Deutschland: Weiterhin ein sicherer Hafen für schmutziges Geld

Kriminologen können lediglich vermuten, wieviel Geld jährlich in Deutschland gewaschen wird. Nach seriösen Schätzungen handelt es sich dabei in Deutschland jedes Jahr um bis zu 100 Milliarden Euro. Am 25. August 2022 veröffentlichte die bei der OECD angesiedelte Financial Action Task Force (FATF) einen 320-seitigen Prüfbericht, der Deutschland weiterhin einen großen Nachholbedarf beim Kampf gegen die Finanzkriminalität bescheinigt. Die FATF gilt als das wichtigste internationale Gremium zur Bekämpfung und Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.

„Die Experten“, schreibt die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 26. August, „bemängeln das Kompetenzwirrwarr von über 300 Behörden, sehen Defizite bei der Überwachung des Bargeldschmuggels und beklagen insgesamt, dass Deutschlands zuständige Behörden viel zu wenig tun, um die Finanztransaktionen großer Verbrechersyndikate zu ermitteln und gerichtlich zu verurteilen.“

Der Bericht kritisiert vor allem die personelle Ausstattung sowie den fehlenden effizienten Austausch zwischen den Behörden. Das Ergebnis seien zu wenige Ermittlungen und Verurteilungen. Die SZ schlussfolgert: „Geldwäscher müssen bislang kaum Angst vor dem Rechtsstaat haben: Die wenigsten der vielen tausend Verdachtsmeldungen, die die Sammelstelle Financial Intelligence Unit (FIU) jedes Jahr an die Behörden weiterleitet, führen zu knallharten Ermittlungsverfahren, Von den rund 36.000 Geldwäscheverfahren des Jahres 2020 mündeten nur 629 in eine Anklage und 773 in einen Strafbefehl.“

Das Strafmaß für Geldwäsche in Deutschland, berichtet die Zeitung weiter, reiche von einer Geldstrafe bis hin zu Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und 15 Jahren. Im Falle von Verurteilungen erhielten 78 Prozent eine Geldstrafe und 13 Prozent eine Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr. Lediglich drei Personen wurden zu Freiheitsstrafen zwischen fünf und zehn Jahren verurteilt.

Am Tag vor Veröffentlichung des Berichts legte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) seine Ideen für eine große Reform der Geldwäsche-Bekämpfung vor. Zum einen soll ein mit echten Ermittlungsbefugnissen ausgestattetes Bundesfinanzkriminalamt geschaffen werden. Die zweite Säule bildet weiterhin die Anti-Geldwäsche-Einheit FIU, die künftig in die neue Bundesbehörde integriert werden könnte. Als drittes Standbein soll eine koordinierende Zentralstelle für Geldwäscheaufsicht arbeiten, die den Nichtfinanzsektor, wie etwa die Immobilien- und Glücksspielbranche, zu beaufsichtigen hätte (vgl. Handelsblatt vom 23. August 2022).

Sebastian Fiedler, SPD-Innenpolitiker und ehemaliger Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter, sprach sich im Deutschlandfunk jedoch gegen die Einrichtung einer weiteren zusätzlichen Behörde aus. Er forderte, den Zoll und die polizeilichen Teile des Zolls, die ja schon existieren würden, besser zu organisieren (vgl. junge Welt vom 26. August 2022). Die SZ dringt in ihrer Ausgabe vom 25. August auf die Einführung einer sogenannten Beweislastumkehr. „Diese bedeutet: Bei Verdacht auf kriminelle Herkunft konfiszieren die Behörden das infrage stehende Geld oder andere Vermögensgegenstände wie eine Immobilie. Sollte das beschlagnahmte Vermögen einem rechtschaffenen Bürger gehören, wird er leicht belegen können, wie er es verdient und wo er es versteuert hat. Ansonsten geht das Geld an den Staat.“ Italien habe mit dieser Methode seit den 1980er-Jahren Milliarden Euro an Mafiavermögen konfisziert.

Quellen:

Martin Greive/Jan Hildebrand: „Wie Lindner mit einer neuen Behörde große Geldwäscher fassen will“, Handelblatt (Online) vom 23. August 2022

Susanne Knütter: „Sicherer Hafen für Geldwäscher“, junge Welt vom 26. August 2022

Meike Schreiber/Markus Zydra: „Deutschland, Paradies für Geldwäscher“, Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2022

Markus Zydra: „Das reicht nicht, Herr Lindner!“, Süddeutsche Zeitung vom 25. August 2022

Wie die Mafia

Dass Donald Trump beim Aufbau seines Immobilien-Imperiums auch Deals mit Mafiakreisen gemacht hat, ist derzeit wohl nicht zu beweisen. Dass er sich aber vor der Justiz so verhält, wie sich nach seiner eigenen Einschätzung nur Mafiosi verhalten, hat er nun selbst belegt.

Seit Jahren laufen Untersuchungen zu betrügerischen Geschäftspraktiken seiner Firmen. Die Frankfurter Rundschau schreibt dazu: „Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft sollen der Milliardär und seine Helfer:innen über Jahre den Wert seiner Golfclubs, Hotels und sonstigen Besitztümer je nach Bedarf fälschlich klein- oder großgerechnet haben. Gegenüber dem Finanzamt wurden vor allem Verluste präsentiert. Bei Versicherungen und Banken aber sollen mit überzogenen Angaben günstige Kredite und Konditionen erschlichen worden sein.“ („Der Selbstdarsteller schweigt“, FR vom 12. August 2022)

Während einer vierstündigen Vernehmung unter Eid im Büro der New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James wegen dieser Vorwürfe nannte er nur seinen Namen und berief sich im übrigen mehr als 400-mal auf den fünften Verfassungszusatz. Dieser erlaubt es Beschuldigten, die Aussage zu verweigern, wenn sie sich ansonsten selbst belasten könnten. Trump hatte gute Gründe dafür. Allzu leicht hätte er sich in Widersprüche verwickeln können.

Als Hillary Clinton, seine Konkurrentin um den Präsidentenposten, vor ein paar Jahren das Gleiche tat, meinte er nur: „Warum beruft man sich auf den fünften Zusatzartikel, wenn man unschuldig ist?

Es versteht sich, dass Trump die Generalstaatsanwältin, eine Afroamerikanerin, nun vorab als Rassistin beschimpfte und die Untersuchung seiner Geschäfte als „die größte Hexenjagd der Geschichte“ bezeichnete.

Die FR kommentierte den Vorgang wie folgt: „Politisch und rechtlich könnte die Aussageverweigerung für den Mann jedoch zum Problem werden. Immerhin hatte er noch 2016 erklärt: ‘Nur die Mafia beruft sich auf den fünften Zusatz.’“

Eine neue Studie befeuert die Debatte um Übergewinnsteuern

Die aktuell massiven Preissteigerungen für Gas, Strom, Öl und Nahrungsmittel, ausgelöst vor allem durch den Krieg gegen die Ukraine, stürzen viele Menschen in finanzielle Not. Andererseits erzielen vor allem Mineralölkonzerne und Stromproduzenten (und Rüstungskonzerne) extrem hohe Extraprofite, ohne dass sich ihre Produktionskosten verteuert hätten. Europäische Nachbarländer aber zeigen, dass etwas gegen diesen Prozess der sozialen Polarisierung unternommen werden kann – beispielsweise durch die Einführung einer temporären Übergewinnsteuer auf Extraprofite. In Deutschland aber, so heißt es im Vorwort einer jüngst vorgelegten Studie des Netzwerks Steuergerechtigkeit, würde die Ampelkoalition vor allem auf Betreiben der FDP und durch das Stillhalten von Grünen und SPD diesen Weg blockieren. Als wenig stichhaltige Argumente werde etwa angeführt, dass eine Übergewinnsteuer rechtlich nicht möglich oder technisch nicht realisierbar sei oder zu wenig einbringe.

Zwei Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags würden dagegen das Gegenteil belegen: Eine Übergewinnsteuer in Deutschland ist juristisch machbar. Auch der Einwand von Bundesfinanzminister Lindner (FDP), Übergewinne ließen sich „amtlicherseits“ nicht feststellen, sei widerlegt. Ökonomisch und politisch gäbe es eine Reihe von Ansätzen, Übergewinne zu ermitteln und die Übergewinne der Mineralölkonzerne in Deutschland zu besteuern. Die Gegenargumente seien vor allem „eine ideologisch und verteilungspolitisch motivierte Verteidigung des Status Quo“. (Seite 6)

Die vorliegende Studie analysiert deshalb die Preisentwicklung und die Gewinne ausgewählter Mineralölkonzerne, belegt die Höhe der Kriegsgewinne in Deutschland und weltweit und zeigt, wo sie bisher versteuert werden.

Auf Seite 5 heißt es:

„Die sechs analysierten Mineralölkonzerne (Saudi Aramco, BP, Total, Shell, ExxonMobile und Wintershall Dea) haben ihre Gewinne im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum trotz hoher Abschreibungen auf Nord Stream 2 und das russische Geschäft um rund 60 Milliarden US-Dollar erhöht. Auf den gesamten Mineralölmarkt hochgerechnet ergibt sich ein Übergewinn von rund 430 Milliarden US-Dollar; für das ganze Jahr wären es sogar rund 1.160 Milliarden US-Dollar. Aus dem Preisanstieg seit Kriegsbeginn (…) ergeben sich aus den deutschen Verbrauchswerten rechnerisch Übergewinne von 38 Milliarden Euro (Öl) beziehungsweise 25 Milliarden Euro (Gas) für ein Jahr. Bei den Produzenten von Strom aus Kernkraft und erneuerbaren Energien entstehen aus dem Preisanstieg um 140 Euro pro MWh zusätzliche Übergewinne von etwa 50 Milliarden Euro – ein großer Teil davon bei den vier großen Stromkonzernen. Weil aber BP und die anderen Mineralölkonzerne einen beträchtlichen Teil ihrer Gewinne in Steueroasen wie Singapur oder die Schweiz verschieben, und ein anderer großer Teil der Gewinne in den Produktionsländern verbucht wird, würde die nach traditioneller Methode berechnete Unternehmenssteuer nur einen kleinen Teil der Gewinne erfassen. Je nach Ausgestaltung und Steuersatz (25, 50 oder 90 Prozent) könnte eine Übergewinnsteuer trotzdem Einnahmen von rund 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr generieren.“

Die EU-Kommission, so die Studie, erwäge eine europäische Übergewinnsteuer, einige europäische Länder, darunter Großbritannien, Italien, Spanien, Griechenland, Rumänien und Ungarn, hätten solche Steuern eingeführt, entwickelten sie gerade oder weiteten sie aus (etwa Spanien mit Blick auf die Banken). Auch Deutschland sollte deshalb kurzfristig eine Übergewinnsteuer für Mineralölkonzerne und Stromproduzenten einführen. Diese sollte nach dem Vorbild nationaler Digitalsteuern anderer Länder gestaltet werden, also die in Deutschland zu versteuernden Gewinne anhand des Umsatzes, der in Deutschland anfällt, ermittelt werden. Mittelfristig sollte die Bundesregierung auf eine allgemeingültige, international abgestimmte Steuer hinwirken.

Die linke Tageszeitung junge Welt kommentiert die Studie wie folgt:

„Fünf Monate sind vergangen, seit die EU-Kommission Leitlinien für Übergewinnsteuern veröffentlicht hat. In Italien gibt es sie inzwischen für Mineralöl- und Stromunternehmen, in Griechenland, Rumänien und Spanien für Stromerzeuger. Spanien hat zudem gerade die Sonderbesteuerung des Bankensektors angekündigt, Ungarn besteuert eine Vielzahl von Branchen, das aus der EU ausgetretene Großbritannien wenigstens die lokale Öl- und Gasförderung. EU-weit scheint wenig und in der BRD nichts zu machen.
Dafür steht Finanzminister Christian Lindner (FDP), der mit fadenscheinigen Argumenten nicht nur die Existenz von Übergewinnen in Abrede stellt, sondern auch die von Konzernen.“

Kathrin Witsch, Redakteurin des wirtschaftsliberalen Handelsblatt, zeigte sich Mitte Juni noch ablehnend gegenüber einer Besteuerung von Übergewinnen
(http://big.businesscrime.de/nachrichten/uebergewinnsteuern-gegen-missbrauchte-marktmacht/) Die vorliegende Studie scheint sie nun davon überzeugt zu haben:
„Länder wie Italien, Griechenland oder Großbrtitannien haben eine Form der Steuer auf Übergewinne längst eingeführt, die EU-Kommission hat dafür schon im Frühjahr grünes Licht gegeben. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnen das Instrument bislang hartnäckig ab. Schließlich sei eine solche Steuer ‚technisch sehr herausfordernd‘. Dabei behauptet niemand, dass eine solche Übergewinnsteuer einfach umsetzbar wäre. Das ist die Gasumlage allerdings auch nicht. Aber siehe da – es geht. Darum sollte wenigstens eine Diskussion über eine solche Steuer geführt werden.
Vielleicht hilft ja etwas Motivation. Eine neue Studie des Netzwerks Steuergerechtigkeit für die Linken-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung kommt jetzt zu einem interessanten Ergebnis: Je nach Ausgestaltung und Steuersatz könnte eine Besteuerung der Öl-, Gas- und Stromkonzerne dem Staat ‚Einnahmen von rund 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr generieren‘.“

Quellen:

Christoph Trautvetter/David Kern-Fehrenbach: „Kriegsgewinne besteuern: Ein Beitrag zur Debatte um Übergewinnsteuern“. Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, August 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46854/uebergewinnsteuer 

