„Recht des Stärkeren“

Vor fast acht Jahren wurde der „Dieselskandal“ aufgedeckt, seit zweieinhalb Jahren müssen sich der frühere Audi-Chef Rupert Stadler sowie weitere Ex-Manager des Autokonzerns vor Gericht verantworten. „Der Vorwurf: Die Manager hätten betrogen. Sie hätten entweder Diesel-Autos entwickeln lassen, deren Abgasreinigung sich nur ordentlich einschaltete, wenn die Wagen auf dem Prüfstand waren. Oder sie hätten – im Falle Stadler – zumindest seit dem Herbst 2015 davon gewusst und den Verkauf solcher Wagen dennoch nicht unterbunden. Gewerbsmäßiger Betrug durch Unterlassen heißt das auf Juristendeutsch.“ (Die Zeit vom 17. Mai 2023)

Mitte Mai 2023 legte Stadler nun im Rahmen einer Absprache mit dem Landgericht München II ein Geständnis ab – nachdem er über die gesamte Prozessdauer alle Vorwürfe bestritten hatte. Vor allem, dass er trotz Kenntnis der Manipulationen nichts dagegen unternommen habe, dass weiter schmutzige Diesel als sauber verkauft wurden.

Auszüge aus Zeitungskommentaren:

Henning Peitsmeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

„Rupert Stadler kommt glimpflich davon. Der frühere Audi-Chef, der sich im Dieselskandal des Betrugs schuldig bekannt hat, erhält eine Bewährungsstrafe. Immerhin, muss man nach 168 Verhandlungstagen konstatieren. Denn lange hatte es so ausgesehen, als könne dem prominentesten der vier Angeklagten vor dem Landgericht München nichts nachgewiesen werden. Zu komplex waren die Ermittlungen, zu schleppend verlief die Beweisaufnahme (…). Dass Stadlers Geständnis nur durch einen Deal zustande kam, mag bedauerlich sein. Aber es ist das erste Mal, dass ein früherer Vorstand zugibt, von den Dieselmanipulationen im Volkswagen-Konzern gewusst zu haben. Das kann bedeutend sein für alle laufenden und künftigen Strafverfahren.“

Thomas Fromm, Klaus Ott und Stephan Radomsky in der Süddeutschen Zeitung:

„Und jetzt? Räumt er eben doch alles ein und will auch 1,1 Millionen Euro bezahlen. Im Gegenzug darf er mit einer Bewährungsstrafe rechnen. Das ist der Deal, den das Gericht ausgehandelt hat mit Stadlers Anwälten und dem auch die Staatsanwaltschaft zugestimmt hat. Ein gigantischer Wirtschaftsskandal, Millionen getäuschter Kunden in aller Welt, Milliarden Euro an Strafzahlungen für den Konzern – und der einzige Top-Manager, der dafür bisher vor Gericht stand, kommt mit so einem milden Urteil davon? Mit dem Segen der Ankläger? (…)
Für VW war die Rechnung klar: Je weniger Schuld ganz oben lag, desto besser war es für die Abwehr von Schadensersatzansprüchen. Das gilt bis heute vor allem für den Prozess von zahlreichen Aktionären beim Oberlandesgericht Braunschweig, die einen Ausgleich dafür fordern, dass sie vom VW-Vorstand zu spät über die Abgasprobleme informiert worden seien. Streitwert: mehr als vier Milliarden Euro. Der Prozess läuft ziemlich zäh. Und Stadlers Geständnis hilft den klagenden Investoren auch nicht. Zwar saß er als Audi-Chef auch mit im VW-Vorstand. Sein Geständnis aber gilt nur für die Zeit ab 2016, als Audi schmutzige Diesel-Autos weiter als vermeintlich saubere Fahrzeuge verkaufte. Bei den Aktionärsklagen geht es dagegen um die Zeit vor September 2015, als US-Behörden die Abgasmanipulationen öffentlich machten.“

René Bender im Handelsblatt:

„Am Ende schickte Rupert Stadler seine Verteidigerin vor. Die Anwältin verlas für den wegen Betrugs angeklagten früheren Audi-CEO dessen Geständnis. Fünf Wochen lang hatte Stadler überlegt, ob er im ersten deutschen Strafprozess um den Dieselskandal den Vorschlag des Gerichts annehmen würde: eine noch zur Bewährung ausgesetzte Strafe gegen ein umfängliches Geständnis und eine Geldauflage. (…) Nun folgten lediglich ein paar dürre Sätze dazu, dass Stadler von den Manipulationen an den Motoren zwar nichts gewusst, sie aber zumindest billigend in Kauf genommen habe. Und dass er dies sehr bedauere.
Die Hürde des Gerichts hat er damit zwar übersprungen, wirklich glaubwürdig ist seine Haltung aber nicht.
Die späte Kehrtwende ist das eine. Die Art und Weise, wie zwei Führungskräfte in einem der größten deutschen Wirtschaftsskandale am Ende des ersten Strafprozesses Verantwortung übernehmen, ist das andere. Insbesondere Stadler, der unter anderem elf Wohnungen und zwei Häuser besitzt, feilschte bis zum Schluss um die Höhe der Geldauflage.
Dann schaffte es der Mann, der einst gar als möglicher Nachfolger an der VW-Spitze galt, nicht einmal, sein Geständnis selbst zu erklären (…). Das lässt nicht nur Glaubwürdigkeit vermissen. Es ist auch kein gutes Signal für die weitere Aufarbeitung im Dieselskandal. Im nächsten Diesel-Strafprozess sollten die Richter einen Verständigungsvorschlag weit früher machen oder ihn sich ganz sparen.“

Kai Schöneberg in der taz:

„Der Deal zeigt, dass die deutsche Justiz wieder gescheitert ist. Zwei Jahre Haft auf Bewährung und 1 Million Euro Strafe: Dazu wurde vor 14 Jahren der einstige Postchef Klaus Zumwinkel wegen Steuerhinterziehung verurteilt, ein ähnliches Strafmaß winkt nun Rupert Stadler, bis 2018 Audi-Boss. Beide haben gestanden. Zumwinkel damals seine Steuerhinterziehung, Stadler am Dienstag, dass er auch noch nach dem Auffliegen des ‚Dieselgates‘ im September 2015 weiter Autos verkaufte, die so manipuliert waren, dass sie auf dem Prüfstand weniger Stickoxide ausstießen als auf der Straße.
Betrug durch Unterlassung wird es im wohl vergleichsweise läppischen Urteil gegen Stadler heißen, das bald erwartet wird. Der ‚Deal‘ mit dem Gericht – Geständnis gegen milde Strafe – wird einen weiteren Beweis dafür erbringen, wie die deutsche Justiz bei der Aufarbeitung eines der größten Wirtschaftsskandale gescheitert ist.
Das zeigten schon die Strafverfahren gegen die VW-Vorstände Herbert Diess und Hans Dieter Pötsch, die gegen Geldauflagen eingestellt wurden. Auch der zusammen mit Stadler angeklagte Motorenentwickler Wolfgang Hatz kann nach seinem Geständnis mit Bewährung rechnen. Gegen viele Chefs von Mercedes, Porsche oder Bosch wurde ermittelt, dann aber wurden sie nicht angeklagt. (…)
Millionenfacher systematischer Betrug und Kuschelstrafen – das passt aber nicht zusammen. Die deutsche Justiz setzt mit dem Stadler-Deal einen weiteren Haken in der unendlich zähen, für Umwelt und betroffene Kunden völlig unbefriedigenden Aufarbeitung einer der größten Wirtschaftsaffären der Nachkriegsgeschichte. (…)
Nicht mal die Staatsanwaltschaft warf Stadler nach 30 Monaten Verhandlung noch vor, von allem gewusst zu haben. Dabei gilt Audi als Keimzelle des Skandals. Ein weiterer Skandal liegt darin, dass das deutsche Rechtssystem solche evident kriminellen Handlungen nicht adäquat ahndet.“

Thomas Magenheim-Hörmann in der Frankfurter Rundschau:

„Betrug durch Unterlassung: Der Ex-Audi-Chef räumt die Vorwürfe im Dieselskandal ein.
Rupert Stadler brachte die Worte nicht selbst über die Lippen. Der Ex-Chef von Audi hat gestehen lassen. Wenige Minuten lang trug Anwältin Ulrike Thole-Groll am 168. Tag des Münchner Audi-Betrugsprozesses eine Erklärung vor, die ein Gerichtssprecher später ein voll umfängliches Geständnis nennen sollte. Auch Richter Stefan Weickert und die Staatsanwaltschaft sahen es so. Für nicht juristisch Geschulte war dabei nicht leicht zu erkennen, dass der 60-jährige gerade Betrug durch Unterlassung zugegeben hatte. ‚Ich habe die Vorwürfe insgesamt einzuräumen‘, erklärte Thole-Groll im Namen ihres ohne erkennbare Regung neben ihr sitzenden Mandanten. Der ließ auch mitteilen, dass er alles sehr bedauere, wobei Reue nicht gerade in sein Gesicht geschrieben stand.
‚Es war ein bemerkenswertes Geständnis‘, meinte Gerichtssprecher Laurent Lafleur. Erstmals habe ein Angeklagter in der hohen Position eines ehemaligen Vorstandschefs eingeräumt, im Dieselskandal Unrecht getan und vorsätzlich gehandelt zu haben. Man musste allerdings viel juristisches Feingespür mitbringen, um das aus den Worten herauszuhören, die Stadler von seiner Strafverteidigerin verlesen ließ. (…)
Auch zum Vorwurf der Unterlassung äußerte sich Stadler sehr verklausuliert. Er habe feststellen müssen, unterlassen zu haben, dafür Sorge zu tragen, dass Käufer der Fahrzeuge über eine möglicherweise in ihnen verbaute Fehlfunktion informiert wurden, ließ er mitteilen. Jurist:innen haben indessen eine Erklärung für diese Art von Geständnis. Denn im jetzt zu Ende gehenden Strafprozess ist es für Stadler zwar Garant dafür, nicht ins Gefängnis zu müssen. Diese Zusage hatte er vorab von Richter Weickert erhalten. Bei einem allzu freimütigen Geständnis bestünde aber die Gefahr, dass dadurch Schadenersatzklagen begünstigt werden, merkt ein Verbraucheranwalt an. Die relativierenden Einschränkungen, die jetzt ins Geständnis eingeflochten wurden, erschweren das.“

Martin Seiwert in der WirtschaftsWoche:

„Ex-Audi-Chef Rupert Stadler will in seinem Prozess wegen manipulierter Audis einer Haftstrafe entgehen und hat deshalb am Dienstagmorgen etwas verlesen lassen, das ein Geständnis sein soll. Bei genauerem Hinsehen aber ist es – eine Manipulation. (…)
Ich habe kürzlich über die ‚Kehrtwende‘ des Ex-Audi-Chefs in seinem Strafverfahren geschrieben. Ich gestehe, das war falsch. Was sich am Dienstag am Landgericht München II abspielte, war keine Kehrtwende. Höchstens ein Kehrtwenderl. Eigentlich ist Stadler bloß abgebogen, nicht gewendet. Ich gestehe, ich hätte das zumindest ahnen können und nicht vollmundig eine Kehrtwende ankündigen dürfen.
Was das Gericht zu hören bekam, war schon von der Form her bestenfalls ein Kehrtwenderl – Stadler sprach die Worte nicht selbst, sondern ließ sie von seiner Anwältin vortragen – und inhaltlich sowieso: ‚Ich sehe für mich ein, dass es ein Mehr an erforderlicher Sorgfalt bedurft hätte‘, sprach die Anwältin.

Herr Stadler war also nicht immer und überall optimal sorgfältig? Das ist kein Geständnis. Das ist ein Allgemeinplatz. Können wir streichen.
Weiter im Text: Dass Fahrzeuge manipuliert worden seien und dadurch Käufer geschädigt worden seien, ‚habe ich zwar nicht gewusst, aber als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen‘. Der Mann, der zweieinhalb Jahre lang mit Verve behauptet hat, dass er nicht wusste, dass die Fahrzeuge illegal manipuliert waren, macht im Geständnis trotzig weiter: ‚Ich habe es nicht gewusst‘.

Aber weil Stadler ja unbedingt einer Haftstrafe entgehen will, musste doch noch etwas angefügt werden, das sich zumindest nach Geständnis anhört: Stadler hat die Manipulation ‚als möglich erkannt‘. (…)
So bleibt als wirklich einzige neue Erkenntnis nach dem Kehrtwenderl von München: Stadler gibt zu, er hätte etwas genauer hinschauen müssen, bevor er die Autos verkaufen ließ. Oder lassen Sie es mich so ausdrücken: Sogar ein so gründlicher, erfahrener und erfolgreicher Automanager wie Herr Stadler ist nicht ganz perfekt.
Das ist kein Geständnis. Aber es sieht ein wenig danach aus. So wie die Diesel von Audi im Verkaufsprospekt mal wie ein Beitrag zu Klimaschutz und Luftreinhaltung aussahen.“

Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung:

„Noch bis vor wenigen Jahren galt dies als schmutziges Geheimnis der Justiz. Nur unter Pseudonym brach ein Anwalt (…) in einem Fachaufsatz das Schweigen. In Wirtschaftsprozessen, so schrieb er, sei die unterfinanzierte Justiz oft schlicht überfordert mit jahrelanger Beweisführung. Also werde gefeilscht. Ein schnelles Geständnis gegen großzügigen Strafverzicht. (…)
Wenn jetzt der frühere Audi-Chef Rupert Stadler in seinem Betrugsprozess gesteht, nachdem er vorher haarklein eine mildere Bewährungsstrafe für sich aushandeln konnte, dann ist das ein kleiner Fortschritt für den Rechtsstaat, der mit seinen Aufklärungsbemühungen sonst vielleicht noch jahrelang festgesteckt hätte. (…) Um einen Beschuldigten zu bewegen, gegen andere auszupacken, musste der Staat ihm schon immer etwas anbieten. (…)
Aber es sollte einem klar sein: Ein Rupert Stadler weiß, dass das, was er an Informationen hat, wertvoll ist. Und er lässt sich das vom Gericht vergüten. Der Strafprozess ist dann eine weitere Transaktion. Wohl dem, der dabei mit so einer starken Verhandlungsposition gesegnet ist. Es ist ein Recht des Stärkeren.“

Quellen:

Max Hägler: „Es bleibt schmutzig“, Die Zeit (Print) vom 17. Mai 2023

Henning Peitsmeier: „Ende in Sicht“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Print) vom 17. Mai 2023

Thomas Fromm/Klaus Ott/Stephan Radomsky: „Das Geständnis“, Süddeutsche Zeitung (Print) vom 17./18. Mai 2023

René Bender: „Stadlers unglaubwürdiges Geständnis“, Handelsblatt (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-stadlers-unglaubwuerdiges-gestaendnis-/29155016.html

Kai Schöneberg: „Ein Deal, aber keine Gerechtigkeit“, taz (Online) vom 16. Mai 2023
https://taz.de/Diesel-Gestaendnis-des-Ex-Audi-Chefs/!5931938/ 

Thomas Magenheim-Hörmann: „Rupert Stadler lässt gestehen“, Frankfurter Rundschau (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.fr.de/hintergrund/rupert-stadler-laesst-gestehen-92282258.html 

Martin Seiwert: „Sogar Stadlers Geständnis ist manipuliert“, WirtschaftsWoche (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.wiwo.de/unternehmen/auto/dieselgate-sogar-stadlers-gestaendnis-ist-manipuliert/29154442.html 

Ronen Steinke: „Der Handel“, Süddeutsche Zeitung (Print) vom 17./18. Mai 2023

 

Hessens ehemaliger oberster Korruptionsbekämpfer kommt in Haft

Am 12. Mai 2023 verurteilte das Landgericht Frankfurt den ehemaligen Oberstaatsanwalt Alexander Badle wegen Steuerhinterziehung, Untreue und Bestechlichkeit in 86 besonders schweren Fällen zu sechs Jahren Haft. Als Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt genoss er bis zu seiner Festnahme im Juli 2020 höchstes Ansehen. So veröffentlichte er in Fachzeitschriften Artikel zur Korruption im Gesundheitswesen und hielt Vorträge auf Tagungen (vgl. auch BIG-„Nachricht“ vom 3. November 2020: https://big.businesscrime.de/nachrichten/bestechungsaffaere-um-frankfurter-staatsanwalt/).

