Jurist will „Miethaie“ vom Berliner Wohnungsmarkt ausschließen

Vor über einem Jahr kassierte das Bundesverfassungsgericht den sogenannten Berliner Mietendeckel. Nun eröffnet ein Jurist in der Hauptstadt eine neue Diskussion. Stefan Klinski, Professor für Wirtschaftsrecht an der dortigen Hochschule für Wirtschaft und Recht, schlägt dem Land Berlin in einem auf eigene Initiative entstandenen 52-seitigen Rechtsgutachten vor, alle Unternehmen vom Immobilienmarkt auszuschließen, „von denen in besonderer Weise Druck auf den Wohnungsmarkt ausgeht“. Die bisher im Eigentum solcher Unternehmen stehenden Mietwohnungen müssten, so die Idee, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes an Dritte (Private oder Unternehmen in anderen Rechtsformen) veräußert werden. Ziel sei es, „den durch einen ausgeprägten Mangel an preiswertem Wohnraum extrem belasteten Berliner Wohnungsmarkt zu entspannen“.

Klinski denkt bei seiner Initiative insbesondere an „Unternehmen, deren eigene Anteile an einem Kapitalmarkt gehandelt werden (typischerweise börsennotierte Aktiengesellschaften, Hedgefonds, Immobilienfonds) sowie Unternehmen verschiedener Rechtsformen mit intransparenten Eigentumsverhältnissen und/oder Gewinnverlagerung in Steueroasen“. Gesetzliche Marktzugangsbeschränkungen, so der Jurist, würde es in anderen Rechtsbereichen – etwa der Energiewirtschaft oder des Personennahverkehrs – schon seit langem geben. Für seinen Vorschlag sehe er weder verfassungsrechtlich noch EU-rechtlich ernstliche Bedenken. Vielmehr erfülle das Konzept die im Artikel 28 der Berliner Verfassung verankerte öffentliche Aufgabe, „die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum auch für Menschen mit geringem Einkommen“ zu fördern. Bei einer Marktzugangsbeschränkung und der Pflicht, sich innerhalb des Übergangszeitraums von den Immobilien zu trennen, handelt es sich laut Klinski zwar um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff der betroffenen Unternehmen, keineswegs jedoch um eine Enteignung nach Art. 14 Grundgesetz (Eigentumsgarantie). Deshalb müsse der Staat auch keine Entschädigungen aufbringen wie im Rahmen einer Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen (vgl. Berliner Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“).

Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU), der auch die Interessen von börsennotierten Konzernen wie Vonovia vertritt, lehnt den Vorschlag erwartungsgemäß ab. Der Berliner Mieterverein hingegen spricht sich für diese Idee aus: „Neben dem Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen sei dies ‚nun ein weiterer interessanter Vorschlag, um kapitalmarktgetriebene Wohnungsunternehmen in die Schranken zu verweisen und deren Expansionsgelüste zu stoppen‘, sagt BMV-Geschäftsführer Reiner Wild.“ (Berliner Zeitung vom 9. Mai 2022).


Quellen:

Stefan Klinski: „Zur Zulässigkeit eines Landesgesetzes zur sozialverträglichen Ordnung des Berliner Wohnungsmarkts, durch das bestimmte Unternehmen vom Mietwohnungsmarkt ausgeschlossen werden“, Rechtsgutachten, Berlin, Februar 2022

https://gesellschaftfuernachhaltigkeit.de/wp-content/uploads/2022/03/Klinski-Gutachten-Wohnungsmarkt-2022-02-11.pdf

ders.: „Wohnungsmarkt ohne Börsendruck. Zur rechtlichen Machbarkeit von Zugangsbeschränkungen für den Wohnungsmarkt“, 25. April 2022, verfassungsblog.de

https://verfassungsblog.de/wohnungsmarkt-ohne-borsendruck/

Ulrich Paul: „Ein Vorschlag, Miethaie vom Berliner Wohnungsmarkt zu vertreiben“, Berliner Zeitung vom 9. Mai 2022

https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/kein-platz-mehr-fuer-deutsche-wohnen-und-co-in-berlin-li.226905

Erik Peter: „Vermieter richtig deckeln“, taz vom 9. Mai 2022

https://taz.de/Neue-Idee-fuer-Berliner-Mietenmarkt/!5850965&s=klinski/

Nicolas Šustr: „Vonovia einfach vom Markt ausschließen“, Neues Deutschland vom 9. Mai 2022

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163620.mietenwahnsinn-vonovia-einfach-vom-markt-ausschliessen.html

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zuhälterei gestern und heute

Wirtschaftskriminalität ist keineswegs nur auf die Oberschicht beschränkt, auch wenn deren Aktivitäten in der Hauptsache zur sozialen Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Kriminelle Bandenbildung in den Ghettos und Armutsvierteln der Unterschicht ist mit Sicherheit ebenso alt wie die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft insgesamt. Dass der österreichische Promedia-Verlag ein Buch zu einem weitgehend unterbelichteten Thema – der sexuellen Ausbeutung des weiblichen Körpers – herausgegeben hat, ist daher vom Grundsatz her zu begrüßen.

Der Autor Manfred Paulus – ein pensionierter deutscher Polizeibeamter – liefert darin allerdings keine soziologische Analyse der kriminellen oder auch weniger kriminellen Geschäftszweige Zuhälterei und Prostitution. Sein Anliegen ist eher, einen Nachweis für die These zu erbringen, dass Zuhälterei eine Gefahr für die (bürgerliche) Gesellschaft sei und die gegenwärtige Gesetzeslage viel zu human sei, um mit dieser Gefahr fertig zu werten.

Statistisches Material findet man in dem Band kaum; das Buch ist eher eine Schilderung ausgewählter Kriminalfälle. Wobei diese meist wenig bekannten Fakten oft nicht uninteressant sind. Sehr zu empfehlen ist beispielsweise das Kapitel über die Geschichte der Zuhälterei. Obwohl die Quellenlage eher dürftig ist, weist der Autor anhand griechischer und römischer Quellen nach, dass es diesen Geschäftszweig bereits in der Hochantike gab. Die Herrscher des christlichen Frühmittelalters bemühten sich dann zwar nach Kräften, das in ihren Augen sündhafte Treiben zu unterdrücken. Aber schon zur Zeit Karls des Großen ist die Existenz städtischer Bordelle überliefert. Und zur Zeit der Renaissance praktizierten sogar hohe katholische Würdenträger nebenberuflich die Tätigkeit eines Zuhälters. Wie der Autor weiter schreibt, hätten allein in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts zwischen 100.000 und 200.000 Frauen hauptberuflich „angeschafft“ –  kurz vor dem 1. Weltkrieg waren es 300.000.

Der Autor weist durchaus zutreffend immer wieder darauf hin, dass es sich bei den in Bordellen und auf dem Straßenstrich arbeitenden Frauen um die eigentlichen Leidtragenden der von ihm angeprangerten Verhältnisse handelt. Eine Analyse der sozialen Verhältnisse, die Frauen in die Prostitution trieb und immer noch treibt, wird von ihm jedoch peinlich vermieden. Die Schuldigen sind immer kriminelle Zuhälter. Nun handelt es sich bei diesen Leute zumeist wohl um ausgesprochen unsympathische Figuren. Der Autor thematisiert in diesem Zusammenhang Überschneidungen zwischen verschiedenen kriminellen Gewerben und der Internationalisierung krimineller Strukturen. Von eher historischem Interesse ist die von ihm vorgenommene Analyse der sich zum Teil krass unterscheidenden „Milieus“ deutscher Großstädte im 20. Jahrhundert.

Der Autor weist (eher moralisierend) immer wieder darauf hin, dass die meisten „Kiezgrößen“ – so sie die immer wieder ausbrechenden kriminellen Bandenkämpfe überlebten – später im Elend starben. Die Schlussfolgerung, dass es sich bei Zuhälterei zum Teil wohl auch um Armutskriminalität handelt, findet sich im Buch allerdings an keiner Stelle. Dafür dokumentiert der Autor eine absurd anmutende Episode, wie der Besitzer eines Eros-Centers in Ulm sich kurz vor der Jahrtausendwende per Adoption in den deutschen Hochadel einkaufte.

Interessant sind die am Ende des Buches dokumentierten Auszüge aus Gesetzestexten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Die vom Autor immer wieder nahegelegte Verschärfung von Gesetzen hat in der Vergangenheit übrigens keineswegs zum Verschwinden von Prostitution und Zuhälterei, von Menschenhandel und Sexsklaverei geführt. Der Autor weist in einem anderen Zusammenhang selbst darauf hin, dass diese kriminellen Strukturen auch in Ländern mit heftig repressiver Gesetzeslage weiter blühen und gedeihen.

Manfred Paulus: Zuhälterei gestern und heute.
Über Hurenwirte, Kiezkönige und die Sexsklaverei der Mafia, Promedia Verlag, Wien 2022, 224 Seiten, ISBN 978-3-85371-500-0

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Cum-Ex als Form der Elitenkriminalität – und der Staat schaut zu

Das Buch erschien zum richtigen Zeitpunkt: nur wenige Wochen vor Beginn des lang erwarteten Strafprozesses gegen Steueranwalt Hanno Berger. Dieser – eine zentrale Figur im Cum-Ex-Skandal – steht nach neun Jahren Flucht seit Anfang April 2022 in Bonn vor Gericht.

Allerdings waren die Machenschaften um Cum-Ex schon vor etwa 30 Jahren bekannt. Insider der Finanzszene wussten bereits damals, dass sich Banken und Anleger am Fiskus bereichern, indem sie sich Steuern rückerstatten ließen, die sie zuvor überhaupt nicht bezahlt hatten. Vor nunmehr 20 Jahren befasste sich das Bundesfinanzministerium mit dem Komplex, unternahm aber (wohl unter dem Einfluss der Bankenlobby) trotz vorliegender Hinweise vorerst nichts. Erst weitere zehn Jahre später, im Herbst letzten Jahres, veröffentlichte der Investigativjournalist Oliver Schröm eine erste umfangreiche und spannend geschriebene Monografie („Die Cum-Ex-Files“, erschienen im Ch. Links Verlag) über den Megabetrug.

Massimo Bognanni, der vor zwei Jahren bereits an einer preisgekrönten TV-Dokumentation zu Cum-Ex mitgearbeitet hatte, legte jetzt nach. Bognanni weist in dem neuen Buch ebenfalls nach, um was es bei dem Steuerbetrug in Milliardenhöhe letztlich geht: um organisierte Kriminalität zu Lasten des Gemeinwohls. Es ist zu hoffen, dass die beiden Bücher dazu beitragen, den bislang ausgebliebenen öffentlichen Proteststurm gegen diese Form der Wirtschaftskriminalität zu entfachen.

Bognanni versucht erst gar nicht, die Cum-Ex-Praxis in ihrer Komplexität zu beschreiben. Er belässt es bei der leicht nachvollziehbaren Einsicht, dass Geschäfte nicht legal oder moralisch vertretbar sein können, bei denen der Staat Steuern erstattet, die nie gezahlt wurden. Der Autor konzentriert sich auf zwei Erzählstränge. Zum einen dokumentiert er das „jahrzehntelange Versagen des Staates und seiner Institutionen“ (Seite 5), zum anderen folgt er Schritt für Schritt der Aufklärung des Skandals und damit der Arbeit der eigentlichen „Heldin“ des Buches – der Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker. Diese hat durch ihre unermüdliche Arbeit und auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen eine Reihe von Tätern vor Gericht gebracht.

Die Verstrickungen des Staatsapparates in die „Steuerbetrugsindustrie“ (Seite 9) belegt der Autor anhand mehrerer Beispiele. So begann erst im Oktober 2014 eine ernstzunehmende Ermittlung gegen Cum-Ex. In elf Ländern und mit mehr als tausend Beamten wurde damals eine Großrazzia veranstaltet – mit Brorhilker als leitender Staatsanwältin. Der Staat hätte jedoch schon 1992 tätig werden können. Ein hessischer Börsenaufseher hatte in einem Artikel für den vielbeachteten Frankfurter Finanzmarktbericht festgestellt, dass es bei Banken offenbar gängige Praxis war, mehrere Steuerbescheinigungen für ein und dieselbe Aktie auszustellen. Der Börsenaufseher durchschaute damit „ein perfides System“, so Bognanni. „Denn wer Steuerbescheinigungen ausstellen kann, der kann quasi Geld drucken.“ (Seite 23)

Das Bundesfinanzministerium unter Leitung von Theo Waigel (CSU) sah jedoch keinen Anlass, etwas zu unternehmen. Eine grundsätzliche Lösung des Problems, so das Ministerium damals, hätte in „gewissen Zeiträumen“ zu einem Verbot des Handels sowohl von Aktien als auch im Rahmen von Termingeschäften führen müssen. Angeblich wären eine weitgehende Verlagerung der Geschäfte ins Ausland und damit ein „gravierender Schaden für den Finanzplatz Deutschland“ die Folgen gewesen (Seite 25). Im gleichen Zusammenhang sah die Frankfurter Finanzbehörde nach Absprache mit dem Oberstaatsanwalt von Ermittlungsverfahren gegen mehrere Makler ab, die unter dem Verdacht standen, doppelte Steuerbescheinigungen produziert zu haben – mit dem schlichten Verweis auf fehlendes Personal bei der Steuerfahndungsstelle (Seite 28f.).

