Wirtschaft läuft Sturm gegen Lieferkettengesetz

Die Bundesregierung erwartet offiziell von deutschen Unternehmen, dass sie Menschenrechts- und Sozialstandards auch bei ihren Zulieferern im Ausland in den Blick nehmen. Einmal mehr zeigt sich jedoch: Das Prinzip der Freiwilligkeit funktioniert nicht.

Im Dezember 2016 hatte die Bundesregierung dazu ihren „Nationalen Aktionsplan“ (NAP) verabschiedet. Dieser soll die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte aus dem Jahr 2011 umsetzen. Unter anderem wird dort die unternehmerische Verantwortung für Menschenrechte in globalen Lieferketten definiert. Das Ziel des geplanten Gesetzes ist, deutsche Unternehmen dafür in die Pflicht nehmen, dass ihre Lieferanten im Ausland soziale und ökologische Mindeststandards einhalten. Ausgelöst wurde die Initiative durch die Brandkatastrophe in der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch im Jahr 2013, bei der über 1.100 Arbeiter*innen ums Leben kamen. Hungerlöhne, Kinderarbeit und fehlende Sicherheitsstandards in Fabriken entlang der Lieferketten sollen so unterbunden werden.

Der NAP sieht vor, dass „weitergehende Schritte bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen“ durchgeführt werden, wenn weniger als die Hälfte der großen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten bis 2020 der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nachkommen. Die deutsche Regierung hat bislang auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen gesetzt und zur Überprüfung ein Monitoring eingerichtet.  Nach dpa-Informationen, so schreibt das Magazin Wirtschaftswoche, erfüllen die deutschen Unternehmen die an sie gesetzten Anforderungen aber nach wie vor nicht. Das sei das Ergebnis einer am 14. Juli veröffentlichten zweiten Fragerunde, die die Regierung unter großen Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten organisiert hatte. 2.250 Unternehmen waren demnach befragt worden. Davon antworteten nur 455. Die Gruppe der „Erfüller“ hat sich im Vergleich zu 2019 in ihrer Größenordnung offensichtlich nicht maßgeblich verändert. Im vergangenen Jahr hatten nur etwa 20 Prozent der Unternehmen die Vorgaben erfüllt, das heißt Vorkehrungen dafür getroffen, dass ihre Geschäftspartner die jeweils geltenden Umwelt- und Sozialstandards einhalten.

Da das geplante Lieferkettengesetz nun wahrscheinlicher wird, laufen die Spitzenverbände der Wirtschaft gegen das Vorhaben „Sturm“, wie die Wirtschaftswoche mit Bezug auf die dpa schreibt. Die Lobbyvertreter befürchten, das Gesetz gehe zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Firmen. Auch unter Verweis auf die Coronakrise müssten „nationale Sonderwege mit nationalen Belastungen“ vermieden werden. Nach einem Statement Steffen Kampeters von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) verhalte sich die deutsche Wirtschaft bei ihren Aktivitäten im Ausland vorbildlich und fühle sich auch dort den Menschenrechten verpflichtet. Problematisch sei aber, wenn Unternehmen für Missstände aufkommen müssten, die auf Dritte zurückzuführen seien und nicht in ihrem eigenen Verschulden lägen.

Unterstützung erhält die Kapitallobby von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Auf dessen Betreiben hin wurde offenbar schon der Fragebogen entschärft. In einer Pressemitteilung der von zahlreichen NGOs getragenen „Initiative Lieferkettengesetz“ vom 14. Juli 2020 heißt es:

„Die Wirtschaftsverbände haben durch massive Lobbyarbeit in Wirtschaftsministerium und Kanzleramt die Methodik der Befragung schon im Vorfeld völlig verwässert. Trotz der niedrigen Anforderungen der Befragung schaffen es nur 22 Prozent der Unternehmen, diese zu erfüllen. Dieses Ergebnis ist ein Offenbarungseid und zeigt den Stellenwert, den Menschenrechte bei den meisten deutschen Unternehmen haben. Die Bundesregierung muss nun ihrem Versprechen aus dem Koalitionsvertrag nachkommen und noch in dieser Legislaturperiode für ein nationales Lieferkettengesetz sorgen.“

Die Initiative hat im Juli 2020 ein „Briefing“ zum Thema veröffentlicht:

„Verwässern – Verzögern – Verhindern: Wirtschaftslobby gegen Menschenrechte und Umweltstandards“

(https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/2020/07/Initiative-Lieferkettengesetz-Briefing-Wirtschaftslobby-gegen-Menschenrechte.pdf)

 

 

 

Quellen:

 

 

„Sorgfalt in Lieferketten: Deutsche Unternehmen erfüllen Anforderungen nicht“, Wirtschaftswoche vom 14. Juli 2020 (Online)