Das Handelsblatt schreibt in seiner Onlineausgabe vom 12. Mai:

„Badle, der als oberster Korruptionsbekämpfer Hessens als Koryphäe auf dem Feld galt, hatte im Prozess gestanden, mehr als ein Jahrzehnt lang selbst Schmiergelder kassiert zu haben. Angeklagt waren aber nur die Taten aus dem nicht verjährten Zeitraum zwischen 2015 und 2020. Der Anklage zufolge kassierte Badle in dieser Zeit Bestechungsgelder von rund 350.000 Euro. Die Gelder in Höhe von insgesamt mehreren Hunderttausenden Euro flossen für die Vergabe von Gutachteraufträgen an externe Dienstleister – vor allem an die Firma eines ehemaligen Schulfreundes. Diese existierte fast ausschließlich von Aufträgen der Staatsanwaltschaft: 90 Prozent ihres Umsatzes erwirtschaftete sie laut Anklage mit staatlichen Aufträgen.“

Die Staatsanwaltschaft attestierte Badle ein „hohes Maß an krimineller Energie“. In seiner Position als Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen habe er seine Position „vorsätzlich missbraucht“ und „dem Land Hessen erheblichen Schaden zugefügt“.

Badle hatte in der Generalstaatsanwaltschaft die „Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten im Gesundheitswesen“ offensichtlich unter unprofessionellen Bedingungen geleitet. „Vor Gericht“, schreibt die Süddeutsche Zeitung, „sagte der Angeklagte B., wie wenig Hilfe er bei den Ermittlungsverfahren gehabt habe. Als er 2002 als Korruptionsbekämpfer anfing, hätten ihn noch die Beamtinnen und Beamte des LKA unterstützt, aber die seien bald abgezogen worden. Ihm blieben die Sachverständigen, meist ehemalige Arzthelferinnen. Die prüften die Rezeptabrechungen, Patientenakten, Stundenprotokolle, die schrieben die Gutachten – aber sie arbeiteten auf Honorarbasis“.

Der ehemalige Leiter der Generalstaatsanwaltschaft und damit damalige Vorgesetzte von Badle sollte vor Gericht erläutern, warum niemandem aufgefallen sei, dass Badle an den Aufträgen mitverdiente, „und was er sagt, ist dann doch beschämend: Es habe in all den Jahren keine Kontrolle gegeben, nur 2013 eine ‚kleine Innenrevision‘. Und nein, es habe auch kein Vier-Augen-Prinzip gegeben, deswegen konnte B. die Rechnungen allein abzeichnen, auch er, der Behördenleiter, habe deren Höhe nie geprüft. Die Kosten trug meistens das Land Hessen, Kontrollen seien unüblich“. (Süddeutsche Zeitung)

Der Hessische Landesrechnungshof stellte in einem Prüfbericht 2022 ebenfalls fest, dass damals Kontrollmechanismen fehlten. In einer Pressemitteilung der Behörde vom 16. Dezember 2021 heißt es anlässlich der Korruptionsvorwürfe:

„Die Ergebnisse der Prüfung zeigen, wie einfach Korruption entstehen kann: Das Justizministerium und die Generalstaatsanwaltschaft nahmen ihre Fach- und Dienstaufsicht nicht ausreichend wahr. Zudem führte die Generalstaatsanwaltschaft trotz verbindlicher Vorgaben seit 2013 keine Innenrevisionen durch. Dies trug dazu bei, dass über die Jahre hinweg unbeaufsichtigte Vergaben und Abrechnungen von Gutachten im Medizinstrafrecht möglich waren.

Auch in den Staatsanwaltschaften zeigte sich vor Bekanntwerden der Verdachtsfälle eine bedenkliche Situation: Bei der Beauftragung von Sachverständigen war ein Vier-Augen-Prinzip nicht verpflichtend vorgegeben und auch weitgehend nicht vorhanden. Zudem gab es keine nachträglichen Kontrollen durch die Innenrevision. In der Folge konnten Staatsanwälte ohne interne Kontrolle und ungestört von Aufsicht und Revision des Ministeriums Aufträge allein vergeben und abrechnen.“

Mittlerweile, stellt der Rechnungshof fest, seien die Prozesse nach den Vorfällen vom Sommer 2020 „deutlich optimiert“ worden. Die Generalstaatsanwaltschaft habe im Juni 2021 die Einhaltung und Dokumentation des Vier-Augen-Prinzips bei der Sachverständigenbeauftragung verbindlich vorgegeben und lasse dessen Einhaltung seither flächendeckend kontrollieren. Damit sei bei der Vergabe das Vier-Augen-Prinzip gesichert und eine wesentliche Grundlage für die Revision geschaffen worden.

 

Quellen:

Gianna Niewel: „War ja sein Spezialgebiet“, Süddeutsche Zeitung vom 12. Mai 2023 (Printausgabe)

René Bender: „Sechs Jahre Haft für korrupten Oberstaatsanwalt aus Hessen“, Handelsblatt (Online) vom 12. Mai 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/steuern-recht/recht/justizskandal-sechs-jahre-haft-fuer-korrupten-oberstaatsanwalt-aus-hessen/29149748.html

Hessischer Rechnungshof: „Fehlende Kontrollen führen zu Korruption und Vermögensschäden“, Pressemitteilung vom 16. Dezember 2021

https://rechnungshof.hessen.de/presse/fehlende-kontrollen-fuehren-zu-korruption-und-vermoegensschaeden

 

Klimaverbrechen und Gesetzesbrüche

Mitte März 2023 stellte der im Regierungsauftrag tätige Expertenrat für Klimafragen in einem Bericht zur Emissionsbilanz des Bundes fest, Deutschland werde – bleibe es beim bisherigen Tempo im Klimaschutz – seine Klimaziele bis 2030 um etwa 40 Prozent verfehlen. Diese Feststellung sei eine „schallende Ohrfeige“ für die Klimapolitik der Bundesregierung, ließ der Chef von Greenpeace daraufhin wissen (Süddeutsche Zeitung vom 14. April 2023). Um die politisch Verantwortlichen endlich zu mehr Klimaschutz zu bewegen, kündigten Aktivisten der „Letzten Generation“ an, ab dem 19. April die Bundeshauptstadt mittels Protestveranstaltungen, Klebeaktionen und weiteren Blockaden teilweise lahmzulegen.

Vertreter:innen der politischen Klasse zeigen sich über den „zivilen Ungehorsam“ von  Akteuren, wie denen der „Letzten Generation“, regelmäßig empört und lassen durchblicken, dass sie für Rechtsbrüche jeglicher Art kein Verständnis aufbringen würden. „Gar nicht zum Lachen ist dem Justizminister. Marco Buschmann sieht einmal mehr das Abendland untergehen, denn die Kleber erinnern ihn an die Weimarer Zeit, als sich ‚Menschen am linken und rechten politischen Rand selbst ermächtigt fühlten, sich über die Rechtsordnung zu stellen‘.“ (junge Welt vom 22. April 2023)

Starke Worte angesichts der sehr gemäßigten Forderungen und des alles andere als militante Auftretens der Aktivisten. Von einer angeblichen Demokratiefeindlichkeit findet sich bei ihnen keine Spur. So heißt es auch auf der Webseite der „Letzten Generation“: „Rasend eskaliert die Klimakrise und an so vielen Tagen bleibt nichts als dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man die Zerstörung sieht und dazu das Nichtstun unserer Regierung. (…) Sie schützt Wirtschaftsprofite statt unserer Lebensgrundlagen, bricht ihre eigenen Versprechen und unsere demokratische Verfassung.“ Und in einem „Brief an die Bundesregierung“ vom April 2023 unterstreichen die Aktivisten, dass es „beim Abwenden einer Klimakatastrophe auch um den Erhalt unserer Demokratie, unseres Rechtsstaats und den Erhalt der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gehe.

Darüber, wie der Rechtsstaat mit „zivilem Ungehorsam“ umzugehen hat, wird derzeit auch einmal mehr im juristischen Fachdiskurs verhandelt. So pocht Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg, auf den Rechts- und Gesetzesgehorsam der Staatsbürger:innen. Die „Letzte Generation“ stellt für ihn eine Protestbewegung dar, „die letzten Ende keine Rücksicht auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen bereit ist, die auch Ausdruck einer Negation des Rechtsstaats zur Durchsetzung partikularer Interessen unter dem Mantel vorgeblich grundrechtlich geschützter Freiheit ist“. (Schwarz, Seite 275) Beim „zivilen Ungehorsam“ gehe es in Wahrheit gerade nicht um die Beseitigung etwaiger Mängel, sondern um die „undemokratische, weil nicht im Parlament beschlossene Durchsetzung individueller Vorstellungen“. (Schwarz, Seite 279f.) Er warnt gar vor der „Kapitulation des Rechtsstaats vor der Macht der Straße“. (Seite 276)

In Erwiderung dazu stellt dagegen Lorenz Leitmeier, Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, fest:

„Tatsächlich wird die existenzielle Dimension der Klimakrise verschleiert oder gar geleugnet, wenn man plump die Mehrheit-ist-Mehrheit-Regel bemüht, um die Spannung zwischen Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam einseitig aufzulösen. Die ‚bestimmten Ziele‘, von denen Schwarz spricht, sind nämlich keine Privatinteressen einer Minderheit mit ‚Verhinderungsstrategie‘ – es sind rechtlich verbindliche Ziele: Bekanntlich wurde in Paris am 12.12.2015 im Rahmen der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) ein Abkommen geschlossen (Pariser Abkommen), das die EU am 5.10.2016 mit dem Beschluss (EU) 2016/18414 umsetzte, woraufhin es am 4.11.2016 in Kraft trat.“ (Leitmeier, Seite 71)

Auch die Bundesrepublik habe das Pariser Abkommen unterzeichnet und ratifiziert, so dass eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zu einem gewissen Verhalten vorliege. Der Jurist und Journalist Ronen Steinke betont in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung ebenfalls, dass die Bundesregierung selbst gegen verbindliches Recht verstoße – was nicht wegzudiskutieren sei. Das Klima-Abkommen von Paris, wonach die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, sei nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag unmittelbar geltendes Bundesrecht. „Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgericht“, konstatiert Steinke bissig, „haben der Regierung, die dies nicht ganz ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss vom März 2021 die Lage noch einmal deutlich auseinandergesetzt – Verfassungsrecht für Dummies, quasi: Das Abkommen ist verbindlich, dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht Recht.“

In dieser Situation würden die Klima-Aktivisten sich entscheiden, ihrerseits Recht zu brechen. „Sie tun das mit einer, rechtlich betrachtet, eigentlich ungewöhnlich bescheidenen Forderung. Sie wollen nur, dass sich die mächtigsten Menschen im Staatsapparat an die rechtlichen Pflichten halten, die für diese gelten.“ Die Täter verlangten nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. „Rein rechtlich ist es hier so, als zwänge jemand den Bundeskanzler bloß dazu, an eine Fußgängerampel nicht mehr über Rot zu gehen.“

Steinke verweist zum Schluss seines Artikels auf den dynamischen Charakter der Rechtsentwicklung. Wenn die Bürger keine Hoffnung mehr haben könnten, dass der Staat ein Unrecht stoppe, habe das rechtliche Folgen. Bei einer Aussichtslosigkeit behördlichen Einschreitens könne ausnahmsweise doch einmal ein rechtfertigender Notstand nach Paragraf 34 StGB denkbar sein, so habe es zum Beispiel das Oberlandesgericht Naumburg vor einer Weile festgestellt. „Mit dieser Begründung hat es Tierschützer freigesprochen, die mit ‚zivilem Ungehorsam‘ auf illegale Zustände in der Massentierhaltung hingewiesen hatten, die den Behörden seit Jahren egal waren. Und das heißt: Je länger die Klima-Aktivisten mit ihrer Verzweiflung tatsächlich recht behalten, desto eher erwächst für ihren ‚zivilen Ungehorsam‘ irgendwann doch eine auch rechtliche Legitimation.“

Quellen:

Felix Bartels: „Döpfner des Tages: Marco Buschmann“, junge Welt (Online) vom 22. April 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/449346.döpfner-des-tages-marco-buschmann.html?sstr=letzte%7Cgeneration

Michael Bauchmüller: „Klima-Experten warnen Regierung“, Süddeutsche Zeitung vom 18. April 2023 (Printausgabe)

„Brief an die Bundesregierung, April 2023“, verfasst von „Die Bürger:innen der Letzten Generation“

https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/

Dr. Lorenz Leitmeier: „Ziviler Ungehorsam und autoritärer Legalismus?“, in: HRRS – Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, März 2023, Seite 70-73 (PDF-Ausgabe)

https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/23-03/index.php?sz=6

Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz: „Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam“, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 5/2023, Seite 275-280

https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160031/2023/NJW_2023_05_Forum_Schwarz.pdf

Ronen Steinke: „Alles, was Recht ist“, Süddeutsche Zeitung vom 21. April 2023 (Printausgabe)

 

 

Versagende Finanzkontrolle

BIG berichtete zuletzt am 13. Februar 2023 über die gravierenden Mängel bei der Bekämpfung der Geldwäsche in Deutschland. In der Aprilausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik skizzieren die Journalisten Andreas Frank und Markus Zydra das „politische Desinteresse Deutschlands am Kampf gegen die Finanzkriminalität“, wie es in dem Text heißt.*

Wesentliche Aussagen werden im Folgenden – inklusive ausgewählter Zitate – zusammengefasst:

– Die wichtigste Behörde bei der Geldwäschebekämpfung ist die FIU (Financial Intelligence Unit), die alle Verdachtsmeldungen zu prüfen hat. Sie ist eine Bundesbehörde, die der Rechtsaufsicht des Bundesfinanzministeriums untersteht und bei der Generalzolldirektion angesiedelt ist. An ihrem Standort beim Zollkriminalamt in Köln arbeiten zurzeit etwa 400 Personen, bis 2026 sollen dort und in Dresden insgesamt rund 700 Fachleute tätig sein.

– Neben Banken und Finanzdienstleistern sind auch Unternehmen bzw. Gewerbetreibende des Nichtfinanzsektors (Immobilienmakler, Notare, Juweliere usw.) verpflichtet, der FIU zu melden, wenn ihnen Kunden verdächtig erscheinen, Geldwäsche betreiben zu wollen. Der Großteil der stetig anwachsenden Verdachtsmeldungen stammt von den Banken, nur drei Prozent der Hinweise kamen in den letzten Jahren vom Nichtfinanzsektor.

– Die FIU ist mit der Menge der Verdachtsmeldungen überfordert, für eine effiziente Bearbeitung fehlen Personal und Informationszugänge. Gemäß einer Kleinen Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke von 2023 wurden insgesamt 525.000 Geldwäschemeldungen nicht bearbeitet, die allermeisten, weil sie nicht als prüfungswürdig eingestuft worden waren. Den Grund dafür sehen die Autoren in dem sogenannten risikobasierten Ansatz: „Eine Software trifft die Vorauswahl der Meldungen. Weil die Datenbasis fehlt, gehen der Behörde viele prüfungswürdige Verdachtsmeldungen durch die Lappen, die – wenn überhaupt – erst später händisch bearbeitet werden.“

– Dieser „risikobasierte Ansatz“ der FIU könnte laut Staatsanwaltschaft Osnabrück den Tatbestand der Strafvereitelung erfüllen. Im Februar 2020 leitete sie deshalb ein Ermittlungsverfahren ein und durchsuchte wenige Monate später die FIU-Zentrale in Köln.

