selbstverpflichtungen der Unternehmen reichen offensichtlich nicht aus, um menschenwürdige Standards zu garantieren. Und die Politik hat kein Interesse, Konzerne überprüfbar auf die Einhaltung der Menschenrechte zu verpflichten. Auf die Frage, wie wirkungsvoll aber rechtliche Verfahren überhaupt sein können, gegen ausbeuterische Verhältnisse in global agierenden kapitalistischen Unternehmen vorzugehen, antwortet die Rechtsanwältin Miriam Saage-Maaß vom ECCHR aber verhalten optimistisch:
„Rechtliche Verfahren haben ihre Grenzen, weil sie systemimmanent argumentieren. Dennoch beinhalten sie emanzipatorisches Potential. Recht ist nicht nur der Ausdruck des ökonomischen und politischen Status quo, sondern eröffnet auch Handlungsräume, in denen bestehende soziale und politische Machtverhältnisse in Frage gestellt werden können. Das Recht ermöglicht Arbeiterinnen und Arbeitern aus Pakistan, vor ein deutsches Gericht zu ziehen. Das ist ein Akt der Selbstermächtigung. Sie können verlangen, dass drei Richter in Dortmund sich mit ihrem Fall beschäftigen und das Unternehmen KiK seine Anwälte einschalten muss. Das ist systemimmanent, fordert das System aber heraus.“ („Verfahren haben emanzipatorisches Potential“, Ein Gespräch von Gitta Düperthal mit Miriam Saage-Maaß, Junge Welt,12.1.2019)
Einleitung: Um den Fall zu verstehen Die 2008 offen zutage getretene Weltwirtschaftskrise hat die Bedeutung des Finanzsektors auf den Märkten für landwirtschaftliche Nutzflächen auf der ganzen Welt verstärkt (Sassen 2016). In dieser Situation global zunehmender ökonomischer Instabilität ist die Bodenspekulation ein wesentlicher Faktor für die Zirkulation und Verwertung des Finanzkapitals Dieser Trend wird von transnationalen Hedge-, Investment- und vor allem Rentenfonds verstärkt, die allesamt auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten sind.
Die Krise veränderte das Profil der brasilianischen Agrarindustrie. Es kam zu Fusionen und Joint Ventures, nicht nur mit ausländischen Agrarkonzernen, sondern auch mit Ölfirmen und der Finanzwirtschaft (vgl. Xavier/Pitta/Mendonça 2011). Die Fusionen verhalfen den Unternehmen zu einem größeren Kapitalstock und zusätzlichen Zweigniederlassungen, zu einem erweiterten Umfang ihres Grundeigentums und ihres Maschinenparks. Durch den betrieblichen Konzentrationsprozess stieg ihr Kurswert, was wiederum den Zugang zu Krediten erleichterte, mit deren Hilfe sie entweder weiter expandieren oder aber alte Schulden begleichen konnten.
Schon ab 2002 konnten brasilianische Agrarunternehmen von den hohen Weltmarktpreisen profitieren, was allerdings auch einen höheren Verschuldungsgrad zur Folge hatte. Als Beispiele hierfür seien Zuckerrohr (vgl. Pitta 2016) und Sojabohnen genannt. Die entsprechenden Firmen nahmen nämlich in der Erwartung künftig steigender Exporte Schulden in US-Dollar auf. Um ihre Erweiterung und technische Modernisierung zu amortisieren, handelten Zuckerproduzenten langfristig geltende Exportverträge aus. Dadurch stieg der Preis für Landwirtschaftsflächen. Zugleich befeuerten die Hoffnungen vormals verschuldeter Unternehmen auf zukünftigen Warenabsatz Neuverschuldungen und eine weitere territoriale Ausbreitung.
Als im Jahre 2008 (und noch einmal verstärkt 2012) die Preise für Landwirtschaftsprodukte und speziell für Zucker zu fallen begannen (vgl. Kurz 2011), wurden einige dieser Firmen insolvent (vgl. Xavier/Pitta/Mendonça 2012). Die sinkenden Warenpreise hatten allerdings keine Auswirkung auf die Preise für landwirtschaftliche Nutzflächen in Brasilien; diese stiegen weiter und zogen anlagehungriges Kapital an. Die sozialen und ökologischen Auswirkungen dieses Prozesses halten bis heute an (vgl. Pitta/Cerdas/Mendonça 2018).
Die sogenannte MATOPIBA-Region (1), ein Grenzgebiet des Sojaanbaus, war, was Farmland betrifft, Hauptfeld der Spekulationen transnationaler Konzerne. Dort sind neue Landwirtschaftsflächen für Investoren sehr billig zu haben. Diese roden einfach ein Stück Wald und warten auf den Preisanstieg, um das Land dann gewinnbringend zu verkaufen. Die oft gewaltsame Vertreibung der ansässigen kleinbäuerlichen Gemeinschaften im Rahmen dieser illegalen Landnahme und die sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen, die dem folgen, sind Ergebnisse der finanziellen Verflechtung zwischen rechtsextremen politischen Kräften und Investoren, Renten-, Hedge- und Investmentfonds, Großkonzernen und Landräubern im brasilianischen „Cerrado“-Gebiet (2).
Karte: Brasilianisches Cerrado-Gebiet und die MATOPIBA-Region
Die Rolle der TIAA: Die Lehrer und ihre Rentenfonds
Nach dem Kriseneinbruch von 2008 schwanden die Kreditangebote an brasilianische Agrarunternehmen im Vorgriff auf eine zukünftige Produktion zunächst erheblich (vgl. Pitta 2016). Mit dem raschen Fall der Preise für Agrarprodukte wurden zahlreiche Zucker- und Biotreibstoffproduzenten insolvent. Diese Entwicklung führte zu Fusionen als Strategie, um neues Anlagekapital auf sich zu ziehen.
Ein Paradebeispiel für diesen Prozess ist Radar Agricultural Properties, ein Unternehmen, das 2008 eigens für Bodenspekulation im ländlichen Raum als Joint Venture von Cosan (18,9 % der Anteile) und Mansilla S/A (Anteilsmehrheit) gegründet wurde. Cosan ist einer der größten Zuckerproduzenten in Brasilien, Mansilla ein Finanzkonzern (Pitta/Cerdas/Mendonça 2018). 2016 kontrollierte Radar mehr als 270 000 Hektar Land, verteilt auf 555 Agrarbetriebe (De Olho Nos Ruralistas vom 22. September 2016). Der Wert dieser Betriebe wurde 2013 bereits auf 5,2 Milliarden brasilianische Real, also etwa zwei Milliarden US-Dollar geschätzt. Im selben Jahr stiegen die Bodenpreise um durchschnittlich 56 % und mit ihnen stieg der Wert der Anlagegüter von Radar um 93 % gegenüber dem Vorjahr (Moreira 2013).
Die Hauptquelle der Mittel für Radar kommt von der Teachers Insurance Annuity Association (TIAA), einer Gesellschaft zur Verwaltung der Einlagen zur Altersabsicherung von Lehrer*innen in den USA mit einem Wert von etwa einer Billion Dollar. Um in die internationalen Bodenmärkte investieren zu können, gründete sie die Tochtergesellschaft TIAA-CREF Global Agriculture, die auch anlagesuchendes Kapital aus zahlreichen anderen Pensionsfonds einsammelte, unter anderen von der deutschen Ärzteversorgung Westfalen-Lippe, der schwedischen AP2, der Caisse de Dépôts et Placement du Québec und der ebenfalls kanadische British Columbia Investment Management Corporation (bcIMC), der niederländischen Stichting Pensionenfonds AEP, den britischen Fonds Cummins UK Pension Plan Trustee Ltd. und Environment Agency Pension Fund and Greater Manchester Pension Fund sowie der New Mexico State Investment Council aus den Vereinigten Staaten (3).