Neben Ex-Bundesfinanzminister Theo Waigel zeigten sich auch seine Amtsnachfolger Steinbrück (SPD), Schäuble (CDU) und Scholz (SPD) wenig geneigt, den Cum-Ex-Geschäften einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Unter der Ägide von Peer Steinbrück etwa wurde im Jahr 2009 zwar eine Meldepflicht eingeführt, die jede Bank verpflichtete, „dem Bundeszentralamt für Steuern zu melden, wenn die technischen Voraussetzungen für Cum-Ex-Deals gegeben waren“. (Seite 240) Offensichtlich wurde eine dann akribisch erstellte Liste mit über fünfhundert Einträgen von der Behörde aber nicht überprüft, auch nicht in Stichproben. Die Aufstellung der Verdachtsfälle wurde an das Finanzministerium weitergereicht. Was dort damit geschah, blieb jedoch völlig unklar. Bei Staatsanwältin Brorhilker, die die Liste dringend gebraucht hätte, landeten die Informationen jedenfalls erst im Juni 2020.

Ein weiterer Fall für das dubiose Verhalten der Behörden waren die Cum-Ex-Geschäfte der einst mächtigen landeseigenen WestLB, die bestens mit der NRW-Politik vernetzt war. Im Mai 2007 meldete sich ein Whistleblower aus dem Innern der Finanzindustrie bei der BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht), um auf Praktiken der Landesbank aufmerksam zu machen, die auf Cum-Ex-Geschäfte hinwiesen. Die BaFin recherchierte selbst – jedoch ausgerechnet bei der WestLB. „Der Bauer fragt den Fuchs“, kommentiert Bognanni (Seite 79). Im Frühjahr 2021 enthüllten Journalisten schließlich, dass die BaFin ihre im Jahr 2007 erhaltenen Informationen wegen ihrer Verschwiegenheitspflicht nach dem Kreditwesengesetz, so die Darstellung der BaFin, nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben hatte. Die jedoch bestreitet ausdrücklich, dass es je eine Verschwiegenheitspflicht für mutmaßliche Steuerhinterzieher gegeben habe (Seite 82).

Nach all den unglaublichen Vorgängen im Umkreis des Cum-Ex-Komplexes stellt Bognanni in seinem Epilog nüchtern fest, dass der Skandal noch lange nicht vorbei sei. Auch würde Staatsanwältin Brorhilker, die sich seit 2013 mit superreichen Investoren und abgebrühten Wirtschaftsanwälten herumschlagen muss, noch Jahrzehnte brauchen, ihre Ermittlungen abzuschließen. Nach Meinung des Rezensenten kann das als Beleg dafür gewertet werden, dass die staatlichen politischen Entscheider das Entstehen einer Betrugsindustrie erst ermöglicht haben.

Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Staatsanwaltschaften, wie Anne Brorhilker dem Buchautor anvertraute, auf Insiderwissen angewiesen sind, um die immer neuen Steuerbetrugsmodelle verstehen und damit den mafiösen Netzwerken auf die Spur kommen zu können. Ohne Whistleblowing erscheint eine Aufklärung nämlich kaum möglich. Dem Optimismus Bognannis, der Staat könne selbst gegenüber einer global agierenden Steuermafia wehrhaft sein, denn es brauche nur „die richtigen Menschen an der richtigen Stelle“ (Seite 6), ist trotz des beeindruckenden Engagements einzelner Staatsanwält*innen, Journalisten und anderer Aktivist*innen nicht zuzustimmen.

Was Bognanni nicht leistet, ist eine Analyse des politischen und ökonomischen Systems, welches Geschäfte wie Cum-Ex immer wieder hervorbringt beziehungsweise sie ermöglicht. Eine solche Analyse zu liefern war aber auch nicht Anliegen des Autors. Er liefert lediglich die detaillierte und lebendige Beschreibung des Cum-Ex-Komplexes als Form organisierter Kriminalität und der korrupten Rolle staatlicher Institutionen und Repräsentanten. Und dies ist ihm bestens gelungen.

Massimo Bognanni: Unter den Augen des Staates. Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2022, dtv, 285 Seiten, 20 Euro

 

 

 

 

 

Schmähpreis „Goldene Abrissbirne“ verliehen

Die seit längerer Zeit laufende Demontage medizinischer Infrastruktur wurde seit Ausbruch der Pandemie kaum gebrochen fortgesetzt – wir haben in BIG Business Crime darüber berichtet.

Das „Bündnis Klinikrettung“ nahm den diesjährigen Weltgesundheitstag (7. April 2022) zum Anlass, dem baden-württembergischen Minister für Soziales, Gesundheit und Integration Manfred Lucha (Bündnis90/Die Grünen) den Schmähpreis „Goldene Abrissbirne“ zu verleihen. Die Aktivist:innen begründen die Preisverleihung damit, dass die Schließung von Krankenhausstandorten „an vielen Orten Deutschlands gefährliche Löcher in die Versorgung reißen“ und dass „in Baden-Württemberg besonders forsch und rücksichtslos vorgegangen“ würde.

In der Begründung heißt es weiter, dass der Minister seit seinem Amtsantritt „im Schnitt 4,3 Kliniken jährlich dichtmachen“ ließ. „Während von Lucha sage und schreibe 3,5 Milliarden Euro für neue Zentralkliniken eingeplant sind, wird kleineren Krankenhäusern die notwendige Finanzierung versagt. Neben der Versorgung fallen dadurch medizinische Ausbildungsstätten, Arbeitsplätze und funktionierende Infrastrukturen weg, von den Umweltschäden durch die Bauwut ganz zu schweigen.“

Abschließend kündigen die Aktivist:innen weitere Aktionen an: „Solange die Schließungen im Krankenhaussektor derart dicht aufeinander erfolgen wie im Moment, behalten wir uns vor, weitere Schmähpreisverleihungen ebenfalls in kurzen Abständen folgen zu lassen.“

Quellen:

Jorinde Schulz „Erster Schmähpreis für Klinikschließer, die ‚Goldene Abrissbirne‘ geht an Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha“
https://www.gemeingut.org/erster-schmaehpreis-fuer-klinikschliesser-die-goldene-abrissbirne-geht-an-baden-wuerttembergs-gesundheitsminister-manfred-lucha 

Wegen Klinikschließungen: Lucha erhält die „Goldene Abrissbirne“
https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/schmaehpreis-goldene-abrissbirne-fuer-bw-gesundheitsminister-lucha-100.html 

 

 

 

Wer nicht zahlen kann, muss in Haft

Der promovierte Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Ronen Steinke, zeigt in seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ systematische Ungerechtigkeiten im Strafsystem auf – und spricht deshalb von einer „neuen Klassenjustiz“. Während einkommensarme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, mit harten Strafen rechnen müssen, werden Verfahren wegen Wirtschaftskriminalität häufig eingestellt oder es wird milde geurteilt. Für sein Buch recherchierte der Autor bei allen relevanten Akteur:innen, das heißt bei Staatsanwält:innen, Rechtsanwält:innen, Richter:innen und Verurteilten. Dabei geht der Autor die einzelnen Stationen der rechtlichen Verfahren durch. Er beschreibt die Rolle der Anwält:innen, untersucht Urteile (zum Beispiel die Bedeutung verhängter Geldstrafen) und analysiert die Auswirkungen der Untersuchungshaft und anschließender Gefängnisaufenthalte. Danach folgen Kapitel zur Wirtschafts- und „Elendskriminalität“; am Schluss seines Buches stellt er Forderungen auf, wie es gerechter zugehen könnte.

 „Je teurer der Verteidiger, desto unschuldiger der Angeklagte“*

Die Erfolgsaussichten von angeklagten Personen hängen wesentlich davon ab, welcher Anwalt bzw. welche Anwältin zur Verteidigung zur Verfügung steht – oder ob sich überhaupt einer oder eine finden und finanzieren lässt. „Anwälte haben einen langen Atem, solange jemand das Geld hat, für ihre Zeit zu zahlen“, schreibt Steinke. Die privaten Anwälte beantragen im Gerichtssaal in 30,8 Prozent der Fälle einen Freispruch für ihre Mandanten. Pflichtverteidiger:innen tun das nur in 11,6 Prozent der Fälle. Auf diese sind Ärmere aber angewiesen. Pflichtverteidiger:innen werden jedoch von der Staatskasse finanziell kurzgehalten. Und Gerichte bestellen ihre „Lieblingsanwälte“, wenn vermieden werden soll, dass arme Menschen von „bissigen“ und engagierten Strafverteidiger:innen vertreten werden.

„Je vermögender man ist, desto billiger kommt man davon“

Zwischen den Strafverfolgungs- und Finanzbehörden steht das Steuergeheimnis. Meistens gibt das Finanzamt keine Auskünfte zu Einkommensverhältnissen von Angeklagten. Darum fallen Geldstrafen für Reiche oft zu niedrig aus. Deren finanzielle Verhältnisse werden offensichtlich sehr zurückhaltend eingestuft.

Früher ermittelten in Berlin die Sozialen Dienste der Justiz die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Straftätern. Diese Dienstleistung wurde mittlerweile eingespart; jetzt schätzen die Gerichte „ins Blaue hinein“.

„Gefängnisstrafen wegen Schwarzfahrens, jährlich: 7.000. Gefängnis wegen Cum-ex-Milliardenbetrug: 1“

 Fußballfunktionär Uli Hoeneß saß wegen Betrugs am Fiskus in Höhe von mehreren Millionen Euro als einer der wenigen Reichen tatsächlich im Gefängnis. Er überwies fünf Millionen Euro Kaution und kam aus der U-Haft wieder frei. Das ihn betreffende Urteil lautete: Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen sieben „tatmehrheitlicher“ Fälle der Steuerhinterziehung in Höhe von 28,4 Millionen Euro. Als Vergleich zieht der Autor eine Strafe für eine Hartz IV-Empfängerin in Osnabrück heran, die den Fiskus um 84.000 Euro geschädigt hatte. Sie erhielt eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Buches war im Übrigen erstmals ein deutscher Banker im Rahmen des seit Jahren bekannten Cum-Ex-Skandals zu einer Haftstrafe verurteilt worden.

„Anteil der Wirtschaftskriminalität an der Gesamtzahl aller Delikte: 0,9 Prozent, Anteil der Wirtschaftskriminalität am Gesamtschaden: 44,9 Prozent“

Wohlhabende rechnen ihre Geldstrafen zudem als Spesen ab, zahlen fast nie selbst. Konzerne wie VW setzen die Geldstrafen als Betriebsausgaben von der Steuer ab. Deshalb tragen letztlich alle Steuerzahler:innen den Schaden. Wirtschaftsdelinquenten haben daher gute Karten, weil sie sich freikaufen (lassen) können. „Je größer der Konzern, desto lauter ist sein Lachen über diese Sümmchen“, fasst Steinke den skandalösen Zustand zusammen.

Oftmals liefern sich die Anwälte Materialschlachten, die die Justiz verzweifeln lassen. Aus Bequemlichkeit lässt sich das Gericht dann auf eine gütliche Einigung ein und verfügt lediglich Geldauflagen. „Spätestens seit den 2000er-Jahren gelten Deals mit Tatverdächtigen als  ‚unverzichtbares Instrument‘ zur Bewältigung komplexer Wirtschaftsstrafverfahren, sprich: als leider alternativlos.“ So musste Deutsche-Bank-Manager Josef Ackermann für die Einstellung eines Verfahrens im Jahr 2006 (Mannesmann-Prozess) nur ein Bußgeld in Höhe von etwa vier Monatsgehältern zahlen, also 3,2 Millionen Euro. Der Top-Manager konnte so eine Vorstrafe vermeiden.

Das Buch schließt mit einer Reihe konkreter Vorschläge des Autors, die das deutsche Justizsystem ein wenig gerechter machen könnten. So fordert er etwa Pflichtverteidiger für alle sowie die Entkriminalisierung von Drogen- und Schwarzfahrdelikten. Die Einkommen von solventen Tätern sollten zudem nicht geschätzt, sondern tatsächlich ermittelt werden. Zu beenden sei auch das Vorgehen von Unternehmen, die Prozesskosten ihrer delinquenten Manager:innen zu übernehmen und dann sogar von der Steuer abzusetzen. 

Es ließen sich sicherlich auch einige noch radikalere Forderungen aufstellen. Und dass die Klassenjustiz nicht so neu ist, wie der Untertitel des Buches behauptet, darf auch festgehalten werden. Dennoch ist das Buch lesens- und empfehlenswert!

*Alle Zwischenüberschriften sind als Zitate aus dem Buch übernommen.

