Ab Ende 2020 bestellten die 27 Mitgliedstaaten der EU gemeinsam bei Pfizer und anderen Pharmakonzernen die damals dringend benötigten Impfstoffe gegen das Corona-Virus. Seitdem erhielt Pfizer bei neuen Bestellungen mehrfach den Zuschlag, wohl auch, weil ihr Impfstoff beim deutschen Unternehmen Biontech produziert wird.
Die Verträge wurden mittlerweile überarbeitet, weil ein großer Teil der georderten Impfstoffe nicht mehr gebraucht wird. So muss Deutschland statt der ursprünglich für 2023 bestellten 92 Millionen Impfdosen nur noch etwa die Hälfte abnehmen.
In Nachverhandlungen mit Pfizer und Biontech Ende Mai 2023 einigten sich die Vertragspartner allerdings nur auf eine Verringerung der Zahlungsverpflichtung um weniger als 25 Prozent. Ein Insider spricht von 10 Euro „Stornogebühr“, die vom Steuerzahler pro abbestellter Dosis zu bezahlen sind – umgerechnet fast eine halbe Milliarde Euro.
Besonders interessant: Seit 2021 bereits fordern das Europaparlament und andere politische Akteure die Offenlegung der von der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) mit Pfizer verhandelten Impfstoffverträge, laufen damit aber gegen eine Wand. Denn die milliardenschweren Deals bleiben geheim, selbst das Europaparlament erhält wegen vertraglicher Verschwiegenheitspflichten keinen vollen Einblick.
„Die New York Times biss bei ihren Nachfragen ebenso auf Granit wie die Europäische Staatsanwaltschaft, die EU-Bürgerbeauftragte oder der Rechnungshof. Auch die taz hat nachgefragt: Was die Kommission denn zu der jüngsten strafrechtlichen Klage einer Privatperson aus Belgien und zu den Vorwürfen gegen von der Leyen sage, wollten wir wissen. ‚No comment‘, kein Kommentar, antwortete von der Leyens Chefsprecher Eric Mamer – nicht einmal, sondern mehrfach.“ (taz vom 23. Mai 2023)
Die Süddeutsche Zeitung kommentierte am 30. Mai:
„Deutschland muss offenbar mehrere Hundert Millionen Euro Stornogebühr dafür zahlen, dass mehrere zehn Millionen ehedem bestellte Impfdosen nicht mehr abgenommen werden. (…) Die EU hat neue Verträge mit Biontech und Pfizer ausgehandelt, die weitreichende Schweigeklauseln enthalten sollen. Schweigeklauseln, die zulasten jener gehen, die mit ihren Steuern den Staat finanzieren. Und die keinen Anspruch darauf haben, zu erfahren, was mit ihrem Geld geschieht. Nicht einmal die Volksvertretung, den Bundestag, hat Lauterbach bis ins letzte Detail informieren dürfen. Und nicht einmal in einer ohnehin nicht öffentlichen Sitzung des Haushaltsausschusses. Der Minister will sich und sein Ministerium nicht juristisch haftbar machen. (…) Konzerne lassen sich den Umstand, dass die Pandemie abgeflaut ist und nicht mehr so viele Impfstoffe nötig sind, teuer bezahlen. Konzernjuristen bestimmen, dass dies weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht. Parlamente haben kein Mitspracherecht.“
Martin Sonneborn, Mitglied des Europäischen Parlaments, und seine Co-Autorin Claudia Latour machen in einem Artikel des Online-Magazins Jacobin folgende Rechnung auf – mit Blick auf die europäische Dimension:
„Der Financial Times zufolge sieht der nachverhandelte Vertrag nun vor, die abzunehmende Impfstoffmenge von 500 Millionen Einheiten auf insgesamt 280 Millionen zu reduzieren. Abgenommen werden sollen künftig 70 Millionen Dosen pro Jahr bei gleichzeitiger Streckung des Lieferzeitraums bis 2026. Pfizer sei bereit, die ursprünglich bestellten, nun aber nicht abgenommenen Einheiten gegen eine ‚Stornogebühr‘ von 10 Euro pro Dosis zu streichen – aber nur, wenn die EU im Gegenzug einen höheren Preis für die bis 2026 zu liefernden Dosen akzeptiere. (…)
Wenn wir uns nicht verrechnet haben, dann macht das bei 220 Millionen in Abweichung zum ursprünglichen Vertrag zu streichenden Impfdosen einen Betrag von 2,2 MILLIARDEN Euro. 2,2 MILLIARDEN Stornogebühr für eine nicht zu erbringende Leistung – das klingt nach einem Geschäft, das wir auch gern mal machen würden, zumal es sich hier um den reinsten aller Reingewinne handelt, denn unternehmensseitig dürften noch nicht einmal die Stückkosten von rund 70 Cent anfallen. Es sei denn natürlich, Pfizer stellte die stornierten Impfdosen trotzdem her, nur um den eigenen Schöpfungsakt dann umgehend mit vollständiger Vernichtung zu torpedieren – nur so aus Jux vielleicht.“
Quellen:
Eric Bonse: „Streit über Pfizer-Stornogebühr“, taz vom 6. Juni 2023
https://taz.de/Corona-Impfstoff-in-der-EU/!5936100&s
Eric Bonse: „Impfschaden in Brüssel“, taz vom 23. Mai 2023
https://taz.de/EU-Impfstoffdeal-mit-Pfizer/!5933318&s
Markus Grill/Klaus Ott: „Hohes Storno für Corona-Impfstoffe“, Süddeutsche Zeitung vom 27./28./29. Mai 2023
Klaus Ott: „Unanständiger Deal“, Süddeutsche Zeitung vom 30. Mai 2023
Martin Sonneborn/Claudia Latour: „Der lausigste Deal der EU-Geschichte“, 25 Mai 2023, Jacobin Magazin