Um in Brasilien tätig werden zu können und um Radar gemeinsam mit Cosan und anderen Scheinfirmen zu kontrollieren, hatte die TIAA-CREF Global Agriculture die Firma Mansilla S/A gegründet. Die Unternehmen treten jeweils als Zweigstellen von Radar auf, um stellvertretend für sie ausländische Investitionen zu tätigen. Denn an sich beschränkt die Gesetzeslage in Brasilien den Grundbesitz für Ausländer. Das geschilderte Konstrukt erlaubt es jedoch den jeweiligen Unternehmen festverzinsliche Anleihen („debentures“) auszugeben, die dann von Radar gekauft werden. Das anfängliche Investment stammt dann scheinbar von Cosan und TIAA-CREF, tatsächlich stammt es von diversen anderen Anlegern. Radar nutzt dann diese Zugewinne an Kapital, um über seine Tochtergesellschaften Land zu erwerben (vgl. Pitta/Mendonça, 2015 und 2015b). Diese als „Finanzvehikel“ bezeichneten Firmen zahlen dann den Käufern der Festzinspapiere die Rendite aus, womit das Geld seinen Weg zurück zu den wirklichen Investoren gefunden hat – mitsamt nicht geringem Profit.
Dieser Vorgang enthüllt, wie internationale Fonds ein Outsourcing der von ihnen betriebenen Bodengeschäfte betreiben. Die Gründung immer neuer, untereinander verflochtener Finanzvehikel dient zur Verschleierung der Informationen, wo sich die Ländereien befinden, mit denen gehandelt wird, und erst recht, woher die Investments für diese Bodengeschäfte stammen. Durch diese Verschleierung sollen die Investoren von ihrer Verantwortung für die Verletzung von Eigentums- und Nutzungsrechten, für die illegale und gewaltsame Vertreibung ländlicher Gemeinschaften und für die Umweltschäden in der betroffenen Region entbunden werden.
Wenn ein derart großer Rentenfond wie TIAA besondere Fonds für das Investment in Landwirtschaftsflächen bildet, zieht das ein inflationäres Ansteigen von Bodenpreisen nach sich, selbst wenn zeitgleich die Preise für Agrarprodukte fallen – so wie es 2008 und besonders 2012 der Fall war. Diese Abkopplung der Bodenmärkte von den Gütermärkten belegt den spekulativen Charakter dieser Entwicklung.
An der Bodenspekulation in Brasilien sind Pensionsfonds ebenso beteiligt wie Grundstücksmakler, das Agrobusiness, lokale Unternehmer und Landräuber. Doch auch der Staat spielt eine zentrale Rolle als Geldgeber und Agent der Privatisierung von Ländereien. In den letzten Jahren wurden weitere Unternehmen für den Handel mit ländlichem Grundbesitz gegründet. Der größte Getreideproduzent SLC Agrícola verwaltet zum Beispiel gemeinsam mit einem internationalen Investmentfond die Firma SLC LandCo. Auch der Harvard-Stifungsfonds ist in der MATOPIBA-Region unterwegs und ist, wie wir noch lesen werden, mit Radar geschäftlich verbunden.
Landnahme in der MATOPIBA-Cerrado-Region
Die MATOPIBA-Region ist das Hauptbetätigungsfeld von TIAA-CREF Global Agriculture und seinen Subunternehmen, die Land zu einem niedrigen Preis kaufen und zu Farmland machen. Um letzteres zu bewerkstelligen brauchen diese Firmen nur zwei Traktoren und eine große Kette, aber fast keine Arbeitskräfte. Aufgrund der hohen Nachfrage nach Land für Agrarproduktion und wegen der Spekulation in dieser Gegend erhöhen sich die Preise der so geschaffenen Farmen sehr rasch (vgl. Pitta/Mendonça, 2018). Die Unternehmen können dann die Anbauflächen mit Gewinn (der so genannten Kapitalisierungsrente) verkaufen. Das Land nimmt die Funktion einer Finanzanlage wahr, genauso, als sei es eine an der Börse gehandelte Aktie.
Die bloße Anschaffung von Agrarflächen nur zum Zwecke gewinnbringenden Verkaufs ohne irgendeine landwirtschaftliche Nutzung ist eine der Optionen, derer sich Radar in MATOPIBA bedient (vgl. Pitta/Mendonça, 2015 und 2015b). Dieser Fall ist bezeichnend, denn Cosan wurde nach 2008 von einem reinen Zucker- und Ethanolproduzenten zum Investor in Sojaanbaugebiete. Ende 2016 verkaufte Cosan, das ohnehin nur 3 % der Anteile an Radar hielt, um, so wie gesetzlich vorgeschrieben, im leitenden Management der Firma vertreten zu sein, seine Anteile an den TIAA-Rentenfonds (vgl. „Valor Econômico“ vom 30. September 2016) und generierte damit einen Profit durch die gestiegenen Landpreise, ganz im Sinne der oben beschriebenen Anlagelogik.
Viele dieser neuen landwirtschaftlichen Nutzflächen in den „Chapadas“, den Hochplateaus des Cerrado, waren vormals in öffentlichem Besitz befindliches Land, das nun eingezäunt worden ist. Die seit Jahrhunderten dort lebenden Bauerngemeinschaften hatten zwar ein vom Gesetz geschütztes Nutzungsrecht, aber keine verbrieften Eigentumstitel. Die am meisten verbreitete Art, in ihrem Gebiet Farmen zu gründen, war schlichter Landraub: Ein Eigentumstitel wird gefälscht, die Fläche eingezäunt und gerodet. Anschließend wird der „neue“ Grundbesitz verkauft oder verpachtet, so als ob er rechtmäßig erworben wäre.
Die Ausbreitung von Monokulturen und die Bodenspekulation auf den Plateaus wirken sich auch auf das Flachland und die Niederungen aus, die als „Baixões“ bekannt sind. Sie werden von der örtlichen Bevölkerung als Lebensraum und zur Lebensmittelproduktion genutzt. Durch den Chemikalieneinsatz in den „Chapadas“ wurden nun zahlreiche Flüsse vergiftet und auch die Bauern des Flachlandes sind von Landnahme betroffen (vgl. Sassen 2016). Auch hier ist Radar beteiligt; das Unternehmen hat Grundstücke in Maranhão und Piauí „erworben“ – Bundesstaaten, in den das meiste Land zuvor kein Privateigentum war (vgl. Miranda, 2011).
Nach der Enteignung von Bauern, Indigenen und afrobrasilianischen Gemeinden, den so genannten Quilombolas, werden die Betroffenen in entwürdigende, oft sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse auf den Plantagen gedrängt, weil diese die einzigen Möglichkeiten von Lohnarbeit in dieser ländlichen Gegend bieten. Zugleich ist die industrielle Landwirtschaft auch in Brasilien hochgradig mechanisiert und bietet nur wenige Arbeitsplätze. Den vertriebenen Gemeinschaften verbleiben nur unzureichend nutzbare Landflächen abseits der Plateaus; sie leben dort unter elenden Bedingungen. Oder aber sie ziehen in die Städte, in denen sich ihre Wohnverhältnisse ebenfalls verschlechtern, weil sie in den „Favela“-Slums leben müssen. Die Agrarbevölkerung wird überflüssig (Scholz 2016), weil sie mit dem Land ihre einzige Subsistenzgrundlage verliert. Die Landkonzentration befördert somit auch die soziale und ökonomische Ungleichheit.