Ronen Steinke „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ Berlin 2022, Berlin Verlag, 20 Euro

 

Die dubiosen Stiftungen des umstrittenen Immobilienkonzerns Akelius

Im vergangenen Jahr verkaufte der schwedische Wohnimmobilienkonzern Akelius für etwa 9,1 Milliarden Euro fast 29.000 Wohnungen an seinen skandinavischen Konkurrenten Heimstaden – allein rund 14.000 davon in Berlin und etwa 3.600 in Hamburg. Wer aber ist Akelius? Das börsennotierte Unternehmen galt seit den ersten Akquisitionen in Berlin im Jahr 2006 als einer der größten Mietpreistreiber in der Hauptstadt und betrieb eine aggressive Aufwertungsstrategie. So mussten für Wohnungen nach Luxussanierungen oft bis zu 40 Euro pro Quadratmeter bezahlt werden.

Laut Information der „Vernetzung der Akelius-Mieter*innen Berlin“ werden rund sechs Milliarden Euro der aus dem Megadeal stammenden Einnahmen an drei vermeintlich gemeinnützige Akelius-Stiftungen auf den Bahamas weitergereicht – in Form einer Dividendenausschüttung, wie auf der jährlichen Hauptversammlung des Konzerns am 8. April 2022 in Stockholm bekanntgegeben wurde.

Die Initiative der Mieter:innen von Akelius veröffentlichte deshalb im April 2022 eine umfangreiche Recherche – unter anderem zur Frage nach der Funktion der Stiftungen im Rahmen der Konzernstruktur. Der Konzern ist im Besitz von drei Privatstiftungen auf den Bahamas, die sämtliche Stimmrechte und etwa 94 Prozent der Aktien halten. Vor allem wird in dem Bericht die Behauptung des Akelius-Konzerns überprüft, seine Hauptanteilseignerin, die Akelius Foundation, sei eine gemeinnützige Stiftung. Die Eigentümerstruktur, so ein Fazit der Analyse, diene „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ der Steuervermeidung.

Es folgt ein längerer Auszug aus dem Bericht: „Die Akelius Foundation ist die größte und wichtigste der drei Stiftungen. Sie hält rund 80 Prozent der Anteile an Akelius Residential (der zentralen schwedischen Aktiengesellschaft – die Redaktion), was einem Wert von rund 12 Milliarden Euro entspricht. (…) Über den Aktienanteil (…) hält die Stiftung eine deutliche Mehrheit der Stimmrechte. Sie fungiert damit als die maßgebliche Kontroll- und Weisungsinstanz. Durch die Mitglieder des Stiftungsrats und die beiden Kontrolleure (…) ist die Akelius Foundation schon allein personell eng mit dem Akelius-Konzern verbunden. Darüber hinaus ist die Akelius Foundation alleinige Inhaberin der beiden Firmen Akelius Invest Ltd. und Akeliusfonder Ltd., beide mit Sitz auf den Bahamas. Beide Firmen ermöglichen Finanzanlagen, die über Anleihen und Kredite ausschließlich in den Akelius-Konzern investiert werden. Es ist unklar, ob die Stiftung dies auch nutzt, um eigenes Geld zu reinvestieren. Es handelt sich dabei um ein steueroptimiertes Wachstumsmodell. Das heißt zum Beispiel: Akelius Invest gibt Kredite an die jeweiligen nationalen Akelius-Bestandshalter, wodurch diese ihre Gewinne kleinrechnen können (in Deutschland die Akelius GmbH).

Roger Akelius (der Firmengründer – die Redaktion) und der Akelius-Konzern formulieren für die Akelius-Stiftung einen Anspruch auf ‚Gemeinnützigkeit‘. Dieser Anspruch ist aufgrund der hier vorgestellten Analyse zurückzuweisen – sowohl mit Blick auf die engere Verwendung des Begriffs im Sinne der steuerlich anerkannten Gemeinnützigkeit als auch mit Blick auf das allgemeine Verständnis einer Gemeinwohlorientierung. Eine wohltätige Stiftung ist sie nur in einem Sinn, nach der eine Person oder Firma wohltätig ist, die ohne jede Verpflichtung einen selbst bestimmten Teil ihres Einkommens oder ihrer Gewinne einem guten Zweck spendet. Der Aufsichtsrat der Akelius Foundation besteht nahezu ausschließlich aus Personen, die im Akelius-Konzern wichtige Funktionen übernehmen. Die Stiftung agiert weitgehend intransparent und veröffentlicht selbst keine oder nur minimale Berichte zur eigenen Tätigkeit oder zu den ausgezahlten Fördergeldern. Im Vergleich mit anderen Stiftungen ist der Anteil an den ausgeschütteten Gewinn, den die Akelius Foundation für wohltätige Zwecke ausgibt, gering.

Die Akelius Foundation muss auf Grundlage der hier zusammengetragenen Informationen als Privatstiftung betrachtet werden. Ihre Hauptfunktion ist nicht Wohltätigkeit, sondern Gewinnoptimierung, was in der Außendarstellung der Stiftung nicht transparent gemacht wird.“ (Seite 3f.)

Zur Frage des Verkaufs der Akelius-Bestände an den Konzern Heimstaden im Herbst des letzten Jahres bemerkt der Bericht: „Was passiert mit dem ganzen Geld? Auf der jährlichen Hauptversammlung am 8.4.2022 soll eine Dividendenausschüttung an die drei Akelius-Privatstiftungen in Höhe von rund 6 Milliarden Euro beschlossen werden. Damit wird ein großer Teil der durch den Verkauf erzielten Summe ins Steuerparadies Bahamas verschoben. Die Gewinne werden vermutlich steuerfrei ausgeschüttet – die sonst übliche Kapitalertragssteuer (in Schweden 30 %) wird durch die Finanzkonstruktion des Konzerns vermieden. Ebenfalls auf der Tagesordnung der Hauptversammlung steht eine Kapitalerhöhung. Damit sollen rund 4 Milliarden Euro von den Stiftungen wieder in den Konzern reinvestiert werden.“ (Seite 5)

Mittels der Investitionen soll der Bestand offenbar wieder auf 50.000 Wohnungen ausgebaut werden. Keine guten Aussichten für die neuen Mieter:innen des Konzerns. Auch sie müssen mit der berüchtigten Mieterhöhungs- und Aufwertungsstrategie des Konzerns rechnen.

Anmerkung:
Akelius ist nicht nur wegen seiner Steuervermeidungsstrategien bekannt. Der Konzern stand vor allem in Berlin auch in der Kritik, weil er mittels sogenannter Share Deals die Grunderwerbssteuer umging. Die SPD-Politikerin und heutige Staatssekretärin im Bundesbauministerium, Cansel Kiziltepe, hatte Akelius bereits im Jahr 2020 wegen „fragwürdiger Share Deals“ im Berliner Bezirk Neukölln angezeigt und die Steuerfahndung alarmiert (Der Spiegel vom 4. September 2020).

Quellen:

Vernetzung der Akelius-Mieter*innen Berlin: „Bluewashing und Steuervermeidung: Die Akelius Foundation im Akelius-Konzern“, Oktober 2021 (mit Aktualisierungen im März 2022)
https://www.akelius-vernetzung.de/wp-content/uploads/2022/04/Bluewashing_Steuervermeidung_Akelius_Foundation.pdf

Gareth Joswig: „6 Milliarden für die Bahamas“, taz vom 8. April 2022
https://taz.de/Akelius-schuettet-Dividende-aus/!5843609&s=akelius/

Nicolas Šustr: „Konzentration auf Berliner Wohnungsmarkt“, Neues Deutschland vom 28. September 2021
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157086.betongold-konzentration-auf-berliner-wohnungsmarkt.html?sstr=akelius

David Böcking: „Bundestagsabgeordnete zeigt Wohnungskonzern Akelius an“, Der Spiegel vom 4. September 2020
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/cansel-kiziltepe-spd-abgeordnete-zeigt-berliner-immobilieninvestor-an-a-b32e9fd4-cce3-4f29-b63a-69fb94f9592a

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachhaltigkeit in der Finanzbranche: Druck von links und rechts

Mitte März 2023 stellte der im Regierungsauftrag tätige Expertenrat für Klimafragen in einem Bericht zur Emissionsbilanz des Bundes fest, Deutschland werde – bleibe es beim bisherigen Tempo im Klimaschutz – seine Klimaziele bis 2030 um etwa 40 Prozent verfehlen. Diese Feststellung sei eine „schallende Ohrfeige“ für die Klimapolitik der Bundesregierung, ließ der Chef von Greenpeace daraufhin wissen (Süddeutsche Zeitung vom 14. April 2023). Um die politisch Verantwortlichen endlich zu mehr Klimaschutz zu bewegen, kündigten Aktivisten der „Letzten Generation“ an, ab dem 19. April die Bundeshauptstadt mittels Protestveranstaltungen, Klebeaktionen und weiteren Blockaden teilweise lahmzulegen.

Vertreter:innen der politischen Klasse zeigen sich über den „zivilen Ungehorsam“ von  Akteuren, wie denen der „Letzten Generation“, regelmäßig empört und lassen durchblicken, dass sie für Rechtsbrüche jeglicher Art kein Verständnis aufbringen würden. „Gar nicht zum Lachen ist dem Justizminister. Marco Buschmann sieht einmal mehr das Abendland untergehen, denn die Kleber erinnern ihn an die Weimarer Zeit, als sich ‚Menschen am linken und rechten politischen Rand selbst ermächtigt fühlten, sich über die Rechtsordnung zu stellen‘.“ (junge Welt vom 22. April 2023)

Starke Worte angesichts der sehr gemäßigten Forderungen und des alles andere als militante Auftretens der Aktivisten. Von einer angeblichen Demokratiefeindlichkeit findet sich bei ihnen keine Spur. So heißt es auch auf der Webseite der „Letzten Generation“: „Rasend eskaliert die Klimakrise und an so vielen Tagen bleibt nichts als dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man die Zerstörung sieht und dazu das Nichtstun unserer Regierung. (…) Sie schützt Wirtschaftsprofite statt unserer Lebensgrundlagen, bricht ihre eigenen Versprechen und unsere demokratische Verfassung.“ Und in einem „Brief an die Bundesregierung“ vom April 2023 unterstreichen die Aktivisten, dass es „beim Abwenden einer Klimakatastrophe auch um den Erhalt unserer Demokratie, unseres Rechtsstaats und den Erhalt der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gehe.

Darüber, wie der Rechtsstaat mit „zivilem Ungehorsam“ umzugehen hat, wird derzeit auch einmal mehr im juristischen Fachdiskurs verhandelt. So pocht Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg, auf den Rechts- und Gesetzesgehorsam der Staatsbürger:innen. Die „Letzte Generation“ stellt für ihn eine Protestbewegung dar, „die letzten Ende keine Rücksicht auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen bereit ist, die auch Ausdruck einer Negation des Rechtsstaats zur Durchsetzung partikularer Interessen unter dem Mantel vorgeblich grundrechtlich geschützter Freiheit ist“. (Schwarz, Seite 275) Beim „zivilen Ungehorsam“ gehe es in Wahrheit gerade nicht um die Beseitigung etwaiger Mängel, sondern um die „undemokratische, weil nicht im Parlament beschlossene Durchsetzung individueller Vorstellungen“. (Schwarz, Seite 279f.) Er warnt gar vor der „Kapitulation des Rechtsstaats vor der Macht der Straße“. (Seite 276)

In Erwiderung dazu stellt dagegen Lorenz Leitmeier, Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, fest:

„Tatsächlich wird die existenzielle Dimension der Klimakrise verschleiert oder gar geleugnet, wenn man plump die Mehrheit-ist-Mehrheit-Regel bemüht, um die Spannung zwischen Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam einseitig aufzulösen. Die ‚bestimmten Ziele‘, von denen Schwarz spricht, sind nämlich keine Privatinteressen einer Minderheit mit ‚Verhinderungsstrategie‘ – es sind rechtlich verbindliche Ziele: Bekanntlich wurde in Paris am 12.12.2015 im Rahmen der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) ein Abkommen geschlossen (Pariser Abkommen), das die EU am 5.10.2016 mit dem Beschluss (EU) 2016/18414 umsetzte, woraufhin es am 4.11.2016 in Kraft trat.“ (Leitmeier, Seite 71)

Auch die Bundesrepublik habe das Pariser Abkommen unterzeichnet und ratifiziert, so dass eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zu einem gewissen Verhalten vorliege. Der Jurist und Journalist Ronen Steinke betont in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung ebenfalls, dass die Bundesregierung selbst gegen verbindliches Recht verstoße – was nicht wegzudiskutieren sei. Das Klima-Abkommen von Paris, wonach die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, sei nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag unmittelbar geltendes Bundesrecht. „Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgericht“, konstatiert Steinke bissig, „haben der Regierung, die dies nicht ganz ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss vom März 2021 die Lage noch einmal deutlich auseinandergesetzt – Verfassungsrecht für Dummies, quasi: Das Abkommen ist verbindlich, dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht Recht.“