Alexander Reich: „Es wäre das mindeste“, junge Welt vom 17. August 2022
https://www.jungewelt.de/artikel/432727.energiekrise-es-w%C3%A4re-das-mindeste.html 

Kathrin Witsch: „RWE und Shell: Der Verzicht auf die Gas-Umlage ist alles andere als selbstlos“, Handelsblatt vom 16. August 2022

Das Versagen der Analysten

Im Juni 2020 kollabierte der börsennotierte deutsche Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister Wirecard. Schon Jahre zuvor, 2015, hatte ein Journalist der Financial Times Hinweise über Unstimmigkeiten in den Bilanzen des Konzerns erhalten und in der Folge darüber berichtet. Auch der britische Shortseller Fraser Perring warf im Jahr 2016 Wirecard betrügerische Machenschaften und Bilanzfälschung vor. Dass viele Analystinnen und Analysten bis zuletzt auf Wirecard gesetzt hatten und damit kolossal versagten, ohne aber mit Konsequenzen rechnen zu müssen, beschreibt ein Artikel der WirtschaftsWoche vom 22. Juli 2022. Dort heißt es: „Die Worte und Reports von Analysten können Millionen und Milliarden bewegen, Kleinsparer wie Großinvestoren legen ihr Geld entsprechend den Empfehlungen an – solange die Börsenbeobachter glaubwürdig erscheinen.“ 

Der Wirecard-Skandal aber habe dem Ruf der Aktienanalysten einmal mehr schwer geschadet, denn schon nach dem Zusammenbruch des Neuen Markts um die Jahrtausendwende habe er schwer gelitten. So erhielt eine Analystin der Commerzbank Ende 2019 den „Schmäh-Preis“ einer Investmentfirma: Sie wurde „zur besten Analystin für die schlechteste Wertpapieranalyse“ ausgezeichnet. Selbst danach, noch einen Monat vor dem Kollaps von Wirecard, erwartete sie, deren Aktie könne auf 230 Euro steigen, damit einen Aufschlag von 173 Prozent auf den damaligen Aktienkurs erreichen. Die „Expertin“ war jedoch mit ihrer (Fehl-)Einschätzung nicht allein.

„Besonders kurios wirken etwa die Empfehlungen der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Noch 2017 riet deren Analyst zum Verkauf der Aktie, 2018 wechselte er zu einem ‚Halten‘-Votum. Erst nachdem in der ‚Financial Times‘ zwei Berichte zu Bilanzfälschungsvorwürfen erschienen waren und der Kurs eingebrochen war, empfahl er die Aktie zum Kauf. Dieses ‚Kaufen-Rating‘ behielt der Analyst der LBBW sogar noch bei, als im April 2020 der KPMG-Bericht zu Wirecard erschien. Der Bericht offenbarte schwere Mängel: Die KPMG-Leute konnten eine Milliarde Euro Bankguthaben und entsprechende Umsätze nicht aufspüren.“

Auch andere Banken (wie die Warburg-Bank) präsentierten Wirecard-freundliche Analysen. Zum Beispiel die Münchner Baader-Bank, die die Aktie zwischen dem „erschreckenden KPMG-Bericht“ im April 2020 bis zur Pleite Mitte des Jahres sieben Mal empfahl. Offensichtlich arbeitet der Analyst weiterhin bei Baader. Auch ein Analyst der Privatbank Hauck Aufhäuser, der dem Betrug Wirecards ebenfalls auf den Leim ging, arbeitet weiter für die Bank, „beobachtet derzeit etwa die SDax-Titel 1&1 und Hypoport. Zu seinen vier ‚Kaufen‘-Empfehlungen zählt unter anderem die Wallstreet Online AG, die durch Verbindungen zu einem verurteilten Anlagebetrüger auffiel“.

Quelle:

Georg Buschmann/Lukas Zdrzalek: „Gezielte Desinformation“, WirtschaftsWoche vom 22. Juli 2022, Seite 78-80 (Printausgabe)

Kontrolleure mit (etwas mehr) Biss

Als weithin skandalös gilt, dass Unstimmigkeiten in den Bilanzen großer Konzerne in der Vergangenheit eher von Shortsellern als von der Finanzaufsicht BaFin entdeckt und veröffentlicht wurden.

In einem Report aus dem Herbst 2019 schrieb die Bürgerbewegung Finanzwende:

„Die BaFin bleibt in vielen Aufgabenbereichen deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück. Häufig fehlt es ihr an Tatkraft oder dem Willen einzugreifen. Oder wie es ein genervter Rechtsanwalt kürzlich ausdrückte: Die Finanzaufsicht sei zu oft ‚schuldig durch Nichtstun‘. Als harte Truppe sind die Aufseher der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unter Verbraucherschützern und Anlegeranwälten nicht gerade bekannt. Im Gegenteil: Ihnen agiert die Aufsicht oft nicht energisch genug, vielen gilt sie als ‚zahnloser Tiger‘.“

Nach dem Versagen der Behörde im Wirecard-Skandal des Jahres 2020, welcher gravierende Mängel bei den Kontrollmechanismen offenlegte, kündigte der Bundesfinanzminister deshalb eine Reform der BaFin an. Mitte des letzten Jahres beschloss der Bundestag ein entsprechendes Gesetz. Unter anderem wurde die Zahl der Mitarbeiter um etwa 150 aufgestockt, so dass die BaFin aktuell rund 2.800 Personen beschäftigt.

„Die reformierte Finanzaufsicht will härter, schneller und risikobereiter werden“, heißt es auf tagesschau.de. Die BaFin wirke entschlossener als bisher, so eine Expertin von Finanzwende gegenüber dem ARD-Nachrichtenportal; eine härtere Gangart sei schon sichtbar.

Das Wirtschaftsmagazin Finance weist in seiner aktuellen Ausgabe darauf hin, dass die Bilanzen deutscher Unternehmen 17 Jahre lang von der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) unter die Lupe genommen worden seien. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit Wirecard habe die Institution aber wegen einer zu schlechten Ausstattung ihre Unfähigkeit gezeigt, Bilanzmanipulationen großen Ausmaßes zu erkennen. Seit Januar 2022 ist nun die BaFin für die Bilanzkontrolle zuständig. Finance beschreibt das bisherige, unbefriedigende Prozedere:

„An die Kontrolle durch die DPR hatten sich Konzerne, ihre CFOs und Abschlussprüfer über die Jahre hinweg gewöhnt. Das Vorgehen: Die Prüfstelle wurde per Stichprobe oder auf einen Anlass hin aktiv, der Prüfung musste das Unternehmen dann erst einmal zustimmen, danach lief eine ausreichend lange Frist, um die angeforderten Dokumente vorzulegen. (…) Waren die Geprüften mit dem Urteil der DPR nicht einverstanden, folgte noch ein langes Ringen, und erst in einem finalen Schritt wurde die Bafin eingeschaltet. Fand die DPR einen Fehler, wurde dieser im Bundesanzeiger veröffentlicht – für die Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar und in einer derart kryptischen Formulierung, dass die meisten Anleger damit ohnehin nichts anfangen konnten. Vor allem aber dauerten die Untersuchungen meist so lange, dass der Fehler am Ende eine Bilanz betraf, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon mehrere Jahre alt war. Die Folge: Kaum ein Investor interessierte sich noch dafür, den Unternehmen drohte nur in den seltensten Fällen wirkliches Ungemach.“

Die BaFin forciert jetzt offensichtlich den Druck. So sollen Bilanzmanipulationen möglichst früh identifiziert und strafrechtlich relevante Sachverhalte gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden. Auch kann die BaFin bereits mit Beginn der Prüfung sowohl den Namen des Unternehmens als auch den Grund für die Untersuchung bekannt geben. Prüfungen sollen in drei bis sechs Monaten abgeschlossen sein und sich nicht mehr über Jahre hinziehen. Außerdem hat die BaFin nun ein Vorlade- und Vernehmungsrecht gegenüber Organmitgliedern, Mitarbeitern und Abschlussprüfern, so das Magazin Finance.

Die „neue Kampfeslust der Bafin-Beamten“ (Süddeutsche Zeitung vom 3. August 2022) zeigt sich offenbar in der Konfrontation mit einem Immobilienriesen, der Adler Group. Der Konzern, so der Vorwurf, habe sich ein großes Entwicklungsprojekt in Düsseldorfer Stadtteil Gerresheim schöngerechnet, das heißt, es sei um eine Viertelmilliarde Euro zu hoch bewertet worden (vgl. Artikel zur Adler Group vom 4. Juli 2022;  http://big.businesscrime.de/category/artikel/). Nach Angaben der BaFin, so berichtet die Süddeutsche Zeitung, veröffentliche die Behörde zum ersten Mal „eine solche Teil-Fehlerfeststellung“. Die Behörde untersuche also nicht mehr im Stillen so lange vor sich hin, bis es zu spät sei und Anleger alles verloren hätten. Allerdings – so die Einschränkung – stammten die Vorwürfe rund um Adler aus dem vergangenen Herbst und die Aktie hätte seitdem mehr als drei Viertel an Wert verloren.

Die Süddeutsche Zeitung kommentiert:

„Für ein Lob der neuen Bafin ist es noch zu früh; die Adler-Bilanzkontrolle ist ein erster Test, den die Behörde noch nicht bestanden hat. (…) Es waren stets andere, die zuerst auf Missstände hinwiesen. Die Finanzaufsicht deckt selten etwas auf. Immerhin verspricht sie jetzt, allen Hinweisen konsequent nachzugehen. (…) Bis die Bafin gefürchtet sein wird wie die US-Börsenaufsicht SEC mit ihren Megabußgeldern, ist es aber noch ein weiter Weg.“ (Süddeutsche Zeitung vom 4. August)

Quellen:

Bürgerbewegung Finanzwende e. V (Hg.):  „Die Akte BaFin. Zu mutlos, zu langsam, zu formal – wie die deutsche Finanzaufsicht besser werden kann“, Oktober 2019.

https://www.finanzwende.de/themen/finanzaufsicht-bafin/finanzwende-report-die-akte-bafin/

Ursula Mayer (HR): „Finanzaufsicht nach Reform: Der Riese BaFin erwacht allmählich“, tagesschau.de vom 3.Mai 2022

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/bafin-119.html

Julia Schmitt: „Das Ende des zahnlosen Tigers“, Finance vom Juli/August 2022, Seite 64-65 (Printausgabe)

Jan Diesteldorf/Stephan Radomsky: „Die Kontrolleure beißen zu“, Süddeutsche Zeitung vom 3. August 2022 (Online)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/adler-immobilien-bafin-1.5633156

Jan Diesteldorf: „Jetzt wir kontrolliert“, Süddeutsche Zeitung vom 4. August 2022 (Online)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bafin-kommentar-adler-wirecard-1.5633893

 

 

Private Fluchtprogramme der Superreichen

„Galoppierende Preise. Der Zusammenbruch des Finanzsystems. Das nächste Virus. Vielleicht sogar ein Atomkrieg. Alles möglich. Und jeder reagiert auf die Unsicherheit, auf seine Weise (…) Und die Superreichen?“

Das Wochenmagazin Wirtschaftswoche (WiWo) beschreibt in seiner Ausgabe vom 15. Juli 2022 die Vorsorgestrategie Superreicher gegen „die Bedrohungen unserer Zeit: Kriege, Killerviren und Klimakatastrophen“. Nach einer Erhebung der Beratungsfirma Capgemini, so die WiWo, gab es 2021 weltweit 22,5 Millionen Dollar-Millionäre, acht Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten davon leben in den USA (7,46 Millionen), 1,63 Millionen in Deutschland.

Offensichtlich strebt die Geldelite danach, sich verschiedene Aufenthaltsrechte zu sichern. So vermittelt ein Züricher Geschäftsmann Staatsbürgerschaften und Aufenthaltstitel – mit 300 Mitarbeitern und in 35 Büros weltweit. Seine Firma ließ die Fluchtbewegungen der Reichen untersuchen. Danach werden in diesem Jahr rund 88.000 Millionäre in andere Staaten auswandern – darunter mehr als 15.000 Superreiche aus Russland,  10.000 aus China und etwa 8.000 aus Indien.

„Amazon-Gründer Jeff Bezos, laut ‚Forbes‘ 135 Milliarden Dollar schwer, hat ein Refugium auf Hawaii. PayPal-Gründer Peter Thiel (4,8 Milliarden) ist Staatsbürger Neuseelands, Google-Gründer Larry Page (98 Milliarden) hat dort einen ständigen Wohnsitz. Für Thiel ist Neuseeland ‚die Zukunft‘, also der Ort, an den er wohl fliehen wird, wenn es soweit ist.“ (WiWo vom 15. Juli 2022)

Ein weiteres Beispiel für einen „Flüchtling de Luxe“ ist der Multimilliardär Roman Abramovich. Neben der russischen Staatsbürgerschaft verfügt er auch über einen Aufenthaltstitel in Großbritannien, eine israelische und eine portugiesische Staatsbürgerschaft, die ihm Freizügigkeit im gesamten Schengen-Raum ermöglicht (WiWo Online vom 18. Juli 2022).

„Die Zahlen spiegeln auch die zunehmende Ungleichheit wider: Wenn’s ums Geld der Menschen geht, ist Mobilität über Grenzen hinweg willkommen. Wenn’s ums Überleben der Menschen geht, dann werden Grenzen immer strikter geschlossen“, stellt der Soziolge Steffen Mau im Interview mit der WiWo fest (ebd.).