– Nach einem an den Haushaltsausschuss des Bundestages gerichteten Bericht des Bundesrechnungshofs vom September 2020 über die Bekämpfung der Geldwäsche durch die FIU kann Letztere die in sie gesetzten Erwartungen nur unzureichend erfüllen, weil sie unter anderem nicht auf regionale Polizeidaten oder wichtige Steuerdaten der Finanzverwaltungen der Länder und des Bundes elektronisch zugreifen kann. „Der Bericht des Bundesrechnungshofs war ein Alarmsignal: Selten ist das Versagen einer Bundesregierung von der Konzeption bis zu Umsetzung einer auch international wichtigen Kontrollbehörde so schonungslos offengelegt worden.“

– Die Financial Action Task Force (FATF), die oberste internationale Antigeldwäsche-Behörde, präsentierte im Sommer 2022 ihren aktuellen Bericht. „Die Experten bemängeln das Kompetenzwirrwarr von über 300 Behörden und sehen Defizite bei der Überwachung des Bargeldschmuggels. Die wenigsten der vielen Tausend Verdachtsmeldungen, die die Sammelstelle FIU jedes Jahr an die Behörden weiterleite, würden zu knallharten Ermittlungsverfahren führen. Von rund 36.000 Geldwäscheverfahren 2020 mündeten dem Bericht zufolge nur 629 in eine Anklage und 773 in einen Strafbefehl.“

– Auch der Skandal um das ehemalige Vorzeigeunternehmen Wirecard verdeutlicht, „wie schlimm es um die Geldwäschekontrolle durch die deutsche FIU steht“. Die Commerzbank hatte der FIU bereits im Februar 2019 eine umfangreiche Geldwäsche-Verdachtsmeldung übermittelt. Die FIU reagierte nicht, es dauerte fast dreieinhalb Jahre, bis sie die Verdachtsmeldungen an die zuständigen Ermittlungsbehörden weiterreichte. Zu diesem Zeitpunkt war Wirecard bereits insolvent und der Betrugsskandal offenbar. „Der Wirecard-Skandal hätte vielleicht verhindert werden können, wenn die deutschen Aufsichtsbehörden ihre Pflicht zur Geldwäschebekämpfung ernst genommen hätten.“

– Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission wurde die Bundesregierung bereits in den 2000er Jahren angewiesen, das Geldwäschegesetz korrekt anzuwenden. „Danach wurden in den Bundesländern die bis dahin fehlenden Aufsichtsbehörden bestimmt, allerdings in jedem Bundesland anders: Die Zuständigkeiten gingen hier an Regierungspräsidien, dort an Bezirksregierungen, anderswo an Ministerien und Ordnungsämter. Die Bundesländer merkten bald, dass sie mit dieser Aufgabe überfordert waren. Geldwäsche passiert international, was soll da ein kleiner Beamter im Regierungspräsidium schon tun? In Wolfsburg kümmerte sich damals eine einzige Person im Ordnungsamt um die Aufsicht im Fall des VW-Konzerns und aller anderen zur Meldung an die FIU Verpflichteten des Nichtfinanzsektors. Eine effektive Bekämpfung der Geldwäsche ist so nicht möglich.“

– Länderaufsichten setzen im Nichtfinanzsektor nach wie vor zu wenig Personal ein, besonders bei Vor-Ort-Prüfungen der über 1,1 Millionen zur Meldung an die FIU Verpflichteten – 30 Jahre nach Inkrafttreten des Geldwäschegesetzes. „Bei einer jährlichen Vor-Ort-Kontrollquote von deutlich unter 0,5 Prozent muss ein Verpflichteter durchschnittlich nur höchstens alle zweihundert Jahre mit einer Vor-Ort-Prüfung rechnen.“

– Vor allem im Bereich des Glücksspiels zeigen sich Aufsichtsschwächen. Denn bei Onlinecasinos sind Geldflüsse schwer nachvollziehbar. „Die Geldwäschegefahr im Glücksspielsektor steht in scharfem Kontrast zu der Freiheit, die dieser Sektor in Europa und auch in Deutschland genießt. Dies ist politisch gewollt; die Konsequenzen werden sehenden Auges in Kauf genommen. (…) Seit der Umsetzung der EU-Zahlungsdienstrichtlinie 2007 gibt es neben den Vollbanken, die Spareinlagen annehmen dürfen, auch Zahlungsdienstleister. Diese Anbieter übernehmen den Zahlungspart zwischen Kunden und Händlern. Es ist ein weniger streng regulierter Bereich des Finanzsektors, der politisch gewollt war, um den ‚alten‘ Banken Konkurrenz zu machen.“

Quelle:

Andreas Frank/Markus Zydra: „Geldwäsche leicht gemacht. Das Versagen der deutschen Finanzkontrollbehörden“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2023

https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/april/geldwaesche-leicht-gemacht

* Laut Information der Redaktion der Zeitschrift basiert der Artikel von Frank und Zydra auf einem kürzlich erschienenen Buch der Autoren: „Dreckiges Geld. Wie Putins Oligarchen, die Mafia und Terroristen die westliche Demokratie angreifen“ (Piper-Verlag).

 

Korruptionsvorwürfe gegen den Skandalkonzern Vonovia

 

Razzia im Ruhrgebiet: Am 7. März 2023 durchsuchten die Staatsanwaltschaft Bochum und das Landeskriminalamt NRW unter anderem die Zentrale von Deutschlands größtem Immobilienkonzern. Gegen mehrere Mitarbeiter des Konzerns, die offensichtlich dem mittleren Management zuzuordnen sind, und weitere Beteiligte werde wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und Bestechung, der Untreue und des Betrugs ermittelt, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Vier Personen wurden in dem Zusammenhang verhaftet. Die beschuldigten Mitarbeiter sollen danach für das Wohnungsunternehmen tätige Firmen bei der Auftragsvergabe bevorteilt und dafür als Gegenleistung Geld oder Sachleistungen erhalten haben. Die beauftragten Subunternehmen ihrerseits werden verdächtigt, die Vonovia-Mitarbeiter bestochen und überhöhte Preise verlangt zu haben. Dabei sollen sogenannte Leistungsverzeichnisse manipuliert worden sein, um den beauftragten Unternehmen zu ermöglichen, nicht erbrachte Leistungen abzurechnen. Das so erschlichene Geld wurde, so die bisherigen Ermittlungen, untereinander aufgeteilt. Über die Schadenshöhe äußerten sich die Ermittler bislang nicht.

Rolf Buch, CEO von Vonovia, sieht den Konzern als alleinigen Geschädigten: „Wir sind erschüttert. Offenbar haben sich einzelne Mitarbeiter bei unseren Tochterunternehmen zum Schaden von Vonovia bestechen lassen – das ist nicht akzeptabel.“ (Pressemitteilung Vonovia vom 7. März 2023) Denn es handele sich um Leistungen, die dem Unternehmen zwar in Rechnung gestellt worden seien, aber nicht unmittelbar zulasten der Mieterinnen und Mieter gehen würden. Laut Konzernmitteilung schätzt Vonovia die Auswirkungen als sehr gering ein. Denn die Aufträge, die an die von den Untersuchungen betroffenen Drittunternehmen vergeben wurden, hätten im vergangenen Jahr weniger als ein Prozent des von Vonovia insgesamt ausgegebenen Auftragsvolumens betragen. Und von den kriminellen Machenschaften sei nur ein Teil der Aufträge betroffen. Der Vorstand habe die unabhängige Prüfungsgesellschaft Deloitte sowie die Kanzlei Hengeler Mueller mit einer internen Untersuchung der Vorgänge beauftragt. Gegenstand der Untersuchungen sei, ob es sich hier um Kostenpositionen handele, „die in den Folgeprozessen auch in Teilen weiterverrechnet wurden“. Das Abwenden von Schaden für die Mieterinnen und Mieter sei für Vonovia besonders wichtig, heißt es weiter im Presseportal des Konzerns.

Dem widersprechen Vertreter:innen von Mieterorganisationen vehement. Denn diese bekämpfen seit Jahren die undurchsichtige Vorgehensweise von Vonovia und anderen Wohnungsunternehmen etwa bei der Berechnung von Betriebskosten und der Umlage von Modernisierungsmaßnahmen. So weist der „MieterInnenverein Witten“ darauf hin, dass auch in diesem mutmaßlichen Korruptionsfall in erster Linie die Mieter:innen die Geschädigten sind, denn sie würden schließlich die gefälschten Rechnungen über Modernisierungsmieterhöhungen und Nebenkosten bezahlen müssen.

„Als Mieterverein kommen uns die Vorwürfe bekannt vor. Seit Jahren entdecken MieterInnen in Betriebskosten- und Modernisierungsabrechnungen immer wieder Positionen, für die es nach ihrer Beobachtung keine Leistung gab. Zum Beispiel wurden den Mietern Winterdiensteinsätze berechnet, die nie stattgefunden haben. Seit vielen Jahren werden ausgerechnet in zugemüllten Wohnvierteln in Witten-Heven Kosten für mehrfach wöchentlich durchgeführte ‚Mülldienstleistung‘ verlangt, die noch nie beobachtet wurden. Es wurden auch Modernisierungsarbeiten mieterhöhungswirksam abgerechnet, obwohl sie noch gar nicht abgeschlossen waren. Jeder Mieter, der die ‚Vonovia-App‘ nutzt, kann beobachten, dass die dort mitgeteilten Arbeitseinsätze oft nicht stimmen. Es handelt sich bei diesen ‚Phantomabrechnungen‘ offensichtlich nicht um Einzelfälle. Sie werden durch das intransparente ‚Abrechnungssystem‘ der Vonovia zumindest begünstigt. Ein System, das wir nicht akzeptieren.“ (8. März 2023)

Auch der Deutsche Mieterbund (DMB) kritisiert die fehlende Transparenz bei der Umlage von Betriebskosten durch Vonovia und die Umlage von Kosten auf Mieterinnen und Mietern für Arbeiten, die nie stattfanden. In einer Pressemitteilung des DMB heißt es:

„Der Deutsche Mieterbund erwartet, dass die Konzernspitze den möglicherweise kriminellen Machenschaften in den eigenen Reihen entschlossen entgegentritt, über entstandene und auf Mieterinnen und Mieter in der Vergangenheit umgelegte Kosten umfassend Rechenschaft ablegt und zu Unrecht umgelegte Kosten zügig erstattet. Zudem muss Vonovia bei der Umlage von Kosten endlich transparent und in einer prüffähigen Form handeln, eine Forderung, die der Deutsche Mieterbund und seine Mietervereine seit Jahren an den Konzern richten, bislang leider erfolglos.“

Stellten sich die Vorwürfe als wahr heraus, so Lukas Siebenkotten, Präsident des DMB, seien die Geschädigten in erster Linie Mieterinnen und Mieter, auf deren Rücken sich die Mitarbeitenden bereichert hätten. Diesen Skandal solle die Konzernspitze in den Fokus rücken und mit allen Mitteln vergangenes Unrecht aufklären, die Schäden erstatten und illegale Machenschaften in Zukunft verhindern.

Die staatsanwaltlichen und polizeilichen Ermittlungen treffen Vonovia zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Der Konzern war zuletzt stark für die Ankündigung kritisiert worden, wegen gestiegener Finanzierungskosten (steigende Baukosten und -zinsen) im laufenden Jahr keine Neubauprojekte mehr durchzuführen – trotz des gravierenden Wohnungsmangels in Deutschland. Zudem kündigte Vonovia-Chef Buch Mitte März bei der Vorstellung des Geschäftsberichts 2022 an, der nächsten Hauptversammlung am 17. Mai vorzuschlagen, die Dividende je Aktie deutlich zu kürzen, von 1,66 Euro auf 85 Cent. Zwar konnten Umsatz und operatives Ergebnis im letzten Jahr kräftig zulegen, unter dem Strich aber stand ein dickes Minus. Denn wegen sinkender Immobilienpreise mussten die Buchwerte der Immobilien nach unten korrigiert werden.

Die börsennotierten Wohnungskonzerne stecken aktuell offensichtlich in der Klemme. Knut Unger, Sprecher des „MieterInnenvereins Witten“, beschreibt die Voraussetzungen für die weitere Handlungsfähigkeit Vonovias:

„Für das bisherige wachstumsorientierte Geschäftsmodell stellt die Halbierung der Dividende (..) einen radikalen Bruch dar. Der Konzern ist mehr denn je auf steigende Mieten angewiesen. Deren Basis ist die immer schärfere Wohnungsnot. Zweites Standbein sind potenzielle Käufer, einschließlich Kommunen, die auch weiterhin spekulativ hohe Immobilienwerte zahlen können und zahlen wollen. Und das dritte Standbein sind die staatlichen Wohnungsbau- und Klimaziele. Mangels vorhandener Alternativen könnten sie die öffentliche Hand zwingen, dem größten europäischen Wohnungskonzern noch mehr als bislang schon üblich unter die Arme zu greifen.“ (17. März 2023)

Das Überleben des finanzmarktorientierte Geschäftsmodell der Vonovia ist nach Auffassung Ungers offenbar zunehmend darauf angewiesen, dass öffentliche Gelder nachgeschossen werden. „Wäre es da politisch nicht sinnvoller“, schlussfolgert er, „den Konzern von der Börse zu nehmen und seine Immobilien und Produktionsmittel – gegen eine Entschädigung weit unterhalb der labilen spekulativen Verkehrswerte – in die Gemeinwirtschaft zu überführen?“

Quellen:

„Korruptionsverdacht: Durchsuchungen bei Vonovia“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 7. März 2023
https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-bochum-korruptionsverdacht-durchsuchungen-bei-vonovia-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-230307-99-862393 

Carsten Herz/Volker Votsmeier: „Razzia beim Wohnungskonzern Vonovia“, Handelsblatt (Online) vom 7. März 2023
https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/immobilien-betrugsvorwuerfe-razzia-beim-wohnungskonzern-vonovia/29022180.html 

„Razzia in der Vonovia-Konzernzentrale“, MieterInnenverein Witten und Umg. e. V., 8. März 2023
https://www.mvwit.de/razzia-in-der-vonovia-konzernzentrale/ 

„Razzia bei Vonovia: Mieterbund fordert lückenlose Aufklärung und transparentes Handeln“, Pressemeldung des deutschen Mieterbundes (DMB) vom 9. März 2023
https://www.mieterbund.de/startseite/news/article/75117-razzia-bei-vonovia-mieterbund-fordert-lueckenlose-aufklaerung-und-transparentes-handeln.html 

Knut Unger: „Zeitenwende bei der Vonovia?“, MieterAKTIOnärIn, 17. März 2023
https://mieteraktionärin.de/zeitenwende-bei-der-vonovia/ 

 

 

 

 

Protest gegen Klinikschließungen

Das Handelsblatt konstatierte in der Ausgabe vom 20. Januar 2023, Deutschland habe „viele Kliniken und oft mittelmäßige Qualität bei enormen Kosten“. Das deutsche Krankenhaussystem schaffe es, gleichzeitig „Über- und Unterversorgung zu produzieren“. Das kürzlich vorgestellte und planmäßig ab 2024 in Kraft tretende Reformpaket, welche das bisher gültige System von Fallpauschalen zurückdrängen soll, stoße jedoch schon heute auf heftige Kritik. Das Blatt zitiert den Vorstandsvorsitzenden des kirchlichen Klinikbetreibers Agaplesion: „Durch die Reform werden in vielen Kliniken wichtige Abteilungen schließen müssen.“ Wie das Handelsblatt an anderer Stelle schreibt, beträfe ein solcher Abbau 17 der 20 von Agaplesion betriebenen Kliniken

Wie das Handelsblatt weiter schreibt, wird als Vorbild für die in Deutschland angestrebte Gesundheitsreform Dänemark genannt. Unser nördliches Nachbarland musste eine solche Reform schon seit Jahren über sich ergehen lassen. Demnächst soll es nur noch 18 über das Land verteilte hochspezialisierte Klinikzentren geben. Ähnliche Vorstellungen werden für das deutsche Gesundheitssystem schon seit längerer Zeit diskutiert.