 

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/menschenrechte-sorgfalt-in-lieferketten-deutsche-unternehmen-erfuellen-anforderungen-nicht/26002886.html

 

 

Ralf Wurzbacher: „Freiheit für Ausbeuter“, junge welt vom 14. Juli 2020

 

https://www.jungewelt.de/artikel/382168.wrtschaft-gegen-menschenrechte-freiheit-f%C3%BCr-ausbeuter.html

 

 

„Initiative Lieferkettengesetz“: „‚Ergebnis ist ein Offenbarungseid‘: Stellungnahme der Initiative Lieferkettengesetz zur Menschenrechts-Befragung deutscher Unternehmen“, Pressestatement vom 14. Juli 2020

 

Presse

 

Die staatliche Finanzaufsicht unter Beschuss. Eine Medienschau zum Wirecard-Skandal

Der Name Wirecard steht für den größten Bilanzskandal der jüngeren deutschen Geschichte. Denn bei dem Dax-Unternehmen fehlen 1,9 Milliarden Euro, die in der Bilanz ausgewiesen sind. Immerhin 25 Prozent der Bilanzsumme sind damit entweder verschwunden oder aber haben nie existiert. Über Unregelmäßigkeiten bei dem Zahlungsdienstleister berichteten Medien allerdings schon seit Jahren. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)* blieb jedoch lange Zeit untätig. Mittlerweile hat Wirecard als erster DAX-Konzern Insolvenz anmelden müssen. Das Unternehmen war im Herbst 2018 in den wichtigsten deutschen Aktienindex aufgenommen worden – sein Wert betrug damals mehr als 20 Milliarden Euro.

Das offensichtliche Versagen der staatlichen Finanzaufsicht, die den mutmaßlich gigantischen Schwindel und damit den auf Betrug basierenden Aufstieg von Wirecard nicht verhinderte, wird in der Presse ausführlich kommentiert.

Marc Beise zeigt in der Süddeutschen Zeitung ein gewisses Verständnis für die Defizite der Finanzaufsicht. Es gelte genau zu ergründen, warum der große Wirecard-Betrug soweit getragen habe, ehe er aufgedeckt werden konnte. Auch bei den Zockereien der Banken, die zur Finanzkrise 2008 führten, sei diese Frage nachträglich gestellt worden. Die Antwort lautete damals: Behörden, Politik und Öffentlichkeit hätten angesichts eines komplizierten, aber zunächst erfolgreichen Geschäftsmodells nicht alles verstanden und deshalb nicht genau genug hingesehen. Dieses Muster würde sich nun wiederholen: Dass die Wirtschaftsprüfer über Jahre Bilanzen durchwinkten, die Finanzaufsicht sich zurückhielt und die sogenannte Bilanzpolizei mit nur kleinstem Aufwand prüfte. All das sei nicht zu entschuldigen, wohl aber zu erklären. Und zwar damit, dass man das Geschäftsmodell nur erahnte und sich die sich potenzierende kriminelle Energie nicht vorzustellen vermochte. (Marc Beise: „Wie konnte das passieren?“, Süddeutsche Zeitung vom 3. Juli 2020)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kommentar-wie-konnte-das-passieren-1.4955909

Ähnlich sieht es sein Kollege Klaus Ott, ebenfalls von der Süddeutschen Zeitung. Dieser verweist auf fehlendes Verständnisvermögen der Behörden. Es sei bezeichnend, dass zuerst Ermittler Firmen durchsuchten und Haftbefehle erwirkten ‒ und dann erst die Politik „daher hinkt“. Das sei bei anderen Skandalen auch so gewesen. Beispielsweise bei den Abgasmanipulationen von VW, die nicht vom Kraftfahrt-Bundesamt, sondern von US-Behörden entdeckt worden seien. Oder beim Cum-Ex-Steuerskandal. Ott verweist in diesem Zusammenhang auf die Finanzkrise 2007/8, als zahlreiche Großbanken sich verspekuliert hatten und vom deutschen Staat gerettet werden mussten, um noch größeren Schaden für das Finanzsystem und die Gesellschaft abzuwenden: „Staatsanwaltschaft und Justiz werden notgedrungen zum Reparaturbetrieb der Politik“. Wie Ott weiter schreibt, hätte der wissenschaftliche Dienst des Bundestags im Jahr 2009 als eine Ursache für die Bankenkrise die „mangelnde Übersicht der Behörden“ über das Zusammenspiel von Finanzakteuren ausgemacht. Spekulanten in Großbanken konnten dadurch solange auf einen unendlichen Immobilienboom und steigende Preise setzen, bis die Blase geplatzt war. „Aufsichtsbehörden, die keinen Durchblick haben, was windige Finanzakrobaten treiben ‒ das ist die Linie von der Bankenkrise über Cum-Ex bis Wirecard. Und es gibt eine Linie bei den politischen Verantwortlichen ‒ von Peer Steinbrück über Wolfgang Schäuble bis Olaf Scholz.“ (Klaus Ott: „Der Wirecard-Skandal ist eine Pleite für alle“, Süddeutsche Zeitung vom 25. Juni 2020)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirecard-insolvenz-kommentar-1.4947377www.sz.de/1.4947377