Die Verbindungen zwischen rechtsradikalen Unternehmern, dem transnationalen Bodenhandel und Landnahme
Der Name hinter Radar, dem Spitzenreiter unter den Bodenspekulanten in Brasilien, ist Collin Butterfield. In Brasilien auch als Nilo Campos bekannt, hat er 2016 als CEO von Radar die Anteile von Cosan an die TIAA verkauft. Neben seiner unternehmerischen Tätigkeit war er in letzter Zeit auch sehr engagiert bei den rechtsgerichteten Demonstrationen gegen Dilma Rousseff, Präsidentin Brasiliens von 2011 bis 2015. Rousseff gehört der Arbeiterpartei an und wurde im August 2016 Opfer eines Putsches in Gestalt einer vom Kongress veranlassten Amtsenthebung.
Nilo Campos war Teil der so genannten „Vem Pra Rua“-Bewegung („Geht auf die Straße“): „[…] Der Aufsichtsratsvorsitzende von Radar, Colin Butterfield, gab sich als Reporter Nilo Campos aus. Butterfield spielte eine herausragende Rolle bei den Demonstrationen zugunsten des Putsches gegen Präsidentin Dilma Rousseff. Radar ist Teil der Cosan-Gruppe, dem mächtigsten Betreiber von Zuckerraffinerien in Brasilien, mit Aktivitäten in verschiedenen Wirtschaftsbereichen. […] Butterfield hat ab Oktober [2016] einen neuen Job. Er wurde von der Harvard-Stiftung mit der Verwaltung ihres Fonds für natürliche Ressourcen beauftragt, der in Entwicklungsländer investiert, was wieder einmal Brasilien einschließt“ („De Olho Nos Ruralistas“ vom 22. September 2016, nach der Übersetzung des Autors).
Ein weiteres, schon erwähntes Detail ist, dass Collin Butterfield für die Realisierung der Bodenrendite für Cosan verantwortlich war, als er deren Radar-Anteile an die TIAA verkaufte. Danach verließ er das Unternehmen und wanderte aus, um das gleiche Geschäft mit Landwirtschaftsflächen für den Harvard-Stiftungsfonds bzw. dessen „natural resources fund“ fortzusetzen. Erfahrung hat Butterfield genug, um zu wissen, wo und von wem er Land zu Spekulationszwecken erwerben kann. Es ist erwähnenswert, dass Radar fast alle seine Grundstücke in MATOPIBA von CODECA erworben hat (vgl. Pitta/Cerdas/Mendonça 2018), dem Unternehmen des bekanntesten Landräubers der Region (Miranda 2011)(4).
Und um das Thema abzuschließen: Butterfield ist anscheinend dafür angestellt worden, Harvards Geschäft mit geraubtem Land zu forcieren, wie ein aktueller internationaler Bericht zeigt (Grain/Netzwerk für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte 2018). Demnach wurde Harvard in Piauí für die Bewirtschaftung illegal erworbenen Lands verurteilt. Dies trug sich auf der „Farm Ipê“ zu, einem 27 000 Hektar großen Grundstück, das Harvard mittels seiner Subunternehmer (etwa „Sorotivo Agropecuária“ und „Insolo Agropecuária“) geraubt hat (5).
Harvards Geschäftsmodell beim Landerwerb ist dem oben beschriebenen von Radar sehr ähnlich. Es schließt die Gründung verschiedener Unternehmen für Finanzinvestoren ein, die Land als Spekulationsobjekt benutzen, ohne aber für die Folgen ihrer Geschäfte haftbar sein zu wollen. Dieses Vorgehen geht für die Kriminellen zwar nicht immer gut aus. Jedoch haben sie für die Zukunft momentan beste Aussichten: In derselben Zeit, als die Radar-Anteile von Cosan an TIAA verkauft worden sind („Valor Econômico“ vom 30. September 2016), wurde Butterfield von Harvard eingestellt und Dilma Rousseff aus ihrem Amt geputscht – alles zwischen August und September 2016.
Der neue rechtsextreme Präsident, Jair Bolsonaro, steht bereits jetzt unter dem Druck brasilianischer Unternehmer, die ebenfalls dem rechten Lager zuzuordnen sind. Ihr Interesse besteht darin, jene Gesetzgebung zu lockern, die Landbesitz ausländischer Eigentümer beschränkt und Bauern, Indigenen und den afro-brasilianischen „Quilombola“-Gemeinschaften Nutzungsrechte garantiert. Das Schema der Landnahme könnte sich nun verfestigen und womöglich noch schlimmer werden, wenn es einen Status der „illegalen Legalität“(6) erreicht.
Anmerkungen:
(1) Diese Bezeichnung setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der brasilianischen Bundesstaaten Maranhão (MA), Tocantins (TO), Piauí (PI) und Bahia (BA) zusammen. Das Gebiet ist unter diesem Namen auch durch die mediale Berichterstattung und Regierungsprogramme bekannt. Im Mai 2015 machte die Regierung die Bezeichnung offiziell durch das Dekret Nr. 8.447, das den „Plano de Desenvolvimento Agropecuário“ (landwirtschaftlichen Entwicklungsplan) für MATOPIBA um- und dessen Verwaltungskomitee einsetzte. Dadurch wurden die genannten Bundesstaaten und diverse Ministerien verkoppelt, die Existenz einer derart benannten Region staatlicher Planung bekräftigt und ihre angedachte „Entwicklung“ explizit auf Landwirtschaft festgelegt.
(2) Es handelt sich um eine in Brasilien anzutreffende Art von Flachland, das mit der Savanne vergleichbar ist und sich durch eine Vegetation auszeichnet, die von tropischen Wäldern bis zu Buschland reicht. Es besteht aus Hochplateaus und niedriger gelegenen Flussgebieten. Hauptsächlich in letzteren leben die letzten bäuerlichen Gemeinschaften. Das „Landgrabbing“ betrifft vor allem die für mechanisierten Sojaanbau geeigneten Plateaus, auf denen die Flüsse ihre Quellen haben und auf denen die Einheimischen unter anderem jagen, Vieh weiden lassen oder medizinisch verwendbare Pflanzen sammeln.
(4) Er steht zur Zeit vor Gericht, weil ihm der Raub von 124 000 Hektar Land in dieser Region, namentlich in Südpiauí, vorgeworfen wird. In ebendieser Gegend hatte Radar Flächen von ihm gekauft. Alle Eigentumstitel, die Gegenstand der gerichtlichen Verhandlungen sind, sind für deren Dauer annulliert. Der Prozess läuft am Landwirtschaftsgerichtshof von Piauí unter der Nummer 0000759-98.2016.8.18.0042.
(5) Die Nummer am Landwirtschaftsgerichthof von Piauí lautet 0000183-28.2004.8.18.0042, online abrufbar unter https://www.jusbrasil.com.br/topicos/36695512/sorotivo-agropecuaria-ltda (Zugriff: 20. November 2018).
(6) Illegal wären die neuen Gesetze, insofern die Verfassung Brasiliens von 1988 solche Nutzungsrechte über alle anderen Arten von Eigentumstiteln stellt.
Literatur:
DE OLHO NOS RURALISTAS: “Líder de Vem Pra Rua sai da Cosan para investir em ativos florestais pela Universidade de Harvard”. 22. September, 2016. Online: https://deolhonosruralistas.com.br/2016/09/22/lider-de-vem-pra-rua-sai-da-cosan-para-investir-em-ativos-florestais-pela-universidade-de-harvard/ (Zugriff: November 2018).
GRAIN & NETWORK FOR SOCIAL JUSTICE AND HUMAN RIGHTS: Harvard’s billion-dollar farmland fiasco. 2018. Online: https://www.grain.org/article/entries/6006-harvard-s-billion-dollar-farmland-fiasco (Zugriff: Dezember 2018).
JAPAN INTERNATIONAL COOPERATION AGENCY (JICA): Economic and social impacts of Agricultural Development of the Cerrado. Tokio, 2017.