Der Verein Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB), der schon seit langer Zeit gegen die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur kämpft, gehört zu den wenigen Organisationen, die auch während der Covid-19-Restriktionen die Gesundheitspolitik der derzeitigen Regierung kritisierte. In seinem Fadenkreuz stand insbesondere die ungeachtet der Pandemie weiter betriebene Demontage von Kliniken und anderer öffentlicher Gesundheitseinrichtungen – seit 2020 mussten in Deutschland 40 Krankenhäuser schließen, davon 13 allein im Jahr 2022. Laut dem kürzlich erschienenen neuen Bulletin des vom GiB initiierten „Bündnis Klinikrettung“ sind derzeit 74 Kliniken akut von Schließung bedroht. 657 Krankenhäusern drohe außerdem die Herabstufung zu Pflegeeinrichtungen. Wie es im Bulletin weiter heißt, sei die Reduktion von Standorten und somit die Schließung von Kliniken politisch gewollt: „Auch die am 6. Dezember 2022 vorgestellte Reform zielt darauf ab, die Krankenhauslandschaft umzubauen und die Zahl der Krankenhäuser zu dezimieren. Prof. Dr. Augurzky, einer der Urväter der Reform, bezifferte die Zahl der zu schließenden Kliniken auf 20 Prozent.“

In einem anderen Beitrag des Bulletins werden die Ergebnisse der Reform in Dänemark kritisch untersucht. Seit 2007 hat man dort die Zahl der Krankenhäuser wesentlich reduziert, um sie durch die angestrebten „Superkrankenhäuser“ ersetzen zu können. Von den geplanten Riesenkliniken wurden aber nur wenige termingerecht fertiggestellt – gleichzeitig explodierten die Kosten. „Aufgrund steigender Baukosten und erheblicher Pannen sind enorme Mehrkosten für die öffentliche Hand entstanden. Bisher hat die unvollendete Reform fast sechs Milliarden Euro verschlungen, und das in einem Land mit nur 5,9 Millionen EinwohnerInnen. Die gestiegenen Kosten verursachen Sparzwänge beim Krankenhausbetrieb, die Arbeitsbelastung des Personals erhöht sich. Der Kahlschlag der Krankenhäuser hat Dänemarks  Gesundheitsversorgung verschlechtert. Besonders in strukturschwachen Regionen müssen die Menschen nun lange Wege zurücklegen, um versorgt zu werden, da es weder nahegelegene Krankenhäuser noch genügend Arztpraxen gibt. Auf dieses Szenario steuert auch Deutschland zu (…).“

Quellen:

Bündnis Klinikrettung: „Die Zeit ist reif. Wo bleibt die Revolution? “ (Sonderveröffentlichung gegen Klinikschließungen)

https://www.gemeingut.org/die-zeit-ist-reif-wo-bleibt-die-revolution-die-neue-zeitung-vom-buendnis-klinikrettung/

Jürgen Klöckner/Maike Telgheder: „Warum Deutschland viel zu viele Kliniken hat – und die Notaufnahmen trotzdem überfüllt sind“, Handelsblatt (Online) vom 20. Januar 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/krisengebiet-klinik-warum-deutschland-viel-zu-viele-kliniken-hat-und-die-notaufnahmen-trotzdem-ueberfuellt-sind/28931386.html

 

Lahmes staatliches Engagement gegen Finanzkriminalität

Ende August 2022 hatte Finanzminister Lindner (FDP) angekündigt, eine neue Bundesbehörde zur Bekämpfung der Finanzkriminalität aufzubauen. Neben einem neuen Bundesfinanzkriminalamt soll die Financial Intelligence Unit (FIU), bislang beim Zoll angesiedelt, dazu gehören. Damit reagierte der Minister auf die zunehmende Kritik an der Vielzahl unbearbeiteter Verdachtsfälle bei der obersten Geldwäschebehörde. Wohl auch deshalb gab Mitte Dezember des letzten Jahres FIU-Chef Christof Schulte sein Amt auf – wenn auch offiziell aus persönlichen Gründen. Schulte stand wegen einer Reihe von Pannen schon länger unter Druck. Er hatte sein Amt erst im Herbst 2018 angetreten, um die Behörde in ruhige Bahnen zu lenken – offensichtlich ohne Erfolg. Die angekündigte grundlegende Reform der FIU aber lässt weiter auf sich warten.

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) beschreibt in ihrer Ausgabe vom 3. März 2023 Aufgaben und Versagen der FIU: 

„Die Behörde fungiert als Sammel- und Verteilstelle aller Verdachtsmeldungen zu Geldwäsche und Terrorfinanzierung in Deutschland. Banken, Finanzdienstleister, Makler, Juweliere, Notare und viele andere Güterhändler sind verpflichtet, verdächtige Zahlungen von Kunden an die FIU zu melden. Die Behörde sortiert dann aus und schickt die dringendsten Fälle an die Landeskriminalämter zur Ermittlung. Soweit die Theorie.

In der Praxis aber sieht es anders aus: Die FIU ist nicht mehr auf die Beine gekommen, seit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Behörde 2017 entgegen allem fachlichen Ratschlag vom Bundesfinanzkriminalamt zum Zoll verlegte, wo allerdings die Kompetenz völlig fehlte. Der vorläufige Tiefpunkt: 2018 verbummelten es FIU-Mitarbeiter Verdachtsmeldungen der Commerzbank weiterzugeben, die sich gegen die mittlerweile bankrotten Finanzkonzern Wirecard gerichtet hatten. Es war eine von vielen verpassten Chancen, den bislang wohl schlimmsten Betrugsfall der deutschen Wirtschaftsgeschichte früher auffliegen zu lassen.“

Mittlerweile, so die SZ weiter, sitze die Behörde auf rund 290.000 unbearbeiteten Verdachtsfällen. Gesetzlich sei zwar geregelt, dass Banken innerhalb von Tagen verdächtige Zahlungen melden müssten, aber nicht, wie schnell die FIU die Meldungen zu bearbeiten hätte. In einem großen Rückstau befände sich auch eine vierstellige Zahl von Meldungen ausländischer Behörden, die die FIU nur an die Landeskriminalämter hätte weiterleiten müssen. Doch selbst das sei nicht geschehen. „Die Versäumnisse sind so gravierend“, schreibt die SZ, „dass die Staatsanwaltschaft Osnabrück seit Jahren sogar wegen des Verdachts auf Strafvereitelung im Amt ermittelt. Die FIU, die damals noch dem von SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz geleiteten Ministerium untergeordnet war, soll Hinweise auf mutmaßliche Terrorfinanzierung zu spät oder gar nicht an Behörden weitergereicht haben.“

Bis zum Frühjahr 2023 möchte die FIU die Bearbeitungsrückstände nun abarbeiten. 149 zusätzliche Beschäftigte aus anderen Bereichen der Zollverwaltung sollen dafür eingesetzt werden. Personen, die an ihren angestammten Plätzen fehlen werden und zunächst mehrere Monate für ihre Aufgaben geschult werden müssen.  Ihr Auftrag  hat es in sich: „Mafiöse Organisationen, Diktatoren, autokratische Geheimdienste, Oligarchen und Kleptokraten waschen in Deutschland etwa 100 Milliarden Euro – aus ihren kriminellen Geschäften mit Menschen, Drogen, Waffen und Umweltzerstörung.“ Die Wahrscheinlichkeit bleibt groß, dass die Kreise der Finanzkriminellen weiterhin kaum gestört werden.

Quellen:

Meike Schreiber/Marku Zydra: „Eine Behörde versinkt im Chaos“, Süddeutsche Zeitung vom 3. März 2023

Dietmar Neuerer: „Nach Rücktritt des Chefs der Anti-Geldwäsche-Einheit: Lindner gerät unter Handlungsdruck“, Handelsblatt (Online) vom 16. Dezember 2022 

Cum-Ex-Steuerskandal: Ehemaliger Justizminister gegen verschleppte Aufklärung

„Die Aufklärung des größten deutschen Steuerskandals Cum-Ex wird von einem beispiellosen Justizeklat erschüttert“, schreibt das Handelsblatt am 10. März 2022. Danach hat der ehemalige nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach (CDU) eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft und dessen Stellvertreter eingereicht. Nach Auffassung des Ex-Ministers werde das Verfahren von der zuständigen Strafverfolgungsbehörde ausgebremst. Denn die Verantwortlichen hätten die Cum-Ex-Abteilung mit zu wenig Personal und Ressourcen ausgestattet. Biesenbach sehe deshalb die Gefahr einer „Strafvereitelung im Amt“. Einzelne Ermittlungen würden so lange dauern, dass Beschuldigte wegen der langen Verfahren mit niedrigeren Strafen davonkommen könnten. Zudem kritisiere Biesenbach, dass er in seiner Amtszeit der Staatsanwaltschaft zusätzliche Ermittler geradezu hätte aufdrängen müssen.*

Wie das Handelsblatt weiter schreibt, weist sein Nachfolger, der jetzige NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne), die Vorwürfe zurück. Aus dessen Sicht bestünden auch mit Blick auf die zeitlichen Abläufe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft Köln in zu geringem Umfang Anklagen erheben würde. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Köln würde sich hingegen zu den Vorwürfen nicht äußern wollen.

Zum aktuellen Stand und zur Genese der juristischen Aufarbeitung schreibt das Handelsblatt:

„Die Staatsanwaltschaft Köln gilt als mit Abstand wichtigste Aufklärungsbehörde in dem Fall: 117 der bundesweit etwa 130 bekannten Cum-Ex-Verfahren werden in der Domstadt geführt. 1592 der mehr als 1700 Beschuldigten stehen in Akten mit einem Stempel aus Köln. Als Peter Biesenbach Mitte 2017 Justizminister einer schwarz-gelben Koalition in Düsseldorf wurde, fragte er nach, wer die Ermittlungen in Sachen Cum-Ex vorantreibe. Als Antwort fiel nur ein Name: Anne Brorhilker. Die Oberstaatsanwältin und ihr Team klagten rund ein Dutzend Personen an. Es gibt vier Strafurteile. Der Bundesgerichtshof hat alle Urteile bestätigt, die ihm zur Überprüfung vorlagen. (…)

Im Herbst 2019 waren für 56 Verfahrenskomplexe mit mehr als 400 Beschuldigten 4,7 Stellen im Kölner Personalplan reserviert. (…) Es sei schon ganz richtig gewesen, den größten Steuerskandal Deutschlands mit einer minimalen Personalstärke anzugehen, erklärte Oberstaatsanwalt Torsten Elschenbroich. Die Fälle seien komplex. Es hätte daher ‚nichts gebracht, wenn zehn Staatsanwälte Akten gewälzt hätten, ohne zu wissen, wonach sie suchen sollten‘. (…) Nicht jeder verstand diese Logik. Biesenbach jedenfalls verkündete eine Verdoppelung der Cum-Ex-Ermittlertruppe und versprach ‚Anklagen im Akkord‘. Das zuständige Landgericht Bonn war gewappnet. Gerichtspräsident Stefan Weismann sagte: ‚Wir sind in der Lage, in der Spitze bis zu zehn Strafkammern für Cum-Ex-Verfahren zu eröffnen und mehrere Hauptverhandlungen parallel zu führen.‘“

Biesenbach, so das Handelsblatt, steigerte die Zahl der Cum-Ex-Planstellen auf 36, beförderte Brorhilker zur Hauptabteilungsleiterin und unterstellte ihr im Frühjahr 2021 eine eigene Einheit, die Hauptabteilung H. Die arbeite laut Biesenbach aber offensichtlich nicht so wie gedacht. Längst nicht alle Planstellen seien besetzt, viele der Ermittler hätten kaum Berufserfahrung. Nach Anweisung des Behördenleiters Roth sollte die Cum-Ex-Hauptabteilung statt ausschließlich den Steuerskandal zusätzlich noch Corona-Betrugsfälle bearbeiten: „So können sich die Cum-Ex-Beschuldigten zurücklehnen, auch in nächster Nachbarschaft zu den Ermittlern.“ (Handelsblatt)

Nach Angaben der Zeitung hätten die Ermittelnden in der Cum-Ex-Abteilung in Köln im Durchschnitt je zwei bis drei große Fälle auf dem Tisch, oft internationale Komplexe mit Dutzenden von Verdächtigen. Bei der WestLB sei eine Anklage frühestens 2024 zu erwarten. Dann würden deren Taten bis zu 19 Jahre zurückliegen. Ex-Justizminister Biesenbach initiiere deshalb einen „fast einmaligen Vorgang“ (Handelsblatt):  Eine Dienstaufsichtsbeschwerde eines (Ex-)Justizministers gegen einen Oberstaatsanwalt einzuleiten mit dem Ziel, insbesondere die personellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in den komplexen und umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren angemessen ermittelt werden kann.

Justizminister Limbach rechnet derweil damit, dass die Cum-Ex-Ermittlungen noch 15 Jahre in Anspruch nehmen werden. „Als das Landgericht Bonn im Dezember 2022 den Steueranwalt Hanno Berger verurteilte, rechnete der Richter Roland Zickler ihm vor: ‚Ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung beginnt bei 50.000 Euro. Sie haben die Schwelle um mehr als das 5.000-Fache überschritten.‘ Berger erhielt aber nicht die Höchststrafe von fünfzehn Jahren Haft, sondern acht. Einer der Gründe für Strafmilderung: die vielen Jahre, die zwischen Tat und Urteil lagen.“ (Handelsblatt)

Der Journalist Volker Votsmeier kommentiert für das Handelsblatt:

„Wir schreiben das Jahr 2038. Die Staatsanwaltschaft Köln schließt ihre letzte Cum-Ex-Akte. 25 Jahre sind seit dem Beginn der Ermittlungen im größten Steuerskandal der Republik vergangen. Die Taten liegen teils 33 Jahre zurück. Dieses Szenario ist kein Fiebertraum eines Angeklagten, sondern offizielle Erwartungshaltung der Justiz. Nordrhein-Westfalens Justizminister Benjamin Limbach hat gerade mitgeteilt, dass die Staatsanwaltschaft für ihre 117 Verfahren noch 15 Jahre veranschlagt. 90 Prozent der Cum-Ex-Verfahren liegen in Köln. Die große Zeitspanne ist ein Armutszeugnis. (…)

Cum-Ex war organisierte Kriminalität auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe. Daran gibt es keine juristischen Zweifel. Der Bundesgerichtshof, der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht haben Cum-Ex-Geschäfte allesamt als illegal verurteilt. Alle Strafverfahren endeten in Schuldsprüchen. Alle überprüften Urteile wurden vom Bundesgerichtshof bestätigt. (…)

Es ist eine Schande, dass der Staat nicht alles dafür tut, in dem Milliardenskandal schneller zu ermitteln. Ein Scheitern der Aufklärung hilft nicht nur den Beschuldigten. Es untergräbt auch das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat. Das ist schon brüchig genug.“

* Vgl. auch BIG-Nachricht vom 27. Januar 2023 und BIG-Artikel vom 19. Dezember 2022

Quellen:

Julia Leonhardt/Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Chef der Kölner Staatsanwaltschaft“, Handelsblatt (Online), 10. März 2023

Volker Votsmeier: „Die Cum-Ex-Aufarbeitung ist ein Armutszeugnis für den Rechtsstaat“, Handelsblatt (Online) vom 10. März 2023

 

Gesetzentwurf zum Schutz von Whistleblowern gescheitert

Am 10. Februar 2023 verweigerte der Bundesrat einem Bundestagsbeschluss zum Schutz von so genannten Whistleblowern die Zustimmung. Widerstand von Seiten der Landesregierungen mit CDU/CSU-Beteiligung führte dazu, dass das Gesetz nicht in Kraft treten kann. Bundesregierung und Bundestag können nun den Vermittlungsausschuss anrufen, um dort erneut über die Vorlage zu verhandeln. Eine erneute Abstimmung im Bundesrat würde aber weitere Monate dauern und das Inkrafttreten des Gesetzes entsprechend verzögern.

„In der aktuellen Fassung sieht der Gesetzentwurf vor, dass Hinweisgeber sich an interne wie auch externe Meldesysteme wenden können. Diese werden ab einer Unternehmensgröße von 50 Mitarbeitern verpflichtend. Dazu soll es die Möglichkeit geben, sich an eine externe Meldestelle zu wenden, die zusätzlich zu den bestehenden in der Finanzaufsicht Bafin und dem Bundeskartellamt eingerichtet werden soll. Unter Umständen soll der Whistleblower die Missstände auch öffentlich machen dürfen. Kündigungen aufgrund einer Meldung sollen dann ebenso verboten werden wie andere Vergeltungsmaßnahmen.“ (Süddeutsche Zeitung vom 9. Februar 2023)

Die EU hatte bereits 2019 eine Richtlinie erlassen, die von den Mitgliedsstaaten bis zum Dezember 2021 in nationales Recht hätte umgesetzt werden müssen. Bis heute hat Deutschland das nicht hinbekommen, auch weil die alte Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sich nicht auf einen Gesetzesentwurf einigen konnte. Unter anderem war ein Vertragsverletzungsverfahren auf EU-Ebene die Folge.