Fabio de Masi, Finanzexperte der Linksfraktion im Bundestag, vermutet hingegen, dass die BaFin im Interesse des Standortes Deutschland agierte. In einem Interview im Neuen Deutschland geht der Politiker davon aus, dass die Bafin neben der Aufsicht über die Finanzunternehmen auch den Finanzplatz Deutschland pflegen will. Man sei ja stolz darauf gewesen, dass Wirecard als ein ehemaliges Schmuddelkind der Branche, das in der Zahlungsabwicklung für die Porno- und Onlinewetten-Industrie groß geworden sei, auf einmal weltweit in der ersten Liga der Fintechs mitspielen konnte. Solche Firmen werteten zum Beispiel große Mengen an Finanzdaten aus, um mittels Künstlicher Intelligenz Ausfallrisiken zu ermitteln. Je größer die Datenmacht und die Umsätze seien, desto besser würden sich Zahlungsausfälle verkraften lassen. Das Ziel von Wirecard sei daher gewesen, um jeden Preis zu wachsen. In dem Zusammenhang habe man wohl auch Umsätze vorgetäuscht. Vielleicht hätte die Bafin nicht zu viel Staub aufwirbeln wollen, um den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens nicht zu gefährden. Auch dass die Bafin ein Aufsichtsproblem habe, sei schon lange bekannt und müsse den Minister interessieren. Das habe auch der Cum-Ex-Skandal gezeigt, wo es um die Erstattung nicht gezahlter Kapitalertragsteuern ging. Die Finanzaufsicht habe immer wieder beim Schutz der Verbraucher vor betrügerischen Anlageprodukten versagt. (Kurt Stenger: „Wenn der Finanzpolizist schläft“, Neues Deutschland vom 29. Juni 2020)

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138453.wirecard-wenn-der-finanzpolizist-schlaeft.html?sstr=bafin

Auch Jörg Kronauer von der jungen Welt setzt voraus, dass die Aufsichtsbehörde Wirecard schützen und daher nicht gegen sie vorgehen wollte. Die Bafin habe inzwischen eingeräumt, dass sie schon im Januar 2019 von einem Insider über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard informiert worden sei – genau zu der Zeit, zu der auch die Financial Times detailliert über die Geschäftspraktiken des Konzerns berichtete. Die Bafin sei tatsächlich auch eingeschritten: Sie hätte Wirecard mit dem Verbot von sogenannten Leerverkäufen geschützt und Anzeige gegen einen Journalisten der Financial Times erstattet. Zu Schritten gegen die deutsche Firma dagegen hätte sie sich nicht veranlasst gesehen. Kronauer stellt fest, dass Wirecard bis vor kurzem nicht nur als eine der erfolgreichsten hiesigen Unternehmensgründungen galt, sondern zudem neben der in die Jahre gekommenen SAP die einzige Aktiengesellschaft in Deutschland gewesen sei, die sich Hoffnungen hätte machen können, in der immer wichtigeren Sparte der Internet- und IT-Konzerne in die Weltspitze vorzustoßen. „Sie gab dem Ansehen des Finanzplatzes Deutschland Auftrieb, dessen Traditionsfirmen – Deutsche Bank, Commerzbank – international nicht eben glänzen. Am Lack von Wirecard zu kratzen, das hätte dem Finanzplatzimage natürlich geschadet. Jetzt ist es ruiniert.“ (Jörg Kronauer: „Der Lack ist ab“, junge Welt vom 29. Juni 2020)