KURZ, Robert: „Das Ende des Rohstoff-Booms“. In: Neues Deutschland, 17. Oktober 2011. Online: https://www.exit-online.org/link.php?tabelle=autoren&posnr=491 (Zugriff: Dezember 2018).
MIRANDA, Roberto de Souza Ecologia Política da Soja e processos de territorialização no sul do Maranhão. Tese de Doutorado em Ciências Sociais, Centro de Humanidade, Universidade Federal de Campina Grande, 2011.
MOREIRA, Lourenço: A corporação Cosan e a conquista de um território em torno de sua usina de etanol em Jataí, Goiás (2007-2012), Instituto de Geociências, UFRJ, 2013, S. 58–59.
PITTA, Fábio T.: As transformações na reprodução fictícia do capital na agroindústria canavieira paulista: do Proálcool à crise de 2008 [Die Transforamation der fiktiven Reproduktion des Kapitals in der Zuckerrohrproduktion von SãoPaulo: Vom Pro-Alkohol zur Krise von 2008]. São Paulo, 2016. Thesis (doctorate in Geography). FFLCCH-USP. Online: http://www.teses.usp.br/teses/disponiveis/8/8136/tde-10052016-140701/pt-br.php (Zugriff: Juli 2017).
PITTA, Fábio T. e MENDONÇA, Maria Luisa: A empresa Radar S/A e a especulação com terras no Brasil [Das Unternehmen Radar S/A und die Bodenspekulation in Brasilien]. São Paulo: Editora Outras Expressões, 2015a. Online: https://social.org.br/files/pdf/RevistaREDE2015paranet2.pdf (Zugriff: Dezember 2017).
PITTA, Fábio T.; MENDONÇA, Maria Luisa: „Spekulationsobjekt Land“. In: Informationsstelle LateinAmerika (ILA), Bonn, Deutschland, Bd. 385, S. 12–14, 2015b.
PITTA, Fábio T. e MENDONÇA, Maria Luisa: “The role of international financial capital in the Brazilian land market”. Latin American Perspectives (LAPs), University of California, Riverside, Califórnia, EUA, Volume 45, Issue 5, September, 2018.
PITTA, Fábio T., CERDAS, Gerardo e MENDONÇA, Maria Luisa: Transnational Corporations and Land Speculation in Brazil. São Paulo: Editora Outras Expressões, 2018. Online: https://social.org.br/index.php/pub/booklets-english/206-transna-onal-corpora-ons-and-land-specula-on-in-brazil.html (Zugriff: August 2018).
SASSEN, Saskia: Expulsions. São Paulo: Paz e Terra, 2016.
SCHOLZ, Roswitha: Christoph Kolumbus forever? Zur Kritik heutiger Landnahme-Theorien vor dem Hintergrund des „Kollaps der Modernisierung“. In: EXIT! Nr. 13, Angermünde, 2016
VALOR ECONÔMICO: “Cosan vende parte de suas ações na Radar para Mansilla por 1,065 bi” [Cosan verkauft einen Teil seiner Radar-Anteile an Mansilla für 1,065 Milliarden Real]. São Paulo: Valor Econômico, 30.09.2016. Online: http://www.valor.com.br/empresas/4731589/cosan-vende-parte-de-suas-acoes-na-radar-para-mansilla-por-r-1065-bi. (Zugriff: Juli 2017).
XAVIER, Carlos Vinicius; PITTA, Fábio T.; MENDONÇA, Maria Luisa: Monopólio da produção de etanol no Brasil: a fusão Cosan – Shell [Das Monopol auf Ethanolproduktion: Der Cosan-Shell-Zusammenschluss]. São Paulo: Rede Social de Justiça e Direitos Humanos, Editora Outras Expressões, 2011. Online:<https://www.social.org.br/revistacosanshel.pdf. (Zugriff: Juli 2017).
XAVIER, Carlos Vinicius; PITTA, Fábio T.; MENDONÇA, Maria Luisa: A Agroindústria canavieira e a crise econômica mundial [Industrielle Zuckerproduktion und die Weltwirtschaftskrise]. São Paulo: Rede Social de Justiça e Direitos Humanos, Editora Outras Expressões, 2012. Online: http://www.social.org.br/relatorioagrocombustiveis2012.pdf. (Zugriff: Juli 2017).
Übersetzung: Hannes Brachtengram
Der Autor Dr. Fábio Teixeira Pitta ist Forscher im Fachbereich Wirtschaftsgeographie an der Universität São Paulo. Außerdem ist er in Brasilien als Projektkoordinator beim Netzwerk für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte tätig. Im Rahmen eines Forschungsstipendiums arbeitet er derzeit am Lateinamerikainstitut der Freien Universität Berlin.
„Mafia-Käufe lassen Immobilienpreise explodieren“ – unter diesem Titel berichtete ein TV-Magazin des Bayerischen Rundfunks (BR) Ende März 2018 darüber, wie die italienische Mafia illegale Einnahmen aus Drogenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten in die legale Wirtschaft schleust. Demnach drängt vor allem die organisierte Kriminalität in den deutschen Immobilienmarkt, der als beliebter, weil sicherer Anlageort für „schmutziges“ Geld gilt. Laut BR macht Europol die organisierte Kriminalität insbesondere für steigende Wohnungs- und Mietpreise mit verantwortlich. Und Burkhard Körner, Präsident des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz, spricht in dem Fernsehbeitrag davon, dass die freie Marktwirtschaft und das Staatswesen insgesamt durch das Delikt der Geldwäsche bedroht werden.
Die Reportage legt wie der Großteil der übrigen Medienberichterstattung den Fokus darauf, dass Geldwäsche die Bereiche von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gleichermaßen gefährdet. Danach schwappt erstens das Delikt in Form organisierter Kriminalität von „außen“ nach Deutschland und zersetzt die hiesige Demokratie, zweitens unterminiert die Geldwäsche das Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem legalen Markt und drittens treibt sie redliche Bürgerinnen in existenzielle Nöte, da das investierte illegale Geld unter anderem die Mieterinnen unter Druck setzt.
Die negativen Effekte von Geldwäsche sind grundsätzlich nicht zu bestreiten: Die Akkumulation „gewaschener“, sprich legalisierter Verbrechensgewinne honoriert kriminelles Verhalten im Bereich der Wirtschaft. Kriminelle Marktteilnehmer können sich aufgrund ihrer illegalen Gewinne gegen rechtskonforme Konkurrenten besser durchsetzen. Die Geldwäsche selbst wirkt dabei als „der wirtschaftliche Turbo der illegalen Wirtschaft“ (Bussmann, Seite 9). Zudem gehen Geldwäsche und Steuerhinterziehung Hand in Hand. Dem Fiskus vorenthaltene Steuerleistungen schädigen das Gemeinwohl, weil sie für die Bereitstellung öffentlicher Güter fehlen und dem Trend zu einer weiteren Privatisierung öffentlicher Güter Vorschub leisten. Schließlich sind auch die sogenannten Vortaten, also die Straftaten (z.B. Drogen-, Waffen-, Menschenhandel, Schutzgelderpressung), die den kriminellen Akteuren erst die zu legalisierenden Geldmittel beschaffen, nicht von der Geldwäsche zu trennen. Diese ist zudem nicht nur die Folge organisierter Kriminalität, sondern auch deren Voraussetzung, denn die legalisierten Gewinne stehen wieder einer neue kriminelle Gewinnerzielung zur Verfügung, so dass sich das Rad weiterdrehen kann.