Die Vorsitzende des Whistleblower-Netzwerks, Annegret Falter, kommentierte:

CDU/CSU lassen Whistleblower mit ihrer Blockadehaltung im Bundesrat erneut im Stich, wie bei allen früheren Anläufen für ein Hinweisgeberschutzgesetz. Den Schaden davon haben nicht nur die Whistleblower, sondern auch Demokratie, Rechtsstaat und die Wirtschaft selber. (…) Die soeben im Bundesrat vorgetragenen Argumente gegen den vorliegenden Gesetzentwurf wegen einer vermeintlich zu hohen Belastung der Wirtschaft in Krisenzeiten sind der ewig gleiche alte Wein in neuen Schläuchen.“

Weiter heißt es in einer Meldung der Organisation:

„Whistleblower sorgen mit ihren Meldungen für die frühzeitige Aufdeckung von Missständen in Unternehmen – bevor der Schaden zu Reputationsverlust und Haftungsansprüchen führt. Zudem weisen sie die Gesellschaft auf staatliche Kontroll- und Regelungslücken hin (z.B. bei Cum-Ex). Deswegen liegt es im ureigensten Interesse von Gesellschaft, Whistleblower zu ermutigen. Derzeit werden sie jedoch durch fehlende Rechtsklarheit und Rechtssicherheit abgeschreckt.“

Auch Finanzwende e.V. kritisiert die Union dafür, die die Hinweisgeber „im Regen stehen“ lasse:

„‚Es ist beschämend, dass wir Hinweisgebern immer noch nicht den von der EU vorgeschriebenen Mindestschutz bieten. Es ist eigentlich überfällig, dass wir Whistleblower besser schützen‘, erklärte Konrad Duffy, Referent Finanzkriminalität bei der Bürgerbewegung Finanzwende. Die Organisation machte noch vor der Bundesrats-Abstimmung bei einer Aktion deutlich, dass sich die CDU nicht auf die Seite von Finanzkriminellen und Co. stellen solle. ‚Sei es CumEx, Wirecard oder andere Skandale – immer wieder haben Whistleblower zu deren Aufdeckung und Aufklärung beigetragen. Der Dank ist, dass die CDU sie erneut im Regen stehen lässt‘, kritisierte Konrad Duffy von Finanzwende.

Immer wieder riskieren Hinweisgeber viel, um Betrug, Korruption und Missbrauch ans Licht zu bringen. Mit dem neuen Gesetz sollte sich die Lage zumindest etwas bessern. (…) Aus Sicht von Finanzwende hätte das Gesetz trotz Mängeln einen wichtigen Fortschritt bedeutet. ‚Die CDU hatte in ihrer Zeit der Regierungsverantwortung die Chance, die EU-Vorgaben nach eigenen Vorstellungen umzusetzen. Jetzt zu blockieren, ist in hohem Maße unverantwortlich‘, machte Duffy die Position seiner Organisation deutlich.“

Transparency International kommentiert die Entscheidung des Bundesrats wie folgt:

„Was für ein Trauerspiel! Die Union hat heute mit fachlich fragwürdigen und zum Teil schlicht unrichtigen Argumenten das Gesetz zum Schutz von Hinweisgebenden blockiert. Insbesondere die von der Union kritisierte Verpflichtung zum Nachgehen auch anonymer Hinweise ist essentiell für Hinweisgeberschutz – und in vielen Unternehmen bewährte Praxis. Durch die Blockade im Bundesrat müssen die betroffenen Personen, die auf Missstände hinweisen und damit Zivilcourage beweisen, weiter auf einen verlässlichen Schutzschirm warten. Das beschert in Unternehmen und Behörden sowie den Hinweisgebenden weiterhin große rechtliche Unsicherheit. Für Deutschland ist das auch im internationalen Vergleich ein Armutszeugnis, schließlich ist die Frist zur Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie bereits Ende 2021 verstrichen.“

Das Handelsblatt schrieb am 11. Februar:

„Wie wichtig Whistleblowing ist, belegen Fälle wie der des Zahlungsdienstleisters Wirecard oder der Fondstochter der Deutschen Bank, DWS, wo jeweils Mitarbeitende auf Missstände aufmerksam gemacht hatten. Pav Gill, damaliger Leiter der Asien-Rechtsabteilung bei Wirecard, brachte den Bilanzskandal ins Rollen, indem er Journalisten die entscheidenden Dokumente zukommen ließ. Die ehemalige DWS-Nachhaltigkeitschefin Desiree Fixler ging mit Vorwürfen des Greenwashings bei nachhaltigen Geldanlageprodukten an die Öffentlichkeit.“

Das Wirtschaftsblatt wies am 10. Februar darauf hin, dass auch Wirtschaftskreise den Gesetzentwurf unterstützen:

„Für die Wirtschaft könnte hingegen ein besserer Schutz von Hinweisgebern große Vorteile haben. Die Versicherer versprechen sich davon langfristig einen Rückgang der Wirtschaftskriminalität: ‚Zum einen erhöhen Whistleblowing-Systeme das Risiko, entdeckt zu werden, und schrecken potenzielle Täter ab‘, sagte Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), dem Handelsblatt. Außerdem würden Taten früher erkannt und können so weniger Schaden anrichten. Das werde ‚positive Effekte für die deutsche Wirtschaft‘ haben. In mittelgroßen Unternehmen sind Hinweisgebersysteme bisher kaum vorhanden. Nach einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des GDV gab es im Frühjahr 2022 nur in jedem vierten mittelgroßen Unternehmen ein Hinweisgebersystem, wie es jetzt vorgeschrieben werden soll.“

Auch das Neue Deutschland kommentierte das Versagen der deutschen Politik beim Schutz des Whistleblowings:

„Sieben Anläufe gab es seit 2008, in Deutschland ein Gesetz zu verabschieden, das Hinweisgeber*innen vor Repressionen schützen soll, die auf Missstände in Unternehmen oder bei Behörden aufmerksam machen. Versuch Nummer acht scheiterte am Freitag im Bundesrat am Widerstand jener Länder, in denen die Union mitregiert. Die fadenscheinigen Argumente der Konservativen gegen effektiven Whistleblowerschutz haben sich in all den Jahren nicht geändert und bleiben ebenso falsch wie politisch durchschaubar.

CDU und CSU bemühen auch jetzt wieder mantraartig den Klassiker schlechthin aller wirtschaftsnahen Parteien: Das Gesetz verursache für Unternehmen hohe Kosten und personellen Aufwand! Nun ist Bürokratie in der Öffentlichkeit ein negativ besetztes Wort, klingt es doch nach einem überregulierten, alles in Akten erstickenden Staat. Doch der Schutz von Personen, die mutmaßliche Gesetzesverstöße – und nur darum geht es – mitbekommen und melden wollen, ist etwas, wovon am Ende alle profitieren und wofür es staatliche Vorgaben braucht. (…)  Was die Union betreibt, ist Blockadepolitik zum Schutz von Unternehmensinteressen. Man darf nicht vergessen: Bis 2021 saßen CDU und CSU 16 Jahre in der Regierung. Ein Whistleblower-Gesetz haben sie in all der Zeit nie umgesetzt.“

Quellen:

„Unionsparteien lassen Whistleblowerschutzgesetz erneut scheitern“, Meldung des Whistleblower Netzwerk e.V. vom 9. Februar 2023

https://www.whistleblower-net.de/online-magazin/2023/02/09/bundesrat-blockiert-hinweisgeberschutzgesetz/

„CDU schützt Finanzkriminelle statt Hinweisgeber“, Pressemitteilung von Finanzwende e.V. vom 10. Februar 2023

https://www.finanzwende.de/presse/cdu-schuetzt-finanzkriminelle-statt-hinweisgeber/

„Bundesrat lehnt das Hinweisgeberschutz-Gesetz ab“, Pressemitteilung von Transparency International Deutschland e.V. vom 10. Februar 2023

https://www.transparency.de/aktuelles/detail/article/bundesrat-lehnt-das-hinweisgeberschutz-gesetz-ab

Mona Fromm: „Whistleblowing-Gesetz bleibt umstritten – bietet aber auch Chancen für Unternehmen“, Handelsblatt (Online) vom 11. Febraur 2023

https://www.handelsblatt.com/karriere/hinweisgeberschutzgesetz-whistleblowing-gesetz-bleibt-umstritten-bietet-aber-auch-chancen-fuer-unternehmen/28973896.html?

Robert D. Meyer: „Union verhindert Schutz von Whistleblower*innen“, Neues Deutschland (Online) vom 10. Februar 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170877.informantenschutz-union-verhindert-schutz-von-whistleblower-innen.html?

Dietmar Neuerer: „Unions-Länder stoppen besseren Schutz von Whistleblowern – SPD und Grüne halten an Regelungen fest“, Handelsblatt (Online) vom 10. Februar 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/keine-mehrheit-unions-laender-stoppen-besseren-schutz-von-whistleblowern-spd-und-gruene-halten-an-regelungen-fest/28975540.html

Nils Wischmeyer: „Whistleblower bitte warten“, Süddeutsche Zeitung vom 9. Februar 2023

Herber Rückschlag beim Kampf gegen Geldwäsche

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Ende November 2022 soll in EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr für jedermann einsehbar sein, wer als Eigentümer hinter einer bestimmten Firma steht. Die EU muss nun ihre Geldwäsche-Richtlinie überarbeiten, um die Privatsphäre von Firmeneigentümern besser zu schützen. In der Folge haben bereits viele Länder ihre Transparenzregister geschlossen oder den Zugang eingeschränkt.

Die Wiener Tageszeitung DER STANDARD schrieb in seiner Onlineausgabe vom 10. Februar:

„Das Urteil war kaum publik, da ging das sogenannte Transparenzregister in Luxemburg bereits offline. Es folgten die entsprechenden Datenbanken in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Damit wurden mit einem Richterentscheid jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anstrengungen zunichtegemacht. Von einem Tag auf den anderen war nicht mehr öffentlich einsehbar, wer sich hinter verworrenen Konstruktionen aus Briefkastenfirmen, Stiftungen und Trusts versteckt.

Es sei eine ‚perverse Entscheidung‘, kritisiert der Steueroasen-Experte Andres Knobel von der Nichtregierungsorganisation Tax Justice Network. Andere sprechen von einem ‚totalen Desaster‘. Ausgerechnet in einer Zeit, in der Ermittler, Journalisten und Aktivistinnen auf der ganzen Welt versuchen, Vermögen von sanktionierten Russen aufzuspüren und einzufrieren, wird eines der wichtigsten Werkzeuge für diese Detektivarbeit kaputt gemacht.“

Auch Deutschland zog entsprechende Konsequenzen: Derzeit müssen Personen, die einen Antrag auf Einsicht ins deutsche Transparenzregister stellen, ein sogenanntes berechtigtes Interesse nachweisen und zwar für jede einzelne zu recherchierende Firma, was sehr aufwändig ist. Auf den Antragsbescheid muss gegebenenfalls Wochen gewartet werden, was bei umfangreichen Recherchen eine massive Behinderung darstellt.

Weitere Reaktionen auf das Urteil:

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin kritisiert genau diese Wirkung der Gerichtsentscheidung, da somit auch Ermittlungsbehörden begründete Anträge für eine Einsicht ins deutsche Transparenzregister stellen müssten – was die Nutzung umständlich mache. Ein Oberstaatsanwalt beklagt, dass gerade in größeren Wirtschaftsverfahren eine Vielzahl von Einzelfirmen und Firmenverbünden eine Rolle spielen würden, für die dann jeweils einzelne Anfragen mit jeweiligen Begründungen anfielen (vgl. tagesschau.de).

Die NGO Finanzwende stellt fest, dass „das Urteil ein herber Schlag ins Gesicht sei“ (Süddeutsche Zeitung). Bei Enthüllungen wie den Panama Papers  oder anderen Leaks sehe man, wie wichtig dieser Zugang zu den Transparenzregistern sei – auch für Privatpersonen, die wissen wollten, wem ihr Haus eigentlich gehöre. Viele große Immobilienunternehmen versteckten ihre wahren Eigentümer hinter anonymen Offshore-Konstruktionen (ebd.).

Eine Vertreterin von Transparency International kritisiert das Urteil, weil es die Möglichkeiten der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft einschränke, Korruption, Geldwäsche, Umweltverbrechen und organisierte Kriminalität aufzudecken (ebd.). Auf ausländische Transparenz-Register hätten deutsche Ermittlungsbehörden jetzt auch keinen automatischen Zugriff mehr, erklärt Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Sie könnten zwar ein Rechtshilfeersuchen stellen, was aber vermutlich wieder zu mehr Bürokratie und Verzögerung bei den Ermittlungen führe (vgl. tagesschau.de).

Der Hintergrund der Entscheidung:

Vor dem EuGH geklagt hatte unter anderen Patrick Hansen, Chef der Luxemburger Firma Luxaviation. Vorgeblich, weil die EU-Gesetzgebung seine Privatsphäre und Sicherheit sowie den Schutz seiner persönlichen Daten verletzt hätte. Das EuGH-Urteil wird aktuell von den Medien aufgegriffen, weil internationale Recherchen, koordiniert vom Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), nun nachweisen, dass Hansen in den vergangenen 15 Jahren Eigentümer, Direktor oder Verwaltungsratsvorsitzender von rund 100 Offshore-Firmen in einschlägig bekannten Steueroasen wie Luxemburg, den Britischen Jungferninseln oder Belize war (vgl. Süddeutsche Zeitung).

Offenbar war er auch in Geschäfte mit zwei russischen Milliardären aus dem Ölbusiness involviert. Vom Sohn eines dieser Milliardäre scheint Luxaviation auch Darlehen in Höhe vieler Millionen Dollar bekommen zu haben. Das, so zeigen die Recherchen, könnte den schnellen Aufstieg von Luxaviation zur Nummer Zwei im Privatjetgeschäft erklären.

Die Richtlinie, deren Regelung durch Hansens Klage außer Kraft gesetzt wurde, hatte die EU erst 2018 beschlossen – „eher zum Unmut jener Finanzplätze und EU-Länder, die häufig von nicht ganz sauberen Finanzpraktiken profitieren“ (DerStandard). Letztlich ausgelöst wurde die Richtlinie durch die Veröffentlichung der sogenannten Panama Papers, die den milliardenschweren Missbrauch anonymer Firmenkonstruktionen in Steueroasen offengelegt hatten.

Quellen:

Carina Huppertz/Frederik Obermaier/Michael Sauga/Jakob Pflügl: „Wie ein Luxemburger Geschäftsmann Europas Kampf gegen Geldwäsche ausbremste“, DerStandard (Online) vom 10. Februar 2023

https://www.derstandard.de/story/2000143404703/wie-ein-luxemburger-geschaeftsmann-europas-kampf-gegen-geldwaesche-ausbremste

Mauritius Much: „Dämpfer im Kampf gegen Geldwäsche“, Süddeutsche Zeitung vom 11./12. Februar 2023

Benedikt Strunz/Sebastian Pittelkow/Palina Milling/Petra Blum: „Weniger Transparenz nach EuGH-Urteil“, tagesschau.de, 10. Februar 2023

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/eugh-urteil-schliessung-register-klaeger-russland-101.html

 

Krisengewinner: Neues über die Corona-Profiteure

Maskendeals: Die bayerische CSU-Connection

Die PR-Unternehmerin Andrea Tandler, Tochter des ehemaligen CSU-Generalsekretärs Gerold Tandler, hatte zu Beginn der Corona-Pandemie Schutzmasken-Deals der Schweizer Firma Emix mit den Gesundheitsministerien in Bayern und NRW sowie dem Bundesgesundheitsministerium vermittelt (zum stolzen Preis von 8,90 Euro pro Maske) – dabei CSU-Kanäle genutzt und insgesamt 48 Millionen Euro an Provisionen kassiert. Seit 24. Januar 2023 sitzt sie in München wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung in zweistelliger Millionenhöhe im Zusammenhang mit den Maskengeschäften in Untersuchungshaft. Zudem ermittelt die dortige Staatsanwaltschaft gegen sie nun auch wegen Subventionsbetrug bei den staatlichen Corona-Hilfen. Im Mai 2020 hatte Tandler für ihre Münchner PR-Agentur 9.000 Euro Staatshilfe in Anspruch genommen – nachdem sie mit den Maskendeals bereits steinreich geworden war. Gemäß einer Richtlinie des bayerischen Wirtschaftsministeriums war die Corona-Soforthilfe als Höchstsumme für in Not geratene Kleinunternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten gedacht. Im Mai 2020 wurde die Summe ausbezahlt, erst ein Jahr später zahlte Tandler die Corona-Hilfe zurück. Die Staatsanwaltschaft in München geht jetzt von Subventionsbetrug aus und wirft Tandler vor, dem Staat ihre Masken-Provisionen bewusst verschwiegen zu haben (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 2. Februar 2023).