In dieser Situation würden die Klima-Aktivisten sich entscheiden, ihrerseits Recht zu brechen. „Sie tun das mit einer, rechtlich betrachtet, eigentlich ungewöhnlich bescheidenen Forderung. Sie wollen nur, dass sich die mächtigsten Menschen im Staatsapparat an die rechtlichen Pflichten halten, die für diese gelten.“ Die Täter verlangten nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. „Rein rechtlich ist es hier so, als zwänge jemand den Bundeskanzler bloß dazu, an eine Fußgängerampel nicht mehr über Rot zu gehen.“

Steinke verweist zum Schluss seines Artikels auf den dynamischen Charakter der Rechtsentwicklung. Wenn die Bürger keine Hoffnung mehr haben könnten, dass der Staat ein Unrecht stoppe, habe das rechtliche Folgen. Bei einer Aussichtslosigkeit behördlichen Einschreitens könne ausnahmsweise doch einmal ein rechtfertigender Notstand nach Paragraf 34 StGB denkbar sein, so habe es zum Beispiel das Oberlandesgericht Naumburg vor einer Weile festgestellt. „Mit dieser Begründung hat es Tierschützer freigesprochen, die mit ‚zivilem Ungehorsam‘ auf illegale Zustände in der Massentierhaltung hingewiesen hatten, die den Behörden seit Jahren egal waren. Und das heißt: Je länger die Klima-Aktivisten mit ihrer Verzweiflung tatsächlich recht behalten, desto eher erwächst für ihren ‚zivilen Ungehorsam‘ irgendwann doch eine auch rechtliche Legitimation.“

Quellen:

Felix Bartels: „Döpfner des Tages: Marco Buschmann“, junge Welt (Online) vom 22. April 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/449346.döpfner-des-tages-marco-buschmann.html?sstr=letzte%7Cgeneration

Michael Bauchmüller: „Klima-Experten warnen Regierung“, Süddeutsche Zeitung vom 18. April 2023 (Printausgabe)

„Brief an die Bundesregierung, April 2023“, verfasst von „Die Bürger:innen der Letzten Generation“

https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/

 

Dr. Lorenz Leitmeier: „Ziviler Ungehorsam und autoritärer Legalismus?“, in: HRRS – Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, März 2023, Seite 70-73 (PDF-Ausgabe)

https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/23-03/index.php?sz=6

Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz: „Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam“, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 5/2023, Seite 275-280

https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160031/2023/NJW_2023_05_Forum_Schwarz.pdf

Ronen Steinke: „Alles, was Recht ist“, Süddeutsche Zeitung vom 21. April 2023 (Printausgabe)

Bandenherrschaft: Politik und Kriminalität

 

Der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift iz3w („Informationszentrum 3. Welt“) widmet sich dem Thema „Banden und Rackets“, also der Schnittstelle von Politik und Kriminalität. Nachfolgend ein Auszug aus dem Einleitungstext des Hefts: „Die basale Bedeutung von Racket ist Gewaltkriminalität wie zum Beispiel Schutzgelderpressung. In der Racket-Theorie meint es den Umbau des Staates zum Anhängsel einer Clique oder einer völkisch-faschistischen Gruppe, wie es die NSDAP war. Der Racket entsteht innerhalb der liberalen Ordnung und kann diese ergänzen, beseitigen oder ersetzen. Die Konkurrenz der Kapitale führt zu einer Konzentration von Reichtum; und auch kriminelle oder rechtsextreme Netzwerke kämpfen dabei um die Vorherrschaft. Dabei kann sich die liberale, konkurrenzbasierte und rechtlich vermittelte Gesellschaftsordnung aufheben. Das Kapital bildet Banden.“ (Seite 17)

Der Themenschwerpunkt umfasst acht Beiträge: Der Autor Thorsten Fuchshuber analysiert den Racket-Begriff in der Kritischen Theorie bei Max Horkheimer (vgl. auch die Rezension seines Buches zum Thema unter http://big.businesscrime.de/rezensionen/kampf-um-die-beute/). In weiteren Beiträgen werden aktualisierte Formen einer Racket-Herrschaft anhand der „postsozialistischen Korruptionsgesellschaft im Kosovo“ und von Viktor Orbáns „Staat der Seilschaften“ beschrieben.

Weiterhin schildern zwei Anthropologen, wie Justiz, Wirtschaft und Verwaltung im Norden Malis zum Teil von islamistischen, teilweise aber auch von lokal agierenden Stammesmilizen dominiert werden. Ein Afrikanist beleuchtet unter anderem die Rolle islamistischer Gruppen in Nigeria. Eine Mitarbeiterin von medico international geht auf den Zusammenhang von Hilfsgeldern und Korruption in Haiti ein. Und schließlich berichtet eine Politologin in einem Interview über ihre Forschungen zu neuen Formen der organisierten Kriminalität in Mexiko.

Für Winfried Rust, Mitarbeiter im iz3w, entstehen kriminelle Banden „im Vakuum der krisenhaften ökonomischen Umbrüche“ (Seite 18). Wir zitieren nachfolgend Auszüge aus seinem Artikel „Bildet keine Banden!“:

„Das Thema Banden ist relevant, weil es die bürgerliche Gesellschaft wie ein Schatten verfolgt und Leid und Tod mit sich bringt. Weltweit zeigt sich ein Machtzugewinn bandenartiger Strukturen innerhalb und jenseits der staatlichen Gewaltmonopole. Gerade in Ländern des Globalen Südens wird heute in ganzen Regionen Herrschaft von Banden ausgeübt, oft durch brutale Gewalt. (…) Das 21. Jahrhundert ist eine Zeit krisenhafter Ökonomie, Staatlichkeit und Gesellschaftlichkeit. Dabei versuchen Kriminelle und Banden, jedes sich öffnende Vakuum von Herrschaft und Gelderwerb zu füllen. Das 21. Jahrhundert ist außerdem von einer Krise der liberalen Demokratie und der Moderne geprägt. Die Krise gebiert die konformistische Revolte. Der antimoderne Reflex reicht von den neurechten und rechtspopulistischen Bewegungen in Europa oder den USA bis hin zu der islamistischen Bewegung oder anderen fundamentalistischen und autoritären Strömungen weltweit. Die entsprechende Organisationsform ist nicht selten die Bande oder der Racket, die versuchen, ins Vakuum der Transformationen vorzustoßen.“ (Seite 18ff.)

Quelle:

„Verbrechen lohnt sich – Rackets & Bandenherrschaft“, iz3W, Ausgabe 389, März/April 2022
https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/389_rackets

 

 

 

 

Schatzkammer von Kriminellen in der Schweiz offenbart

Nach Mitteilung der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) wurden ihr vor etwa einem Jahr von einem anonymen Informanten geheime Unterlagen zu etwa 18.000 Konten der zweitgrößten Schweizer Bank „Credit Suisse“ (CS) mit einem Umfang von etwa 100 Milliarden Dollar zugespielt. Wie die Autoren der SZ nach erfolgter Sichtung schreiben, „konnte die Öffentlichkeit (noch nie) einen so tiefen Einblick in das Innerste der Schweizer Finanzwelt nehmen“. Die Auswertung des Datenleaks habe ergeben, dass sich unter den insgesamt 30.000 Konteninhabern kriminelle Personen befänden.

In der den Daten beigefügten und von der SZ nur auszugsweise dokumentierten Erklärung des oder der anonymen Lieferant*innen heißt es: „Ich glaube, dass das Schweizer Bankgeheimnis unmoralisch ist. Der Vorwand, die finanzielle Privatsphäre zu schützen, ist lediglich ein Feigenblatt, um die schändliche Rolle der Schweizer Banken als Kollaborateure von Steuerhinterziehern zu verschleiern. (…) Ich bin sicher, dass einige der Konten (…) aus legitimen Gründen existieren oder den Steuerbehörden im Einklang mit der relevanten Gesetzgebung angezeigt wurden. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass eine signifikante Zahl dieser Konten mit der einzigen Absicht gegründet wurden, das Vermögen der Kontoinhaber vor Steuerbehörden zu verstecken und/oder Steuern auf Kapitalerträge zu vermeiden.“

Die SZ schreibt: „Zu den Kontoinhabern, die durch diese Recherche bestätigt werden konnten, zählen etliche ehemalige Staats- und Regierungschefs, zahlreiche Minister und andere hochrangige Politiker sowie deren nahe Verwandte, dazu Kardinäle, Menschenhändler, Oligarchen, wegen Korruption verurteilte Manager, prominente Superreiche, Sportstars und mehrere Monarchen. (…) Unter den Staats- und Regierungschefs, die in den Daten zu finden sind, sind der amtierende jordanische König Abdullah II., der 2021 gestorbene algerische Autokrat Abdelaziz Bouteflika sowie der armenische Ex-Präsident Armen Sarkissian. Eine von Abdullah II. beauftragte Anwaltskanzlei bestätigte die Existenz von Konten bei der Credit Suisse.“

In dem Artikel heißt es weiter: „Ein auf den Philippinen verurteilter Menschenhändler und ein ägyptischer Mörder finden sich ebenso in den Daten wie mutmaßlich in krumme Geschäfte verwickelte Kardinäle und der 2008 wegen Bestechung verurteilte frühere Siemens-Manager Eduard Seidel.“

Gemäß Mitteilung auf der Homepage www.finanzen.ch wies die CS in einer ersten Stellungnahme alle Vorwürfe über „angebliche Geschäftspraktiken der Bank entschieden zurück“. Die Sachverhalte würden auf veralteten, unvollständigen, selektiven und aus dem Zusammenhang gerissenen Informationen beruhen.

Die SZ hat nach eigenen Angaben die Credit-Suisse-Daten zusammen mit dem „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP) sowie 46 Medienpartnern aus aller Welt ausgewertet. In der Schweiz registrierte Medien hatten gemäß www.finanzen.ch auf eine Teilnahme verzichtet. Nach der aktuellen Schweizer Gesetzeslage droht Journalist*innen eine Haftstrafe, wenn sie über geleakte Bankdaten berichten.

Quellen:

Johannen Korsch, Vinzent-Vitus Leitgeb und Carolin Lenk: „Suissse Secrets“, Stand vom 20. Februar 2022, 18.00 Uhr
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/suisse-secrets-podcast-leak-credit-suisse-1.5532656 

„‘CS-Leaks‘ belastet CS-Aktie: Credit Suisse soll Kriminelle als Kunden akzeptiert haben – Bank im Visier der Finma“, Stand vom 21. Februar 2022, 12.58 Uhr
https://www.finanzen.ch/nachrichten/aktien/cs-leaks-belastet-cs-aktie-credit-suisse-soll-kriminelle-als-kunden-akzeptiert-haben-bank-im-visier-der-finma-1031210733 

Konzerne, Pandemie, Profite

Über die Entwicklung des Reichtums in Zeiten des grassierenden Coronavirus berichtete BIG zuletzt am 25. Januar 2022 („Goldrausch für Superreiche“). Am 12. Februar stellte die junge Welt fest, dass die Pandemie auch „das Gewinnstreben der größten französischen Unternehmen im vergangenen Jahr erfolgreich angeheizt zu haben“ scheint.

Die Profite der 40 wichtigsten an der Pariser Börse notierten französischen Aktiengesellschaften bewegten sich Ende des letzten Jahres mit 137 Milliarden Euro auf Rekordniveau. Rund die Hälfte des Profits, so die junge Welt mit Bezug auf eine Pariser Wirtschaftsagentur, fließt als Dividenden an die jeweiligen Großaktionäre. Die andere Hälfte wird vor allem in Aktienrückkäufe investiert. Ermöglicht wird diese Unternehmensstrategie offensichtlich durch die Covid-Politik der Regierung Macron. Rund 80 Milliarden Euro pumpte diese laut junge Welt zur Finanzierung pandemiebedingter Teilzeitarbeit und Kreditsicherung in die Wirtschaft des Landes.

Hauptprofiteur war der Erdölgigant Total Energies. Dieser konnte im Jahr 2021 den Gewinn des Vorjahres von 7,3 auf 15 Milliarden Euro mehr als verdoppeln. Das Handelsblatt bestätigt, dass mit Ausnahme von Exxon Mobil und BP „alle Supermajors“ ihre Dividende deutlich erhöhen konnten. Seit einem Jahr stiegen die Kurse der Ölkonzerne kräftig. Fast alle Unternehmen hätten den massiven Kursabsturz bei Ausbruch der Coronapandemie mittlerweile kompensieren können. Der Grund läge vor allem „an der neu entdeckten Ausgabendisziplin“:

„2020 verbrachten die Unternehmen mit aggressiven Kostensenkungen, kündigten Zehntausende Entlassungen an und kürzten in einigen Fällen ihre Dividenden. Damit waren sie gut für 2021 gerüstet, als sich der Einbruch in eine bemerkenswerte Rallye verwandelte.“ (Handelsblatt vom 11. Februar 2022)

Nach Einschätzung des Chefs von Total Energies würden die Ölpreise hoch bleiben, wie das Handelblatt berichtet. Die Situation in Frankreich sei so angespannt, dass der Ölkonzern am 10. Februar ankündigte, Kunden einen Gutschein über je 100 Dollar auszuzahlen, um bei der Bewältigung hoher Energierechnungen zu helfen. Ein Kostenfaktor in Höhe von 50 Millionen Euro, „also mickrige 0,4 Prozent des Nettogewinns“, wie die junge Welt kommentierte.

