Martin Sellner gehört zu den ständigen Autoren der Zeitschrift „Sezession“, die bis zu dessen Auflösung vom Institut für Staatspolitik, dem neurechten Thinktank Götz Kubitscheks in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) herausgegeben wurde. Von 2015 bis 2023 war er Sprecher der Identitären Bewegung in Österreich. Ende November 2023 trug er bei dem von der investigativen Plattform Correctiv aufgedeckten Treffen von AfD-Mitgliedern und anderen Rechten in einer Potsdamer Villa einen „Masterplan“ zur „Remigration“ von Flüchtlingen und „nicht assimilierbaren“ Eingewanderten vor. Dazu hat er inzwischen auch ein weiteres Buch im selben Verlag wie das hier rezensierte vorgelegt.
Regime Change von rechts – schon der Titel verweist darauf, worum es Sellner vordringlich geht: Die Umfunktionierung und Neubewertung öffentlichkeitswirksamer Begriffe. Stammt regime change aus dem Vokabular westlicher politischer Strategen, die darunter den „Systemwechsel von autoritären Regimen zu Demokratien“ (Wikipedia) verstehen, so will Sellner einen anderen, in gewisser Weise entgegengesetzten Richtungswechsel. Er nennt es „Orbanisierung“, also den ungarischen Weg zu einer gelenkten Demokratie. Militante Strategien lehnt er dabei gleichermaßen ab wie ein bloßes Vertrauen auf parlamentarische Verfahren. Die begrenzte Regelverletzung hat er ebenso wie anderes den linken Bewegungen entlehnt und bei den Identitären schon mit mehr oder weniger Erfolg praktiziert. Er hält viel von „anschlussfähiger Provokation“.
Die Umwertung und Platzierung des Begriffs „Remigration“ in der Öffentlichkeit ist ein weiteres Beispiel. Ursprünglich ein neutraler wissenschaftlicher Begriff für die Rückwanderung von Migrierten, wird er von Sellner und der AfD als Bezeichnung für die von ihnen propagierte forcierte Abschiebung von Ausländern ohne Aufenthaltstitel benutzt, aber auch für das Herausdrängen von straffällig Gewordenen und Unangepassten aus dem Land, die bereits einen deutschen Pass besitzen. Dabei soll es nach Sellner juristisch korrekt und möglichst human zugehen, während der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, der Sellners Bücher und Pläne enthusiastisch begrüßt, in diesem Zusammenhang, eine Formulierung des Philosophen Sloterdijk aufgreifend, von einer dazu notwendigen „wohltemperierten Grausamkeit“ spricht.
Dass „Remigration“ wegen der Berichte über das Potsdamer Treffen und der darauf folgenden Welle von Massendemonstrationen gegen rechts als Begriff eine steile Karriere in den Medien erlebte, wertet Sellner als großen Erfolg. Auch dass das Wort zum „Unwort des Jahres 2023“ erklärt wurde, nutze seiner Bekanntheit. Es mit dem richtigen, rechten Inhalt zu füllen sei nun die nächste Aufgabe. Das entspricht dem im Buch ausgebreiteten Konzept, auf längere Sicht eine „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) voranzubringen, die Definitionshoheit über Begriffe zu erreichen oder das Wording und Framing, wie es im denglischen Neusprech heißt, zu bestimmen. Es geht um einen Kampf um die kulturelle Hegemonie, die die Voraussetzung dafür sei, politische Macht zu erringen. Darin folgt Sellner wie die Neue Rechte seit langem dem, was Antonio Gramsci in Mussolinis Kerker für die italienische kommunistische Partei als erfolgversprechende Strategie entwickelt hat. Berührungsängste kennen sie dabei nicht. Ganz am Ende seines Buches zitiert Sellner sogar zustimmend aus Lenins „Was tun?“.
Selbstverständlich ist das alles Taktik. Schließlich geht es darum, eine Revolution im Dienste des Bestehenden zu inszenieren. Sellner nennt sie Reconquista – nicht zufällig ist das auch die Bezeichnung für die Wiedereroberung muslimisch besetzter Territorien im mittelalterlichen Spanien, die nicht nur mit der Zwangschristianisierung oder Vertreibung der Mauren, sondern auch mit der der Juden einherging.