Quellen:

Klaus Ott: „Justiz sieht Fluchtgefahr bei Andrea Tandler“, Süddeutsche Zeitung vom 26. Januar 2023

ders.: „Verdacht auf Subventionsbetrug“, Süddeutsche Zeitung vom 2. Februar 2023

 

Überhöhte Preise für PCR-Tests

Im Januar 2023 berichtete ein Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) von einer Milliardenverschwendung bei PCR-Tests. Hersteller und Labore konnten demnach während der Pandemie mit den Krankenkassen stark überhöhte Preise für die Corona-Tests vereinbaren. Ende Januar 2020 schrieb die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Mail an den Verband der Krankenkassen und das Gesundheitsministerium. „Darin schlagen die Ärztevertreter vor, die Kosten für PCR-Tests auf das neue Coronavirus auf 59 Euro festzulegen. Damit orientierten sie sich am Preis für einen vergleichsweise seltenen Hepatitis-Test – und nicht etwa an PCR-Tests für Influenza- oder RS-Viren. Letztere werden mit 19,90 Euro vergütet. Nur zwei Tage später, vom 1. Februar an, zahlten die Kassen den Laboren dann die 59 Euro pro Test.“ (Süddeutsche Zeitung vom 9. Januar 2023) Offensichtlich hatte das Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU) darauf gedrängt, die 59 Euro zu akzeptieren.

Laut SZ brachten selbst Warnungen von Herstellern und Experten das Ministerium und die Krankenkassen nicht davon ab, die überteuerten Preise zu bezahlen und dafür bis heute etwa sechs Milliarden Euro auszugeben. So hatte der Chef des Berliner Testherstellers TIB Molbiol seit Januar 2020 gegenüber Medien wiederholt bestätigt, dass PCR-Tests einschließlich Auswertung für zehn Euro zu machen seien. Heute erhalten die Labore nach Angaben der SZ noch 27,30 Euro plus Transportkosten für die Tests.

Die SZ schrieb weiter: „Dass Tests deutlich billiger zu haben waren, zeigt das Beispiel Wien. Dort wurde gepoolt, um die Kosten niedrig zu halten. Beim Poolen werden Tests von zum Beispiel zehn Personen zu einer Probe vermischt. Ist die gemischte Probe negativ, kann eine Infektion für alle zehn Personen ausgeschlossen werden. Nur wenn eine der Personen positiv ist, müssen alle Personen noch mal getestet werden, um herauszufinden, wer positiv war. So konnte Wien allen Einwohnern PCR-Tests anbieten und zahlte sechs Euro pro Test.“

Einer der Profiteure der Milliarden-Verschwendung in Deutschland ist die Laborfirma Sonic Healthcare. Ende Juli des vergangenen Jahres teilte das Unternehmen mit, dass ihr Gewinn „förmlich explodiert“ sei, von 82 auf 274 Millionen Euro.

Quellen:

Daniel Drepper/Markus Grill/Sarah Wippermann: „Mit 59 Euro fing alles an“, Süddeutsche Zeitung vom 9. Januar 2023

David Maiwald: „Milliarden im Teströhrchen“, junge Welt vom 13. Januar 2023

 

Enorme Preissteigerungen für Impfstoffe mitten in der Pandemie

Die Pharmafirmen Biontech, Pfizer und Moderna haben den Preis für ihre Corona-Impfstoffe während der Pandemie um mehr als 50 Prozent erhöht. Das, so die SZ in ihrer Ausgabe vom 27. Januar 2023, gehe aus bisher geheim gehaltenen Zahlen hervor, die dem Rechercheverbund aus NDR, WDR und SZ vorliegen. Beim US-Konzern Moderna bestellte Deutschland im Dezember 2020 rund 15 Millionen Impfdosen für je 19,50 Euro. Drei Monate später lagen die Kosten für weitere 38 Millionen Dosen bereits bei 29,70 Euro pro Dosis. Die Kooperationspartner Biontech und Pfizer kassierten 15,50 Euro pro Impfdose, als Deutschland Ende 2020 eine Bestellung von 39 Millionen Dosen aufgab. Im September 2021 wurden 168 Millionen Dosen zu einem Preis von je 23,20 Euro geordert. Insgesamt hat der deutsche Staat inzwischen Vakzine für 13,1 Milliarden Euro bestellt, das heißt acht Dosen pro Einwohner. Nach Expertenmeinung ist diese Menge jedoch viel zu hoch. Ein Großteil der Lieferungen muss voraussichtlich wegen Überschreiten des Verfallsdatums vernichtet werden.

Diese Entwicklung führte dazu, dass die Corona-Pandemie der Pharmabranche in den vergangenen beiden Jahren den stärksten Umsatzschub seit Jahrzehnten bescherte. Wie das Handelsblatt Anfang des Jahres in einem Branchenbericht feststellte. muss sich die Branche jedoch für das Jahr 2023 auf eine „Wachstumsdelle“ einstellen. Insbesondere die Umsätze mit Impfstoffen und Medikamenten gegen Covid dürften sich nach bisherigen Schätzungen von Analysten etwa halbieren – nachdem sie im vergangenen Jahr noch sehr deutlich auf etwa 100 Milliarden Dollar gestiegen waren (Handelsblatt vom 4. Januar 2023). Dennoch erwartet der Chef des US-Unternehmens Pfizer, das 2022 den bisher höchsten Umsatz und Gewinn in der Geschichte der Pharmaindustrie verzeichnen konnte, dass das Covidgeschäft trotz des Einbruchs im laufenden Jahr längerfristig eine milliardenschwere Einnahmequelle bleiben wird. 2023 werde wohl bereits der Tiefpunkt des Geschäfts erreicht sein; in den nächsten Jahren seien wieder höhere Erlöse zu erwarten. Pfizer geht davon aus, dass die staatlichen Vorratsbestände an Impfstoffen im Verlauf des Jahres 2023 aufgebraucht sein werden (Handelsblatt vom 31. Januar 2023).

Quellen:

Markus Grill/Klaus Ott: „Geschwärzte Verträge und Milliardenprofite“, Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 2023

Siegfried Hofmann: „Pfizers Covid-Umsatz schrumpft stark, bleibt aber ein Milliardengeschäft“, Handelsblatt (Online) vom 31. Januar 2023

ders.: „Die Pharmaindustrie steht nach dem Corona-Boom vor einer Wachstumsdelle“, Handelsblatt (Online) vom 4. Januar 2023

 

Beschäftigte zweiter und dritter Klasse: Zur Arbeitssituation von Saisonarbeitskräften in Deutschland

Anfang Februar 2023 legten die Gewerkschaft IG Bau und der Deutsche Gewerkschaftsbund den seit 2018 regelmäßig erscheinenden Jahresbericht „Saisonarbeit in der Landwirtschaft“ der Initiative Faire Landarbeit vor. Die Initiative ist nach eigener Darstellung ein Bündnis gewerkschaftsnaher Beratungsstellen, der IG BAU, kirchlicher Beratungsstellen und weiterer Organisationen.

Danach kamen etwa 60 Prozent der insgesamt knapp über 135.000 Beschäftigten (Stand 30. Juni 2021), wie in den Vorjahren, aus Rumänien. Als weitere Herkunftsländer gibt der Bericht Polen, Ungarn und Bulgarien an. Saisonarbeiter:innen reisten aber auch vermehrt aus der Ukraine, aus Kirgisistan und Usbekistan an.

In einer Pressemitteilung vom 3. Februar 2023 heißt es:

„In vielen Betrieben stellt nicht die Arbeitszeit, sondern die Dokumentation der geernteten Menge die Grundlage für die Lohnabrechnung dar. Arbeitsstunden werden oftmals von Hand von der Betriebsleitung aufgeschrieben. So lässt sich nur schwer nachvollziehen, wie sich das Entgelt zusammensetzt und ob der gesetzliche Mindestlohn eingehalten wird. Hinzu kommt, dass Überstunden nicht bezahlt werden und hohe Mieten sowie ‚Arbeitsmaterialien‘ vom Lohn abgezogen werden. Da die Löhne meistens erst kurz vor der Abreise ausbezahlt werden, ist eine erfolgreiche Reklamation schwierig. Nötig wäre eine transparente digitale Zeiterfassung.“

Infolge des Klimawandels sind Saisonbeschäftigte immer stärker von Hitzestress und UV-Strahlung betroffen. „Zwar waren die damit einhergehenden Risiken in unserer Beratungsarbeit in diesem Jahr kein Schwerpunkt“, heißt es in dem Bericht, „aufgrund der Hitze waren sie jedoch sehr präsent in unseren Gesprächen bei Feldbesuchen“. Wichtige Schutzmaßnahmen seien auf vielen Feldern noch nicht umgesetzt worden. So fehlten Schattenplätze zum Abkühlen und Trinkwasser sowie Schutzmittel wie Sonnencreme und Kopfbedeckungen. „Wir gehen zudem davon aus, dass die Bezahlung nach Akkord Beschäftigte unter Druck setzt, auf gesundheitlich relevante Pausen in den heißen Phasen des Tages zu verzichten.“

Die Statistiken des Zolls zeigten für die Landwirtschaft zudem eine äußerst geringe Dichte an Mindestlohnkontrollen. So wurden im Jahr 2021 nur 1,1 Prozent der Betriebe mit abhängig Beschäftigten kontrolliert, in der ersten Hälfte 2022 noch weniger. In 8,6 Prozent aller Kontrollen in der Landwirtschaft führten diese 2021 zu einem Verfahren wegen Mindestlohnverstoß –  im Baugewerbe oder im Bereich Spedition und Logistik war die Quote geringer. Auch die Dichte der Arbeitsschutzkontrollen in der Landwirtschaft hält die Initiative für nicht ausreichend. Sie liege branchenübergreifend in Deutschland bei lediglich 40 Prozent der von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) geforderten Dichte. 

Die Initiative stellt in ihrem Bericht folgende Forderungen an die Bundesregierung auf:

1) Kurzfristig Beschäftigte in der Landwirtschaft müssen in Deutschland Anspruch auf den vollen, gesetzlichen Krankenversicherungsschutz haben.

2) Die Kontrollen zur Einhaltung des Mindestlohns und zum Arbeitsschutz müssen deutlich ausgeweitet werden.

3) Die verpflichtende Einführung eines manipulationssicheren, digitalen Arbeitszeiterfassungssystems muss sichergestellt werden.

4) Die Kosten für Unterkünfte müssen vom Arbeitgeber getragen werden.

5) Der Arbeits- und Gesundheitsschutz auf den Feldern der Landwirtschaft muss konsequent umgesetzt und verstärkt werden.

6) Die reguläre Beschäftigung für ukrainische Geflüchtete und die Einhaltung der Standards der EU-Saisonarbeiterrichtlinie für alle Saisonbeschäftigten aus Drittstaaten müssen sichergestellt werden.

Quellen:

„Keine ausreichende Krankenversicherung und undurchsichtige Lohnzahlungen“, Medieninfo der IG Bau-Agrar-Umwelt vom 3. Februar 2023

https://igbau.de/Binaries/Binary18587/2023-PM-02-Jahresbericht-Saisonarbeit-2022.pdf

„Saisonarbeit in der Landwirtschaft. Bericht 2022“, hrsg. von der Initiative Faire Landarbeit (Autor: Benjamin Luig), Februar 2023

https://igbau.de/Binaries/Binary18586/InitiativeFaireLandarbeit-Saisonbericht2022-A4-web.pdf

 

 

 

 

 

Fehlende Aufarbeitung von Cum-Ex wegen Personalmangel

Die schwarz-grüne Regierung in NRW verspricht in ihrem Koalitionsvertrag vom Juni 2022, dass sie Delikte wie Cum-Ex „entschlossen bekämpfen und aufarbeiten“ und die Rolle der früheren WestLB dabei aufklären werde. „Die Ermittlungen in Sachen West-LB laufen allerdings schleppend, sieben Jahre nach deren Beginn scheint eine Anklage nicht in Sicht zu sein“, schreibt die Süddeutsche Zeitung (SZ) in ihrer Ausgabe vom 23. Januar 2023.

Gemeinsame Recherchen der SZ mit dem WDR ergaben, dass für den komplexen Fall nur zwei Beamte der Steuerfahndung Düsseldorf eingeteilt sind. Der frühere NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) kritisiert die inaktive Rolle der Staatsanwaltschaft Köln in Personalfragen. Schon zu seiner Zeit als Minister habe sich der leitende Oberstaatsanwalt in Köln kaum aktiv um mehr Personal bemüht. Im Interview mit dem WDR-Magazin Westpol stellt er fest, dass die Ermittlungen viel weiter sein könnten. Er habe im Grunde seinerzeit der Staatsanwaltschaft in Köln Stellen „aufzwingen“ müssen. Sein Eindruck sei, dass sowohl der Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft wie auch sein Vertreter kein großes Interesse an diesem Verfahren hätten. Biesenbach: „Es fehlen deutlich Kräfte für Cum-Ex-Verfahren.“ Die Aufklärung in Sachen Cum-Ex drohe deshalb „zu versanden“. Dem widerspricht Biesenbachs Nachfolger Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen). Er sieht kein Stocken der Ermittlungen, weil immer wieder Stellen besetzt würden. Die Justiz bemühe sich, die Arbeit der Staatsanwält:innen nach Kräften zu unterstützen.

Die SZ fasst den letzten Stand der Personalausstattung der Staatsanwaltschaft Köln zusammen:

„Offiziell zählt die eigens für Cum-Ex-Fälle zuständige Abteilung H bei der Staatsanwaltschaft Köln zwar 36 Stellen. Drei davon sind momentan aber nicht besetzt. Drei weitere Kräfte fallen derzeit wegen Elternzeit und Mutterschutz aus. Neun von zuletzt 16 neu geschaffene Stellen wurden dem Justizministerium zufolge mit Mitarbeitern besetzt, die noch ‚sehr dienstjung‘ seien. Bis auf zwei Ausnahmen verfügten sie ‚weder über Erfahrungen in Bearbeitung umfangreicher Wirtschaftsstrafsachen noch über steuer-und bankenrechtliche Vorkenntnisse‘.“

Die Cum-Ex-Verfahren werden am Landgericht Bonn verhandelt. Doch dort, so berichtet der WDR, lässt die angekündigte Prozessflut bislang auf sich warten. Dabei wurden Gerichtssäle für 600.000 Euro modernisiert und neue geplant. Stefan Weismann (Präsident Landgericht Bonn) meinte dazu: „Es war ein anderes Tempo angekündigt.“

Quellen:

„Schleppende Ermittlungen zur WestLB“, Westpol (TV-Magazin des WDR) vom 22. Januar 2023
https://www.ardmediathek.de/video/westpol/westpol/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTdjYjE2NjhhLTU3ZGQtNGUyNy1hY2Y0LTJmMTYyOTg0NDgwYg

Jan Diesteldorf/Nils Wischmeyer: „Personalmangel bremst Cum-Ex-Aufklärung“,
Süddeutsche Zeitung vom 23. Januar 2023

Knast für Umweltverbrecher in Belgien

Die belgische Regierungskoalition hat einen Beschluss gefasst, der für die ganze Welt Vorbildcharakter haben soll. Danach soll Ökozid (Mord an der Umwelt) als Verbrechen geahndet werden, zu sanktionieren mit Haftstrafen von zehn bis 20 Jahren. Definiert wird er als „vorsätzliche Handlung, die einen schweren, weitreichenden und langfristigen Schaden für die Umwelt verursacht – begangen in dem Wissen, dass diese Handlung einen solchen Schaden verursacht“. (Süddeutsche Zeitung)

Die belgische Umweltministerin Zakia Khattabi von den Grünen möchte ein Bewusstsein schaffen für die Dimension von Umweltzerstörung und Klimakatastrophe. Dieser Beschluss soll Bewegung in die internationale Debatte bringen. Das Europaparlament hatte sich schon seit geraumer Zeit dafür eingesetzt, den Ökozid im europäischen Recht als kriminellen Tatbestand juristisch zu verankern, fand aber bislang keine Unterstützung bei der Kommission und bei den Mitgliedsländern.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

„Internationale Juristen drängen darauf, den Tatbestand des Ökozids, in einer ganz ähnlichen Formulierung wie in Belgien, in das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag aufzunehmen – neben Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen des Angriffskrieges. (…) Kritische Völkerrechtler warnen andererseits davor, den Ökozid mit dem Genozid gleichzusetzen. Der Völkermord habe zum Ziel, eine bestimmte Gruppe von Menschen zu vernichten, Umweltverbrechen aber würden meist aus Profitgier begangen. Letztlich werde der Begriff des Völkermords dadurch entwertet.
Möglicherweise wird die belgische Justiz vorexerzieren müssen, ob sich der Ökozid trotz der vagen Kriterien tatsächlich strafrechtlich anwenden lässt. Verfolgt werden können laut dem vorliegenden Gesetzestext keine Staaten, sondern nur Einzelpersonen. Oppositionspolitiker ließen schon polemisch anklingen, auch die belgischen Grünen könnten wegen Ökozids verfolgt werden, schließlich würden sie ja in der Regierung umweltfreundliche Kernkraftwerke schließen und stattdessen Gaskraftwerke bauen lassen.“

Quelle:

Josef Kelnberger: „Umweltverbrecher sollen ins Gefängnis“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 10. November 2022
https://www.sueddeutsche.de/politik/belgien-oekozid-straftat-gefaengnis-1.5691603

siehe auch:

„Belgien: Ökozid, ein internationales Verbrechen“, eine Reportage (Arte-Video) von Frank Dürr et al., 2021
https://www.arte.tv/de/videos/106897-000-A/belgien-oekozid-ein-internationales-verbrechen/

 

Tödliche Arbeitsunfälle in Deutschland

Die Online-Plattform Statista, nach eigenen Angaben führender Anbieter für Markt- und Konsumentendaten in Deutschland, berichtet, dass für das Jahr 2021 bundesweit 510 Arbeitsunfälle mit Todesfolge registriert wurden. Gegenüber dem Rekord-Unfalljahr 1993 mit 1.543 tödlichen Unfällen habe sich danach die Zahl um mehr als 66 Prozent reduziert. Die Quote tödlicher Arbeitsunfälle würde sich auf dem historischen Tiefstand von 0,01 je 1.000 Vollarbeiter halten.