https://www.jungewelt.de/artikel/381130.crash-der-lack-ist-ab.html?sstr=lack

Die gleiche Stoßrichtung verfolgt die Internetzeitung German Foreign Policy, indem sie betont, dass die Aufsichtsbehörde eine umfassende Untersuchung der Wirecard-Praktiken unterließ, um die Position des Finanzplatzes Deutschland nicht zu gefährden. Wirecard Deutschland schien sich die Chance zu bieten, im Schnittfeld der Finanz- und der Digitalbranche zur Weltspitze aufzuschließen. Nachdem Journalisten Anfang 2019 Unregelmäßigkeiten im Südostasiengeschäft des Unternehmens aufdeckten, hätten zwar die Behörden in Singapur, dem Regionalstandort der Firma, umfassende Ermittlungen aufgenommen, nicht jedoch die zuständigen deutschen Stellen. Vielmehr sei ein recherchierender Journalist von der Finanzaufsicht BaFin angezeigt und Wirecard mit dem raschen Verbot von „Leerverkäufen“ unter die Arme gegriffen worden. Wirecard würde zwar nur über eine eher kleine Bank verfügen, dafür aber dem Anschein nach alle sonstigen Voraussetzungen haben, mit der Abwicklung von Kartenzahlungen auf dem Fintech-Sektor in die Weltspitze vorzustoßen.

Andernorts sei dagegen etwas gegen Wirecard unternommen worden. Besonders intensiv hätte die Londoner Financial Times recherchiert und bereits Anfang 2019 mehrere kritische Berichte über die Praktiken des Unternehmens publiziert. Dabei sei es unter anderem um offenbar vorgetäuschte Umsätze im Konzerngeschäft in Singapur gegangen. Die Behörden des südostasiatischen Stadtstaats hätten daraufhin Wirecard aufs Korn genommen und im Februar vergangenen Jahres eine Hausdurchsuchung in den dortigen Räumlichkeiten der Firma durchgeführt. Die deutschen Behörden reagierten hingegen ganz anders auf die Vorwürfe gegen Wirecard. Die BaFin schaltete im Februar 2019 zunächst die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) ein, um sie mit einer umfassenden Überprüfung der Konzernbilanz zu beauftragen. Die Überprüfung sei bis heute nicht abgeschlossen. Nicht weiter überraschend, denn die DPR, so die Internetzeitung, habe dafür ‒ wie bei ihr üblich ‒ nur einen einzigen Mitarbeiter abgestellt. Und dies, obwohl die Wirecard-Bilanz unter Experten als extrem undurchsichtig gelte. Demgegenüber habe die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG später für eine Sonderprüfung bei Wirecard 40 Mitarbeiter eingesetzt. Wirecard selbst sei in Deutschland also ‒ anders als in Singapur ‒ ohne ernsthafte behördliche Ermittlungen davongekommen. („Der Fall Wirecard“, Foreign German Policy, 2. Juli 2020)

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8322/

Die Behauptung, der – auch betrügerische – Erfolg eines Unternehmens wie Wirecard läge durchaus im Interesse des Staates und seiner Aufsichtsbehörden selbst, erscheint plausibel angesichts der umfangreichen Steuerzahlungen des Konzerns. Christian Schnell beschreibt im Handelsblatt, wie der Fiskus bisher von Wirecard profitiert habe. Das Unternehmen sei über viele Jahre ein willkommener Steuerzahler gewesen.  297,2 Millionen Euro habe der Konzern nach Berechnungen des Handelsblatts seit dem Jahre 2001 an die Steuerbehörden überwiesen. Das Geld sei in Gestalt von Lohn- und Einkommensteuern, Kapitalertrags-, Körperschafts- und Gewerbesteuern an den Bund, den Freistaat Bayern und die Gemeinde Aschheim, wo sich die Firmenzentrale befindet, geflossen. Die Ausgangslage dafür sei eindeutig: Laut Gesetz bilde das wirtschaftliche Ergebnis die Grundlage jeder Unternehmensbesteuerung. Wenn das wirtschaftliche Ergebnis viel zu hoch in der Steuererklärung angesetzt war, seien Steuern für Gewinne gezahlt worden, die es gar nicht gab. „Und der Staat wäre womöglich Profiteur einer Scheinwelt“, so Schnell, „die so nur auf dem Papier existiert hat.“ Dass Steuereinnahmen, auch wenn sie auf falschen Gewinnannahmen basierten, jemals zurückerstattet würden, sei unwahrscheinlich. (Christian Schnell: „Fiskus profitierte von Wirecard – Anleger bleiben wohl auf Verlusten sitzen“, Handelsblatt vom 2. Juli 2020)

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/trotz-insolvenz-fiskus-profitierte-von-wirecard-anleger-bleiben-wohl-auf-verlusten-sitzen/25970110.html?ticket=ST-9776811-Rdzrkaeugt6A9bifwmgJ-ap4