Ein Zitat aus der jungen Welt zur Gewinnverteilung (die eine Hälfte des Profits wird als Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet, die andere in den Aktienkauf investiert):

„Bereits 2009 hatte der damalige, rechtskonservative Präsident Nicolas Sarkozy – heute einer der Berater Macrons und von französischen Medien zur ‚grauen Eminenz‘ hinter dem aktuellen Staatschef erklärt – eine andere Verteilung der Gewinne angemahnt: Seiner Meinung nach sollten sie ‚gedrittelt‘ werden – ein Drittel für das Unternehmen, eines für die Beschäftigten, eines für die Aktionäre. Jean-Luc Mélenchon, Führer der parlamentarischen Linken und Präsidentschaftskandidat für die Wahl am 10. April, sieht das pragmatischer: Auf Wahlkampfreise im westfranzösischen Tours kündigte er in der vergangenen Woche drastische Maßnahmen für den Fall seines Einzugs in den Élysée-Palast an: ‚Total hat die größten jemals von einem französischen Unternehmen gemachten Gewinne kassiert – wir brauchen sie ihnen nur wegzunehmen.‘

Mélenchons Generalangriff auf die Steuerpolitik Macrons, der den großen Konzernen zu Beginn seiner Regierungszeit als Unternehmenssteuer eine ‚Flat-Tax‘ von lediglich 30 Prozent gönnte, unterstützt auch der kommunistische Kandidat Fabien Roussel in einer Mitteilung: ‚Die Unternehmer müssen gezwungen werden, mit dem Geld Ausbildung und Weiterentwicklung zu fördern und auf umweltfreundliche Produktion umzustellen.‘“

Auch die größten börsennotierten Konzerne Deutschlands wollen laut Handelsblatt für den Rückkauf eigener Aktien so viel Geld ausgeben wie nie zuvor. Darunter auch solche, die bis vor kurzem noch Coronahilfen kassierten (vgl. Handelsblatt vom 14. Januar 2022). Zur Erklärung: Der Rückkauf von Aktien verknappt das Angebot und pusht deshalb den Kurs. Selbst das wirtschaftsliberale Handelsblatt kommentierte kritisch:

„Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat seit Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 insgesamt 52 Milliarden Euro für zusätzliche Leistungen infolge der Coronakrise ausgegeben. Allein für Kurzarbeit stellte sie 42 Milliarden Euro bereit, wie eine Auswertung der BA zum Jahreswechsel zeigt. Hohe Dividenden von Unternehmen, die Coronahilfen in Anspruch genommen haben, stoßen vielfach auf Kritik – erst recht gilt das für Aktienrückkäufe. Sie zeigen schließlich, dass ein Unternehmen zu viel Geld hat und nicht zu wenig. Rechtlich ist Adidas Wechselstrategie – Aktienrückkäufe, dann Staatshilfen, dann wieder Rückkäufe – aber nicht zu beanstanden. Gelder für Kurzarbeit sind keine Steuermittel, sondern fließen aus den BA-Kassen, in die das Unternehmen und die Mitarbeiter jeden Monat einzahlen.“ (Handelsblatt vom 14. Januar 2022)

Quellen:

Hansgeorg Hermann: „Konzerne im Profitrausch“, junge Welt vom 12. Februar 2022

https://www.jungewelt.de/artikel/420525.krisengewinnler-konzerne-im-profitrausch.html

Ulf Sommer: „Neuer Rekord: Dax-Konzerne kaufen für fast 18 Milliarden Euro eigene Aktien zurück“, Handelsblatt vom 14. Januar 2022

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/adidas-sap-und-andere-neuer-rekord-dax-konzerne-kaufen-fuer-fast-18-milliarden-euro-eigene-aktien-zurueck/27968326.html

Kathrin Witsch: „Big Oil schreibt Milliardengewinne – eine schlechte Nachricht für Verbraucher“, Handelsblatt vom 11. Februar 2022

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/oel-und-gas-big-oil-schreibt-milliardengewinne-eine-schlechte-nachricht-fuer-verbraucher/28060918.html

 

Investigativ-Journalist Schröm zum Cum-Ex-Skandal

Seit 2013 klärt der Investigativ-Journalist Oliver Schröm die Öffentlichkeit über die kriminellen Cum-Ex-Geschäfte auf. Am 1. Februar 2022 sprach er im Rahmen eines Livestreams mit Daphne Weber von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über das Thema. Einige seiner Aussagen sind im Folgenden zusammengefasst.

Zur Frage, welche Banken in Cum-Ex-Geschäften involviert waren:

Eigentlich sei jede Bank involviert gewesen, selbst „irgendwelche Sparkassen im Hinterland“. „Natürlich auch die großen Banken, die großen Investmentbanken, die amerikanischen Banken. Aber zum Beispiel auch die Commerzbank.“ Und es sei ziemlich makaber, dass Letztere nach der Finanzkrise Milliardenzuschüsse vom Bund bekommen und gleichzeitig Cum-Ex-Geschäfte betrieben habe. Sie habe sich quasi vom Staat zwei Mal Milliardenbeträge auszahlen lassen. Es sei eigentlich unfassbar, dass eine Landesbank den Bund ausraube.

Zur Frage, ob es sich um einzelne oder viele Täter handelt:

Allein in Köln sei eine Staatsanwaltschaft dabei,  gegen mittlerweile über tausend Personen zu ermitteln. Weitere Beschuldigte gäbe es in Frankfurt und München. Es handele sich dabei um die „Spitze des Eisbergs“. „Bislang wird eigentlich nur gegen die Möglichmacher von Cum-Ex ermittelt. Also gegen Banker, gegen Anwälte, gegen Broker. Wer bisher strafrechtlich außen vor ist, das sind die Investoren, also die Privatinvestoren, also die Carsten Maschmeyers. Der Grund ist ganz einfach: Es ist eine Frage der Kapazitäten. Man kann nicht von Einzelnen sprechen, es waren sehr, sehr viele.“

 

Zum Hamburger Untersuchungsausschuss zur Rolle der Hamburger Privatbank Warburg:

 

Der Untersuchungsausschuss sei vor über einem Jahr eingesetzt worden, habe aber bisher einen „Dornröschenschlaf“ geführt. Auch medial hätte der Ausschuss bisher wenig Aufmerksamkeit erregt. „Ein Skandal im Skandal ist: Als die Entscheidung gefällt wurde, dass man die Gelder nicht zurückhaben will*, hat diese Bank insgesamt 45.500 Euro an die SPD gespendet – und zwar an den Wahlkreis von Johannes Kahrs. Als das publik wurde jetzt im Ausschuss, ist herausgekommen, dass in dem Gremium, das über die Annahme des Geldes entschieden hat, just der Ausschuss-Vorsitzende saß wie auch der Obmann der SPD im Untersuchungsausschuss. Also die haben damals zugestimmt, diese Gelder entgegenzunehmen, und zwar im Jahr 2017, da wurde schon seit anderthalb Jahren gegen die Bank ermittelt. Wie man quasi Gelder entgegennehmen kann, Spenden von einer Bank, die wegen schwerster Steuerhinterziehung im Fokus der Staatsanwaltschaft steht, ist mir ein Rätsel. Und noch seltsamer ist, dass genau zwei Personen, die in dieser Entscheidung eingebunden waren, jetzt im Ausschuss sitzen und (…) sich quasi selber aufklären sollen.“

Zur Frage, ob noch weitere Enthüllungen im Cum-Ex-Zusammenhang zu erwarten sind:

Die Aufarbeitung von Cum-Ex habe erst so richtig Fahrt aufgenommen. „Es gab jetzt zwei Urteile letztes Jahr, und es wird schon in zwei Wochen ein weiteres Urteil in Köln geben. Und dann wird es Anklagen hageln. (…) Die Strafermittlungsbehörden machen ihren Job – und das finde ich auch ziemlich beeindruckend. Weil, die haben teilweise über zehn Jahre an diesen Fällen gearbeitet und jetzt zur Anklage gebracht. (…) Da geht es jetzt Schlag auf Schlag.“ Es sei jetzt auch wirklich Eile geboten, weil teilweise Verjährung drohe.

Zum Auftreten von Olaf Scholz (SPD) vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss:

Der Auftritt von Scholz am 30. April 2021 sei peinlich gewesen. Schröm selbst habe eine Strichliste geführt. „Er hat über 40-mal geantwortet: ‚Ich kann mich nicht erinnern.‘ (…) Sein Auftritt war eine einzige Amnesie.“ Schröm bedauere es sehr, dass solche Anhörungen in Deutschland nicht wie in den USA live übertragen würden.

* Die Hamburger Finanzverwaltung verzichtete nach einem Gespräch zwischen dem damaligen Ersten Bürgermeister Scholz und dem Chef der Warburg-Bank auf eine Rückzahlung von Geldern, die die Bank sich zuvor durch illegale Cum-Ex-Geschäfte hatte erstatten lassen.

Quelle:

„Der Cum-Ex-Clan. Der Steuerraub der Reichen und die Politik“, Daphne Weber im Gespräch mit Oliver Schröm, Rosa-Luxemburg-Stiftung: Ausnahme&Zustand#39‚ 1. Februar 2022

Das Gespräch ist in der Mediathek der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu finden:

https://www.rosalux.de/ausnahmeundzustand

Ka’apor-Indigene in Brasilien in Gefahr

Die Organisation POEMA e.V. berichtete kürzlich über die prekäre Lage der Ka’apor-Indigenen im brasilianischen Bundesstaat Maranhão. Diese würden derzeit massiv von Land- und Holzräubern bedroht. POEMA kooperiert seit 30 Jahren partnerschaftlich mit den Indigenen und unterstützt sie.

 Im Folgenden Auszüge eines Berichts der betroffenen Indigenen:

 „Am Samstagmorgen, dem 22. Januar 2022, umstellten illegale Holzfäller in der Gemeinde Santa Luzia do Parua im Bundesstaat Maranhão das Auto, in dem sich zwei Personen befanden. Unter ihnen war ein Anführer der Ka’apor (…). Die Holzfäller wollten sie angreifen, aber sie suchten Schutz in einem Restaurant und gingen dann zur Polizeiwache. Die Spannungen sind hoch und es kann in den nächsten Tagen zu gewalttätigen Konflikten kommen. (…)

Das indigene Reservat Alto Turiaçu ist nur ein Teil eines ausgedehnten Gebiets, das dem Volk der Ka’apor gehört. Es liegt an der Grenze zum Bundesstaat Pará im östlichen brasilianischen Amazonas. Es ist eines der letzten Gebiete des Amazonas-Regenwaldes im Bundesstaat Maranhão. Obwohl das Reservat offiziell anerkannt ist, leidet das Gebiet weiterhin unter illegalen Invasionen durch Holzfäller, Jäger, Landraub sowie unter dem Druck von Bergbauunternehmen.

Holzfäller schlagen illegal Holz im Reservat und zählen dabei auf die Untätigkeit der Landesregierung sowie der örtlichen und föderalen Polizei. Geduldet werden die illegalen Aktionen auch von Bundesbehörden wie der Umweltschutzbehörde Ibama und der Bundesbehörde Funai, die eigentlich für den Schutz indigener Völker zuständig sind.

Als ob das nicht genug wäre, erhalten die Aggressoren weiterhin die Unterstützung der Bolsonaro-Regierung, die versucht, die Zerstörung von Wäldern und den Bergbau auf indigenem Territorium zu legalisieren. Einige Bürgermeister in der Region, die derselben Partei angehören wie der Präsident der Republik, der Liberalen Partei (PL), haben bereits den Bergbau in einer Gemeinde genehmigt und unterstützen den illegalen Holzeinschlag.

Das aus indigenen Gebieten gewonnene Holz und Gold wird auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene vermarktet. Die Presse berichtete, dass der ehemalige Umweltminister Ricardo Salles den Export von kriminell aus dem Amazonas gewonnenem Holz ermöglichte und dass sogar der Vizepräsident der Republik, Hamilton Mourão, an Verhandlungen über den illegalen Holzeinschlag beteiligt war. (…)

Die Anspannung wächst mit der Untätigkeit der Regierung. Die zahlreichen Angriffe auf das Ka’apor-Territorium sowie auf andere indigene Gebiete und Quilombolas (Nachkommen entflohener Sklavengemeinschaften) sind dem Gouverneur von Maranhão, Flávio Dino bekannt. Er, sowie die zuständigen Stellen, tun so gut wie nichts gegen die Angriffe auf das Reservat.

Als eine Reaktion darauf erhöhten die Ka’apor die Zahl der Ureinwohner in der neu geschaffenen Schutzzone, während sie gleichzeitig erklärten, dass sie ihr Territorium weiterhin mit der Stärke verteidigen werden, die sie im Laufe ihrer Geschichte bei mehreren Gelegenheiten gezeigt haben.“

Wer auf den zuständigen Gouverneur des betreffenden Bundesstaates Einfluss nehmen möchte, kann eine vorformulierte Email verschicken und zeigen, dass die dortigen Vorgänge auch in Deutschland wahrgenommen werden.