Tatsächlich lockt auch der boomende deutsche Immobilienmarkt verstärkt Kriminelle an. Dass sich der Anstieg der Mieten, wie jüngste Presseberichte bestätigen, ungebremst fortsetzt, ist nach Meinung von Strafverfolgungsbehörden, Kriminologen und politischen Parteien denn auch eine Auswirkung der Geldwäsche. Diesen Zusammenhang betonte im vergangenen Oktober unter anderen der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, bei einer Veranstaltung seiner Partei zum „Geldwaschsalon Deutschland“. Belegen lässt sich diese Behauptung jedoch nicht. Einzelne Stimmen widersprechen der unbewiesenen These bzw. zeigen sich deutlich zurückhaltender. Bei der gleichen Veranstaltung stellte Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit fest, dass es bislang unbekannt sei, ob oder wie sich die Geldwäsche auf die Mietenentwicklung auswirkt. Auch die Vorsitzende von Transparency International und Herausgeberin einer aktuellen Studie zum Thema, Edda Müller, konnte in einem Zeitungsinterview nicht bestätigen, dass der Kauf von Immobilien mit Geldern unklarer Herkunft die Kaufpreise und Mieten nach oben treiben. (vgl. taz, 8./9. Dezember 2018) Da das Ziel der Geldwäsche nicht in erster Linie darin besteht, Gewinne zu erzielen und die Täter bei der Einschleusung „schmutziger“ Gelder in den legalen Wirtschaftskreislauf sogar Verluste in Kauf nehmen, ist die Behauptung, Geldwäsche sei ein relevanter Mietpreistreiber, zumindest sehr fraglich (vgl. Transparency International, Seite 10).
Sind diese kritischen Stimmen jenseits des politischen und medialen Mainstreams ein Hinweis darauf, dass die Unterwanderung der angeblich sauberen legalen Immobilienwirtschaft durch „schmutziges“ Geld interessengeleitet hochgespielt wird? Die öffentliche Diskussion zur Geldwäsche blendet zumindest drei Punkte weitgehend aus:
• Wenn politische Verantwortungsträger und andere die Schädlichkeit der Geldwäsche für die Entwicklung der Mieten betonen, dann lenken sie von den ganz legalen Möglichkeiten ab, die insbesondere große Wohnungsunternehmen und Finanzinvestoren nutzen, um Mietpreissprünge durchzusetzen oder Mieter*innen gewinnbringend aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Legale Geschäfte auch im Immobilienbereich richten weitaus größere gesellschaftliche Schäden an als kriminelle Aktivitäten.
• Medien und Politik befördern eine Ethnisierung der Kriminalität, wenn sie Geldwäsche in erster Linie als Geschäftsfeld einer jenseits der deutschen Grenzen wurzelnden Organisierten Kriminalität identifizieren – und dabei die Mitverantwortung des deutschen Staates ignorieren.
• Die Geldwäsche ist mit den Geschäftsinteressen der legalen Wirtschaft so eng verwoben, dass sich die Grauzone zwischen legalem und illegalem wirtschaftlichem Handeln stetig vergrößert und eine Grenzziehung kaum möglich erscheint.
Neoliberalisierung der Wohnungspolitik – Einfallstor für Geldwäsche
Die legale Wohnungspolitik der letzten Jahrzehnte und eben nicht die Aktivitäten krimineller Akteure hat die Wohnungsnot zur zentralen sozialen Frage werden lassen. Vor allem ist sie eine Folge der seit Ende der 90er Jahre unter anderem von der rot-grünen Bundesregierung forcierten Liberalisierung der Finanzmärkte. Dadurch wurde der Internationalisierung der Immobilienwirtschaft und den finanzmarktorientierten Wohnungsgesellschaften erst der Weg geebnet. In Berlin beispielsweise verkaufte im Jahre 2004 die damals in der Hauptstadt regierende Koalition aus SPD und Linkspartei die landeseigene „Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin“ (GSW) an internationale Finanzinvestoren, so dass die Bestände 2013 vom zweitgrößten Wohnungsunternehmen in Deutschland, der „Deutsche Wohnen“, übernommen werden konnten. Dieser Konzern ist dafür bekannt und verhasst, die Mietpreise konsequent hochzutreiben und seine regional marktmächtige Stellung systematisch auszubauen.
Der Staat erleichterte als Gesetzgeber sowohl die legale wie die illegale Profitmaximierung auf Kosten der Mieter*innen. Soll kriminell erwirtschaftetes Geld als Betongold gewaschen werden, bieten sich in erster Linie die sogenannten Share Deals an. Diese ermöglichen Geldwäsche im großen Stil. Im Unterschied zu einem direkten Erwerb einer Immobilie (Asset Deal) erwirbt der Käufer bei einem Share Deal Anteile an einem Unternehmen, welches Grundstücke oder Gebäude besitzt. Solange wie die Grenze von 95 % der Unternehmensanteile nicht erreicht wird, entfällt die Zahlung der Grunderwerbssteuer. Da aber auch die Namen der Eigentümer im Grundbuch nicht geändert werden, können die neuen tatsächlichen Eigentümer unsichtbar bleiben. Die wichtige Funktion des Grundbuchs, Klarheit über die Eigentumsverhältnisse zu schaffen, wird durch das Grunderwerbssteuergesetz, das die Share Deals regelt, ad absurdum geführt. Eine gesetzliche Regelung ermöglicht es also, dass ein großer Teil des Immobiliengeschäfts – der Kauf von Anteilen an Gesellschaften – extrem anfällig für das Delikt der Geldwäsche ist.
Ethnisierung der organisierten Kriminalität
Das Bundeskriminalamt (BKA) wies auf diesen Zusammenhang bereits im Jahr 2012 in einer Fachstudie hin. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen im vergangenen Jahr sprach auch die Bundesregierung von einem „Sektor mit herausgehobenem Risiko“. Eine hohe Wertstabilität, hohe Transaktionssummen, eine schwache staatliche Kontrolle und die fehlende Transparenz machen den Markt für kriminelle Geschäfte letzlich attraktiv. Unbestritten ist, dass zum Beispiel mafiöse Organisationen in Deutschland enorme Geldsummen waschen. Die mediale Berichterstattung stellt deshalb die Geldwäsche-Kriminalität zumeist als „von außen kommende“ Gefahr dar. Entweder als Geschäftsfeld der italienischen bzw. der osteuropäischen Organisierten Kriminalität oder im Zusammenhang mit sogenannten Clanstrukturen von Familien arabischer Herkunft. So berichtete die Berliner Zeitung am 28. Dezember wieder einmal, dass die Sicherheitsbehörden im letzten Jahr in der Hauptstadt insbesondere mit rund einem Dutzend arabischen „Clans“ zu tun hatten (Handel von Drogen und Waffen, Prostitution, Einbrüche und illegale Immobiliengeschäfte). Denn im vergangenen Sommer gehörte ein Schlag der Polizei gegen das organisierte Verbrechen über Wochen zu den Top-Themen nicht nur der Hauptstadtmedien. 77 Immobilien einer arabischen Großfamilie im Wert von zehn Millionen Euro waren beschlagnahmt worden. Bei der Berichterstattung fiel auf, dass die Aufmerksamkeit für diesen Fall in einem auffälligen Missverhältnis zur Bedeutung des grob geschätzten Gesamtvolumen der Geldwäsche im Nicht-Finanzsektor von mindestens 20 bis 30 Milliarden Euro (Bussmann, Seite 96) jährlich stand. Das Delikt schien bewusst „ethnisiert“ worden zu sein, um der Öffentlichkeit einen leicht zu markierenden Feind, dem die Zugehörigkeit zu Deutschland abgesprochen wird, präsentieren zu können. Auch wurde unterschlagen, dass Staat und Wirtschaft selbst an illegalen Investitionen im Immobilienbereich und anderswo gelegen sein könnte.