Die Taz-Autorin Anja Krüger erkennt in der Verfilzung der verschiedenen Branchen und in der beruflichen Biografie des BaFin-Chefs Hufeld einen Grund für das passive Verhalten der Behörde. Hufeld verkörpere das Problem der deutschen Finanzaufsicht, da er zu wenig Distanz zu den Branchen habe, die er überwachen solle. Das habe Folgen für die Kontrolle, denn die Unternehmen bekämen von der Aufsicht einen Vertrauensvorschuss, den sie nicht verdient hätten. Die Autorin beschreibt die berufliche Laufbahn des BaFin-Chefs: „Hufeld begann seine Karriere bei einem Unternehmensberater. Später war er Deutschland-Chef bei Marsh, einem der größten Versicherungsmakler der Welt. In dieser Funktion hatte er geschäftlich viel mit den wichtigsten Managern der deutschen Assekuranz zu tun – die er später kontrollieren sollte. Denn nach einer kurzen Episode bei Finanzunternehmen wurde der Vater zweier Kinder Exekutivdirektor der Versicherungsaufsicht bei der BaFin. Seit März 2015 ist er Präsident der BaFin.“ (Anja Krüger: „BaFin-Chef kämpft um seinen Job“, Taz vom 1. Juli 2020)

https://taz.de/Versagen-der-Finanzaufsicht-bei-Wirecard/!5693367/

Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende e.V., verweist in der Frankfurter Rundschau auf einen grundsätzlichen Interessenkonflikt in der Branche der Wirtschaftsprüfer. Die Bafin habe bereits bei früheren Skandalen gezeigt, dass sie zu mutlos, langsam und formal agiere und für eine Bekämpfung von Finanzkriminalität völlig falsch aufgestellt sei. Als ein Beispiel führt Schick die kriminellen Cum-ex-Geschäfte an, an denen eine Vielzahl von Banken und Fonds in Deutschland beteiligt gewesen sind. Die Finanzaufsicht hätte sich nicht zuständig gefühlt. Auch bei der Pleite der Firma P&R, die Anlagen in Schiffscontainer vermittelte, die teilweise gar nicht vorhanden waren, hätte die Aufsicht trotz vorliegender Hinweise nicht durchgegriffen. Schon bei der Bankenkrise 2008 seien die Wirtschaftsprüfer in die Kritik geraten. Die von der EU-Kommission anschließend geplante Reform des Prüferwesens sei jedoch insbesondere von den vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften fast komplett ausgebremst worden. Der Autor wundert sich nicht darüber, dass dieselben schon vor zwölf Jahren thematisierten Probleme bei Wirecard wieder sichtbar würden. Zentral sei etwa der Interessenkonflikt, der daraus resultiert, dass Prüfungsunternehmen auch Beratungsleistungen anbieten dürfen: „Wer legt sich schon gern mit potenziellen Kunden an? Die verhinderte Reform muss deshalb schleunigst nachgeholt werden.“ (Gerhard Schick: „Wirecard: Das Versagen der Aufsicht“, Frankfurter Rundschau vom 2. Juli 2020)

https://www.fr.de/wirtschaft/gastwirtschaft/versagen-aufsicht-13819427.html

Hendrik Zörner vom Deutschen Journalistenverband (DJV) spekuliert im Deutschlandfunk über die Gründe, die die BaFin bewogen haben, juristisch gegen die Financial Times vorzugehen. Nachdem diese zuvor massive Unregelmäßigkeiten bei dem Finanzdienstleister aufgedeckt hatte, stand Wirecard vor dem Aus. Nach Zörner habe das Blatt seine Kompetenzen dabei jedoch nicht überschritten. Dass die Financial Times sich bei ihrer Berichterstattung hätte Fehler zu Schulden kommen lassen, kann Hendrik Zörner nicht erkennen. Die Zeitung habe sehr sorgfältig und sehr lange recherchiert. Zörner vermutet gegenüber dem Deutschlandfunk, dass die Bafin gegenüber dem Journalisten, der alles ins Rollen gebracht hat „den dicken Maxen“ zu machen versuche. Er könne sich allerdings nicht vorstellen, dass es wirklich zu einem Verfahren komme, an dessen Ende die Financial Times verurteilt würde.

(„Von der Presse in den Ruin geschrieben? Hendrik Zörner im Gespräch mit Ute Welty“, Interview im Deutschlandfunk Kultur vom 1. Juli 2020)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/wirecard-von-der-presse-in-den-ruin-geschrieben.1008.de.html?dram:article_id=479649

Thomas Magenheim-Hörmann erläutert in der Frankfurter Rundschau, wie das „Systemversagen“ der Finanzaufsicht offenbar zielgerichtet organisiert wurde. Gegen die Wirecard-Wirtschaftsprüfer EY (Ernst & Young) sowie die Ratingagentur Moody’s seien Schadenersatzklagen auf den Weg gebracht worden oder in Vorbereitung. Aber auch der Bafin drohe Ärger, obwohl sie gesetzlich eigentlich von Haftung ausgenommen sei.