Quelle:

„Aktueller Bericht zur Situation der Ka’apor-Indigenen im brasilianischen Bundesstaat Maranhao“

(mit Entwurf eines in portugiesische Sprache verfassten Anschreibens mit deutscher Übersetzung an den Gouverneur des Bundesstaates Maranhão), Januar 2022

http://www.poema-deutschland.de/files/kaapor_1_2022.pdf

DeutschlandfunkKultur berichtete im Januar über eine indigene Gemeinde in Brasiliens nördlichstem Bundestaat Roraima, die sich ebenfalls gegen die Politik von Präsident Bolsonaro wehrt:

Lisa Kuner: „Landraub in Brasilien. Bolsonaros Politik gegen Indigene“, Deutschlandfunk Kultur, 19. Januar 2022

https://www.deutschlandfunkkultur.de/landraub-in-brasilien-100.html

 

Justiz und Lobbyismus

Eine im Januar 2022 veröffentlichte Studie der Finanzwende Recherche (Tochtergesellschaft der Bürgerbewegung Finanzwende) analysiert die Einflussmöglichkeiten von finanzstarken Akteuren auf Justiz und Rechtswissenschaft – auch anhand „hochproblematischer Einzelfälle von Interessenkonflikten und Beeinflussung“.

Lobbyisten aus der Wirtschaft bieten Richter*innen lukrative Nebenjobs an oder attraktive Anschlussbeschäftigungen. Banken- oder Versicherungsunternehmen finanzieren Lehrstühle an Universitäten oder geben teure Gutachten in Auftrag, die Gerichtsentscheidungen beeinflussen können. Auch werden die „Drehtüreffekte“ (Justizbeschäftigte wechseln in die Privatwirtschaft) und die politische Einflussnahme auf die Justiz thematisiert.

Ein Auszug aus der Studie zur Unabhängigkeit der Justiz:

„Es wäre naiv anzunehmen, dass das Gefälle zwischen verschiedenen Interessengruppen vor dem Justizsystem und der Entwicklung der rechtswissenschaftlichen Meinungen, die richterlichen Entscheidungen zugrunde liegen, Halt macht. Schließlich geht es bei gerichtlichen Grundsatzentscheidungen im Banken-, Versicherungs- oder Steuerrecht immer wieder um Milliardensummen. (…) Das deutsche Justizsystem insgesamt kann als fair und funktionstüchtig angesehen werden. Und doch gilt es, alles zu tun, um eine wirklich faire und unabhängige Justiz sicherzustellen und mögliche Einfallstore zu schließen. (…) Höchst bedenkliche Einzelbeispiele zeigen, dass Justiz und Wissenschaft, strukturell bedingt, Gelegenheiten für eine Einflussnahme durch Lobbyisten bieten und daraus Gefahr für den Rechtsstaat resultiert. Es ist deshalb wichtig, sich mit der Thematik des Finanzlobbyismus und der Interessenkonflikte im Bereich der Justiz zu beschäftigen.“ (Seite 3)

Ein Auszug aus der Studie zum Einfluss der Wirtschaft auf Richter*innen:

„Jenseits der finanziellen Komponente verschärft sich der Eindruck eines ungesunden Näheverhältnisses, wenn Richter*innen zusammen mit namhaften Vertretern aus der Wirtschaftslobby nach außen hin auftreten. Auffällig ist, dass in den Rechtsbereichen, in denen eine starke Lobbyvertretung existiert, also insbesondere im Finanz- und Kapitalmarktrecht sowie Versicherungsrecht auch häufig gemeinsame Publikationen von Richter*innen und Rechtsanwälten als Fachexperten aus der Wirtschaft erfolgen.“ (Seite 13)

Ein Auszug aus der Studie zur Rolle der Rechtswissenschaft beim Cum-Ex-Skandal:

„Die Beraterschaft vertrat insbesondere ab dem Jahr 2007 die Ansicht, CumEx-Geschäfte seien per se legal. Flankierend hatte Steueranwalt Dr. Berger seine Beratung zu CumEx-Geschäften durch Gutachten und Aufsätze von Steuerrechtsprofessoren untermauern lassen. Hierzu titelte das Handelsblatt am 2. August 2017: ‚In der größten Finanzaffäre der Republik spielen Wissenschaftler mit bezahlten Gutachten eine unrühmliche Rolle‘.“ (Seite 27)

Ein Auszug aus der Studie zum Problem der Nebentätigkeit von Juristen:

„Problematisch werden solche Nebentätigkeiten allerdings immer dann, wenn eine klare Trennung zwischen wissenschaftlicher (und in der Regel staatlich finanzierter) Arbeit einerseits und Tätigkeiten für Privatinteressen aus der Wirtschaft andererseits nicht mehr möglich ist. Dies ist immer dann der Fall, wenn öffentliche Äußerungen von Wissenschaftlern in Form von Fachaufsätzen oder Urteilskommentierungen auf privatwirtschaftliche Beauftragungen zurückgehen und dies nicht entsprechend gekennzeichnet wird.“ (Seite 29)

Ein Auszug aus der Studie zur politischen Einflussnahme auf die Justiz (am Beispiel der Beeinflussung von Richterkarrieren):

„Bis heute hält etwa die Kritik an der Berufung von Stephan Harbath zum Bundesverfassungsgericht an. Rechtsanwalt Dr. Stephan Harbarth war für die CDU im Bundestag und bis zu seinem Wechsel in das Bundesverfassungsgericht Vize-Fraktionsvorsitzender. Er war zugleich Partner der Mannheimer Kanzlei SZA Schilling Schutt Anschütz, die etwa Volkswagen in der Dieselaffäre vertrat. Die Höhe seiner neben seinem Bundestagsmandat erzielten Nebeneinkünfte und der damit im Zusammenhang stehende Zeiteinsatz sind hoch umstritten und bis heute nicht aufgeklärt.“ (Seite 40f.)

 

Quelle:

Finanzwende Recherche (Hg.): Lobbyismus in Justiz- und Rechtswissenschaft, Januar 2022 (58 Seiten)

https://www.finanzwende-recherche.de/wp-content/uploads/Report_Lobbyismus-in-Justiz-und-Rechtswissenschaft.pdf

siehe auch:

https://www.finanzwende-recherche.de/unsere-themen/finanzlobbyismus/lobbyismus-in-justiz-und-rechtswissenschaft/

https://www.finanzwende.de/themen/finanzlobbyismus/lobbyismus-im-rechtsbereich/forderungspapier-zum-lobbyismus-im-rechtsbereich/

System Saisonarbeit

Am 20. Januar 2022 stellte das Agrarbündnis e.V. sein Jahrbuch „Der Kritische Agrarbericht 2022“ vor. Darin enthalten ist auch ein Text über prekäre Beschäftigungsverhältnisse in der deutschen Landwirtschaft. Es folgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Feststellungen und Forderungen.

Saisonarbeiter*innen aus Südost- und Osteuropa sind seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der Landwirtschaft in Deutschland. Seit Jahren lassen sich massive Probleme wie Lohnbetrug, überlange Arbeitszeiten und schlechte Unterkünfte in der Branche feststellen. Von rund 937.900 Beschäftigten in der Landwirtschaft waren im Jahr 2019 etwa 274.700 Saisonarbeiter*innen (rund ein Drittel).

Da der Anbau von Obst- und Gemüsekulturen arbeitsintensiv und der Anteil der Lohnkosten an den Produktionskosten sehr hoch ist, stehen die betroffenen Agrarbetriebe unter einem besonderen Preisdruck. Um kostengünstig produzieren zu können, findet eine starke Spezialisierung der Betriebe statt. Im Rahmen vergleichsweise kurzer Zeiträume werden viele Arbeitskräfte benötigt, beispielsweise für die Zeit der Spargelernte. Die Arbeitsspitzen werden bis zu 95 Prozent von Wander- oder Saisonarbeiter*innen übernommen. Diese kommen überwiegend aus Rumänien, Polen, Bulgarien, Kroatien und der Ukraine.

Folgende Probleme stehen seit Jahren im Fokus der Kritik (vgl. Jahrbuch, Seite 87):

  • Lohnbetrug und überhöhte Lohnabzüge
  • fehlende Sozial- und Krankenversicherung aufgrund von kurzfristiger Beschäftigung
  • intransparente Arbeitszeitaufzeichnungen und fehlende Arbeitsverträge
  • mangelhafte Unterkünfte
  • Verstöße gegen den Arbeits- und Gesundheitsschutz (inkl. Infektionsschutzmaßnahmen)
  • hohe Kosten durch private Vermittlungsagenturen

Zur ausbleibenden sozialen Absicherung schreibt der Bericht, dass Saisonarbeiter*innen während der kurzfristigen Beschäftigung gar nicht rentenversichert sind und dass ihnen dadurch Lücken im Rentenversicherungsverlauf entstehen. Das größte Problem stellt jedoch die häufig fehlende Krankenversicherung dar. Die Kosten für eine Behandlung müssen bei einer Erkrankung im Zweifelsfall aus eigener Tasche bezahlt werden. Im Kontext der Corona-Pandemie ist dies besonders verantwortungslos.

Wollen die mobilen Beschäftigten einen Betrieb wegen der schlechten Bedingungen verlassen, werden sie schnell obdachlos. Werden sie gekündigt oder kündigen selbst, müssen sie umgehend ihre Unterkunft räumen und stehen auf der Straße – ohne Ortskenntnis, ohne Lohn, teilweise ohne Pass. Fällt der gezahlte Lohn zu niedrig aus, stehen die Betroffenen vor dem Problem, die Differenz einzufordern. Um sie im Zweifelsfall gerichtlich geltend machen zu können, sind sie auf eine eigene Arbeitszeitdokumentation angewiesen und müssen sich länger in Deutschland aufhalten.

Offensichtlich finden viel zu wenige staatliche Betriebskontrollen statt, um arbeitsrechtliche Verstöße aufzudecken zu können. In den letzten Jahren führte beispielsweise der Zoll in Bayern im Spargelerntemonat April nur jeweils zwei bis vier Kontrollen durch. In Niedersachsen belief sich die Zahl der Kontrollen durch den Zoll im Jahr 2020 auf lediglich 105.

Der Bericht schließt mit folgenden Forderungen (vgl. längere Fassung auf Seite 89 des Jahrbuchs):

  • Saisonarbeiter*innen mit einer kurzfristigen Beschäftigung in der Landwirtschaft müssen in Deutschland vollumfänglich sozialversichert sein.
  • Eine deutliche Ausweitung konzertierter staatlicher Kontrollen ist notwendig.
  • Die verpflichtende Einführung eines manipulationssicheren, digitalen Zeiterfassungssystems ist notwendig.
  • Die Kosten für angemessene Unterkünfte müssen von Arbeitgeberseite übernommen werden.
  • Eine striktere Regulierung der Arbeitsvermittlung von Saisonarbeiter*innen als bislang ist erforderlich. Es müssen Mindeststandards für Vermittlungsakteure gelten und es dürfen für die Saisonarbeiter*innen keine Gebühren für eine Vermittlung anfallen.

Quellen:

Katharina Varelmann / Benjamin Luig „Das System Saisonarbeit. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse durch fehlende soziale Absicherung“, in: Der Kritische Agrarbericht 2022 (herausgegeben vom AgrarBündnis e.V.), Seite 86-90

https://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2022/KAB_2022_86_90_VArelmann_Luig.pdf

vgl. auch:

https://igbau.de/Binaries/Binary16991/2021-InitiativeFaireLandarbeit-Saisonarbeitsbericht.pdf

Atomkraft und Uranabbau vor einem Comeback

Laut Wikipedia definiert die Taxonomie-Verordnung der EU vom Juni 2020 die Vorgaben für sogenannte nachhaltige Investitionen. Anhand von Kriterien lässt sich danach bestimmen, „ob eine Wirtschaftstätigkeit als ökologisch nachhaltig einzustufen ist, um damit den Grad der ökologischen Nachhaltigkeit einer Investition ermitteln zu können“. Durch die in der Verordnung rechtlich geregelte Förderung privater Investitionen in grüne und nachhaltige Projekte soll ein Beitrag zum „European Green Deal“ geleistet werden.

Ende 2021 legte die EU-Kommission einen Entwurf vor, der Atomkraft und Gas in die Taxonomie aufnehmen soll. Der Entwurf sieht vor, dass die neuen Regeln ab dem 1. Januar 2023 gelten. Die NGO „.ausgestrahlt e.V.“ kommentierte diesen Vorgang:

„Der veröffentlichte Vorschlag ist ein unglaubliches Greenwashing längst überholter und gefährlicher Technologien. Er untergräbt das ursprüngliche Ziel der Taxonomie, Investitionen für einen ökologischen Umbau der Gesellschaft – den Green Deal – bereitzustellen. Stattdessen erhält der Vorschlag die an der Realität längst gescheiterte Atomtechnologie weiter am Leben und verleitet dazu, zu lange auf fossiles Gas zu setzen. Jeder Euro, der aufgrund dieser Einstufung in Atom und Gas fließt, fehlt für echte Nachhaltigkeit und wirksamen Klimaschutz.“

Grundlage des EU-Vorschlags ist offensichtlich ein Deal zwischen den französischen Atominteressen und dem Wunsch Deutschlands, fossiles Gas einzubeziehen. Mit einem klaren Standpunkt hätten die deutschen Politiker*innen während der Taxonomie-Verhandlungen wohl erreichen können, so „.ausgestrahlt“, auf europäischer Ebene Mehrheiten gegen die Aufnahme von Atomenergie als auch fossilem Gas zu gewinnen. Stattdessen hätten die alte und die neue Bundesregierung dazu beigetragen, dass sich die auf Atomenergie setzenden Staaten mit den Ländern verbünden konnten, die weiter auf klimaschädliches Gas setzen wollen.