An keiner Stelle seines Buches findet sich bei Sellner eine Erkenntnis oder Kritik dessen, was das Wesen der Kapitalverwertung ausmacht oder auch nur eine ernsthafte Beschreibung von deren Krisen mitsamt ihren katastrophalen Auswirkungen auf Mensch und Natur. Alles erscheint vielmehr in erster Linie als bloß kulturelles bzw. ethnisches Phänomen und Problem. Dementsprechend sei das Hauptziel des angestrebten Regime Changes von rechts die „Erhaltung der ethnokulturellen Identität“ des deutschen Volkes. Ohne sie sei alles nichts. Es gehe gegen den „großen Austausch“ weiter Teile der Bevölkerung durch Fremde als perfiden Plan „globalistischer Eliten“, gegen den „universalistischen Schuldkult“, den die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland aufgezwungen hätten, um es klein zu halten. Erst danach sei eine Beschäftigung mit der sozialen oder ökologischen Frage sinnvoll, bei der es selbstverständlich unterschiedliche Meinungen und Lösungsansätze geben könne. Sellner verspricht: „Für eine ‚identitäre Einheitsfront‘ muss niemand seine Überzeugung aufgeben.“
Man sieht, dass er sich hier den Weg zu Bündnissen aller Art offen halten will, nicht nur zu einer Querfront mit Linken. Wie überhaupt Sellners Buch eine Wendigkeit und Flexibilität beweist, die man Vertretern der extremen Rechten vielleicht nicht so ohne weiteres zutraut. Sellner hat nicht nur Gramsci gelesen, den er mehrfach zitiert, sondern auch beispielsweise den US-amerikanischen Protestforscher Gene Sharp und andere einschlägige Literatur, der er wesentliche Einsichten in das Entstehen von Bewegungen und die Möglichkeiten zu ihrer Beeinflussung verdankt. Nicht umsonst bezeichnet Björn Höcke Sellners Opus als „Handbuch für die deutsche Volksopposition“. Über viele Seiten werden dazu sehr konkrete Handlungsanweisungen gebracht und Ratschläge für alle Fälle vermittelt.
Aufstand der Kulturen
Martin Sellner beruft sich in seinem Buch auf Alain de Benoist, der für die französische Nouvelle Droite als erster die „metapolitische“ Umfunktionierung linker Theorieansätze und Begriffe für die Zwecke der Rechten vorgenommen hat. Deshalb hier aus dessen Manifest „Aufstand der Kulturen” von 1999 noch einige Zitate, die Sellners ideologischen Hintergrund beleuchten können. Da ist beispielsweise vom „westlichen Imperialismus” die Rede, gegen den „die Völker” kämpfen sollen. Für die Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturen wird die „Logik des Kapitals” verantwortlich gemacht, die „den Menschen auf den Zustand einer Ware” reduziere, „deren Standort man verlegen” kann. Weltweit dominiere eine „Neue Klasse”, die überall den „gleichen Menschentypus” erzeuge: „Kalte Sachkundigkeit, von der Wirklichkeit losgelöste Rationalität, abstrakter Individualismus, ausschließlich auf Nutzen ausgerichtete Überzeugungen…”
Ein Kernsatz lautet: „Gegen die Allmacht des Geldes, der obersten Macht in der modernen Gesellschaft, gilt es, die Trennung von Reichtum und politischer Macht möglichst durchzusetzen.”
Die alte Unterscheidung zwischen „schaffendem” und „raffendem Kapital” klingt von Ferne in folgender Formulierung an: „Der Industriekapitalismus wurde allmählich von einem Finanzkapitalismus beherrscht, der kurzfristig eine Höchstrentabilität auf Kosten des tatsächlichen Zustands der Nationalökonomien und des langfristigen Interesses der Völker anstrebt”.
Wenn der Widerspruch nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen „Geld” und „Volk” bzw. den „Interessen der Völker” gesucht und gefunden wird, könnte es weiter gehen bis zu einer Ethnisierung des „schlechten” Kapitals – als „angelsächsisches” oder, bei den Neonazis, „jüdisches” Finanzkapital. Alain de Benoist – wie auch Sellner – geht nicht so weit. Er begnügt sich mit der Ablenkungs- und Sündenbockfunktion, die der Begriff des internationalen „Finanzkapitalismus” bereits bietet.
So läuft trotz des Einsatzes von viel scheinbar kapitalismuskritischem Vokabular doch wieder alles auf die Botschaft von der Verteidigung der nationalen und kulturellen Identität gegen den christlichen, aufklärerischen oder sozialistischen „Universalismus” hinaus. „Für starke Identitäten”, „Für das Recht auf Verschiedenheit”, „Gegen die Immigration” sind die charakteristischen Forderungen dazu in den Kapitelüberschriften des Manifests. Der Mensch wird im Stil von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt als „territoriales Tier” bezeichnet; seine „Entwurzelung” sei „eine soziale Pathologie unserer Zeit” (zit. nach Alain de Benoist: Aufstand der Kulturen – Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Junge Freiheit Verlag 2019).
Martin Sellner: Regime Change von rechts. Eine strategische Skizze. Verlag Antaios, Schnellroda, 4., überarbeitete Auflage, Januar 2024. 304 Seiten, 20 Euro. ISBN: 978-3-949041-54-9