Von den weltweit reichsten Menschen haben nach Angaben von Mau rund 30 bis 40 Prozent mindestens einen zweiten Pass. „Seit Jahren hat sich über diese goldenen Pässe ein globaler Mobilitätsadel entwickelt, für den Grenzen keine Bedeutung mehr haben. Diese Personen schweben quasi im Privatjet über Grenzen hinweg, sie bilden damit eine eigenständige, sehr privilegierte Kaste, zugleich gibt es auch Personen aus der gehobenen Mittelschicht, die so versuchen, politische und wirtschaftliche Risiken zu minimieren. (…) Wer verschiedene Aufenthaltsrechte hat, kann damit sein gesamtes Portfolio optimieren, also gewissermaßen Ortsrenditen so generieren, wie sie gebraucht werden. Etwa, indem dort Steuern gezahlt werden, wo es günstiger ist. Oder jemand lässt sich dort nieder, wo er mehr Rechte und Freiheiten bekommt und sich nicht der Willkür ausgesetzt sieht. Im Idealfall gibt es beides auf einmal.“ (ebd.)

Durch die „goldenen Pässe“ werde, so Mau, die Staatsbürgerschaft kommerzialisiert und tendenziell entwertet. Dass, was eigentlich eine Loyalitätsbeziehung sei, werde jetzt zu einem handelbaren Gut – das sich allerdings sich nur einige wenige Menschen leisten können. So werde eine extreme Ungleichheit produziert zwischen denjenigen, die sich eine Staatsbürgerschaft kaufen können, und den Menschen, die mühsam an einer Einbürgerung arbeiten müssen (Nachweis festes Einkommen, Sprach- und Integrationstests).

Quellen:

Volker Ter Haseborg u. a.: „Flüchtlinge De Luxe: Geldwerter Vorsprung“, Wirtschaftswoche vom 15. Juli 2022 (Print), Seite 16-21

„Der Mobilitätsadel schwebt im Privatjet über Grenzen hinweg“, Interview von Sonja Álvarez mit Steffen Mau, Wirtschaftswoche (Online) vom 18. Juli 2022

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/millionaere-kaufen-goldene-paesse-der-mobilitaetsadel-schwebt-im-privatjet-ueber-grenzen-hinweg/28507518.html

 

„Skandal im Skandal“: Cum-Ex und die Landesbanken

„Der sichtbare Teil des ‚Cum-Ex‘-Sumpfs wird umso größer, je länger die juristische Aufarbeitung des größten Steuerraubs in der Geschichte Europas andauert. Immer wieder geraten neue kriminelle Substrukturen in den Fokus der Ermittler, immer wieder bringen Razzien in dubiosen Geldhäusern neue Details ans Licht.“ Das schreibt die junge Welt in ihrer Ausgabe vom 23. Juli 2022. In der Tat kann nicht bestritten werden, dass die kriminellen Finanzgeschäfte seit geraumer Zeit öffentlich diskutiert werden. Immerhin werden mehr als 100 Banken und mindestens 1.500 Personen verdächtigt, den Staat ausgeplündert zu haben. Auch haben mittlerweile sowohl der Bundesfinanzhof, der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht die Cum-Ex-Geschäfte als illegal und strafbar eingestuft.

Einen bislang jedoch unterbelichteten Aspekt rekonstruiert das Handelsblatt in seiner Online-Ausgabe vom 20. Juli 2022: den Stand der Ermittlungen gegen die an Cum-Ex-Geschäften beteiligten Landesbanken. „Das Ergebnis ist ein Skandal im Skandal“, konstatiert die Wirtschaftszeitung und fragt, ob die Justiz schlicht mit zweierlei Maß misst.

„Der Cum-Ex-Steuerschaden, den deutsche Landesbanken schon zugegeben haben, kratzt an der Milliardengrenze. Doch die juristische Aufarbeitung kriecht. Kein einziger Landesbanker wurde bislang wegen Cum-Ex-Geschäften verurteilt, kein einziger angeklagt. ‚Ausgerechnet bei den Banken in öffentlicher Hand wird sehr nachlässig aufgeklärt. Offensichtlich geht der Staat gegen Landesbanken weniger entschlossen vor als gegen Privatbanken‘, sagt Christoph Spengel, Steuerprofessor an der Universität Mannheim.“ (ebd.)

Allein die ehemalige Landesbank WestLB, so die Zeitung, habe im Zuge von Cum-Ex-Geschäften mutmaßlich 600 Millionen Euro an Steuern hinterzogen, ein Vielfaches mehr als die in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden Hamburger Warburg Bank. Ähnliche Geschäfte liefen offenkundig auch bei anderen Landesbanken: In Hessen geht es um 22 Millionen Euro (Landesbank Hessen-Thüringen: Helaba), in Hamburg um 112 Millionen (HSH Nordbank, heute Hamburg Commercial Bank), in Baden-Württemberg (LBBW) um 166 Millionen. Die Ursache für die offensichtlich fehlende Motivation der Staatsanwälte, aktiv zu werden, ist für viele Insider des Cum-Ex-Komplexes klar: Bei den Landesbanken sitzen und saßen so manche noch aktive und ehemalige Politiker im Aufsichtsrat.

Das Handelsblatt schließt seinen detailreichen Artikel wie folgt:

„Jahrelange Steuerhinterziehung mit anschließend bestenfalls behäbiger Strafverfolgung ist ein öffentliches Ärgernis. Kenner der Vergangenheit freilich ärgern sich gleich doppelt: Die Landesbanken, die den Steuerzahler schädigten, ließen sich zuvor vom Steuerzahler retten.

Die HSH Nordbank beantragte 2008 in der Finanzkrise Staatsgarantien in Höhe von 30 Milliarden Euro. Später wurde bekannt, dass die Führung Risiken in eine Tochtergesellschaft auf den kanarischen Inseln ausgelagert hatte, um ihre Bilanz aufzuhübschen. Die Rettung der HSH kostete den Steuerzahler drei Milliarden Euro. Das hielt die Bank nicht davon ab, mit ihren Cum-Ex-Aktiengeschäften Steuern in dreistelliger Millionenhöhe zu hinterziehen.

Ähnliche Geschichten gibt es aus anderen Bundesländern. In Berlin kostete die Rettung der Landesbank rund zwei Milliarden Euro; dort sorgten unter anderem üppige Abfindungen an gescheiterte Vorstände für Unmut.

Alles in den Schatten stellte die Rettung der WestLB. Auf bis zu 18 Milliarden Euro bezifferte Finanzminister Walter Borjans 2018 die möglichen Belastungen für den Fiskus durch die Skandalbank.

Die Führung der WestLB dankte dem Steuerzahler die Rettung, indem sie ihn anschließend auch noch betrog: Laut Staatsanwaltschaft liefen die Cum-Ex-Geschäfte der Landesbank zwischen 2007 und 2011. Wenn die mehrheitlich staatseigene Nachfolgegesellschaft Portigon nun Rückstellungen für die Rückzahlung bildet, landet die Rechnung dort, wo sie immer landete: beim Steuerzahler.“

 

Quellen:

Sebastian Edinger: „Aufarbeitung des Steuerraubs“, junge Welt vom 23. Juli 2022

https://www.jungewelt.de/artikel/431035.finanzwirtschaft-aufarbeitung-des-steuerraubs.html?sstr=cumex

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Schäden in Milliardenhöhe: Landesbanken versinken in Cum-Ex-Affäre“,  Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2022

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-schaeden-in-milliardenhoehe-landesbanken-versinken-in-cum-ex-affaere/28521106.html?

Sönke Iwersen: „Cum-Ex-Skandal: Landesbanken und ihre Kontrolleure in der Politik verraten die Steuerzahler“ (Kommentar), Handelsblatt (Online) vom 21. Juli 2022

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-cum-ex-skandal-landesbanken-und-ihre-kontrolleure-in-der-politik-verraten-die-steuerzahler-/28537822.html

 

 

Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und „Sozialbetrug“ im Vergleich

Anfang 2022 erschien im Berlin-Verlag das Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ von Ronen Steinke. Mit der offenbar für viele Menschen provokanten Feststellung, dass in deutschen Gerichtssälen von der vielbeschworenen Gleichheit vor dem Gesetz nicht die Rede sein könne, avancierte es schnell zum Bestseller. Verfahren wegen wirtschaftskrimineller Delikte in Millionenhöhe würden oftmals eingestellt oder endeten mit minimalen Strafen. Arme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, müssten sich hingegen auf harte Strafen einstellen. Wenn sie dann die auferlegten Geldstrafen nicht bezahlen können, erwarten sie Ersatzfreiheitsstrafen. [1]

Besonders die Ersatzfreiheitsstrafe wird seit einigen Jahren verschärft kritisiert – selbst im Unterhaltungssektor, wie eine Ausgabe der satirischen TV-Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom Dezember des letzten Jahres belegt. [2] Aber auch im kritischen Rechtsdiskurs wird diese Form der Bestrafung von Armutskriminalität zunehmend hinterfragt. Besonders die Kombination der Ersatzfreiheitsstrafe mit dem Strafbefehlsverfahren gilt vielen als brisant oder schlicht „obszön“ (Ronen Steinke). Gerichte entscheiden dabei ohne Hauptverhandlung im Rahmen eines vereinfachten, rein schriftlichen Verfahrens, das vor allem die Staatsanwaltschaften und Gerichte entlasten soll. [3]

In einem taz-Gespräch erläuterte Autor Ronen Steinke an einem weiteren Beispiel, warum er die deutsche Justiz als „neue Klassenjustiz“ auffasst. So kämen Steuerhinterzieher bei derselben Schadenssumme im Vergleich zu Hartz-4-Betrügern deutlich milder davon. Sowohl bei Steuerbetrug als auch bei Hartz-4-Betrug sei zwar der Staat als Opfer betroffen, denn die Allgemeinheit würde in beiden Fällen geschädigt. Aber die Diskrepanz bei der Strafzumessung sei auffällig. [4]

Wissenschaftlich unterfüttert wird diese – nicht unbedingt überraschende Erkenntnis – von dem Hamburger Rechtsprofessor Guy Beaucamp. In einer vergleichenden Analyse kommt auch er zum Ergebnis, dass die Rechtsordnung Steuerhinterziehung deutlich nachsichtiger behandelt als sogenannten Sozialbetrug. [5] Die Straftat Steuerhinterziehung wird in § 370 AO (Abgabenordnung) geregelt, das betrügerische Erschleichen von Sozialleistungen vom allgemeinen Betrugstatbestand des § 263 StGB erfasst. Der Strafrahmen für beide Delikte ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe identisch.

Es bestehen allerdings gravierende Unterschiede bei der rechtlichen Behandlung der Steuerhinterziehung und dem Sozialbetrug. Das Steuerstraf- und ordnungswidrigkeitenrecht bietet laut Beaucamp ein „raffiniertes System von Vergünstigungen“ (Seite 449), das keine Entsprechung im Bereich des Sozialbetruges findet. Zeigen sich beispielsweise Steuerhinterziehende nach § 371 AO selbst an, werden sie als reuige Steuerpflichtige nicht mehr strafrechtlich verfolgt, sofern sie die „unrichtigen Angaben berichtigen“ und die hinterzogenen Beträge nachzahlen. § 263 StBG sieht dagegen keine Möglichkeit für eine derartige entlastende Selbstanzeige vor.

Daneben wird der für beide Delikte gleiche Strafrahmen unterschiedlich genutzt:
„Für die Steuerhinterziehung hat das BGH im Jahr 2008 eine grobe (…) Marschroute in drei Schritten vorgegeben. Geldstrafen sollen in der Regel nur bis zu einer Schadenshöhe von 100.000 € verhängt werden; bei höheren Hinterziehungsbeträgen soll es dann zu Bewährungsfreiheitsstrafen kommen, wenn die Schadenshöhe 1.000.000 € übersteigt, sollten regelmäßig Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt werden. Für den Sozialbetrug gelten solche Leitlinien nicht.“ (Seite 451)

In diesem Bereich werden Taten mit viel geringeren Schadensbeträgen mit wesentlich härteren Strafen geahndet. Beaucamp führt anhand typischer Entscheidungen mehrere Beispiele an: Bereits ein Schaden von etwa 3.000 Euro kann zu einer dreimonatigen Freiheitstrafe auf Bewährung führen, bei einem Schaden von etwa 3.200 Euro kam es in einem Fall zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Landgericht Osnabrück verurteilte im November 2020 zwei Angeklagte zu jeweils drei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe, weil sie die Sozialbehörde innerhalb von mehr als vier Jahren um 84.000 Euro betrogen hatten (vgl. Seite 451f.).