Politik ohne Interesse an Strafverfolgung
Die fortwährende Geldwäsche beweist, dass illegale Gewinne sichere Häfen für Kapitalanlagen benötigen und damit von legalen Märkten abhängen. Aber Politiker, die das Gemeinwesen repräsentieren, können auch an kriminell erzeugten Investitionssummen interessiert sein, wenn denn Arbeitsplätze geschaffen werden und in der Folge Steuereinnahmen zu erwarten sind: „Insbesondere viele Politiker auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene, denen vor allem die Sicherung der eigenen Macht und die nächsten Wahlen wichtiger sind als die Herkunft von Geldern zu erfragen, die in ihrem Einflussbereich investiert werden, sind der Grund dafür, weshalb die Geldwäsche-Bekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland und in den meisten Industrienationen dieser Welt nicht effektiv und koordiniert betrieben werden kann. Angesichts dessen kann man nachvollziehen, weshalb der Wille zur Bekämpfung der Geldwäsche in Politik und Wirtschaft offensichtlich nicht besonders ausgeprägt ist.“ (Quedenfeld, Seite 22).
Die Verwischung der Grenzen zwischen legaler und illegaler Wirtschaft bzw. die enge Verflechtung beider Bereiche ist eine Folge dieser Haltung. Die ökonomische Bedeutung der illegalen Investitionen wird auch durch die Aussage eines Mafiosi gegenüber einem Journalisten bestätigt, dass nämlich Deutschland ein gewaltiges Problem hätte, würde die Mafia ihre Gelder von hier abziehen (Transparency International, Seite 9). Die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im August letzten Jahres wundert deshalb nicht: Die Financial Intelligence Unit (FIU: Zentralstelle für Geldwäsche-Verdachtsanzeigen) hatte innerhalb eines Jahres seit ihrem Umzug vom BKA zum Zoll im Sommer 2017 trotz etwa 70.000 eingegangener Verdachtsmeldungen im Zusammenhang mit vermuteter Geldwäsche lediglich in 25 Fällen Maßnahmen ergriffen, um verdächtige Transaktionen zu stoppen (vgl. „Geldwäsche-Paradies Deutschland: Nachricht von Fabio De Masi, 23. August 2018“, Webseite Die Linke im Bundestag). Offensichtlich war die Personaldecke der Behörde wesentlich zu dünn, um die Aufgabe auch nur im Ansatz stemmen zu können und neu eingestellte Mitarbeiter*innen verfügten über keine Erfahrung in diesem Bereich.
In den zuständigen Stellen der einzelnen Bundesländer sieht es nicht besser aus. Sie sind für die Einhaltung der Vorschriften, das heißt die Kontrollen außerhalb des Finanzsektors zuständig. „Dafür haben sie seit Jahren einschneidende Instrumente in der Hand, die sogar weiter gehen als die Kompetenzen von Staatsanwaltschaften. Sie können jedes Gewerbeunternehmen ohne besonderen Anlass betreten, dort die Bücher auf Verstöße prüfen, Unterlagen sicherstellen und Sanktionen verhängen, die Bußgelder in Millionenhöhe und Instrumente der Gewinnabschöpfung vorsehen“, erläutert der Journalist David Stein im Juli 2018 in der Soz 07/2018. Es fehlt aber auch hier an der Bereitschaft, die notwendigen Sachmittel und das erforderliche qualifizierte Personal einzusetzen. In Berlin beispielsweise waren im Jahre 2017 für die Aufsicht über den gesamten Nichtfinanz-Sektor, der Tausende Gewerbebetriebe inklusive der Immobilienmakler umfasst, gerade einmal 1,45 Planstellen vorgesehen (vgl. BT-Drucksache 19/3818). Dass die verantwortliche Wirtschaftssenatorin Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen ist und die Partei sich beim Thema Geldwäschebekämpfung derzeit bundesweit profilieren will, spielt bei ihrer praktischen Politik auf Landesebene offensichtlich keine Rolle. Auch Frank Buckenhofer von der Gewerkschaft der Polizei (GdP Bezirksgruppe Zoll) kommentierte das Versagen der Behörden im Rahmen der Veranstaltung der Grünen damit, dass die Politik schlicht kein Interesse an einer Verfolgung der Geldwäsche habe.
An den Möglichkeiten der europäischen und nationalen Gesetzgebung liegt es nicht, dass Deutschland ein Paradies für Geldwäscher ist. Die entsprechende EU-Richtlinie wurde Mitte 2018 zum fünften Mal verschärft und muss in den Mitgliedsstaaten bis Januar 2020 umgesetzt werden. Aber beim Vollzug der rechtlichen Vorgaben in die Alltagspraxis hapert es weitgehend. „Deren Umsetzung scheitert auf breiter Front, und das ist kein Zufall“, resümiert Harald Schumann am 19. Oktober 2018 im Berliner Tagesspiegel. Auch er unterstreicht, dass das Interesse der nationalen Regierungen und ihrer Behörden zuallererst der Förderung ihrer Wirtschaft, nicht zuletzt durch ausländische Investoren, gilt. Da liege es nahe, nicht allzu genau hinzuschauen, woher das Geld komme. Offensichtlich kommen politischen Entscheidungsträger mit dem Dilemma, einerseits das Recht respektieren und durchsetzen zu müssen, andererseits Schaden von der „eigenen“ Wirtschaft abzuwenden, ganz gut zurecht und wissen ihre Priorität zu setzen.
Klar, dass ebenfalls bei den Vertreter*innen der Wirtschaft nach Ansicht des Kriminologen Bussmann im Bereich des Nicht-Finanzsektors (unter anderem der Immobilienbranche) von einer nur geringen Bereitschaft zur Umsetzung der Geldwäscherichtlinien auszugehen ist (Bussmann, Seite 30). Da nach dem deutschen Geldwäschegesetz alle an einem Immobiliendeal involvierten Akteure – Banken, Makler, Notare, Rechtsanwälte – verpflichtet sind, die Herkunft des Geldes ihrer Kunden zu prüfen und Verdachtsfälle den Behörden zu melden, darf die fehlende Meldebereitschaft auf das Profitstreben der jeweils Beteiligten zurückgeführt werden [1]. Auch die in den legalen Wirtschaftskreislauf eingespeisten Gewinne aus Straftaten tragen schließlich zum Wirtschaftswachstum bei und kurbeln die Umsätze der Unternehmen an.
Fazit
Geldwäsche dient dazu, kriminell erwirtschaftete Gelder zu einem integralen Bestandteil der legalen Wirtschaft zu machen. Die Aufhebung oder zumindest zunehmende Durchlässigkeit der Grenze zwischen den illegalen und legalen Bereichen der Ökonomie erschwert zweifellos die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Die neoliberale Deregulierungspolitik der letzten Jahrzehnte förderte aber genau diesen Prozess. Dass die illegalen Praktiken auch im Immobiliensektor de facto nicht kontrolliert werden, ist eine bewusste politische Entscheidung, auch kriminelle Geldströme von Mafia & Co. ins „wertstabile“ Deutschland zu lenken. Die häufig artikulierte Behauptung, die Politik habe die Bedeutung der Geldwäsche lange unterschätzt, überzeugt deshalb nicht. Die im aktuellen Bundeslagebericht des BKA beklagten „möglichen Vertrauensverluste in die Funktionsfähigkeit der bestehenden Wirtschaftsordnung“ durch die Wirtschaftskriminalität sind also die Folge des von der herrschenden Politik geförderten kriminellen Wirtschaftshandelns (BKA, Seite 6). Bereits vor mehr als 15 Jahren beschrieb Wolfgang Hetzer, wie die Politik zur Bekämpfung der Geldwäsche in „ihrer Willkür, mit der sie umgesetzt wird, das heißt in der Vehemenz, mit der sie verhindert, andererseits aber nur sehr selektiv durchgesetzt wird, ein typisches Produkt der Deregulierungspolitik und deren Ambivalenz“ ist. „Funktionell“, so fuhr er fort, „ist die Geldwäsche eine finanztechnische Ergänzung zum ungehinderten Spiel der Marktkräfte und seinen illegalen Ausprägungen“. (Hetzer, Seite 357)
Die Fachleute gehen ausnahmslos von einem mittleren oder hohen Risiko für Geldwäsche im Immobiliensektor aus – dennoch ist eine Dramatisierung des Problems („Mafia-Käufe lassen Immobilienpreise explodieren!“) fehl am Platz. Denn die geht der Intention der politischen Klasse auf den Leim, von den Fehlern der neoliberalen Wohnungsmarktpolitik in den letzten Jahrzehnten abzulenken. Teile der Politik fördern zudem aus durchsichtigen Eigeninteressen die Geldwäsche selbst und skandalisieren sie zugleich mit massiver medialer Unterstützung, indem sie diese Form der Wirtschaftskriminalität einseitig zu einem Problem der „anderen“ („Ausländer“, „Clans“) machen und dabei auf rassistische Denkmuster zurückgreifen.