Dies könne europarechtswidrig sein, wie der Berliner Anlegeranwalt Marc Liebscher zitiert wird: „Wir sind von internationalen Investoren beauftragt worden, Staatshaftungsklage zu prüfen“, erklärt der Anwalt. Wenn man diese dann vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bringe, könne dort der Haftungsausschluss kippen. Liebscher meinte gegenüber der Frankfurter Rundschau: „Die Aufsicht wurde so organisiert, dass sie scheitern musste.“ Magenheim-Hörmann meint, dass man das so sehen könne. Bei Gründung der Bafin im Jahr 2002 sei etwa die Digitalisierung der Finanzwirtschaft kaum berücksichtigt worden. Die Bafin sei nur für die Prüfung der Wirecard Bank und nicht des Gesamtkonzerns zuständig, habe sich Bafin-Chef Felix Hufeld vor dem Finanzausschuss des Bundestags verteidigt. Im Einvernehmen mit Bundesbank und Europäischer Zentralbank (EZB) sei Wirecard als technologiegetriebenen Konzern und nicht als Finanzholding eingestuft worden. Bei Letzterem hätten volle Kontrollmöglichkeiten bestanden, bei Ersterem nur solche über die Wirecard-Bank. Die mutmaßlich kriminellen Machenschaften aber hätte es abseits der Bank gegeben. Somit wäre die Deutsche Prüfungsstelle für Rechnungslegung (DPR), der die Bafin Anfang 2019 einen Prüfauftrag zu Wirecard erteilt hatte, aufsichtsrechtlich für die Konzernbilanzen zuständig gewesen. „Die DPR“, so der Autor, „gilt als chronisch unterbesetzt. Ihre Mittel und Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Gut ein Jahr nach Prüfauftrag an die DPR liegt noch kein Ergebnis vor.“ Nach Angaben des BaFin-Chefs Hufeld würde die DPR im Schnitt 13,5 Monate für eine Prüfung benötigen. (Thomas Magenheim-Hörmann: „Der Totalausfall der Bafin muss Konsequenzen haben“, Frankfurter Rundschau vom 3. Juli 2020)

https://www.fr.de/wirtschaft/totalausfall-bafin-muss-konsequenzen-haben-13821027.html

Antonia Mannweiler verweist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ebenfalls auf das Problem der Zuständigkeit bei Unternehmen, die sowohl als Finanz- als auch als Technologieunternnehmen firmieren. „Wenn es sogar einem Dax-Konzern wie Wirecard gelingt, die Behörden hinters Licht zu führen, wie steht es dann um die Regulierung der vielen anderen jungen, aufstrebenden Finanz-Start-ups?“, fragt die Autorin. Vor drei Jahren habe die Europäische Bankenaufsicht (EBA) die Regulierung des Fintech**-Marktes untersucht und sei zu dem Schluss gekommen, dass 31 Prozent aller Fintechs weder einer EU-weiten noch einer nationalen Regulierung unterliegen, das heißt gar nicht reguliert würden. Nach Christina Bannier, Professorin für Banking and Finance an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, bestehe ein Problem der Kontrolle von Fintechs darin, dass nur ein kleiner Teil ‚Fin‘, der größere aber ‚Tech‘ sei, weil das Finanzgeschäft letztlich eine untergeordnete Rolle spiele. Sally Sfeir Tait, Chefin des Reg-Techs Regulaition in London, ginge davon aus, dass sich viele Fintechs eher als Tech-Unternehmen sähen denn als Finanzinstitute. „Viel wichtiger sind aus Banniers Sicht aber die Dienstleistungen, die die Fintechs anbieten. Die Schwierigkeit bei der Regulierung der jungen Unternehmen liege daher in der Fragestellung, wer eigentlich für sie zuständig sei.“

(Antonia Mannweiler: „Der blinde Fleck der Bafin“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Juli 2020)

https://www.faz.net/aktuell/finanzen/warum-die-bafin-bei-wirecard-einen-blinden-fleck-hatte-16840091.html

Michael Findeisen von der Bürgerbewegung Finanzwende e. V. unterstreicht in einer ausführlichen Analyse, dass die bisherige Arbeitsweise der Aufsichtsbehörde der komplexen Firmenstruktur von Wirecard nicht gerecht wurde und deshalb viele „blinde Flecken“ aufgewiesen habe. Die Unternehmensstruktur von Wirecard sei keiner laufenden Aufsicht durch die BaFin unterworfen. Diese gelte nur bei der Wirecard Bank AG, einer Tochter der Wirecard AG. Eine Gesamtschau der Aufsicht auf das Unternehmen und eine Gruppenaufsicht existiere aufgrund dieses Konstrukts nicht.