Die Unterschiede bei der Bemessung der Strafen in den beiden Bereichen lassen sich kontrastieren mit den Schadenssummen, die Sozialbetrug und Steuerhinterziehung jeweils bewirken. „Pro Jahr“, heißt es bei Beaucamp, „verursacht der Sozialbetrug im Bereich des SGB II geschätzte Schäden von durchschnittlich 57 Millionen €. Dieser Schaden verteilt sich auf rund 130.000 Einzelfälle, so dass pro Schadensfall ein durchschnittlicher Betrag von rund 440 € zu viel ausgezahlt wird. Steuerhinterziehung verursacht für den deutschen Staat nach Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft einen jährlichen Schaden von 50 Milliarden €.“ (Seite 451)

Dass Steuerhinterziehung im Vergleich zum Sozialbetrug um ein vielfaches höhere Schadenssummen verursacht, liegt laut Autor zum einen daran, dass es wesentlich mehr Steuerzahler gibt als Sozialleistungsempfänger. Viele Menschen mit Leistungsansprüchen stellten zudem aus Unkenntnis oder Scham keine Anträge. Zum anderen sei der Betrag, um den man den Staat betrügen könne, bei Leistungsbeziehenden von vornherein beschränkt. In Fällen der Steuerhinterziehung sei das anders. Dort gäbe es keine „natürliche“ Schadensobergrenze (Beispiel Cum-Ex-Deals). Zudem entwickelten viele Steuerberater, Anwälte und Banken für ihre wohlhabenden Kunden kreative Steuergestaltungen, die bisweilen auch die Grenzen des Erlaubten überschreiten würden. Für Steuerhinterziehung im größeren Stil gebe es auch international Angebote, „oder anders ausgedrückt, zwar gibt es Steuer- aber keine Sozialbetrugsoasen“. (Seite 451)

Anmerkungen:

[1] Vgl. auch Anne Seeck: „Wer nicht zahlen kann, muss in Haft“, 19. April 2022
http://big.businesscrime.de/category/rezensionen/ 

[2] „Ja, wer ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn fährt, begeht eine Straftat und wird mit aller Härte des Gesetzes bestraft. Denn kein Ticket bedeutet Geldstrafe, kein Geld für Geldstrafe bedeutet noch mehr Geldstrafe und immer noch kein Geld für mehr Geldstrafe bedeutet KNAST! Und da sitzt man dann im Jahr 2021 wegen eines Scheißgesetzes der Nazis von 1935.“ (Ankündigung der Sendung in der ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html) 

[3] Vgl. Elena Blessing/Natalia Loyola Daiqui: „Ohne Anhörung ins Gefängnis“, 24. Januar 2022
https://verfassungsblog.de/ohne-anhorung-ins-gefangnis/ 

Vorschläge für eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe, die eine Reform des Verfahrens der Geldstrafe voraussetzt, finden sich hier:
Frank Wilde: „Mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht wagen“, 29. Juni 2022
https://verfassungsblog.de/soziale-gerechtigkeit-wagen/ 

[4] „Gleich, gleicher, Rechtsstaat?“ taz-Talk vom 17. März 2022 mit Ronen Steinke, moderiert von Ulrike Winkelmann.
https://taz.de/Ronen-Steinke-ueber-Klassenjustiz/!5824272/# 

[5] Guy Beaucamp: „Sozialbetrug und Steuerhinterziehung – zwei Welten?“, in: JuristenZeitung (JZ) 9/2022, Seite 446-454

Aggressiver Lobbyismus des Fahrtenvermittlers Uber

Die am 10. Juli 2022 veröffentlichten Uber-Files zeigen, wie der global agierende US-Fahrdienstleister versuchte, Politik und Öffentlichkeit mit dubiosen Methoden zu beeinflussen. Das Ziel bestand darin, sich Zugang zu den europäischen Märkten zu verschaffen und etwa in Deutschland das Personenbeförderungsgesetz zu ändern. Unterstützt wurde der Konzern dabei von Politik, Wissenschaft und Medien.

Die Informationen basieren auf internen Dokumenten des Unternehmens, die dem britischen Guardian zugespielt und von rund 40 Medien weltweit ausgewertet wurden. In Deutschland beteiligten sich daran WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung (SZ). Laut SZ vom 11. Juli 2022 stammt das Material (rund 124.000 E-Mails, Textnachrichten und Analysen) von einem ehemaligen Uber-Manager, der von 2014 bis 2016 für das Unternehmen als Cheflobbyist in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika gearbeitet hatte. Belegt werden vor allem die Lobbypraktiken des US-Konzerns in der Zeit von 2013 bis 2017, als Uber weltweit aggressiv expandierte. Ab 2014 wollte sich Uber auch in Deutschland verstärkt etablieren. Allerdings wehrte sich die Taxibranche massiv gegen die Pläne des Konzerns. Es kam zu mehreren Gerichtsurteilen, die Uber-Dienste verboten: „Das Dumme nur: Deutsche Gerichte sehen in Uber nicht nur ein digitales Start-up, das lediglich eine App zur Verfügung stellt, sondern vielmehr einen Fahrdienst, der deshalb, ebenso wie Taxis, eine Lizenz benötige und dafür auch örtliche Niederlassungen gründen müsste. Infolge wäre der US-Konzern in Deutschland damit voll steuerpflichtig.“ (Tagesschau.de vom 10. Juli 2022)

Das Geschäftsmodell von Uber besteht darin, über eine App und gegen satte Provisionen Fahrdienste zu vermitteln, das heißt ohne einen eigenen Fuhrpark Mitfahrgelegenheiten via Smartphone zu ermöglichen – und damit das Taximonopol zu brechen. Der Konzern, der 2009 in San Francisco gegründet wurde und im letzten Jahr 17 Milliarden US-Dollar umsetzen konnte, steht damit in direkter Konkurrenz zum regulierten deutschen Taxi-Markt. Deshalb tat sich bislang auch die öffentliche Meinung mit der Dienstleistung des US-Unternehmens eher schwer.

Einen Eindruck vom rabiaten Auftreten des Unternehmensgründers Travis Kalanick vermittelte die SZ am 11. Juli 2022:

„Dass dieser Expansion bisweilen nationale Arbeitsschutzgesetze oder Beförderungsbestimmungen entgegenstanden, störte Kalanick offenbar nicht. Gespräche mit Politikern bezeichnete er als ‚Zeitverschwendung‘, demonstrierenden Taxifahrern hielt er entgegen, Roboter würden bald ihren Platz einnehmen. Kaum hatte das Unternehmen einen Markt betreten, sollten die Behörden dort die Regeln im Sinne Ubers ändern. Das Manager Magazin verglich Kalanick einmal mit einem Cowboy, der die Schwingtüren zum Saloon eintritt, sich den Weg zum Tresen freischießt – und dort zuvorkommend bedient werden will.“

Wie aber konnte Uber über Jahre hinweg Politiker, Wissenschaftler und Medien für sich einspannen, um die öffentliche Meinung und die Gesetze in seinem Sinne zu beeinflussen?

Die Politik:

Laut SZ setzte sich der damalige französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron direkt für Uber ein. Zwischen 2014 und 2017 traf er sich mindestens vier Mal mit Kalanick, drei der Zusammenkünfte waren bisher nicht öffentlich bekannt. „Dabei soll es auch zu einer geheimen Absprache gekommen sein, die Uber das Geschäft erleichtert haben soll“, schreibt das Handelsblatt am 10. Juli 2022. „Als Finanzminister habe Macron sich ‚selbstverständlich mit zahlreichen Unternehmen ausgetauscht‘, erklärte ein Sprecher des Präsidenten. Dabei sei es auch darum gegangen, bestimmte administrative oder regulatorische Sperren aufzuheben.“ Auf EU-Ebene war die Niederländerin Neelie Kroes, bis Ende 2014 als EU-Kommissarin für die digitale Agenda verantwortlich, behilflich. Sie soll sich bei Politikern ihres Landes für Uber stark gemacht haben. Nach ihrem Ausscheiden in Brüssel und nach Ablauf einer Karenzzeit übernahm sie einen gut bezahlten Job als Beraterin bei dem US-Unternehmen (vgl. Spiegel vom 10. Juli 2022).

FDP-Politiker Otto Fricke stellte den Kontakt zu deutschen Politikern her, zum Beispiel zum damaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und zur Staatssekretärin Dorothee Bär (beide CSU). Laut SZ sei es das Ziel gewesen, das Personenbeförderungsgesetz zu ändern. In dieser Zeit, zwischen 2014 und 2016, war Fricke für eine Beratungsfirma als Lobbyist tätig. Bereits von 2002 bis 2013 gewählter Bundestagsabgeordneter, stieg er dann ab 2017 wieder in die Politik ein und kam erneut in den Bundestag.

Die Wissenschaft:

Laut Uber-Files fand der Konzern über Fricke auch Kontakt zu Justus Haucap, Professor für Wirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf – einem „Überzeugungstäter, der im Taximonopol ohnehin ein Problem sah“ (SZ vom 11. Juli 2022). Dieser verfasste 2015 für 44.000 Euro eine Studie zu den angeblich positiven Wirkungen der Marktöffnung für die Verbraucher und platzierte laut SZ einen „flankierenden“ Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für weitere 4.000 Euro. Die Studie wurde vor Erscheinen offensichtlich von Uber noch einmal gegengelesen und in Absprache mit Haucap abgeändert.

Die Medien:

Die Uber-Files enthüllen, dass „die Berater des Unternehmens von Beginn an auch einige der mächtigsten Medienkonzerne Deutschlands auf dem Zettel hatten: Axel Springer, Hubert Burda Media, Pro Sieben Sat 1“. (SZ vom 12. Juli 2022) Tagesschau.de beschrieb am 11. Juli das strategische Vorgehen Ubers:

„Um in Deutschland besser angenommen zu werden, hoffte Uber auch auf Unterstützung von Medienunternehmen. Der Springer-Konzern bot Hilfe an und investierte in das Start-up. Vor allem für den damaligen ‚Bild‘-Chef Diekmann interessierte sich Uber. (…) Man wollte sich am liebsten mit der größten deutschen Boulevardzeitung zusammentun, um den Zutritt zum deutschen Markt zu erleichtern. ‚Wir brauchen jemanden wie Kai Diekmann, der Türen für uns öffnet‘, schrieben die Uber-Manager damals. Und in einer anderen E-Mail: ‚Kai Diekmann ist der beste Weg, auch um zu Merkel zu kommen.‘ Diekmann galt bei Uber als einer der mächtigsten Medienmacher. (…) Offen für Unterstützungsleistungen zeigte sich laut den Uber Files Axel Springer. Der Konzern beteiligte sich Anfang 2016 mit einem kleinen Investment am US-Unternehmen. ‚Für uns ist der Wert die Unterstützung und der Einfluss des Verlags in Berlin und Brüssel‘, hielten Uber-Manager dazu intern fest. (…) E-Mails zeigen auch, wie hilfsbereit Springer-Manager für Uber waren. Sie wollten zum Beispiel dabei helfen, den Uber-Chef Travis Kalanick mit hochrangigen Politikern zusammenzubringen. ‚Bitte teilen Sie uns mit, welche Politiker Travis in dem Zusammenhang treffen möchte (…)‘. (…) Über Springers Uber-Beteiligung erfuhr die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls lange nichts, erst im April 2017 wurde sie bekannt, als Diekmann ‚Bild‘ verließ und in ein Beratergremium von Uber wechselte – das ‚Policy Advisory Board‘, wie Uber es nennt.

Diekmann ließ mitteilen, er habe dabei geholfen, für Axel Springer bei den relevanten Technologieunternehmen Türen zu öffnen und wichtige Kontakte herzustellen. ‚Es ging darum, den ‚Spirit‘ zu verstehen‘. Einen Interessenkonflikt zwischen seinen Gesprächen und Treffen mit Tech-Unternehmen wie Uber und seinen Aufgaben bei ‚Bild‘ habe es nie gegeben.“

 

Quellen:

Nina Bovensiepen u.a.: „Über Uber“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Jan Diesteldorf u.a.: „Wer schreibt, der bleibt“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum/Jan Diesteldorf: „Bitte recht Uber-freundlich“, SZ vom 12. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum u.a.: „Deutsche Lobbyisten im Dienste eines US-Konzerns“, Tagesschau.de vom 10. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-105.html

Petra Blum u.a.: „Wie Uber deutsche Medien umwarb“, Tagesschau.de vom 11. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-107.html

„Datenlecks decken schmutzige Lobbyarbeit des Fahrdienstleisters Uber auf“, Der Spiegel (Online) vom 10. Juli 2022

https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/uber-datenlecks-decken-schmutzige-lobbyarbeit-des-fahrdienstleisters-auf-a-c1cae170-ce5c-44a0-90b4-58b0d66416ad

 

Übergewinnsteuern gegen missbrauchte Marktmacht

Am 8. Juli 2022 stimmte der Bundesrat gegen den Antrag der Länder Bremen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen auf die befristete Einführung einer Übergewinnsteuer. Dabei handelt es sich um eine Sondersteuer auf hohe Zusatzgewinne von Unternehmen durch den Ukraine-Krieg (Kriegsprofiteure, vor allem im Energiesektor). Diese Übergewinnsteuer sollte zur Finanzierung staatlicher Entlastungsmaßnahmen dienen. Die Bundesländer, in denen die CDU/CSU oder die FDP an der Regierung beteiligt sind, stimmten gegen den Entschließungsantrag. Damit muss die Bundesregierung keinen Vorschlag für die Erhebung der Steuer für das laufende Jahr vorlegen. In der Frage zeigt sich auch die Bundesregierung gespalten: SPD und Grüne unterstützen die Idee, die FDP und Finanzminister Christian Lindner positionieren sich klar gegen eine derartige Steuer.

„Der Bürgermeister der Hansestadt, Andreas Bovenschulte, sieht vor allem im Energiesektor Handlungsbedarf: ‚Allein im ersten Quartal dieses Jahres konnten die vier Ölriesen Shell, BP, Exxon und Total ihren Nettogewinn gegenüber dem Vorjahr von etwa 15 Milliarden auf rund 34 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppeln‘, sagte der SPD-Politiker. ‚Nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur dürften die gestiegenen Energiepreise den Konzernen in diesem Jahr 200 Milliarden Euro zusätzlich in die Kassen spülen.‘“ (tagesschau.de vom 10. Juni 2022)

Auch die EU-Kommission prüft mehrere Optionen zur Einführung einer Übergewinnsteuer. Die sogenannte „Windfall Profits Tax“, schreibt die taz am 7. Juli 2022, werde von der EU-Kommission auf ihre Machbarkeit geprüft. Es gehe um eine koordinierte Herangehensweise in den 27 EU-Staaten. Denn für die Steuerpolitik seien die Mitgliedsländer zuständig. Brüssel wolle laut EU-Kommissarin Věra Jourová verhindern, dass es zu nationalen Alleingängen oder Marktverzerrungen komme. Italien und Rumänien hätten die Übergewinnsteuer bereits eingeführt, bald werde Spanien folgen.