Anmerkung:
[1] Für den Bereich der Geldwäsche insgesamt wurden im Jahr 2017 genau 59.845 Verdachtsmeldungen an die FIU übermittelt. Davon kamen gerade einmal fünf von Notarinnen, 21 von Immobilienmaklerinnen, 23 von Rechtsanwält*innen (vgl. FIU, Seite 8).
Fakten zur Geldwäsche im Immobiliensektor
Im Zuge der Terror-Bekämpfung wurden die Geldwäsche-Gesetze in Deutschland für den Finanzsektor mehrfach verschärft. Wegen seiner mangelnden Kontrolldichte außerhalb dieses Bereichs, also beispielsweise im Immobiliensektor, ist Deutschland bei international agierenden Geldwäschern sehr beliebt.
Beim Delikt der Geldwäsche handelt es sich wie bei allen Formen der Wirtschaftskriminalität um sogenannte Kontrollkriminalität, das heißt es besteht ein erhebliches Dunkelfeld. Das Hellfeld setzt sich aus der offiziellen Anzeigenstatistik zusammen, die keine seriöse Aussagekraft über das tatsächliche Ausmaß der Geldwäsche besitzt.
Nach dem „Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten“ (Geldwäschegesetz – GwG) ergeben sich Meldepflichten für alle „die im Rahmen ihres Geschäfts oder Berufs handeln“, wie es im Gesetz heißt, das heißt zur Abgabe einer Verdachtsmeldung bei der zuständigen Staatsanwaltschaft oder der FIU (Financial Intelligence Unit – Zentralstelle bei der Zollverwaltung), wenn Tatsachen auf eine mögliche Geldwäsche hinweisen.
Mit über 48.000 von insgesamt fast 60.000 Verdachtsmeldungen weisen Kreditinstitute einen Anteil von über 80% auf. (vgl. FIU Jahresbericht 2017, Seite 7f.) Aus dem Nicht-Finanzsektor gehen also nur relativ wenige Anzeigen ein.
Die Bundesregierung gab im August 2018 laut einer Kleinen Anfrage der Partei Die Linke das gesamte Geldwäschevolumen in Deutschland für mit etwa 100 Milliarden Euro jährlich an (BT-Drucksache 19/3818). Genaue Zahlen über das tatsächliche Ausmaß gibt es aber nicht.
Nach einer aktuellen Dunkelfeldstudie, die auf über tausend Experteninterviews basiert (das heißt auf den Wahrnehmungen der befragten Akteuren, die zu Verdachtsmeldungen verpflichtet sind), lässt sich grob ein Geldwäschevolumen im Dunkelfeld des Nicht-Finanzsektors von 20 bis 30 Milliarden Euro errechnen. Das absolute Dunkelfeld ist als sehr viel höher anzunehmen. Für den Immobiliensektor kommt die Studie auf ein Volumen von etwa 3 bis 5 Milliarden Euro jährlich (vgl. Bussmann, Seite 96f. Auch dieser Wert dürfte tatsächlich höher ausfallen).
Im Jahr 2016 hatte der Markt für Wohnimmobilien ein Volumen von 155,7 Milliarden Euro (Geldumsatz der Immobilien insgesamt: 237,5 Milliarden) (vgl. Arbeitskreis der Oberen Gutachterausschüsse, Seite 19). Die Dunkelfeldstudie weist somit einen Anteil der Geldwäsche von lediglich 2 bis 3% des Umsatzes bei Wohnimmobilien aus, der real aber höher anzusetzen ist.
Literatur:
Arbeitskreis der Oberen Gutachterausschüsse, Zentralen Geschäftsstellen und Gutachterausschüsse in der Bundesrepublik Deutschland: Immobilienmarktbericht Deutschland 2017
Bundeskriminalamt (BKA): Managementfassung zur Fachstudie „Geldwäsche im Immobiliensektor in Deutschland“ 2012
Bussmann, K.-D.: Geldwäsche – Prävention im Markt. Funktionen, Chancen und Defizite, Berlin, 2018
Financial Intelligence Unit (FIU): Jahresbericht 2017 (hrsg. von der Generalzolldirektion, Köln, September 2018)
Hetzer, W.: „Finanzmärkte und Tatorte: Globalisierung und Geldwäsche“, in: MschrKrim, Heft 5, 2003, Seite 353-63
Quedenfeld, R. (Hg.): Handbuch Bekämpfung der Geldwäsche und Wirtschaftskriminalität. 4. völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin, 2017
Stein, David: „Der Berliner Immobilienmarkt: Wo die Spekulation blüht, sind Mafia und organisierte Kriminalität nicht weit“, in: Soz, 07/2018
Transparency International Deutschland e.V.: Geldwäsche bei Immobilien in Deutschland
Der Autor Joachim Maiworm lebt in Berlin und ist aktiv bei der Berliner MieterGemeinschaft.
Wie kann die Wirtschaft demokratisch kontrolliert werden? Die Ausgabe der Zeitung „Oxi – Wirtschaft anders denken“ vom Dezember 2018 widmet sich der umstrittenen Frage, wie die alte Idee der Wirtschaftsdemokratie als eine politische Leitidee zu aktualisieren und damit auch zu radikalisieren ist. Ziel ist es, den Begriff der Wirtschaftsdemokratie der begrenzten Bedeutung von Beteiligung und Mitwirkung nach dem Betriebsverfassungsgesetz zu entreißen und neue Wege zu denken, wie demokratisches Wirtschaften möglich sein kann.
In verschiedenen Beiträgen werden klassische Kernfragen gestellt, wie etwa die nach der grundsätzlich möglichen Reichweite der Demokratie unter den gegebenen politisch-ökonomischen Bedingungen. Dabei wird auch die Dilemma-Situation der Beschäftigten reflektiert, das heißt der faktische Zwang, trotz des als frustrierend erlebten Machtgefälles in den Unternehmen als Arbeitskraft ein Interesse daran haben zu müssen, für das Unternehmen rentabel zu bleiben.
Die Aktualität des Konzepts der Wirtschaftsdemokratie belegt der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-J. Bontrup, der seine Idee einer neuen kollektiven Eigentumsform darlegt, die ohne Enteignung der bisherigen Eigentümer entstehen kann. Weitere Beiträge unter anderen: Kathrin Gerlof beschreibt, wie „Wirtschaftsdemokratie in der DDR auf allen Ebenen zwar gespielt wurde, aber nicht existierte“. Svenja Glaser behauptet, von der Schweiz lernen zu können, da die dortige Sozialdemokratische Partei (SP) die Wirtschaftsdemokratie als zentrale Forderung vertritt. Vincent Körner reflektiert die Rolle der Idee in den Programmen der Mitte-Links-Parteien in der Bundesrepublik.