Besonders schlimm sei diese Einstufung, weil die Taxonomie Auswirkungen weit über den Finanzsektor im engeren Sinne hinaus haben könne, beispielweise staatliche Subventionen begünstigen. Eine direkte Förderung der Atomkraft, wie sie Frankreichs Präsident Macron zusammen mit mehreren osteuropäischen Regierungschefs gefordert habe, rücke damit einen Schritt näher.

Völlig ausgeblendet im Taxonomie-Kompromiss, so „.ausgestrahlt“ weiter, würden die dem Anspruch der Nachhaltigkeit zuwiderlaufenden ökologischen Folgen des Uranbergbaus. Da dieser außerhalb der EU stattfände, wäre er auch nicht von deren Vorschriften erfasst: „Uranbergbau findet statt und liefert den für die Kernspaltung nötigen Rohstoff. Wie ein Atomkraftwerk nachhaltig sein soll, wenn dessen Rohstoff es nicht ist – eine Erklärung hierfür bleibt die Kommission schuldig“. (Julian Bothe, 5. Januar 2022)

Passend dazu berichtete das Portal „Aktiencheck“ am 28. Januar über das zu erwartende „große Comeback von Uran“ im Börsenjahr 2022. Da die EU die Atomkraft als nachhaltige Übergangstechnologie einstufe, würde ein neuer „Uran-Super-Zyklus“ angefeuert. Die „Börsenstars Bill Gates und Warren Buffet“ wollten deshalb hunderte Atomkraftwerke bauen lassen. Unter anderem planten sie, ein „grünes Atomkraftwerk“ zu errichten. Gebaut werde es von Terrapower, einem von Bill Gates gegründeten Start-up, und Pacificorp, einem Energieunternehmen von Warren Buffett.

„Aktiencheck“ im Wortlaut:

„Urananalysten erwarten vor dem Hintergrund für die kommenden Jahre wieder dreistellige Uranpreise. Perspektivisch erscheint Urananalysten auch das Erreichen des Allzeithochs von 140 USD pro Pfund aus dem Jahre 2007 möglich. Für zusätzlichen Aufschwung beim Uranpreis sorgen die aktuellen Unruhen in Kasachstan. Kasachstan steht für 40% der weltweiten Jahresproduktion. Der globale Uran-Markt steht nach Einschätzung von Branchenanalysten vor einem massiven Angebots-Defizit. Der Uran-Preis dürfte daher in den kommenden Jahren erneut deutlich steigen. (…) An Atomstrom führt als Säule einer wirtschaftlichen, umweltverträglichen, wettbewerbsfähigen Energieversorgung kein Weg vorbei. Im vergangenen Jahr waren 442 Reaktoren in 33 Ländern rund um den Globus in Betrieb, die zusammen eine Leistung von 391 Gigawatt erbrachten. Aktuell befinden sich 53 weitere Atomkraftwerke in Bau, vorwiegend im asiatischen Raum, die dieser Bilanz weitere 56 Gigawatt hinzufügen werden. In Planung sind insgesamt 108 neue Kraftwerke. Allein China plant den Neubau von 44 Atommeilern. Branchenexperten erwarten daher schon jetzt ein massives Uran-Defizit.“

Quellen:

Julian Bothe: „EU-Taxonomie analysiert: Yellow Deal statt Klimaschutz“, 5. Januar 2022

https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/

„Uran-Super-Zyklus startet – B. Gates und W. Buffet steigen ein. Uran Hot Stock mit sens. Übernahme – Massives Kaufsignal“, Aktiencheck, Bericht vom 28. Januar 2022

https://www.aktiencheck.de/exklusiv/Artikel-Uran_Super_Zyklus_startet_B_Gates_und_W_Buffet_steigen_Uran_Hot_Stock_sens_Uebernahme_Massives_Kaufsignal-14101163

 

„Goldrausch für Superreiche“

Wie dramatisch sich die Spaltung in Arm und Reich – innerhalb von Gesellschaften und zwischen diesen – in der Corona-Pandemie verschärft hat, belegt eine am 17. Januar 2022 vorgestellte Studie der Entwicklungsorganisation Oxfam. Danach ist sowohl der Reichtum von Milliardär*innen als auch die Geschwindigkeit, mit der sie seit März 2020 ihr Vermögen vergrößert haben, in der Geschichte der Menschheit beispiellos. Das Vermögen der aktuell 2.755 Milliardär*innen stieg seitdem um fünf Billionen US-Dollar, von 8,6 auf 13,8 Billionen. Sie vermehrten damit ihr Vermögen während der Pandemie noch stärker als in den gesamten vierzehn Jahren zuvor – die aber selbst schon einem „Goldrausch für Superreiche“ (Oxfam, Seite 3) glichen.

Bereits 2019, so Oxfam, lebte fast die Hälfte der Menschheit – 3,2 Milliarden Menschen – unterhalb der von der Weltbank definierten erweiterten Armutsgrenze von 5,50 Dollar pro Tag. Heute sind es aufgrund der Pandemie weltweit 163 Millionen Menschen zusätzlich. Währenddessen konnten während der Pandemie die weltweit zehn reichsten Milliardäre ihr Vermögen verdoppeln – auf insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar.

Mit Bezug auf eine Untersuchung des Paritätischen Gesamtverbandes stellt Oxfam auch für Deutschland eine im Vergleich zu anderen EU-und OECD-Ländern sehr starke Konzentration der Vermögen fest. Die zehn reichsten Personen haben demnach ihr Vermögen seit Beginn der Pandemie um rund 78 Prozent gesteigert – von etwa 144 Milliarden auf etwa 256 Milliarden US-Dollar. Dieser Gewinn entspricht fast dem Gesamtvermögen der ärmsten 40 Prozent, also von 33 Millionen Deutschen. Die Armutsquote in Deutschland erreichte währenddessen mit 16,1 Prozent einen Höchststand; 13,4 Millionen Menschen leben hierzulande in Armut.

Oxfam nennt als Ursache für die wachsende soziale Ungleichheit die „Profitlogik unserer Wirtschaft“. Die daraus folgende „strukturelle wirtschaftliche Gewalt“ hätte zum Teil tödliche Konsequenzen: Jeden Tag würden mindestens 15.000 Menschen sterben, weil ihnen eine adäquate medizinische Versorgung verwehrt bliebe. Im Zentrum wirtschaftlicher Entscheidungen dürfe nicht länger nur der Profit, sondern müsse vor allem das Gemeinwohl stehen. Die NGO spricht sich deshalb für ein „gerechtes und demokratisches Wirtschaftssystem“ aus. Weltweit sollten die Regierungen Konzerne und Superreiche stärker besteuern, Impfstoffe müssten als öffentliches Gut behandelt und Unternehmen demokratisiert und gemeinwohlorientiert ausgerichtet werden. Von der Bundesregierung fordert Oxfam konkret, die Vermögensteuer in Deutschland wieder einzuführen und eine einmalige Abgabe auf Vermögen über einer Million Euro „zu prüfen“.

Quellen:

„Gewaltige Ungleichheit: Warum unser Wirtschaftssystem von struktureller Gewalt geprägt ist und wie wir es gerechter gestalten können“, hrsg. von Oxfam Deutschland e.V., Januar 2022
https://www.oxfam.de/system/files/documents/oxfam_factsheet_gewaltige_ungleichheit.pdf 

„10 reichste Männer verdoppeln ihr Vermögen – über 160 Millionen Menschen zusätzlich in Armut“, Nachricht von Oxfam vom 17. Januar 2022
https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/corona-pandemie-ungleichheit-10-reichste-maenner-verdoppeln-vermoegen 

Mindestlohnbetrug

Die Bundesregierung will zum 1. Oktober 2022 ein zentrales Wahlkampfversprechen der SPD umsetzen und den Mindestlohn auf 12 Euro anheben. Die gesetzliche Lohnuntergrenze beträgt derzeit noch 9,82 Euro brutto pro Stunde. Zunächst soll nach einem Beschluss der Mindestlohnkommission am 1. Juli 2022 die nächste Erhöhung auf 10,45 Euro erfolgen. Die vorgesehene Anhebung auf 12 Euro – drei Monate danach – entspricht einer Steigerung um 15 Prozent. Etwa 6,2 Millionen Beschäftigte mit einem geringeren Stundenlohn werden davon profitieren.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) droht damit, Verfassungsklage gegen die gesetzlich vorgesehene Anhebung einzulegen, sieht dadurch die Tarifautonomie verletzt. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sprach in diesem Zusammenhang von der Einführung von „Staatslöhnen“ (vgl. Handelsblatt vom 21. Januar 2022).

Robert Feiger, Chef der IG Bauen-Agrar-Umwelt, warnte Ende letzten Jahres vor einer „mangelnden Mindestlohn-Moral“ bei einigen Unternehmen und vor sogenannten Placebokontrollen zur Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen: „Ein 12-Euro-Mindestlohn ist nur so gut wie seine Einhaltung“. (Pressemitteilung vom 30. Dezember 2021) Nach Auffassung des Gewerkschafters müssen Unternehmen staatliche Kontrollen kaum fürchten. Die Kontrolldichte sei schon bisher viel zu niedrig; das Risiko für Firmen, bei illegalen Machenschaften vom Zoll erwischt zu werden, bleibe verschwindend gering.

Wegen unterschrittener, zu spät oder gar nicht gezahlter Mindestlöhne habe die zuständige Abteilung des Zolls, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), im Zeitraum der ersten elf Monate des vergangenen Jahres 3.083 Ermittlungsverfahren eingeleitet, davon 816 im Bauhaupt- und Baunebengewerbe. Hierbei wären Bußgelder in Höhe von 12.535.627 Euro verhängt worden, am Bau seien es 3.884.373 Euro gewesen. Hinzu komme ein hohes Level an krimineller Energie mit Blick auf Schwarzarbeit, illegale Beschäftigung und Steuerbetrug. Im Jahr 2020 habe die FKS in diesem Zusammenhang rund 100.000 Strafverfahren eingeleitet.

Wegen Verstößen gegen die Mindestlöhne seien theoretisch Bußgelder bis zu 500.000 Euro möglich. In der Praxis kämen Firmen aber oft deutlich günstiger davon. Zwar könnten auch höhere Bußgelder weiterhelfen; noch wichtiger aber seien regelmäßige, flächendeckende Kontrollen. Die FKS brauche deutlich mehr Personal, perspektivisch müsse es eine einheitliche staatliche Arbeitsinspektion geben. Feiger kritisiert das Zuständigkeitswirrwarr zwischen den Arbeitsschutzbehörden der Länder, die die Sicherheitsvorschriften und Standards bei Unterkünften ausländischer Beschäftigter im Blick hätten, und der Bundesbehörde Zoll, deren Aufgabe es sei, sich um Schwarzarbeit, Steuern und Löhne zu kümmern. Für die Einhaltung der Coronaregeln am Arbeitsplatz wären derzeit zusätzlich die lokalen Gesundheitsämter zuständig (junge Welt vom 17. Januar 2022).

Das Portal „mindestlohnbetrug.de“ nennt die gängigen Tricks, mit denen die gesetzliche Lohnuntergrenze umgangen wird:

– Unrealistische Leistungsvorgaben:
Unternehmer erwarten von ihren Beschäftigten Leistungen, die in der normalen Arbeitszeit nicht zu erfüllen sind. Beschäftigte sollen mit einem schlechten Gewissen „freiwillig“ länger arbeiten, um den vollen Lohn zu bekommen.

– Abzüge:
Abzüge vom Lohn erfolgen aufgrund von „schlechter Arbeit“, für die Bereitstellung von Werkzeugen, Arbeitskleidung oder Nahrungsmitteln (zum Beispiel Mittagessen).

– Arbeitszeiten:
Tatsächlich geleistete Zeiten werden oft nicht korrekt oder gar nicht erfasst, Wege zur Kundschaft, Wartezeiten oder Bereitschaftsdienste nicht angerechnet.

– Schwarzarbeit und Selbständigkeit:
Illegal arbeitende Beschäftigte, die unter einem besonderen Druck stehen, „akzeptieren“ häufig, dass ihr Lohn gedrückt wird. Selbstständig arbeitende Personen müssen sich selbst versichern, was den Mindestlohn oft unterläuft.

– Falsche Einstufung:
Fachkräfte werden als Hilfskräfte eingestellt.