Nach Berechnungen der Entwicklungsorganisation Oxfam würde eine einmalige Sondersteuer von 90 Prozent auf Extraprofite allein bei den größten Unternehmen der G7-Länder über 430 Milliarden US-Dollar einbringen. „Das ist genug Geld,“ so Oxfam, „um die Finanzierungslücken aller humanitären Hilfsaufrufe der Vereinten Nationen zu schließen, einen 10-Jahres-Plan zur Beendigung des Hungers zu finanzieren und den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerungen der G7-Staaten einen einmaligen Zuschuss von über 3.000 US-Dollar zu zahlen, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken.“ Laut einer aktuellen von Oxfam beauftragten Umfrage sind drei Viertel der Bundesbürger:innen dafür, Extraprofite von Unternehmen stärker zu besteuern.

Auch Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel hält eine Übergewinnsteuer für machbar:

„Die EU empfiehlt sie. Etliche Länder in Europa trauen sie sich zu. In den USA ist sie von Renommierten der Wirtschaftswissenschaft durchdekliniert worden. Historische Erfahrungen mit ihr liegen in den USA und Großbritannien vor. Sie, das ist die zeitlich befristete Sondersteuer auf Übergewinne, zielgenauer auf Extraprofite vor allem in den Kassen der Mineralölkonzerne. Diese Steuer richtet sich gegen die missbrauchte Marktmacht von der Ölquelle über die Raffinerien und Transporte bis zur Tankstelle. (…) Die am Markt monopolistisch auftretenden Big Five-Mineralölkonzerne haben jüngst selbst gezeigt, wie sie ihre Übergewinne staatlich subventioniert steigern. Es handelt sich um die Tankrabatte, die großteils mit preispolitischen Tricks in die Konzernkassen gelenkt wurden. Auch das Ifo-Institut irrt mit seiner zweifelhaften Vergleichsstudie, die die nahezu komplette Weitergabe der Rabatte auf Kraftstoffe behauptet. (…) Deshalb ist klar: Da die CDU zusammen mit der FDP die Sondersteuer auf Extraprofite abgelehnt hat, sollten diese staatlichen Subventionen per missbrauchter Tankrabatte unverzüglich abgeschafft werden. Natürlich wäre es am besten, statt die Übergewinne zusätzlich zu besteuern, deren Ursachen zu beseitigen. Sie sind das Ergebnis monopolistisch eingesetzter Marktmacht durch die Konzerne.“ (taz vom 10. Juli 2022)

Das Handelsblatt versucht, der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen:

„In Berlin“, kommentiert Redakteurin Kathrin Witsch, „diskutiert man jetzt öffentlich über die Zerschlagung der Ölmultis und die Besteuerung von Übergewinnen. Doch das scheint schon juristisch schwer durchsetzbar, schnelle Preissenkungen durch diese Initiativen gegen die international agierenden Milliardenkonzerne sind darum nicht zu erwarten. Vielmehr sollte sich die Politik darum darauf konzentrieren, weitere steuerliche Erleichterungen für diejenigen zu schaffen, die sie bei den hohen Spritpreisen wirklich brauchen – wie Pendler und Gewerbetreibende“.

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema bietet das Magazin für Wirtschaftpolitik Makroskop:

Gerd Grötzinger: „Übergewinnsteuer? Ja, bitte!“ vom 6. Juli 2022
https://makroskop.eu/spotlight/versailles-durch-die-hintertur/ubergewinnsteuer-ja-bitte/

Quellen:

Eric Bonse: „Brüssel für Steuer auf Extragewinne“, taz vom 7. Juli 2022
https://taz.de/Hohe-Profite-hohe-Energiepreise/!5862682/

„Bundesrat befasst sich mit Übergewinnsteuer“, Tagesschau vom 10. Juni 2022
https://www.tagesschau.de/inland/bundesrat-uebergewinnsteuer-101.html

Rudolf Hickel: „Subventionierte Extraprofite“, taz vom 10. Juli 2022
https://taz.de/Sondersteuer-auf-Uebergewinne/!5866498/

„Oxfam fordert Übergewinnsteuer, um Hunger- und Klimakrise zu bekämpfen“, Pressemitteilung von Oxfam vom 24. Juni 2022
https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2022-06-24-oxfam-fordert-uebergewinnsteuer-um-hunger-klimakrise-bekaempfen

Kathrin Witsch: „Aktionismus zwecklos: Benzin und Diesel bleiben teurer“, Handelsblatt vom 14. Juni 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-aktionismus-zwecklos-benzin-und-diesel-bleiben-teurer/28423526.html

Adler Group: derzeit Skandalunternehmen Nummer eins in der deutschen Immobilienbranche

Über Jahre hinweg informierte fast nur die Fachpresse über die undurchsichtigen Geschäfte der Adler Group, ehemals einer der größten Wohnungskonzerne Europas. Ende Juni wurde dann von NDR und rbb eine TV-Dokumentation über die „dubiosen“ Praktiken des Unternehmens ausgestrahlt – bleibt zu hoffen, dass damit eine öffentlichkeitswirksame Berichterstattung Fahrt aufnimmt und die Adler Group weiter unter Druck gerät. Der Aktienkurs der rechtlich in Luxemburg ansässigen und von Berlin aus operierenden Unternehmensgruppe ist bereits innerhalb eines Jahres um nicht weniger als 80 Prozent eingebrochen und liegt aktuell (Ende Juni 2022) nur noch bei knapp über vier Euro.

Für Aufsehen in Fachkreisen sorgte Adler zuletzt Ende März 2022, als die Wirtschaftsprüfer von KPMG etwas taten, was in der Branche extrem ungewöhnlich ist – sie verweigerten dem Unternehmen das Testat für den Jahresabschluss 2021. Seitdem ist für Adler der Zugang zu frischen Geldern am Kapitalmarkt blockiert. Wegen fehlender Unterlagen konnten die Prüfer verschiedene Transaktionen der Firma nicht nachvollziehen. So wurden ihnen etwa 800.000 Dokumente vorenthalten, vornehmlich E-Mails zwischen der Gesellschaft und ihren Rechtsberatern. Auch deshalb blieb unklar, in welchem Ausmaß Geschäfte mit „nahestehenden Personen“ abgeschlossen werden konnten und gegen geltende Vorschriften verstoßen wurde. Nun kommen Berichte über unseriöse Geschäftspraktiken hinzu: Vor allem geht es um unbezahlte Rechnungen von Handwerksbetrieben und Baustopps bei Großprojekten trotz vorliegender Baugenehmigungen. Auch deshalb spricht der Journalist Christoph Twickel in der Zeit davon, dass sich der Konzern, dem zwischenzeitlich rund 70.000 Wohnungen gehörten, sogar „zu einer Art Wirecard der Immobilienbranche“ auswachsen würde (Die Zeit vom 27. Juni 2022).

Den Stein ins Rollen brachte aber wieder einmal der britische Leerverkäufer Fraser Perring, der bereits zur Aufklärung des Wirecard-Skandals entscheidend beigetragen und im vergangenen Oktober in einem Bericht seiner Analysefirma Viceroy ein vernichtendes Urteil über die Adler Group gefällt hatte („eine Brutstätte für Betrug, Täuschung und finanzielle Falschdarstellung“). [1] Eine Gruppe von „nahestehenden“ Personen plündere das Unternehmen zulasten der Aktionäre aus, heißt es dort. In der ARD-Doku vom 27. Juni 2022 beschrieb Perring das Geschäftsmodell der Adler-Gruppe: Es gehe vor allem darum, Bewertungen von Immobilien zu fälschen, um den Strippenziehern hinter den Kulissen Geld zuzuschanzen. Das funktioniere wie ein Schneeballsystem, das dazu diene, Gelder abzuziehen, zugleich aber immer neue Anleihen auszugeben. Deshalb habe Viceroy die Adler-Profiteure in ihrem Report „bond-villains“ („Anleihe-Schurken“) genannt. Mit dem Begriff „ausplündern“ („looting“) meine er, dass Adler Immobilienwerte künstlich aufblähe, sich dann günstige Kredite besorge, um davon Geld an die eigenen Leute ausschütten zu können.

 

Bewertungstricks

Wirklich neu ist das Problem der Bewertung von Immobilien allerdings nicht. Die Bilanzexpertin Carola Rinker unterstrich jüngst in einem Video der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), dass Wertsteigerungen von Immobilien von Wohnungskonzernen bilanziell gewinnerhöhend erfasst werden können. Soll heißen: Auch die Adler Group hat ihren Gewinn nicht in erster Linie durch Vermietung von Wohnungen oder den Bau und Verkauf von Immobilien gemacht, sondern durch Wertzuwächse ihrer „assets“. Besonders Geschäfte der Adler Group mit nahestehenden Personen halfen also Buchwerte zu begründen, aus denen Gewinne – ohne Liquiditätszuflüsse – abgeleitet werden konnten.

Mit Blick auf den Jahresabschluss von 2020 stellt Rinker nüchtern fest, dass das Unternehmen ohne Wertsteigerungen der Immobilien keine schwarzen Zahlen hätte vorweisen können. Die Adler Group stelle mit ihrer Praxis aber keinen Einzelfall dar. Tatsächlich belegte der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup schon vor einigen Jahren in verschiedenen Gutachten für die Partei Die Linke, dass börsennotierte Immobilienkonzerne wie Vonovia und die Deutsche Wohnen (DW) außerordentlich hohe Renditen auf ihr Eigenkapital erzielten – für DW in den Jahren 2012 bis 2015 durchschnittlich 18,7 Prozent. Normal seien damals fünf bis sechs Prozent gewesen. Ungewöhnlich hohe Dividenden für die Aktionäre seien die Folge gewesen. Die reale Wertschöpfung durch die Bewirtschaftung der Immobilien hätte die Höhe der Ausschüttungen jedoch nicht gedeckt. Dieser gemäß der internationalen Bilanzregeln legale Praxis, Bewertungsgewinne zu erzielen, würde es zum einen ermöglichten, leichter an günstige Bankkredite zu kommen, zum anderen Teile der Buchgewinne an die Shareholder auszuschütten. [2] Für die Mieter:innen eine beängstigende Praxis: Denn eine Höherbewertung der Immobilien basiert letztlich auf erwarteten üppigen zukünftige Mieteinnahmen bei möglichst moderaten Instandhaltungskosten.

Bontrups wissenschaftliche Analyse bestätigt auch die Aussagen des Shortsellers Perring über die Geschäftsstrategie der Adler-Gruppe. Bemerkenswert ist, dass die Aufklärung im Fall der dubiosen Adler-Deals vornehmlich von einem Insider betrieben wird, der selbst vom fallenden Aktienkurs der Adler-Gruppe profitiert. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) dagegen läuft hinterher und stützt sich auf die Expertise des selbst am Markt agierenden Leerverkäufers. Aber immerhin – die viel gescholtene Bundesbehörde wird nun endlich aktiv. Aktuell führt sie ein Bilanzkontrollverfahren bei Adler durch, da „konkrete Anhaltspunkte für Rechnungslegungsverstöße vorliegen“.

 

Staatliche Aufsicht

„Bilanzkontrollverfahren gelten als scharfes Schwert der Behörde“, schrieb das Handelsblatt am 22. Juni 2022. „Die Bafin kann direkt und auch vor Ort bei Unternehmen eingreifen, beispielsweise mit forensischen Mitteln. Die Aufsicht ist zudem befugt, Organvertreter und Beschäftigte zur Vernehmung vorzuladen. Bei erheblichen Verstößen kann sie Geschäfts- und Wohnräume durchsuchen und Gegenstände beschlagnahmen. (…) Vor einigen Wochen stellte die Bafin dann Strafanzeige, nachdem sie den Verdacht einer womöglich unrichtigen Bilanzierung hegt. Der Blick der Aufseher richtete sich vor allem auf eine Immobilientransaktion aus dem Jahr 2019.“

Diese betraf ein Entwicklungsareal in Düsseldorf-Gerresheim. Laut ARD-Doku wollte die Adler-Group damals den Berliner Konzern ADO Properties für 350 Millionen Euro übernehmen. Deshalb verkaufte Adler das Düsseldorfer Grundstück für 375 Millionen Euro an einen anderen Investor, dessen Geschäftsführer ein Schwager des Adler-Beraters Cevded Caner ist. Caner wiederum lenkt nach Meinung von Branchenkennern im Hintergrund maßgeblich die Geschicke der Adler-Gruppe. Caners Schwager bezahlte offensichtlich aber nur einen kleinen Teil des Kaufpreises. Auf dem Papier jedoch hatte Adler nun genügend Kapital, um die ADO zu übernehmen. Nach nur einem Jahr wurde der Kauf wieder rückgängig gemacht. „Der Verdacht: Es war ein Scheinverkauf, um die Bilanz nach oben zu treiben“, so Christoph Twickel in der Zeit vom 27. Juni.

Die Bilanz des Konzerns sollte mutmaßlich aufpoliert werden, um das Ausmaß seiner hohen Verbindlichkeiten zu verschleiern. Denn Adler hat in der Vergangenheit viele Anleihen ausgegeben und ist hoch verschuldet. Für Anleihen garantiert die Adler Group aber einen maximalen Verschuldungsgrad von 60 Prozent (Loan-to-value)*. „Ein Bruch mit den Bedingungen“, so das Handelsblatt am 24. Mai, „hätte das Unternehmen ins Verderben führen können. Rückzahlungen von bis zu 1,8 Milliarden Euro hätten gedroht“.