In ihrer Außendarstellung (www.giz.de) charakterisiert sich die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) als „gemeinnütziges Bundesunternehmen“, das „für deutsche und europäische Werte“ steht und mit derzeit 590 Entwicklungshelfer/innen „flexibel an wirksamen Lösungen“ arbeitet, „die Menschen Perspektiven bieten und deren Lebensbedingungen dauerhaft verbessern“. Ihr Hauptauftraggeber ist das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), das heißt die GIZ setzt als dessen Projektpartnerin die Entwicklungshilfe in den Ländern konkret um. Das Geschäftsvolumen betrug im Jahr 2017 immerhin rund 2,6 Milliarden Euro.
Laut Bericht der Taz vom 2. Dezember 2018 belegt jedoch ein der Zeitung vorliegender interner Qualitätskontrollbericht für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung große Mängel in der Entwicklungshilfe. Unter anderem versickert viel Geld in dunklen Kanälen, weil es auch bei der GIZ an Kontrollmechanismen fehlt, um die Mittelverwendung zu überprüfen. Offensichtlich beteiligt sich die Organisation aber nicht am Prozess der Beseitigung der Defizite.
„Die GIZ verweigert Wissenschaftlern den Einblick in Berichte über den Erfolg oder Misserfolg von Entwicklungshilfeprogrammen“, zitiert die Taz einen Freiburger Politikwissenschaftler und Afrika-Experten. „Sie überschüttet die Öffentlichkeit mit belanglosen Informationen, vermeidet aber echte Transparenz.“
Der deutsche Immobiliensektor wird zunehmend zum Ziel milliardenschwerer Geldwäsche. Am 7. Dezember 2018 wurden in Berlin die Ergebnisse einer von TI herausgegebenen und von Markus Henn, Finanzmarktexperte der Entwicklungsorganisation WEED, verfassten Studie vorgestellt. Danach werden verstärkt aus dem Ausland stammende Gelder, deren Herkunft unklar ist bzw. auf kriminellen Handlungen zurückgeht, im deutschen Immobilienmarkt investiert. Allein im Jahr 2017 sollen es über 30 Milliarden Euro gewesen sein, so dass 15 bis 30 Prozent aller kriminellen Gelder inzwischen in den Erwerb von Immobilien fließen. Vor allem die italienische Mafia versucht danach große Beträge, die unter anderem aus dem Handel mit Kokain stammen, durch den Kauf von Immobilien in den legalen Geldkreislauf zu schleusen. TI moniert insbesondere zahlreiche Schlupflöcher bei der Gesetzgebung und eine unzureichende Ausstattung der Ermittlungsbehörden.
Der Autor der Studie stützte sich bei seiner Recherche auf die Auswertung von wissenschaftlicher Literatur, offiziellen Stellungnahmen, Medienberichten sowie eine Reihe von Interviews mit Kennern der Branche, Personen aus Verwaltung und Polizei sowie Akteuren aus der Immobilienwirtschaft.
Die Eskalation rassistischer Gewalt in der sächsischen Stadt Chemnitz hat eine ganze Flut von Erklärungsversuchen hervorgebracht. Die meisten davon taugen keinen Pfifferling und man kann sie getrost wieder vergessen. Sehr beliebt ist beispielsweise der Versuch, die im Bundesland Sachsen sehr weite Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts dem 1990 verschwundenen Staat DDR anzulasten. Richtig ist davon nur, dass die rassistischen Denkmuster in den Köpfen vieler Einwohner dieses Bundeslandes ihre Ursache in der Historie haben. Oder, noch konkreter, in der Wirtschaftsgeschichte dieser Region. Zu dieser nachfolgend einige Ausführungen. (mehr …)
Vor allem die großen renditeorientierten Immobilienkonzerne wie Vonovia und Deutsche Wohnen sorgen immer wieder für Schlagzeilen, weil sie ihre Mieter*innen unter Druck setzen und sie in existenzielle Notsituationen treiben. Sie erhöhen systematisch die Mieten, vernachlässigen die Instandhaltung und führen teure, oft unsinnige Modernisierungen durch. Die Medien berichten regelmäßig über den oft zitierten „Mietenwahnsinn“ und den eklatanten Wohnungsmangel in vielen deutschen Großstädten. Ein Erkenntnisproblem gibt es also nicht. (mehr …)
Die Funktion des Lobbyismus, so heißt es heute oft, bestehe in erster Linie darin, das „richtige“ politische und gesellschaftliche Klima zu schaffen, in dem relevante Entscheidungen getroffen werden. Weitgehend im Dunkeln agierende Thinktanks und Stiftungen zielen demnach darauf ab, gewünschte Stimmungen und Trends gezielt zu fördern, unerwünschte dagegen zu behindern und zu schwächen [1]. Aber Netzwerke zwischen privatem Kapital und Staat, die den Eindruck vermitteln, dass die Grenze dazwischen verschwimmt, bestehen nicht nur als informelle Organisationsformen, sondern arbeiten auch ganz offiziell, offen und direkt. (mehr …)
„Im Rheinischen Revier und in der Lausitz kratzen die größten Bagger der Welt 24 Stunden am Tag an 365 Tagen im Jahr gigantische Mengen an Braunkohle aus der Erde. Das rheinische Braunkohlerevier ist damit die größte CO2-Quelle Europas. Jede Tonne Braunkohle, die RWE und Vattenfall aus der Erde holen und verbrennen, schmilzt fast zwei Tonnen Gletscher. Und zwar Jahr für Jahr. Das haben die Klima-Fachleute von Climate Analytics für Campact ausgerechnet. • Jede Sekunde holen die größten Bagger der Welt in Deutschland fast 6 Tonnen Braunkohle aus der Erde. • Die schmelzen 11 Tonnen Gletscher – Sekunde für Sekunde. • Jede Minute sind es 660 Tonnen, jede Stunde fast 40.000 Tonnen, jeden Tag 950.000 Tonnen Gletscher. Alles durch deutsche Braunkohle. Der komplette Irrsinn – Klimazerstörung mit deutscher Effizienz und Gründlichkeit.“
Nach jahrelangem Schattendasein sowohl in der politischen als auch medialen Diskussion gelten die so genannten Cum/Ex-Geschäfte mittlerweile als einer der größten bundesdeutschen Steuerskandale. In den letzten Monaten kam es, obwohl steuerschädliche Cum/Ex-Geschäfte seit 2012 nicht mehr möglich sind, immer wieder zu mehr oder weniger umfangreicher Berichterstattung. Nicht zuletzt die laufenden Ermittlungsverfahren gegen zahlreiche Beschuldigte boten hierzu entsprechende Anlässe. Anfang Mai 2017 hatte ein Verbund aus dem ARD-Magazin Panorama, der „Zeit“ und „Zeit online“ eine aufwändige Recherche zu einigen Hintermännern dieses Skandals veröffentlicht. Allerdings befasste sich ein großer Teil der Berichterstattung schwerpunktmäßig mit den Akteuren und Profiteuren dieser Geschäftspraxis – auch wenn der Bundestag Anfang 2016 einen Untersuchungsausschuss eingerichtet hatte, der sich mit dem Versagen staatlicher Stellen auseinandersetzen sollte. (mehr …)
In der von der Coordination gegen BAYER-Gefahren herausgegebenen Zeitschrift „Stichwort BAYER“ gibt es ab der Nr. 4/2019 jeweils achtseitige Beilagen mit Artikeln, die in der Internetausgabe von BIG Business Crime erschienen sind.