– Wegfallende Ansprüche
Urlaubstage, Feiertage und Tage an denen wegen Krankheit nicht gearbeitet werden kann, werden nicht bezahlt.

Laut der „Initiative Mindestlohnbetrug“ geht das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer für den DGB erstellten Analyse von 2,4 Millionen Beschäftigen aus, die den gesetzlichen Mindestlohn nicht erhalten, obwohl er ihnen zusteht. Die ermittelten Betrugsfälle stellten nicht einmal die Spitze des Eisberges dar.

Quellen:

Frank Specht: „Mindestlohn soll ab Oktober auf zwölf Euro steigen“, Handelsblatt vom 21. Januar 2022
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/entwurf-mindestlohn-soll-ab-oktober-auf-zwoelf-euro-steigen/27997728.html?ticket=ST-3382555-gnFBHDYNr4LdrdILe6Wk-ap4 

„IG BAU-Chef Robert Feiger warnt 2022 vor ‚Placebo-Kontrollen‘ beim 12-Euro-Mindestlohn“, Pressemitteilung der IG Bauen-Agrar-Umwelt vom 30. Dezember 2021
https://igbau.de/IG-BAU-Chef-Robert-Feiger-warnt-2022-vor-Placebo-Kontrollen-beim-12-Euro-Mindestlohn.html 

„‚Das Risiko für Firmen bleibt verschwindend gering‘: Ein Gespräch mit Robert Feiger“, junge Welt vom 17. Januar 2022
https://www.jungewelt.de/artikel/418617.betrug-bei-lohnuntergrenze-das-risiko-f%C3%BCr-firmen-bleibt-verschwindend-gering.html?sstr=feiger 

„Mindestlohnbetrug aufdecken!“, https://mindestlohnbetrug.de 

 

Neues zum Hamburger Cum-Ex-Untersuchungsausschuss

Seit etwa einem Jahr arbeitet der parlamentarische Untersuchungsausschuss der hamburgischen Bürgerschaft (PUA) zur „Klärung der Frage, warum der Hamburger Senat und die Hamburger Steuerverwaltung bereit waren, Steuern in Millionenhöhe mit Blick auf Cum-Ex-Geschäfte verjähren zu lassen und inwieweit es dabei zur Einflussnahme zugunsten der steuerpflichtigen Bank und zum Nachteil der Hamburgerinnen und Hamburger kam“. (1)

Konkret geht es dem PUA darum, die Hintergründe aufzudecken, warum die Hamburger Finanzverwaltung im November 2016 auf die Rückforderung von 47 Millionen Euro verzichtete, die die dort ansässige Warburg-Bank mit Cum-Ex-Geschäften kassiert hatte. Unter anderem ist die Frage von Bedeutung, ob der damalige Erste Bürgermeister und heutige Bundeskanzler, Olaf Scholz (SPD), auf die Entscheidung des Finanzamts Einfluss genommen hatte. 2016 vermittelte der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des SPD-Bezirks Hamburg-Mitte, Johannes Kahrs, den Kontakt zwischen dem Mitinhaber der Warburg Bank, Christian Olearius, und Bürgermeister Scholz. Der einflussreiche Strippenzieher Kahrs hatte sich offenbar öfters mit Olearius getroffen – mit der Absicht sich für ihn und dessen Interessen einzusetzen.

Am 7. Januar 2022 wurde deshalb auch der ehemalige Chef der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), Felix Hufeld, vom PUA zur möglichen Einflussnahme Kahrs auf die Behörde befragt. Hufeld bestätigte zwar, dass der Hamburger SPD-Politiker mehrfach bei ihm vorgesprochen hatte – als politische Einflussnahme sei das jedoch nicht zu werten: „Es gehöre zum normalen Geschäft, dass sich Leute mit gewissen Interessenlagen meldeten. ‚Als er sich über konkrete Maßnahmen erkundigen wollte, sagte ich mein Standardsprüchlein, dass wir einzelaufsichtliche Maßnahmen nicht kommentieren‘.“ (taz vom 7. Januar 2022)

Der Obmann der Partei Die Linke im PUA, Norbert Hackbusch, hatte jedoch bereits im Oktober 2021 in einem Interview mit der jungen Welt Kahrs’ Rolle anders dargestellt. „Als dieser einen Anruf von Olearius bekommen habe, sei Kahrs ‚sofort bei ihm vorbeigerauscht‘ und habe ‚nach seiner Pfeife getanzt‘ (…) Besonders brisant: 2017 nahm die SPD Hamburg von der Warburg-Bank und ihr verbundenen Unternehmen Spenden in Höhe von 45.500 Euro an. 38.000 Euro davon flossen an Kahrs’ SPD-Kreis Hamburg-Mitte. Gegen den Sozialdemokraten und weitere Personen laufen aktuell staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts auf Begünstigung. Es liegt nahe, dass die Warburg-Bank mit ihrer Spende den Einsatz von Kahrs honorierte.“ (junge Welt vom 10. Januar 2022)

(1) https://www.hamburgische-buergerschaft.de/fachausschuesse/14545864/pua-cum-ex/

Quellen:

Gernot Knödler: „Finanzamt an der Nase herumgeführt“, taz vom 7. Januar 2022

https://taz.de/Hamburger-Cum-Ex-Untersuchungsausschuss/!5826936&s=cum+ex/

 Kristian Stemmler: „Alles für die Bank“, junge Welt vom 10. Januar 2022

https://www.jungewelt.de/artikel/418137.steuerbetrug-alles-f%C3%BCr-die-bank.html

 

„Pandemisches Systemversagen“

Unter dem Titel „Pandemisches Systemversagen“ ist im Newsletter von medico international vom 29. November 2021 ein Artikel von Anne Jung erschienen. Die Politikwissenschaftlerin leitet die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation. Sie ist außerdem zuständig für die Themen globale Gesundheit und internationale Handelsbeziehungen.

Am 21. März 2021 war Anne Jung in einer von Business Crime Control e.V. und der KunstGesellschaft e.V. im Club Voltaire in Frankfurt am Main organisierten Matinee zu Gast, bei der es um die Kampagne „Patente töten“ ging, zu der sich Nichtregierungsorganisationen aus über 30 Ländern zusammengeschlossen haben. Sie fordern eine Aufhebung des Patentschutzes nicht nur für die neuen Corona-Impfstoffe, sondern für alle unentbehrlichen, lebensrettenden Medikamente. Arzneimittel müssten als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmakonzernen begrenzt werden. An der Aktion beteiligt ist auch medico international.

In ihrem Artikel stellt Anne Jung die Corona-Pandemie in den Zusammenhang weltweiter Krisen und struktureller Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten: „Das Virus traf auf Weltverhältnisse, die aus einer Pandemie eine Polypandemie machten… Die Polypandemie hat wirtschaftliche Insolvenzen ausgelöst, die Ernährungsunsicherheit wurde durch die Verbindung von Corona und Klimakatastrophe vergrößert und bestehende Hungersnöte verschärften sich… Im Gepäck internationaler Reisetätigkeiten und durch die konsequente Weigerung Europas und der USA, rasche Gegenmaßnahmen zu ergreifen konnte sich das Virus in rasanter Geschwindigkeit ausbreiten. Die maroden Gesundheitssysteme vieler Länder und nationalistische Politiken trugen ihr Übriges zur Ausbreitung bei.“

Um dem Virus Einhalt zu gebieten habe die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai 2020 – kurz nach dem ersten Lockdown in vielen Ländern Europas und anderen Teilen der Welt – einen weitreichenden und von der Idee globaler Solidarität getragenen Vorschlag gemacht: „Sie rief den Covid-19 Technologie-Zugangspool (C-TAP) ins Leben, um den rechtzeitigen, gerechten und erschwinglichen Zugang zu Covid-19-Gesundheitsprodukten zu erleichtern. Der C-TAP könnte ein Fokuspunkt sein für die Entwickler:innen von Covid-19-Therapeutika, -Diagnostika, -Impfstoffen und anderen Gesundheitsprodukten, die ihr geistiges Eigentum, ihr Wissen und ihre Daten mit qualitätsgesicherten Herstellern durch freiwillige und transparente Lizenzen teilen.“

Impfstoff-Nationalismus statt Solidarität

Dieser Vorschlag, für den sich außer der WHO auch mehr als 40 Länder des globalen Südens einsetzten, wurde von den Industrienationen, in denen die großen Pharmaunternehmen ansässig sind, ignoriert. An vorderster Stelle von der Bundeskanzlerin Angela Merkel und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie zogen es wie ihre Kolleginnen und Kollegen aus den anderen europäischen Ländern vor, mit der Pharmabranche Exklusivverträge zu schließen und im Interesse von deren Gewinnmaximierung die Patentierung der zu entwickelnden Medikamente gegen Corona unangetastet zu lassen.

Der WHO blieb nun nichts anderes übrig, als die reichen Länder um finanzielle Unterstützung für den Ankauf von Impfdosen für die ärmeren Ländern zu bitten und Verteilungsgerechtigkeit anzumahnen, zumal das Virus nur weltweit besiegt werden kann.

„Organisiert wird die Verteilung der Impfstoffe über die an die WHO angedockte Initiative Covax, die einen weltweit gleichmäßigen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen gewährleisten soll. Sie basiert auf freiwilligen Zuwendungen von Staaten, der Pharmaindustrie (lächerliche 1% der Summe hat sie bisher beigesteuert!) sowie von Stiftungen, allen voran der Bill & Melinda Gates-Stiftung, die ihrerseits auf die Aufrechterhaltung des Patentsystems pocht. Covax ist ein klassisches Projekt privat-öffentlicher Zusammenarbeit, mit der die globale Governance einer massiv fragmentierten Gesundheitsarchitektur fortgesetzt wird.“

Damit wird die Abhängigkeit der armen Länder von den Industrienationen fortgeschrieben und eine künstliche Verknappung des Impfstoffs bewirkt, die den Pharmakonzernen ihre Gewinne garantiert. Dabei haben sie bereits von der jahrzehntelang öffentlich geförderten Forschung beispielsweise zu der neuartigen mRNA-Technologie profitiert und für die schnelle Entwicklung von Impfstoffen in der Corona-Krise staatliche Unterstützungsgelder in Milliardenhöhe erhalten. Aber auch hier gilt das alte Motto: Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste.

Dem entsprechend wurde der Antrag von Indien und Südafrika zur Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Medizinprodukte für den Zeitraum der Pandemie im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) unter anderem von der Bundesregierung unter Merkel und Scholz und von der EU abgelehnt, obwohl ihn sogar die US-Regierung unter Biden so wie viele anderen Regierungen befürwortete.

Verlängerung der Pandemie

Anne Jungs bitteres Fazit: „Warum halten Länder wie Deutschland auch angesichts 250 Millionen Infizierter und mehr als fünf Millionen Toter weltweit weiter an dem Patentsystem fest und versuchen nicht alles, um die Pandemie einzudämmen? Es ist unübersehbar: In der Pandemie zeigen sich die systemischen Rahmenbedingungen des globalen politischen Arrangements neoliberaler Globalisierung auf unerträgliche und unannehmbare Weise. Um den Kapitalismus unangetastet zu lassen, wird die Verlängerung der Pandemie mit Millionen Toten durch die direkten und indirekten Folgen der Pandemie billigend in Kauf genommen.“

Der Protest gegen diese Verhältnisse sei in den letzten Jahren aber weltweit stärker geworden. Auch weil die Argumentation der Pharmakonzerne, der globale Süden sei nicht in der Lage, die Impfstoffe gegen Corona qualifiziert genug herzustellen, durchaus rassistische Untertöne enthält. Ein Großteil der hierzulande benötigten Medikamente wird beispielsweise längst – wegen des „komparativen Kostenvorteils“ – in Indien hergestellt. Andere Länder könnten binnen weniger Monate in die Produktion von Impfstoffen einsteigen. Ein Land wie Kuba hat gezeigt, dass auch bei begrenzten Ressourcen ein funktionierendes Gesundheitswesen aufgebaut und eigenständig ein Impfstoff gegen Corona entwickelt werden kann.

Der Artikel von Anne Jung schließt mit den Forderungen:

„Zugleich müssen die über die Pandemie hinausweisenden Fragen der globalen Gesundheitspolitik im Interesse der Menschen und nicht des Kapitals beantwortet werden: Die Abschaffung der Patente auf alle essentiellen Arzneimittel über die Pandemie hinaus; der Kampf um das Ende globaler Naturausbeutung, die eine der strukturellen Ursachen für Krankheitserreger ist, die immer neue Pandemien hervorruft. Eine konsequente Dekolonisierung der globalen Gesundheitspolitik, in der die dominanten Staaten Macht und Kontrolle abgeben, Wissen und Fähigkeiten teilen; der Aufbau von öffentlichen und allen zugänglichen Gesundheitssystemen als bestes Mittel zur Verhinderung weiterer Pandemien.“                                                                                                                                           

Quelle: www.medico.de

Aus der Beilage von BIG Business Crime zu Nr. 1/2022 von STICHWORT BAYER.