Nachdem der Konzern einen großen Teil seines Wohnungsbestandes verkaufen musste, um fällige Anleihen zurückzahlen zu können, schwindet die Bedeutung des angeschlagenen Konzerns zunehmend. Branchenkenner verweisen jedoch auch wegen der verbliebenen Milliardenschulden auf seine „Systemrelevanz“. Grund genug für den Konzern, weiter alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe abzustreiten – als wäre nichts geschehen. Mit Blick auf die Jahreshauptversammlung am 29. Juni 2022 zeigte sich das Handelsblatt deshalb stark verwundert über die unkritische Haltung der Anteilseigner und titelte: „Hauptversammlung nach nur 20 Minuten beendet: Adler-Aktionäre bestätigen Verwaltungsratschef und CEO. Trotz Ermittlungen der Behörden, verweigertem Testat und Milliardenverlust darf selbst der aktuelle Chef weitermachen.“

* Der Loan to Value ist eine wichtige immobilienwirtschaftliche Kennzahl, definiert das Verhältnis von Kredit zum Verkehrswert einer Immobilie und wird zur Bonitätsprüfung genutzt. 

 

Anmerkungen:

[1] vgl. auch „Betrugsvorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler“, BIG-Nachricht vom 22. Oktober 2021

http://big.businesscrime.de/category/nachrichten/page/2/

[2] vgl. Joachim Maiworm: „Giganten auf dem Wohnungsmarkt“, in: BIG Business Crime 3-2017, Seite 27f.

Tipps:

„Immobilienpoker – Die dubiosen Geschäfte eines Wohnungskonzerns“. Ein Film der ARD von Miichael Richter und Christoph Twickel, 27. Juni 2022

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/immobilienpoker-dubiose-geschaefte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzA2NzYwNTQ0LWFkNDYtNDcyZC1hMTk1LTRhODJmNzliMDFlZg

„Immobilienpoker“, Ein Feature von Christoph Twickel, NDR Feature Box, 28. Juni 2022

https://www.ardaudiothek.de/episode/ndr-feature-box/immobilienpoker/ndr-info/10616065/

 

Finanzkriminalität auf dem deutschen Immobilienmarkt

Vom 27. bis 29. Mai 2022 fand an der TU Berlin eine Konferenz zum Thema Enteignung  und Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen statt. Organisator war die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ in Kooperation mit dem Asta der TU Berlin und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Rahmen der Veranstaltung „Follow the money – Der deutsche Immobilienmarkt als Tummelplatz für Oligarchen, Kriminelle und Steuerhinterzieher“ sprachen am 28. Mai Christoph Trautvetter (Netzwerk Steuergerechtigkeit e.V.; externer Projektleiter „Wem gehört die Stadt?“ bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Gabriela Keller (Investigativreporterin bei Correctiv). Moderiert wurde die Veranstaltung von Katalin Gennburg (MdA DIE LINKE Berlin).

In der Ankündigung hieß es:

„In Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurden zahlreiche ‚Oligarchen‘ durch die EU und andere Staaten sanktioniert. Ihre Geschäftsaktivitäten sollten unterbunden und ihre Vermögenswerte eingefroren werden. Doch insbesondere bei Immobilien verschleiern verschachtelte Firmen- und Beteiligungskonstrukte, die bis in das außereuropäische Ausland reichen, oft die tatsächlichen wirtschaftlich Berechtigen und ermöglichen so die Umgehung von Sanktionen, aber auch ganz allgemein Steuerhinterziehung und Geldwäsche. So ist der Immobilienmarkt Tummelplatz für organisierte Kriminalität und dubiose Kapitalflüsse aus autoritären Regimen – nicht nur aus Russland.“

So verwies Trautvetter auf den neuen „Schattenfinanzindex“ des Tax Justice Network. Danach stellen nicht die bekannten Steueroasen in der Karibik das Hauptproblem dar. Vielmehr seien in den G7-Staaten geschätzt zehn Billionen US-Dollar in Finanzkonstrukten versteckt – und keiner wisse, woher die Gelder stammten. Die Hälfte der Schattenfinanzplätze würde sich in den G7-Staaten finden (USA, Großbritannien, Kanada, Deutschland, Frankreich, Italien, Japan). Deutschland sei der siebtgrößte Schattenfinanzplatz der Welt. Das Vermögen weltweit würde unterschiedliche Formen annehmen und nur zu einem ganz kleinen Teil in Form von Villen und Jachten auftreten. Wegen der fehlenden Transparenz sei insbesondere der Immobilienmarkt außer Kontrolle.

Die bestehende Intransparenz, so Trautvetter, müsse abgeschafft werden. Auch um in Berlin die Enteignungsfrage zu klären und „im gleichen Schritt die russischen Oligarchen, die Steuerhinterzieher und die anderen Kriminellen auszugraben“. So wisse der Berliner Senat derzeit nicht, wer die Besitzer von mehr als 3.000 Wohnungen in der Hauptstadt seien (Anmerkung der Redaktion: Private profitorientierte Immobiliengesellschaften mit mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin sollen gemäß des Volksentscheids vom Herbst 2021 nach Artikel 15 GG enteignet werden, um ihre Bestände in Gemeineigentum zu überführen).

Trautvetter äußerte sich verhalten optimistisch zum zweiten Sanktionsdurchsetzungsgesetz, das die Bundesregierung für den Herbst 2022 plant und die Rechtsgrundlage für eine neu zu schaffende Behörde bietet soll. Deren Aufgabe bestehe darin, systematisch nach verdächtigen Vermögen zu suchen und komplexe Eigentümerstrukturen zu ermitteln. Die Behörde solle dafür den Zugriff auf alle notwendigen Register und Steuerdaten erhalten. Mit dem Sanktionsdurchsetzungsgesetz könne ein Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung geleistet werden – über die anti-russischen Sanktionen hinaus. Mit dem Fortschritt auf Bundesebene könne dann hoffentlich bald auch die Frage nach den Eigentümern der mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin beantwortet werden. „Im Prinzip“, so Trautvetter, „haben die russischen Oligarchen das Volksbegehren rechts überholt“.

Quellen:

„Enteignungskonferenz: Tag 2 (Follow the Money + Abendpodium)“, live übertragen am 28. Mai 2022

https://www.youtube.com/watch?v=k1z4xoVpCaQ

Pressemitteilung vom Netzwerk Steuergerechtigkeit e.V. vom 17. Mai 2022 zum Schattenfinanzindex 2022:
„Der Schattenfinanzmarkt torpediert Sanktionen und Rechtsstaat“

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/infothek/pressemitteilung-zum-schattenfinanzindex-2022-schattenfinanz-torpediert-sanktionen-und-rechtsstaat/

Putschpräsidentin verurteilt

Evo Morales, gewählter Präsident der Republik Boliviens, wurde am 10. November 2019 von der Militärführung seines Landes zum Rücktritt gezwungen. Dem Umsturz vorausgegangen waren massive Proteste des städtischen Bürgertums. Morales, der als Interessenvertreter der indigenen Agrarbevölkerung gilt, hatte zuvor einen Joint-Venture-Vertrag mit einem  deutschen Bergbauunternehmen annulliert. BIG Business Crime berichtete in der Beilage 1/2020 zu Stichwort BAYER ausführlich über den „Putsch für mehr Elektronikschrott“.

Nach einem erneuten Wahlsieg der Linkspartei MAS im Oktober 2020 konnte Morales aus dem Exil heimkehren. Nachdem eine ehemalige MAS-Abgeordnete gegen den „Staatsstreich“ vor Gericht gezogen war, wurden Angehörige der selbsternannten „Übergangsregierung“ im März 2021 in Untersuchungshaft genommen. Die stockkonservativ-bürgerliche „Übergangspräsidentin“ Jeanine Áñez ist nun von einem Gericht wegen „ Pflichtverletzungen“ und „verfassungswidriger Beschlüsse“ in ihrer Amtszeit zu 10 Jahren Haft verurteilt worden. Áñez hatte zuvor der MAS-Regierung wegen ihrer Festnahme „politische Verfolgung“ vorgeworfen. Die Urteile zu weiteren ihr vorgeworfenen Anklagepunkten stehen noch aus.

Quellen:

Thomas Milz in der Neuen Züricher Zeitung vom 14. Juni 2022

https://www.nzz.ch/international/bolivien-proteste-gegen-verurteilung-von-ex-praesidentin-anez-ld.1688717

Kommentar Euronews vom 11. Juni 2022

https://de.euronews.com/2022/06/11/bolivien-ex-interimsprasidentin-anez-zu-10-jahren-haft-verurteilt

 

Zur Verflechtung von organisiertem Verbrechen und Politik

Der britisch-irische Journalist und Autor Misha Glenny hat als Journalist unter anderem für die BBC gearbeitet und lehrte als Experte für den Balkan, organisiertes Verbrechen und Cyberkriminalität an der Columbia University in New York sowie am University College in London. Seit Anfang Mai 2022 ist er Rektor des sozialwissenschaftlichen Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien Sein Buch „McMafia“, seit 2008 auch auf Deutsch erhältlich, diente als Vorlage für eine Krimiserie, deren 2. Staffel bald anlaufen soll. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung „der Standard“ äußerte er sich zu der Frage, ob im Ukrainekrieg Korruption und mafiose Strukturen eine Rolle spielen: „Ich habe keine speziellen Recherchen mit Blick auf den Krieg in der Ukraine angestellt. Was ich aber über die letzten dreißig Jahre, als Fazit meiner Arbeit am Buch ‚McMafia‘ sagen kann, ist, dass die Verflechtung von organisiertem Verbrechen und Politik stetig zugenommen hat. Trump hat nachgewiesene Verbindungen zur Mafia in New Jersey; die Konservative Partei im Vereinigten Königreich hat beträchtliche Summen aus russischen Quellen erhalten, die von den Geheimdiensten als dubios eingestuft wurden. In Russland hat dieses Zusammenwirken seit 1989 tiefe Wurzeln geschlagen und ist für Putins Regime nach wie vor eines der wichtigsten Instrumente der Machterhaltung.“ (der Standard, 21. Mai 2022)

Kriminelle Machenschaften von Oligarchen und ihr Einfluss auf die Politik waren auch in der Ukraine vor Kriegsbeginn immer beträchtlich. Präsident Selenskyj wurde mit großer Mehrheit gewählt, weil er versprach, dagegen vorzugehen. Bei der Veröffentlichung der „Pandora Papers“ im letzten Jahr kam allerdings heraus, dass auch er Konten in Steuerparadiesen besitzt. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegte die Ukraine im Jahr 2020 Platz 117 (von 179 Ländern). Russland kam auf Platz 129.

Demontage des Gesundheitswesens

Reportagen über Defizite und die zunehmende Ausdünnung des deutschen Gesundheitswesens gibt es mittlerweile nicht wenige. Das hier rezensierte Buch wurde allerdings von einem ausgewiesenen Spezialisten geschrieben: Thomas Strohschneider, Facharzt für Allgemein- und Gefäßchirurgie, war viele Jahre als Chefarzt in einer privat geführten Klinik tätig.

Im Vorwort bringt der bekannte Wissenschaftsjournalist Werner Bartens die Aussage des Buches wie folgt auf den Punkt: Die Medizin sei in Gefahr. Diese Gefahr bestehe primär jedoch nicht im Auftreten neuer Krankheitserreger, sondern in der zunehmenden Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und dem dieser Kommerzialisierung zugrunde liegenden Streben nach Gewinnmaximierung. Die „Medizin mit dem Preisschild“ habe die medizinische Ethik ausgehöhlt und die Heilkunst insgesamt „aus der Balance gebracht“.

Strohschneider selbst liefert in den 24 in sich geschlossenen Beiträgen des Buches eine gekonnte Schilderung der Abgründe zunehmender Monetarisierung beim Betreiben deutscher Gesundheitseinrichtungen und verdeutlicht diese durch eingestreute Episoden, welche teilweise auf eigenem Erleben beruhen. So liest man gleich zu Anfang vom Fall eines lebensgefährlich erkrankten und psychisch angeschlagenen Obdachlosen. Dessen Behandlung musste von Ärzten gegen heftigen Widerstand der Krankenhausdirektion durchgesetzt werden. Als Ergebnis konnte der Mann dann zwar geheilt und entlassen werden. Kurze Zeit später wurden die betreffenden Abteilungen aber vom Klinikträger aber als „unrentabel“ geschlossen und den Beschäftigten gekündigt.

Die Ursachen für solche Fälle sieht der Autor unter anderem darin, dass die öffentliche Hand sich während der letzten Jahrzehnte weitgehend aus dem Gesundheitswesen zurückgezogen habe. Die öffentliche Bezuschussung sei rückläufig. Private Betreiber seien jedoch nicht in erster Linie an dem Wohlergehen der Patient/innen sondern an einer Gewinnmaximierung interessiert. Eigens beauftragte Unternehmensberater durchleuchteten daher zielgerichtet Krankenhäuser. Dem Führungspersonal  würden dann wirtschaftliche Leistungsziele vorgegeben und deren Erfüllung mit zum Teil hochgradig fragwürdigen Methoden durchgesetzt. Wie im Buch erwähnt wird, stünden zudem hinter privaten Krankenhausbetreibern nicht selten Pharmakonzerne, die sich so einen lukrativen Marktanteil sicherten. Den Beginn der Privatisierungs- und Monetarisierungswelle datiert der Autor übrigens auf die Jahre 1999 bis 2002 – also auf genau die Zeit, in der die neoliberalen Exzesse der Schröder-Regierung begannen.