„Die BaFin blickt also schon wegen dieser Firmenstruktur durch eine Art Strohhalm auf die Wirecard Bank AG. Die viel größere Wirecard AG hingegen mit ihren (erlaubnisfreien) Teilakten, die sie in der Zahlungsverkehrsabwicklung erbringt, unterliegt lediglich der Wertpapieraufsicht der BaFin und damit qualitativ anderen Regeln.“ Erschwerend komme hinzu, dass auch die Geschäftsaktivitäten der Wirecard Bank AG in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union nicht der Aufsicht unterworfen seien. „Die Aufsicht durch die BaFin war von vielen blinden Flecken geprägt.“ (Michael Findeisen, Bürgerbewegung Finanzwende e. V.: „Der Fall (von) Wirecard – und seine Lehren für die Finanzaufsicht“, 24. Juni 2020)

https://www.finanzwende.de/blog/der-fall-von-wirecard-und-seine-lehren-fuer-die-finanzaufsicht/?L=0

Rolf Nonnenmacher, Vorsitzender der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex – ein Instrument zur Selbstregulierung der Wirtschaft – zieht im Handelsblatt-Interview seine rein marktapologetischen Schlüsse aus dem Fall Wirecard. Die interne Überwachung durch den Aufsichtsrat und die externe Überwachung durch den Markt habe im Fall Wirecard nicht funktioniert. Daher solle nicht eine Behörde oder Institution überwachen, dass die Regeln des Deutschen Corporate Governance Kodex eingehalten würden, sondern der Kapitalmarkt selbst solle es richten. Nonnenmacher: „Wir brauchen eine auf Transparenz beruhende und wirksame Überwachung der Corporate Governance durch den Markt, aber keine Behördenlösung.“ (Dieter Fockenbrock, Tanja Tewes: „Rolf Nonnenmacher: Der Fall Wirecard ist wie ein Brennglas“, Handelsblatt vom 3./4./5. Juli 2020)

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/deutscher-corporate-governance-kodex-rolf-nonnenmacher-der-fall-wirecard-ist-wie-ein-brennglas/25966450.html?ticket=ST-9810355-JgiBcwfegb9EvJsz190o-ap4

* „Die BaFin „ist eine rechtsfähige deutsche Anstalt des öffentlichen Rechts des Bundes mit Sitz in Frankfurt am Main und Bonn. Sie untersteht der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen.

Die BaFin beaufsichtigt und kontrolliert als Finanzmarktaufsichtsbehörde im Rahmen der Finanzaufsicht alle Bereiche des Finanzwesens in Deutschland.“ (Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesanstalt_f%C3%BCr_Finanzdienstleistungsaufsicht)

„Es geht um eine Superbehörde mit 2700 Mitarbeitern, die hierzulande mehr als 1500 Kreditinstitute, 6100 inländische Fonds, 400 Kapitalverwaltungsgesellschaften und rund 550 Versicherer beaufsichtigt. Damit spielt die BaFin eine wichtige Rolle im Leben fast aller Bürger, die schließlich auch Bankkundinnen, Anleger oder Versicherte sind.“ (Bürgerbewegung Finanzwende e.V., https://www.finanzwende.de/themen/finanzaufsicht-bafin/finanzwende-report-die-akte-bafin/?L=0

** „Der Begriff Fintech setzt sich aus den Anfangssilben von Finanzdienstleistungen und Technologie zusammen. Mit Fintech wird die Branche bezeichnet, in der Finanzdienstleistungen mit Technologie verändert werden. Fintechs sind die Unternehmen, die das tun. Fintechs sind häufig Start-ups, aber nicht immer.“

https://finletter.de/fintech-definition/

Alle wollen mehr Transparenz

Wer als Bürger*in wissen will, wer in wessen Auftrag Einfluss auf seine oder ihre Abgeordneten und damit auf die Gesetzgebung oder andere politische Entscheidungen nimmt, ist bislang auf die investigative Recherche von Journalisten oder die aufklärende Arbeit von NGOs angewiesen. Denn bislang weist kein Lobbyregister nach, welche Lobbyisten wann und wie oft Kontakte zur Politik gesucht und gefunden haben. Die Affäre um den CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor hat die schon seit vielen Jahren diskutierte Forderung nach einem Lobbyregister, welches solche Vorgänge nachvollziehbar machen soll, wieder einmal auf die politische Agenda gesetzt.

Amthor hatte für die New Yorker Firma „Augustus Intelligence“ welche nach eigenen Angaben „sichere Lösungen für Künstliche Intelligenz“ an ihre Kunden verkauft, Lobbyarbeit betrieben. In diesem Zusammenhang schrieb er im Herbst 2018 einen Brief an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und bat um politische Unterstützung für das Unternehmen. Im Gegenzug erhielt der Politiker Aktienoptionen sowie einen Direktorenposten in dem Unternehmen.