Die Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) referiert die Fakten weniger optimistisch. Im Bereich der Unfallversicherung von gewerblicher Wirtschaft und öffentlicher Hand ereigneten sich danach im Jahr 2021 insgesamt 806.217 meldepflichtige Arbeitsunfälle, die eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder den Tod zur Folge hatten, das heißt 6 % mehr als im Vorjahr. „Bei den tödlichen Arbeitsunfällen ist gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 111 Fälle auf 510 Todesfälle zu verzeichnen.“

Renate Dillmann, Dozentin und freie Journalistin, kommentiert auf den Nachdenkseiten:

„Tragische Einzelfälle? Gehört die Gefahr eines eventuell sogar tödlichen Arbeitsunfalls schlicht zum ‚normalen Lebensrisiko‘? Oder ist mehr zu den Ursachen zu sagen? (…)

Arbeitsschutz ist in der kapitalistischen Produktion nichts, worauf ein Unternehmen von sich aus Wert legt. Schutzvorrichtungen bei der Bedienung von Maschinen, Lärmschutz, die Verwendung nicht schädlicher Stoffe, stabil gebaute Arbeitshallen, die nicht einsturzgefährdet sind und in denen der Brandschutz gewährleistet ist – all das verursacht Kosten und wird deshalb, wenn es allein nach dem Willen der Unternehmen geht, nur gemacht, wenn die entsprechenden Schutzmaßnahmen im Verhältnis zu den anfallenden Kosten und den zu erwartenden ‚Betriebsausfällen durch Unfall‘ sich lohnen. (…)

Die rücksichtslose Praxis seiner Unternehmer hat der deutsche Sozialstaat im Interesse an einer nachhaltigen Benutzbarkeit seiner Arbeitsbevölkerung nach und nach durch Arbeitsschutzgesetze eingeschränkt. Heute gehören zum Arbeitsschutz diverse Rechtsverordnungen (…).

Dass dermaßen viele staatliche Verordnungen nötig sind, um den modernen Arbeitsprozess für die Arbeitnehmer wenigstens so aushaltbar zu machen, dass sie – zumindest als statistisches Kollektiv – ein Arbeitsleben durchstehen, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Erstens stellt es dem Zweck, um den es in den gesetzlich regulierten Fabriken, Baustellen und Büros geht, kein gutes Zeugnis aus – so etwas Unschuldiges wie ‚Versorgung der Menschen mit Konsumgütern‘ wird es wohl kaum sein. Denn wenn es um diesen Zweck ginge, würde niemand die dafür fällige Arbeit so gefährlich und schädlich organisieren, dass bei der Produktion Physis und Psyche schon so in Mitleidenschaft gezogen werden, dass der Genuss der produzierten Güter gar nicht mehr sorglos zustande kommt.

Wenn zweitens per Rechtsverordnung einige (bisher erlaubte) Praktiken verboten werden – etwa die Überschreitung eines bestimmten Tageslärmpegels oder einer Hand-Arm-Vibration, dann sind damit alle Schädigungen an Ohren, Bandscheiben und Leber unterhalb der gezogenen Grenze bzw. Durchschnittswerte (!) erlaubt. Ganz im Gegensatz zur üblichen Vorstellung vom ‚Schutz‘, legen die staatlich definierten Grenzwerte (das gilt übrigens auch für Lebensmittel u.a.) mit ihrem Verbot eines Übermaßes also fest, in welchem Maß die Gesundheit der Betroffenen staatlich erlaubtermaßen angegriffen und verschlissen werden darf. (…)

Mit seiner Gesetzgebung zum Arbeitsschutz legt der moderne Sozialstaat die Bedingungen dafür fest, wie Benutzung und Verschleiß der Arbeitskräfte so vonstatten gehen, dass das Ganze gewissermaßen ‚nachhaltig‘ passieren kann. Das schließt offenbar – siehe die Statistik der Gesetzlichen Unfallversicherung – nach wie vor eine erkleckliche Zahl an Arbeitsunfällen mit gesundheitlichen Folgen ein und auch ein paar hundert Tote pro Jahr.

Das ist auch kein Wunder, denn am Zweck der Arbeitsplätze in seiner Wirtschaft ändert ein solches Gesetz ja erklärtermaßen nichts: Mit der Arbeit der Leute soll Gewinn erwirtschaftet werden – und das bedeutet unter den Bedingungen der globalen Standortkonkurrenz nichts Gutes für die Beschäftigten. Die wiederum müssen sich angesichts des brutalen Unterbietungswettbewerbs, in dem sie ‚normal‘ und erst recht als migrantische Wanderarbeiter stehen, auf alle Bedingungen einlassen und schauen, wie sie damit klarkommen.“

Quellen:

Renate Dillmann: „Arbeitsunfälle in Deutschland: Mehr als ein Toter pro Tag“, Nachdenkseiten, 11. November 2022

https://www.nachdenkseiten.de/?p=90247

Rainer Radke: „Tödliche Arbeitsunfälle in Deutschland bis 2021“, Statista, 26. Oktober 2022

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/276002/umfrage/gemeldete-toedliche-arbeitsunfaelle-in-deutschland-seit-1986/

„Arbeits- und Wegeunfallgeschehen“, DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung)

https://www.dguv.de/de/zahlen-fakten/au-wu-geschehen/index.jsp

 

Superreiche sparen Geld in deutschen Gewerbesteueroasen

Recherchen des ARD-Magazins „Plusminus“ und der Süddeutschen Zeitung (SZ) belegen, dass deutsche Großunternehmen und Milliardäre zuhauf in deutsche Gewerbesteueroasen flüchten, um Steuern auf ihre Gewinne zu sparen. Zugleich kämpfen Kommunen mit leeren Kassen, müssen Schwimmbäder schließen und in öffentlichen Gebäuden die Heizungen herunterdrehen. 

Berichte über dieses Thema gab es bereits in den vergangenen Jahren. Die aktuellen Untersuchungen führten die Journalist*innen nun vor allem in die brandenburgische Gemeinde Schönefeld. Die Gemeinde gilt als Gewerbesteueroase, heißt es im TV-Beitrag und dem Artikel der SZ. Sie hat eine der niedrigsten Gewerbesteuersätze in Deutschland. Viele reiche Großunternehmer nutzen das aus und haben hier einen Firmensitz angemeldet, um weniger Gewerbesteuer bezahlen zu müssen. Bundesweit gibt es demnach mindestens neun solcher Steueroasen. In Schönefeld zahlt ein Unternehmen nur rund acht Prozent auf Gewinne, in Wuppertal dagegen etwa 17 Prozent. Wuppertals Stadtkämmerer hält deshalb das, was die Steueroasen treiben, eindeutig für Steuerdumping.

„Wie das vor Ort ausschaut, wenn Superreiche ihre Lager aufschlagen, lässt sich in der Gemeinde Brandenburg bestens erkunden. Dort findet sich beispielsweise ein verlassenes Ladenbüro, in dessen Schaufenster eine Liste mit Firmen hängt, die hier ihren Sitz haben. Gleich zwei Mal taucht dort der Name Burlington auf, eine Marke, die zum Falke-Imperium gehört. Die Firma aus Nordrhein-Westfalen ist für Strümpfe in der oberen Preisklasse bekannt.“ (SZ)

Gegenüber „Panorama“ nimmt die Unternehmensleitung von Falke schriftlich Stellung: „Wie begrüßen als erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen den politisch gewollten Wettbewerb unter Kommunen (…).“

Auch der Unternehmenskomplex von Milliardär Ludwig Merckle hat in Schönefeld Teile des Familienimperiums angemeldet. An die hundert Firmen der Familie Merckle sollen hier ihren Geschäftssitz in einem der Büros haben. Zu einem Interview mit den Journalist*innen war Merckle nicht bereit, auch beantwortete er keine schriftlichen Fragen. Recherchen zeigen, dass  er offenbar Steueroasenhopping betreibt. Sein Firmengeflecht war zuerst in der Steueroase Zossen in Brandenburg angemeldet. Nachdem die Gemeinde die Gewerbesteuer leicht erhöht hatte, zog er mit seinen Firmen knapp 30 Kilometer weiter nach Schönefeld.

„4,5 Milliarden Euro soll Ludwig Merckle besitzen, den das Handelsblatt im Jahr 2011 zum ‚Familienunternehmer des Jahres‘ kürte. In der dazugehörenden Laudatio hob Günther Oettinger unter anderem seine ‚ausgesprochene Bodenhaftung und ungewöhnliche Bescheidenheit‘ hervor.“ (SZ)

Um den unhaltbaren Zustand zu beenden, bedarf es einer bundesweiten Lösung. „Das Bundesfinanzministerium“, schreibt die SZ, „spricht zwar von einer ‚bundesweiten Bedeutung‘ der Thematik und dass es aktuell ‚Erörterungen‘ dazu gebe. Eine Gewerbesteuerreform sei aber nicht geplant, heißt es auf Anfrage.“

Als Politiker, die sich aktiv gegen den Missstand wenden, kommen in den Beiträgen von ARD und SZ der Stadtkämmerer Wuppertals, Johannes Slawik, sowie Berlins Finanzsenator Daniel Wesener (Die Grünen) zu Wort. Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit betont unter anderem die Bedeutung eines kritischen Engagements der lokalen Steuerbehörden vor Ort.

 

Quellen:

„Steueroasen: Wie Superreiche bei der Gewerbesteuer tricksen“, Beitrag des ARTD-Magazins Plusminus vom 2. November 2022

https://www.ardmediathek.de/video/plusminus/steueroasen-wie-superreiche-bei-der-gewerbesteuer-tricksen/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3BsdXNtaW51cy8zNzI5OWNmYi00ODkwLTRmMmItYTg0MC03N2QwYjFjZGYwNjI

Katrin Kampling/Caroline Walter/Nils Wischmeyer: „Das Versteckspiel der Superreichen“, Süddeutsche Zeitung vom 3. November 2022

Weitere Informationen auch hier:

Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2021  (Autoren: Christoph Trautvetter, Yannick Schwarz), Herausgeber Netzwerk Steuergerechtigkeit e.V., Stand: August 2021, Seite 22ff.

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/wp-content/uploads/2021/11/210922_JahrbuchSteuergerechtigkeit2021_credits.pdf

Greenwashing: Deutsche Vermögensverwalter fördern Klimakrise

Die wichtigsten deutschen Fondsgesellschaften, vor allem die Deutsche Bank-Tochter DWS, treiben den Ausbau fossiler Brennstoffe voran – obwohl sie sich öffentlich zum Klimaschutz bekennen. Dies belegt eine von Greenpeace, urgewald und Reclaim Finance vorgelegte gemeinsame Studie vom Oktober 2022. Dort heißt es, dass das Pariser Klimaschutzabkommen die Verantwortung des Finanzsektors für die Bewältigung der Klimakrise herausstelle. Danach sollen die globalen Finanzströme so gestaltet werden, dass sie im Einklang mit den Pariser Klimazielen stehen. Die Studie stellt dagegen den vier größten deutschen Vermögensverwaltern ein verheerendes Zeugnis aus. Folgende Gesellschaften stehen im Mittelpunkt der Analyse:

– DWS Group (Tochter der Deutschen Bank: verwaltetes Vermögen etwa 833 Milliarden Euro)

– Allianz Global Investors (Tochter der Allianz Versicherung: verwaltetes Vermögen etwa 578 Milliarden Euro)

– Union Investment (im Verbund der Volks- und Raiffeisenbanken, Tochter der DZ Bank: verwaltetes Vermögen etwa 415 Milliarden Euro)

– Deka Investments (in der Sparkassen-Finanzgruppe, Tochter der DekaBank: verwaltetes Vermögen etwa 290 Milliarden Euro).

Alle vier Investmentgesellschaften unterstützen offiziell das Pariser 1,5-Grad-Ziel, unterlaufen nach ihren Anlagerichtlinien jedoch aktiv das Klimaversprechen. Insgesamt pumpen sie 13 Milliarden Euro in fossile Energieunternehmen, die DWS Group mit etwa 7,8 Milliarden Euro mit Abstand am meisten (Stand September 2022).

Ein Auszug aus der Studie:

„Während sich AGI, Deka Investments und Union Investment moderate generelle Beschränkungen für Investitionen in Kohleunternehmen gegeben haben, finden sich bei der DWS keine allgemeingültigen Auflagen. Keiner der vier Asset Manager besitzt eine Strategie zur Beschränkung der Investitionen in expandierendes Öl- und Gasgeschäft. (…) Die vier größten deutschen Asset Manager AGI, Deka, DWS und Union verwalten gemeinsam ein Wertpapiervermögen von rund 2,3 Billionen Euro [Stand September 2022]. Aufgrund der unzureichenden Klimastrategien sind klimaschädliche Investitionen weit über die nötige Begrenzung für ein 1,5-Grad-Ziel hinaus an der Tagesordnung: Alle vier Asset Manager investieren in Kohle-, Öl- und Gasunternehmen, die weiterhin die Ausweitung ihrer fossilen Geschäftstätigkeiten planen.“

Eine glaubwürdige Umsetzung der 1,5-Grad-Versprechen, so die Studie, würde jedoch bedeuten, diese Investments auf Null zu senken.

Greenpeace, Reclaim Finance und urgewald stellen abschließend zwei Forderungen auf:

„1. Die Vermögensverwalter brauchen einen verbindlichen Plan für den sofortigen Stopp aller neuen Investitionen in Unternehmen, die an der Expansion von Kohle-, Öl- und Gasprojekten beteiligt sind. Der Plan muss den sofortigen Verkauf der aktuell gehaltenen Aktien und Anleihen von Unternehmen beinhalten, die eine Expansion ihres Kohlegeschäfts planen, und eine zeitnahe Frist für Papiere von Unternehmen, die eine Expansion von Öl- und Gasprojekten vorantreiben.

2. Für das Engagement mit den verbleibenden Energieunternehmen mit schrumpfenden fossilen Geschäften müssen die Vermögensverwalter eine klare und glaubwürdige Strategie zur Emissionsreduktion entwickeln, die bei Verfehlung durch die Unternehmen auch deren Veräußerung als Option beinhaltet.“

Quelle:

„Die deutschen Vermögensverwalter und ihr Umgang mit Unternehmen mit expandierendem Kohle-, Öl- und Gasgeschäft“, Deutsche Zusammenfassung eines Reports von Greenpeace, urgewald und Reclaim Finance, 18.Oktober 2022
https://www.greenpeace.de/publikationen/Zusammenfassung_Report_deutsche_Asset_Manager.pdf

vgl. auch:

Yasmin Osman: „Greenpeace stellt DWS besonders schlechtes Zeugnis aus“, Handelsblatt (Online) vom 18. Oktober 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/nachhaltigkeit-greenpeace-stellt-dws-besonders-schlechtes-zeugnis-aus/28751126.html

David Maiwald: „Wieder nur Maskerade“, junge Welt (Online) vom 19. Oktober 2022
https://www.jungewelt.de/artikel/436959.grüner-kapitalismus-wieder-nur-maskerade.html

Auszüge aus Rezensionen zu einem aktuellen Buch über fünf deutsche Unternehmerdynastien mit Nazi-Vergangenheit

David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 496 Seiten, 28 Euro.