Wie Strohschneider weiter schreibt, verfüge mittlerweile jedes kommerziell betriebene Krankenhaus über Controlling-Abteilungen, die einerseits auf der Jagd nach zusätzlichen Abrechnungsmöglichkeiten für Behandlungen sind, andererseits aber auch die Kosten erbarmungslos drücken. Es handele sich, wie der Autor meint, um eine „gefährliche Übertragung ökonomischen Denkens auf medizinische Abläufe“. Qualifiziertes und motiviertes Pflegepersonal habe man „in Scharen aus den Kliniken getrieben“ und durch schlecht ausgebildete und miserabel bezahlte Billiglöhner/innen – meist Beschäftigte von Leiharbeitsfirmen – ersetzt. Die Fallzahl pro Pflegekraft wurde so in den letzten 25 Jahren fast verdoppelt – inklusive Arbeitshetze und permanenter Überlastung der Beschäftigten.

Leidtragende dieser Entwicklung seien aber in erster Linie die Patienten. Defizitäre Abteilungen von Krankenhäusern würden immer öfter geschlossen, bei der Patientenauswahl selektiert. Nicht selten entschieden mittlerweile Computerprogramme darüber, ob Behandlungen fortgesetzt oder ob die betreffende Person als geheilt entlassen würden. Mit zunehmender Außerkraftsetzung der medizinisch-ärztlichen Logik und Humanität habe die Vorstellung vom Arzt als „Helfer des hilfesuchenden Patienten (…) in diesem System nur noch wenig Raum“.

Im Buch werden auch Praktiken von Krankenhausleitungen geschildert, die man durchaus als kriminell oder zumindest als grenzwertig charakterisieren kann. So wurden beispielsweise in einigen Krankenhäusern über Jahre hinweg Betten als vorhanden geführt, die es nicht mehr gab – die betreffenden Abteilungen hatte man längst geschlossen. Die in öffentlichen Statistiken angegebene Zahl zur Verfügung stehender Krankenhausbetten entspreche daher nicht der Realität. Die Ursache für solche Falschmeldungen bestünde darin, dass Zuschüsse für Investitionsmaßnahmen an die Zahl der zur Verfügung stehenden Betten geknüpft seien.

Als ein anderes Beispiel beschreibt der Autor, dass man Ärzte gezielt unter Druck setzte, Patienten vorzugsweise Prothesen „aus dem unteren und mittleren Preissegment“ zu implantieren. Im schlimmsten Falle könne, wie Strohschneider meint, die verfehlte Auswahl eines solchen Implantates dem jeweiligen Patienten das Leben oder einen Körperteil kosten.

Ein gesondertes Kapitel schildert die Abgründe der Privatisierung bis dahin öffentlich betriebener Krankenhäuser. Als ein besonders gemeines Beispiel sei hier nur genannt der 2004 unter einem CDU-Bürgermeister umgesetzte Verkauf der Hamburger Krankenhäuser an den Gesundheitskonzern Asklepios. Entgegen den Ergebnissen eines diesbezüglichen Volksentscheids zog der Senat die Veräußerung zu einem Spottpreis durch und feierte dies dann auch noch als Sieg. Tatsächlich stellten, wie der Autor meint, die Kliniken heute ein „Milliardenvermögen“ dar. Strohschneider bezeichnet übrigens an anderer Stelle die laufenden Privatisierungsorgien sowie die unausweichlich folgende Durchrationalisierung ehemals öffentlich betriebener Krankenhäuser als „Kannibalismus“.

Zu den Resultaten von Ausdünnung und zunehmender Monetarisierung des Gesundheitswesens, die dann beim Ausbruch der Pandemie offenbar wurden, gibt es im Buch leider nicht viel Material. Immerhin findet man eine kurze Schilderung, wie die SANA-Kliniken als drittgrößter privater Klinikbetreiber inmitten der Pandemie etwa 1000 Mitarbeitern aus ihrem Servicebereich kündigten. Auch thematisiert der Autor die Äußerung des Gesundheitsökonomen Reinhard Busse, der auf dem Höhepunkt der Pandemie „etwa 800 der insgesamt 1.400 Akutkrankenhäuser in Deutschlands“ für „überflüssig“ erklärte.

Und natürlich wird Im Buch die Vergangenheit des derzeitigen Gesundheitsminister Karl Lauterbach erwähnt, der als Lobbyist der kommerziell betriebenen Gesundheits-Konzerns Rhön-Kliniken viele Jahre an der Demontage des Gesundheitssystems mitwirkte. Die vom Autor in diesem Zusammenhang ausgesprochene Hoffnung, Lauterbach könne sich „vom Saulus zum Paulus“ gewandelt haben, hat sich allerdings bislang nicht bestätigt. Die Schließung finanziell defizitärer Kliniken wurde auch nach Ausbruch der Pandemie kaum gebrochen fortgesetzt.

Thomas Strohschneider hat sich nach eigener Aussage das Ziel gestellt, „Hintergründe und Auswirkungen der gesundheitspolitischen Veränderungen der letzten Jahre, vor allem im Krankenhauswesen“ zu beschreiben. Dies ist ihm gelungen. Und dass er gegen Ende des Buches als erstrebenswertes Ziel formuliert, Krankenhäuser zu „rekommunalisieren“ und sie so „dem Einfluss der Konzerne zu entziehen“, kann man nur als ehrenwert bezeichnen.

Thomas Strohschneider: „Krankenhaus im Ausverkauf. Private Gewinne auf Kosten unserer Gesundheit“, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022, 238 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86489-371-1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein erhellender Blick hinter die Werkstore

Zur Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt von Migrant:innen liegt bereits eine breite Forschungsliteratur vor. Untersuchungen zu deren konkreten Arbeitsverhältnissen gibt es dagegen nur wenige. „Grenzen aus Glas“ dokumentiert deshalb die Ergebnisse einer breit angelegten empirischen Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen über die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsprozesse und die Arbeitskämpfe im Online-Versandhandel und in der Fleischindustrie. Der Autor Peter Birke und seine Mitarbeiter:innen führten in der Zeit von 2017 bis Mitte 2021 bei Amazon, Tönnies und anderen Unternehmen fast 220 qualitative Interviews durch – vor allem mit Beschäftigen, aber auch mit Manager:innen, Betriebsrät:innen und weiteren Expert:innen. Dabei wurde ein breites Spektrum der Migration abgedeckt (geflüchtete Menschen aus Drittstaaten und EU-Migrant:innen). Wichtige Erkenntnisse konnten die Wissenschaftler:innen auch durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen und Beratungsgesprächen sammeln.

Während der Hochzeit der Corona-Pandemie mit ihren Masseninfektionen standen beide Branchen (als Fallbeispiele für den Dienstleistungssektor und die „klassische“ Industrie) kurzzeitig massiv in der öffentlichen Kritik. Deutlich wurde dabei, dass in deren Niedriglohnbereichen fast ausschließlich Menschen ohne deutschen Pass arbeiten. Die Untersuchung setzt aber bereits einige Jahre zuvor an, nimmt das Anwerben und Ankommen der Betroffenen in den Blick und offenbart eindrücklich die Härten des Arbeitsalltags mit ihren vielfältigen Diskriminierungen.

Online-Handel und Fleischindustrie weisen dabei trotz aller Unterschiede große Ähnlichkeiten auf. Beide Branchen expandieren seit zwanzig Jahren außerordentlich schnell und produzieren auf dem neuesten Stand der Technik. Sie rationalisieren kontinuierlich ihre Arbeitsprozesse, beuten zeitgleich immer neue Arbeitskräfte zu Niedriglöhnen und unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen aus. Von einem Verschwinden der „Einfacharbeit“ in Zeiten durchdigitalisierter Arbeitsprozesse kann deshalb nicht die Rede sein. Denn in beiden Bereichen muss schwere körperliche und psychische Arbeit geleistet werden. Der Gesundheitsschutz wird hier wie dort oft vernachlässigt; die Arbeitszeiten sind lang (mitunter bis zu zwölf Stunden am Tag bei einer 7-Tage-Woche). In der Fleischindustrie wurden in der Vergangenheit sogar körperliche Übergriffe von Vorgesetzten bekannt; im Versandhandel stehen die Arbeitenden unter einer permanenten computergestützten Echtzeit-Kontrolle. Auf Seite 64 des Buches heißt es: „So gilt insbesondere das, was man über die Arbeitsbedingungen bei Amazon weiß, als Musterbeispiel für ein System rigider Zergliederung und Kontrolle der Arbeit in Anwendung digitaler Technologien“.

Der Autor wendet sich jedoch gegen die Verwendung der Bezeichnung „moderne Sklaven“ für die Beschäftigten, selbst wenn sich manche der gefragten Arbeiter:innen selbst so bezeichnen – insbesondere solche in der Fleischindustrie. Denn diese sind keineswegs nur wehrlose Opfer ausbeuterischer Unternehmer. Reflektiert werden in dem Buch deshalb auch die Möglichkeiten der Gegenwehr gegen die „Vernutzung von Arbeitskräften“, wie es der Autor formuliert. Viele der Betroffenen entwickeln durchaus vielfältige Formen von Alltagswiderstand. Auch fanden in den Jahren 2020 bis 2022 kollektive Protestaktionen statt, ohne dass die breite Öffentlichkeit diese wahrgenommen hätte. Es gab Tarifstreiks der Gewerkschaft NGG und vor allem im Jahr 2020 etliche „wilde Streiks“ ohne gewerkschaftliche Rückendeckung, stattdessen begleitet von engagierten Beratungsstellen. Dies blieb nicht ohne Erfolg: Das seit Anfang 2021 geltende Arbeitsschutzkontrollgesetz verbietet beispielsweise den Einsatz von Werkverträgen in der Fleischindustrie. In den Bereichen Schlachtung und Zerlegung darf nur noch eigenes Stammpersonal der Unternehmen arbeiten. Im vergangenen Jahr konnte durch die Gewerkschaft NGG eine Erhöhung des Mindestlohnes durchgesetzt werden.

Die geführten Interviews belegen auch, dass vor allem in der Fleischwirtschaft wirtschaftskriminelle Praktiken üblich sind. Befragte berichten davon, dass sie für einige Wochen ununterbrochen an sieben Tagen die Woche arbeiten mussten. Die Industriereinigung (Reinigung der Maschineneparks) stellt dabei die „Nachtseite“ der Fleischindustrie dar. Sie wird öffentlich wenig beachtet, umfasst aber einige der gefährlichsten Tätigkeiten in der Branche. Da das Arbeitsschutzkontrollgesetz diesen Bereich nicht umfasst, wird diese Tätigkeit auch nach Beginn der Pandemie weiterhin von Serviceunternehmen auf Werkvertragsbasis durchgeführt. Interviewte klagten beispielsweise durchgehend darüber, schlecht eingearbeitet worden zu sein:

„Da (gibt es) so eine Art Sicherheitsknopf oder so einen Alarmknopf, wo man (…) drei Mal draufdrücken muss. (…) Und, ja, (ein Kollege) war neu und wusste auch wohl nichts, hat wohl einmal gedrückt. Das war schon eher verwunderlich , dass der am Stück wieder rausgekommen ist. (…) Arbeitsunfälle passieren (auch), weil tendenziell hohe Fluktuation. Also jemand, der zwei, drei Jahre dabei ist, ist schon eigentlich ein ganz alter Hase. Sind viele dabei, die zwei, drei Monate und (dann) wieder wechseln.“ (Seite 216)

Mangelnde Einarbeitung stellt einen wesentlichen Grund für Unfälle und Verletzungen dar. Der Druck auf das Reinigungspersonal nimmt zudem dann stark zu, wenn in Schlachtung und Zerlegung Überstunden anfallen. Letztlich führe dies, so der Autor, zu deutlichen Verzögerungen beim Arbeitsbeginn der Reinigungskolonne und einem entsprechend verdichteten Pensum. Dabei komme es dann auch zur illegalen Streichung der arbeitsrechtlich vorgeschriebenen halbstündigen Pause – die daraus resultierende Arbeitsverdichtung führe im Effekt zu Unfällen. Auch berichten Arbeitskräfte davon, dass sie für den Abschluss eines Arbeitsvertrages – selbstredend illegale – Schmiergelder, oft auch „Gebühren“ genannt, an Vermittler oder Vorgesetzte bezahlen mussten (eine Betroffene nennt den Betrag von 1.200 Euro).

Dennoch hält Birke, wie schon erwähnt, wenig davon, von „modernen Sklaven“ zu reden. Die typische öffentliche Verwendung dieses Begriffs spiegele zudem nicht die „multiple Prekarität“ der Betroffenen wider. Dies sei ein wichtiger Aspekt – der Begriff beziehe sich nämlich nicht nur auf den Arbeitsprozess selbst, sondern schließe die Lebensverhältnisse insgesamt ein (eingeschränkte Aufenthalts- und Sozialrechte, miserable Wohnbedingungen).

Dass sich die Beschäftigten von Amazon, Tönnies und Co. mit wenigen Ausnahmen nicht vorstellen können, unter den gegebenen Bedingungen lange in den jeweiligen Unternehmen zu arbeiten, wundert deshalb nicht. Mitte 2021 waren rund drei Viertel der Gesprächspartner:innen nicht mehr in dem Betrieb beschäftigt, in dem sie zum Zeitpunkt der Interviews einen Arbeitsvertrag hatten. Der weitgehend bestehende gesellschaftliche Konsens darüber, dass „Arbeit“ auf jeden Fall gut für die gesellschaftliche Integration von geflüchteten Menschen sei – unabhängig von den jeweiligen Arbeitsbedingungen – darf deshalb als zynisch anmutender Unsinn bewertet werden. Die vorliegende Studie zeigt, dass diese Form der Erwerbsarbeit  vielmehr einen sozialen Ausschluss zementiert.

Die ankommenden Migrant:innen werden immer wieder mit „gläsernen Wänden“ konfrontiert, die von außen kaum sichtbar, aber für die Betroffenen doch spürbar sind. „Grenzen aus Glas“ werden erlebt als Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, durch die Tatsache, dass in der Fleischwirtschaft „Eintrittsgelder“ bezahlt werden müssen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten, durch das Tragen markierter Kleidung für die Mitarbeiter:innen von Subunternehmen oder das Verbot, Pausenräume benutzen zu dürfen, die Festangestellten vorbehalten sind. Migrantische Arbeitskräfte laufen gegen Wände, weil sie geltende Rechtsansprüche kaum durchsetzen können, denn unter den gegebenen Machtverhältnissen lässt sich erfahrenes Unrecht nur selten korrigieren. „Aber die Frage, wie das Unrecht von vornherein vermieden werden könnte, ruft bei uns allen, den Arbeitenden selbst und den sie begleitenden Angehörigen, Berater*innen, Gewerkschafter*innen, Forschenden – Ratlosigkeit hervor.“ (Seite 221)

Dieser pessimistischen Feststellung hält der Autor im Resümee allerdings eine kämpferische Ansage entgegen: „Es stellt sich also erstens die Frage, warum man für einen Zugang von Migrant*innen zu Arbeitsmärkten kämpfen sollte, auf denen praktisch nur derartige und vergleichbare Tätigkeiten angeboten werden. Und zweitens, ob man mit Blick auf die konkrete Ausformung von Produktion und Dienstleistungen nicht sogar für eine Abschaffung dieser Art von Arbeit eintreten sollte.“ (Seite 337) Bei einer Buchvorstellung im Rahmen der „Linke Buchtage Berlin“ Mitte Mai 2022 wurde Peter Birke im Hinblick auf die Fleischindustrie noch deutlicher: Die Arbeit dort sei nicht humanisierbar, die Fabriken müssten geschlossen werden.

Peter Birke: „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“, Mandelbaum Verlag, Wien und Berlin 2022, 400 Seiten, 27 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zeitungsbeilage des „Bündnisses Bahn für Alle“ erschienen

Beim „Bündnis Bahn für Alle“ handelt es sich um einen 2006 gegründeten Zusammenhang von globalisierungskritischen Gruppen, Gewerkschaften und Umweltschutzverbänden. Erklärtes Ziel des Bündnisses ist es, die geplante Privatisierung des deutschen Eisenbahnnetzes zu verhindern und dessen Verbleib im Besitz der öffentlichen Hand sicherzustellen. Die formelle Trägerschaft des Bündnisses hat der Verein „Gemeingut in Bürgerinnenhand“. Die Publikationen des Bündnisses können gegen Spende bezogen werden.

In der am 12. Mai 2022 als Beilage zur Tageszeitung taz erschienenen neuen Publikation setzen sich Pascal Zern und Katrin Kusche kritisch mit der Bahnpolitik der derzeitigen Bundesregierung auseinander. Diese habe sich im Koalitionsvertrag für mehr Elektromobilität auf der Straße ausgesprochen – als Ergebnis erhielte die Autoindustrie weitere großzügige Förderungen. Wie die Autor:innen meinen, könne von einer Verkehrsvermeidung oder wenigstens von „einer Verkehrsverlagerung von der Straße und aus der Luft auf den öffentlichen Verkehr plus Fahrrad- und Fußverkehr“ derzeit keine Rede sein. Die privatwirtschaftlich organisierte DB AG kranke „seit ihrer Gründung an dem Zielkonflikt zwischen der Gewinnerzielung einerseits und dem Wunsch nach einem attraktiven, zuverlässigen und bezahlbaren Bahnverkehr für alle Menschen und Güter“. Dieser Konflikt könne nur aufgehoben werden, wenn „die Regierung die DB vom Ziel der Gewinnorientierung befreien und ganz auf einen guten Bahnverkehr ausrichten“ würde.

Weitere Beiträge informieren über den neuesten Stand der beabsichtigten Zerschlagung des Berliner S-Bahn-Netzes sowie über die per Ausschreibung erzielte Beteiligung der DB AG an der Modernisierung des Nahverkehrsnetzes der kanadischen Millionenstadt Toronto. Zu letztgenanntem Milliardenprojekt meint der Autor Carl Waßmuth, dass die versprochenen Gewinne bei den beteiligten Banken anfallen werden, aber „sicher nicht dem Schienenverkehr zugutekommen – nicht in Deutschland und auch nicht in Kanada“.

Quelle:
Bündnis Bahn für Alle, Ausgabe Frühjahr/Sommer 2022
https://bahn-fuer-alle.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jurist will „Miethaie“ vom Berliner Wohnungsmarkt ausschließen

Vor über einem Jahr kassierte das Bundesverfassungsgericht den sogenannten Berliner Mietendeckel. Nun eröffnet ein Jurist in der Hauptstadt eine neue Diskussion. Stefan Klinski, Professor für Wirtschaftsrecht an der dortigen Hochschule für Wirtschaft und Recht, schlägt dem Land Berlin in einem auf eigene Initiative entstandenen 52-seitigen Rechtsgutachten vor, alle Unternehmen vom Immobilienmarkt auszuschließen, „von denen in besonderer Weise Druck auf den Wohnungsmarkt ausgeht“. Die bisher im Eigentum solcher Unternehmen stehenden Mietwohnungen müssten, so die Idee, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes an Dritte (Private oder Unternehmen in anderen Rechtsformen) veräußert werden. Ziel sei es, „den durch einen ausgeprägten Mangel an preiswertem Wohnraum extrem belasteten Berliner Wohnungsmarkt zu entspannen“.

Klinski denkt bei seiner Initiative insbesondere an „Unternehmen, deren eigene Anteile an einem Kapitalmarkt gehandelt werden (typischerweise börsennotierte Aktiengesellschaften, Hedgefonds, Immobilienfonds) sowie Unternehmen verschiedener Rechtsformen mit intransparenten Eigentumsverhältnissen und/oder Gewinnverlagerung in Steueroasen“. Gesetzliche Marktzugangsbeschränkungen, so der Jurist, würde es in anderen Rechtsbereichen – etwa der Energiewirtschaft oder des Personennahverkehrs – schon seit langem geben. Für seinen Vorschlag sehe er weder verfassungsrechtlich noch EU-rechtlich ernstliche Bedenken. Vielmehr erfülle das Konzept die im Artikel 28 der Berliner Verfassung verankerte öffentliche Aufgabe, „die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum auch für Menschen mit geringem Einkommen“ zu fördern. Bei einer Marktzugangsbeschränkung und der Pflicht, sich innerhalb des Übergangszeitraums von den Immobilien zu trennen, handelt es sich laut Klinski zwar um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff der betroffenen Unternehmen, keineswegs jedoch um eine Enteignung nach Art. 14 Grundgesetz (Eigentumsgarantie). Deshalb müsse der Staat auch keine Entschädigungen aufbringen wie im Rahmen einer Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen (vgl. Berliner Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“).

Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU), der auch die Interessen von börsennotierten Konzernen wie Vonovia vertritt, lehnt den Vorschlag erwartungsgemäß ab. Der Berliner Mieterverein hingegen spricht sich für diese Idee aus: „Neben dem Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen sei dies ‚nun ein weiterer interessanter Vorschlag, um kapitalmarktgetriebene Wohnungsunternehmen in die Schranken zu verweisen und deren Expansionsgelüste zu stoppen‘, sagt BMV-Geschäftsführer Reiner Wild.“ (Berliner Zeitung vom 9. Mai 2022).


Quellen:

Stefan Klinski: „Zur Zulässigkeit eines Landesgesetzes zur sozialverträglichen Ordnung des Berliner Wohnungsmarkts, durch das bestimmte Unternehmen vom Mietwohnungsmarkt ausgeschlossen werden“, Rechtsgutachten, Berlin, Februar 2022

https://gesellschaftfuernachhaltigkeit.de/wp-content/uploads/2022/03/Klinski-Gutachten-Wohnungsmarkt-2022-02-11.pdf

ders.: „Wohnungsmarkt ohne Börsendruck. Zur rechtlichen Machbarkeit von Zugangsbeschränkungen für den Wohnungsmarkt“, 25. April 2022, verfassungsblog.de

https://verfassungsblog.de/wohnungsmarkt-ohne-borsendruck/

Ulrich Paul: „Ein Vorschlag, Miethaie vom Berliner Wohnungsmarkt zu vertreiben“, Berliner Zeitung vom 9. Mai 2022

https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/kein-platz-mehr-fuer-deutsche-wohnen-und-co-in-berlin-li.226905

Erik Peter: „Vermieter richtig deckeln“, taz vom 9. Mai 2022

https://taz.de/Neue-Idee-fuer-Berliner-Mietenmarkt/!5850965&s=klinski/

Nicolas Šustr: „Vonovia einfach vom Markt ausschließen“, Neues Deutschland vom 9. Mai 2022

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163620.mietenwahnsinn-vonovia-einfach-vom-markt-ausschliessen.html

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zuhälterei gestern und heute

Wirtschaftskriminalität ist keineswegs nur auf die Oberschicht beschränkt, auch wenn deren Aktivitäten in der Hauptsache zur sozialen Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Kriminelle Bandenbildung in den Ghettos und Armutsvierteln der Unterschicht ist mit Sicherheit ebenso alt wie die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft insgesamt. Dass der österreichische Promedia-Verlag ein Buch zu einem weitgehend unterbelichteten Thema – der sexuellen Ausbeutung des weiblichen Körpers – herausgegeben hat, ist daher vom Grundsatz her zu begrüßen.

Der Autor Manfred Paulus – ein pensionierter deutscher Polizeibeamter – liefert darin allerdings keine soziologische Analyse der kriminellen oder auch weniger kriminellen Geschäftszweige Zuhälterei und Prostitution. Sein Anliegen ist eher, einen Nachweis für die These zu erbringen, dass Zuhälterei eine Gefahr für die (bürgerliche) Gesellschaft sei und die gegenwärtige Gesetzeslage viel zu human sei, um mit dieser Gefahr fertig zu werten.

Statistisches Material findet man in dem Band kaum; das Buch ist eher eine Schilderung ausgewählter Kriminalfälle. Wobei diese meist wenig bekannten Fakten oft nicht uninteressant sind. Sehr zu empfehlen ist beispielsweise das Kapitel über die Geschichte der Zuhälterei. Obwohl die Quellenlage eher dürftig ist, weist der Autor anhand griechischer und römischer Quellen nach, dass es diesen Geschäftszweig bereits in der Hochantike gab. Die Herrscher des christlichen Frühmittelalters bemühten sich dann zwar nach Kräften, das in ihren Augen sündhafte Treiben zu unterdrücken. Aber schon zur Zeit Karls des Großen ist die Existenz städtischer Bordelle überliefert. Und zur Zeit der Renaissance praktizierten sogar hohe katholische Würdenträger nebenberuflich die Tätigkeit eines Zuhälters. Wie der Autor weiter schreibt, hätten allein in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts zwischen 100.000 und 200.000 Frauen hauptberuflich „angeschafft“ –  kurz vor dem 1. Weltkrieg waren es 300.000.

Der Autor weist durchaus zutreffend immer wieder darauf hin, dass es sich bei den in Bordellen und auf dem Straßenstrich arbeitenden Frauen um die eigentlichen Leidtragenden der von ihm angeprangerten Verhältnisse handelt. Eine Analyse der sozialen Verhältnisse, die Frauen in die Prostitution trieb und immer noch treibt, wird von ihm jedoch peinlich vermieden. Die Schuldigen sind immer kriminelle Zuhälter. Nun handelt es sich bei diesen Leute zumeist wohl um ausgesprochen unsympathische Figuren. Der Autor thematisiert in diesem Zusammenhang Überschneidungen zwischen verschiedenen kriminellen Gewerben und der Internationalisierung krimineller Strukturen. Von eher historischem Interesse ist die von ihm vorgenommene Analyse der sich zum Teil krass unterscheidenden „Milieus“ deutscher Großstädte im 20. Jahrhundert.

Der Autor weist (eher moralisierend) immer wieder darauf hin, dass die meisten „Kiezgrößen“ – so sie die immer wieder ausbrechenden kriminellen Bandenkämpfe überlebten – später im Elend starben. Die Schlussfolgerung, dass es sich bei Zuhälterei zum Teil wohl auch um Armutskriminalität handelt, findet sich im Buch allerdings an keiner Stelle. Dafür dokumentiert der Autor eine absurd anmutende Episode, wie der Besitzer eines Eros-Centers in Ulm sich kurz vor der Jahrtausendwende per Adoption in den deutschen Hochadel einkaufte.

Interessant sind die am Ende des Buches dokumentierten Auszüge aus Gesetzestexten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Die vom Autor immer wieder nahegelegte Verschärfung von Gesetzen hat in der Vergangenheit übrigens keineswegs zum Verschwinden von Prostitution und Zuhälterei, von Menschenhandel und Sexsklaverei geführt. Der Autor weist in einem anderen Zusammenhang selbst darauf hin, dass diese kriminellen Strukturen auch in Ländern mit heftig repressiver Gesetzeslage weiter blühen und gedeihen.

Manfred Paulus: Zuhälterei gestern und heute.
Über Hurenwirte, Kiezkönige und die Sexsklaverei der Mafia, Promedia Verlag, Wien 2022, 224 Seiten, ISBN 978-3-85371-500-0