Ela Maartens/Verena Nees auf der World Socialist Web Site:

 „Dieses Buch kommt zur richtigen Zeit. Landauf landab wird die Kriegstrommel gerührt und behauptet, die herrschenden Eliten Deutschlands setzten sich für Demokratie und Freiheit des ukrainischen Volkes ein. Wer die verlangten Opfer für die Rüstungsausgaben ablehnt – Inflation, Mietschulden, Armut und Arbeitslosigkeit –, wird als Unterstützer von russischer Tyrannei, wer Angst vor einem Atomschlag äußert, als Feigling bezeichnet.

In Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien, das Ende Mai 2022 erschienen ist, zeigt der niederländische Finanzjournalist David De Jong, was die wirkliche Haltung der deutschen herrschenden Klasse zur Demokratie war und heute noch ist. (…) Detailliert und gut recherchiert schildert er die engen Verstrickungen einiger der größten deutschen Unternehmerdynastien mit den Nationalsozialisten und zeigt auf, wie sie nach dem Krieg erneut ihren Reichtum vermehren und den Ton in Wirtschaft und Finanzwelt angeben, ja sogar erneut faschistische Gruppierungen finanzieren konnten.

Ins Zentrum seines Buchs rückt er fünf Oligarchenfamilien, deren Vergangenheit – anders als bei Krupp, Thyssen, Siemens, Deutsche oder Dresdner Bank – lange im Dunkeln geblieben war: Die Firmenimperien von Quandt, August Baron von Finck, Friedrich Flick, Dr. Oetker, der Porsche-Piëch-Clan. Am Ende geht De Jong auf die Albert Reimann Familie und deren im Kaffee- und Snack-Segment agierenden JAB Holding ein, deren Nazi-Vergangenheit erst in neuerer Zeit publik wurde.“

 

Hans-Jürgen Jakobs im Handelsblatt:

„Dramaturgisch konsequent konzentriert sich de Jong auf fünf Familienfälle, die er akribisch aufbereitet, stets um äußerste Faktengenauigkeit bemüht. Der nüchtern rapportierende Stil kontrastiert mit der Emotionalität des Themas, mit der deutschen Schuld, sechs Millionen Juden ermordet zu haben.

Vorgeführt werden Textilunternehmer Günther Quandt und Stahlbaron Friedrich Flick, die sich wie Raider der kapitalistischen Neuzeit immer mehr Firmen sicherten, ein Innovator wie Ferdinand Porsche, der Adolf Hitlers Wunsch nach einem ‚Volkswagen‘ aus ingenieurtechnischem Ehrgeiz und aus Erwerbsinteresse gerne nachkam, der knauserige Münchener Baron August von Finck, der Hitlers Lieblingsprojekt ‚Haus der Kunst‘ in München aufhalf, oder die Bielefelder Oetker-Familie mit dem eingeheirateten Stramm-Nazi Richard Kaselowsky als Oberhaupt. Das Mitglied im ‚Freundeskreis Reichsführer SS‘ breitete ganz in Führers Sinne den Stiefsohn Rudolf-August Oetker auf seine Chefrolle vor. Der ‚Puddingprinz‘ wurde früh in die Reiter-SA integriert, war SS-Offizier und half nach dem Krieg alten SS-Kameraden.

All diesen Wirtschaftslegenden war gemein, dass sie in kühler Kosten-Nutzen-Abrechnung vom NS-Zwangssystem opportunistisch profitierten, teilweise schon recht früh zur Finanzierung von Wahlkämpfen der NSDAP oder von SS und SA bereitstanden und selbst Teil der Kriegs- und Eroberungsmaschinerie wurden. Allesamt waren sie in der NSDAP, der SS oder in beiden Organisationen.“

 

Julia Hubernagel in der taz:

„‚Zukunft braucht Herkunft.‘ Diesen Satz ließ 2019 die Ferry-Porsche-Stiftung verlauten, als sie ihren Willen bekundete, Deutschlands erste Professur für Unternehmensgeschichte zu finanzieren. Dabei klingt aber noch eine andere Botschaft mit: Ohne Herkunft besteht in Deutschland nur bedingt Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg.

Dass diese Herkunft meist in der dicken braunen Erde der NS-Zeit wurzelt, lässt sich noch heute an der Rangliste der reichsten Deutschen ablesen. Jenen Unternehmerdynastien, die besonders von der nationalsozialistischen Herrschaft profitiert haben, hat David de Jong in seinem Buch ‚Braunes Erbe‘ nachgespürt. Nur einige der Industriemagnaten waren dabei glühende Nationalsozialisten, befindet der niederländische Journalist. Die meisten waren einfach kühl kalkulierende, skrupellose Opportunisten.

Während Anton Piëch so etwa aus Überzeugung gleich zweimal in die NSDAP, zuerst in die österreichische Schwesterpartei, und die SS eintrat, hatten er und sein Schwiegervater Ferdinand Porsche kein Problem damit, ihr Automobilkonstruktionsbüro 1931 zusammen mit dem jüdischen Kaufmann Adolf Rosenberger zu gründen. Sieben Jahre später konnten sie ihn als ‚Nichtarier‘ allerdings günstig loswerden, um mit der Produktion des ‚Volkswagens‘ ihren Milliardenreichtum zu begründen.“

 

Ursula Weidenfeld im Deutschlandfunk Kultur:

„Der Finanzjournalist De Jong erzählt am Beispiel von fünf Unternehmerfamilien – Quandt, Porsche, Flick, von Finck und Oetker –, wie sich deren Chefs Hitler an den Hals geworfen haben. Und er berichtet, wie sich Unternehmenserben bis heute um die Geschichte ihres Erbes herumdrücken, dessen Dividenden sie doch zu gern genießen. Er schildert, wie atemberaubend naiv diese Erben gelegentlich sind, wie zögerlich oder intrigant andere ihre Verantwortung leugnen. (…)

De Jong zieht von den Großvätern, die die barbarischen Möglichkeiten der Nazi-Zeit – Zwangsarbeit, Arisierung, Kriegswirtschaft – nutzten, so etwas wie eine Charakter-Linie zu ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln, die bis heute von diesen Vermögen profitieren. Für die Quandts, die Flicks, die Porsches, die Oetkers und die von Fincks hat De Jong recherchiert, wie sie zu Nationalsozialisten wurden, was sie davon hatten, und wie sie diesen Teil ihrer Biografie nach 1945 abwuschen.

Das taten sie so erfolgreich, dass der Quandt-Enkel Stefan in einem Interview sagen konnte, sein Großvater sei kein überzeugter Nationalsozialist gewesen. Den Erben bescheinigt De Jong eine ähnliche Mentalität: Der Geschichte ihrer Unternehmen stellten sie sich nur, wenn sie von der Öffentlichkeit dazu gezwungen würden.

Nicht alle Unternehmer waren von Anfang an glühende Nationalsozialisten, doch die fünf haben den Aufstieg Hitlers unterstützt und finanziert, und mehr als die meisten anderen haben die fünf Familien bis weit in die Nachkriegszeit davon profitiert. (…)

Es sind dieselben Charaktereigenschaften – Geschäftssinn, Opportunismus, Anpassungsfähigkeit – die ihnen den Neuanfang nach 1945 erleichtern. Die Unternehmer werden kurzzeitig interniert, sie werden entnazifiziert, nur einer von ihnen muss wegen Kriegsverbrechen ins Gefängnis.

Die anderen bekommen ihr Vermögen schnell zurück. Für den Kalten Krieg und das Wirtschaftswunder werden Unternehmer gebraucht, da wollen weder die Westalliierten noch die Politiker der jungen Bundesrepublik genau hinschauen – zumal sich einige der Unternehmensführer auch den neuen Parteien im neuen Land gegenüber wieder ausgesprochen großzügig zeigen.

1970 sind die Herren Flick, von Finck, Quandt und Oetker die reichsten Geschäftsleute Deutschlands. So, als wäre nie etwas gewesen.“

 

Marcus Jung in der FAZ:

„Der Autor, dessen jüdische Familie von den Nazis verfolgt und teilweise ermordet wurde, klagt nicht die Deutschen allgemein an, im Mittelpunkt seiner Recherchen stehen die reichsten Unternehmerfamilien des Landes: die Quandts, die Flicks, die Oetkers, die Reimanns, die von Fincks sowie die Familien Porsche und Piëch. Das Buch beruht dabei auf zahlreichen Artikeln de Jongs für den Wirtschaftsdienst Bloomberg. Er will mehr Transparenz in bislang aus seiner Sicht nur unzureichend beleuchtete Kapitel ihrer Unternehmensgeschichte bringen. Tatsächlich haben sich noch nicht alle großen deutschen Unternehmen ihrer Geschichte im Dritten Reich gestellt, doch de Jongs Vorwurf ist zu pauschal. Viele deutsche Konzerne und Banken haben in den vergangenen Jahren ihre Archive geöffnet, um sich der Verantwortung zu stellen. Die Industriellenfamilie Quandt beauftragte etwa den namhaften Historiker Joachim Scholtyseck. Sein Gutachten gilt als wegweisend für die wissenschaftliche Aufarbeitung von Unternehmenshistorien während der NS-Zeit. Auch andere Unternehmen wie Adidas, Porsche, Oetker, Sartorius, Continental und Freudenberg gewährten namhaften Forschern Zugang, um sich der unbequemen Wahrheit zu stellen. Auch Bahlsen hat nach dem Fauxpas einen Wirtschaftshistoriker damit beauftragt, zu untersuchen, welche Rolle die Zwangsarbeit im Unternehmen gespielt hat. Dass es sich dabei nur um beschönigende Auftragsarbeiten handelt, wie de Jong suggeriert, kann nicht behauptet werden. Er aber setzt sich mit ihnen auf lediglich 40 Seiten auseinander. (…)

Lesenswert ist sein Buch dennoch: Die Protagonisten von ‚Braunes Erbe‘ sind bis auf wenige Ausnahmen schon während des Deutschen Kaiserreichs wohlhabend gewesen. Ihr kaufmännisches Gespür, gepaart mit ihrem extremen Opportunismus, traf auf die aufstrebende, anfangs chronisch vor der Pleite stehende Organisation der Nationalsozialisten. Erst dieses Zusammentreffen legte für die Industrie- und Finanzbarone die Basis für den Aufstieg in noch höhere Sphären. Ihre Familiengeschichte kann der Leser im Anhang durch Stammbäume bis zum heutigen Tag verfolgen.“

Quellen:

Ela Maartens/Verena Nees: „‚Braunes Erbe‘ von David de Jong: Wie Hitlers Geldgeber noch heute im Geschäft sind“, World Socialist Web Site, 15. Oktober 2022

https://www.wsws.org/de/articles/2022/10/14/brau-o14.html

Hans-Jürgen Jakobs: „Wie deutsche Unternehmen mit ihrer Nazi-Vergangenheit umgehen“, Handelsblatt (Online) vom 8.5.2022

https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/rezension-wie-deutsche-unternehmen-mit-ihrer-nazi-vergangenheit-umgehen/28307660.html

Julia Hubernagel: „Braun bis ins Mark“, taz (Online) vom 10. August 2022

https://taz.de/Sachbuch-von-David-de-Jong/!5868518&

Ursula Weidenfeld: „Reich durch Puddingpulver und Zwangsarbeit“, Deutschlandfunk Kultur am 21. Mai 2022 (Sendung „Lesart“)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/david-de-jong-braunes-erbe-kritik-100.html

Marcus Jung: „Opportunisten und Mitläufer“, FAZ (Online) vom 10. Juli 2022

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftsbuecher-rezension-david-de-jong-braunes-erbe-18160145.html

Pandemie-Profiteure: Steuergeld-Verschwendung als Systemzwang?

Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) ermittelt zurzeit die Staatsanwaltschaft Berlin gegen einen hohen Beamten im Gesundheitsministerium wegen überzogen teurer Maskenbestellungen bei der Schweizer Handelsfirma Emix. Der Beamte wird verdächtigt, im April 2020 mit dem Kauf von 100 Millionen Corona-Schutzmasken zum Preis von 540 Millionen Euro Steuergeld veruntreut zu haben. Es handelt sich um eine Führungskraft, die offensichtlich zu den Vertrauten von Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zählte „und dem auch der neue Minister Karl Lauterbach (SPD) vertraut“, so die SZ. 

Bereits drei Wochen zuvor, im März 2020, hatte der Beamte laut tagesschau.de unter anderem 32 Millionen Masken zum Stückpreis von 5,95 Euro bei Emix gekauft. Emix selbst soll nach Schätzungen der ebenfalls ermittelnden Staatsanwaltschaft München mit den Lieferungen nach Deutschland insgesamt 300 Millionen Euro Gewinn gemacht haben. Vermittelt wurden die Geschäfte von Andrea Tandler, Tochter des ehemaligen CSU-Generalsekretärs Georg Tandler sowie Monika Hohlmeier, Tochter des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU). Tandler und einer ihrer Partner sollen dafür von Emix 48 Millionen Euro Provision erhalten haben: „Die Provision war wegen der hohen Maskenpreise und großen Liefermengen so üppig ausgefallen.“ (SZ) Nach Auffassung des Beamten im Gesundheitsministerium waren die Deals in Ordnung. Das Ministerium habe in der damaligen Notlage, beim Kampf gegen das Virus in Altenheimen und Kliniken, gar nicht anders handeln können.

Die SZ misst dem Verfahren grundsätzliche Bedeutung bei mit weitreichende Folgen:

„Erstmals untersucht eine Staatsanwaltschaft in einem großen Corona-Fall, wie weit der Staat in einer großen Krise seine Kasse öffnen darf. Wo endet die staatliche Notwehr? Und wo beginnt eine gesetzeswidrige Steuergeldverschwendung, weil Behörden und Ministerien das Geld der Bürgerinnen und Bürger Geschäftemachern gleichsam hinterherwerfen oder anderweitig mehr als leichtfertig ausgeben?“

Zur Zeit des Vertragsabschlusses im April 2020, glaubt die Staatsanwaltschaft Berlin, war jedenfalls die Notlage bei den Masken längst nicht mehr so groß gewesen wie in den Wochen zuvor, kurz nach Beginn der Pandemie. So stellt ein Corona-Lagebericht des bayerischen Gesundheitsministeriums vom 9. April 2020 fest, dass die Preise für persönliche Schutzausrüstung wieder fallen würden, da das Marktgeschehen wieder in Gang komme. Deshalb müsse wieder mehr auf Qualität und Preis geachtet werden. Nichtdestotrotz, so SZ und tagesschau.de, habe das Gesundheitsministerium zwei Wochen später bei Emix 100 Millionen Masken für 540 Millionen Euro geordert. Mittels eines Vertrages, den der damalige Minister Spahn selbst genehmigte.

Die aktuelle juristische Aufarbeitung von Makendeals verdient auch Aufmerksamkeit, da rechtliche Bewertungen in der jüngsten Vergangenheit negativ überraschten. So sah der Bundesgerichtshof (BGH) im Juli 2022 in einer Maskenaffäre den Vorwurf der Bestechlichkeit gegen zwei ehemalige CSU-Abgeordnete als nicht erfüllt an. Der langjährige Landtagsabgeordnete Alfred Sauter und Georg Nüßlein, der für die CSU im Bundestag saß, hatten üppige Provisionen für die Vermittlung von Masken erhalten. Dass sich Mandatsträger bei außerparlamentarischen Betätigungen auf ihren Status berufen, um im Interesse eines Privatunternehmers Behördenentscheidungen zu beeinflussen, erfülle den Tatbestand der Bestechlichkeit nicht, hatte der BGH entschieden (vgl. Handelsblatt).

Quellen:

Markus Grill (WDR/NDR): „Ermittlungen im Gesundheitsministerium“, 14. Oktober 2022

tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/corona-masken-emix-101.html

Markus Grill/Klaus Ott: „Tatverdacht Verschwendung“, Süddeutsche Zeitung vom 15./16. Oktober 2022

„Maskendeals der CSU-Politiker – laut BGH nicht illegal“ , Handelsblatt (Online) vom 12. Juli 2022