Nach Pressemeldungen erarbeitet die Große Koalition unter dem Eindruck der vom Magazin Spiegel aufgedeckten Affäre derzeit einen Gesetzentwurf, der nach der Sommerpause vorliegen soll. Vermutlich wird erst Ende September oder Anfang Oktober über diesen Entwurf weiter beraten. Die parlamentarische Opposition wirft den Koalitionsfraktionen deshalb vor, den Gesetzgebungsprozess verzögern zu wollen. Marco Bülow, seit seinem Austritt aus der SPD im November 2018 fraktionsloser Abgeordneter im Bundestag, sieht in der Ankündigung eines Lobbyregisters in erster Linie politisches Kalkül: „Union und SPD wollen die Amthor-Debatte jetzt offensichtlich mit dem Hinweis auf das Lobbyregister schnell runterkochen.“ Timo Lange, Campaigner bei LobbyControl, warnt vor einem „Schmalspur-Lobbyregister“, mit dem man sich aber nicht zufriedengeben werde (taz vom 25. Juni 2020). Er liegt auf gleicher Linie mit Bülow, der meint: „Ich wette übrigens, dass das Lobbyregister eine Lightform sein wird.“ (Neues Deutschland vom 24.  Juni 2020)

Der Abgeordnete Bülow antwortet auf die Frage des taz-Autors Georg Sturm, ob wir angesichts der Tatsache, dass der Bundestag systematisch im Sinne einflussreicher Interessengruppen und Vermögender entscheidet, überhaupt in einer Demokratie leben und wie es um die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Wirtschaft stehe:

„Natürlich leben wir de facto in einer Demokratie. Ich glaube jedoch, dass es immer mehr eine Fassadendemokratie ist. Es gibt Wahlen und Gewaltenteilung. Hinter den Kulissen findet jedoch eine Aushöhlung der Demokratie statt. Die Menschen dürfen alle vier, fünf Jahre wählen. Das halte ich nicht für einen großen demokratischen Akt, vor allem in einem Staat, in dem so viel Lobbying betrieben wird und die Menschen sonst von politischer Teilhabe ausgeschlossen sind. (…) Die Wirtschaft muss ein Instrument dafür sein, dass es den Menschen gut geht, dass sie in einer intakten Umwelt leben und eine zu große Ungleichheit verhindert wird. Eine Demokratisierung der Wirtschaft, aber auch aller Lebensverhältnisse wäre daher unglaublich wichtig. Wir erleben jedoch das Gegenteil, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Nur wenn das umgekehrt wird, kann es eine wirkliche Demokratie geben.“ (ebd.)

Taz-Autor Sturm resümiert die aktuelle Transparenz-Debatte wie folgt: „Auch wenn die Einführung eines Lobbyregisters durch den Amthor-Skandal nun erstmals realistisch erscheint, zeigt der Fall doch auch die sich schon jetzt abzeichnenden Grenzen eines solchen Gesetzes. Amthors Verstrickungen mit der Wirtschaft wäre nämlich auch in einem solchen Lobbyregister nicht angabepflichtig gewesen. Transparenzorganisationen fordern daher weitere Maßnahmen wie die Einführung eines legislativen Fußabdrucks, Einschränkungen und Veröffentlichungspflichten bei Nebentätigkeiten sowie eine Karenzzeitregelung für Abgeordnete und Regierungsmitglieder nach dem Ausscheiden aus der Politik.“

Kritische Stimmen zum Thema wie die angeführten erscheinen mehr als notwendig, da aktuell selbst Superlobbyisten wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sich für die schnelle Einführung eines Lobbyregisters in Deutschland ausgesprochen hat und „maximale Transparenz in der Vertretung von Interessen und Weitergabe von Informationen aus der Wirtschaft an die Politik“ fordert. Es dürfe, so der BDI-Präsident, „kein Eindruck unsauberen Verhaltens entstehen“. (Der Spiegel vom 22. Juni 2020) Der Spiegel berichtet zudem über eine – auf den ersten Blick – überraschende Konstellation, in der sich kürzlich sechs Verbände zu einer Allianz für Lobbytransparenz zusammengeschlossen haben, um einen Appell an die Fraktionen des Bundestags zu richten. Zu den Initiatoren gehören neben Transparency International auch Unternehmensverbände wie der BDI und der Verband der Chemischen Industrie (VCI), aber auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) und der Naturschutzbund Nabu. Danach sorgen sie sich um den Vertrauensverlust in die „Politik“ im Allgemeinen und die Politiker*innen im Besonderen und streben mittels eines Eckpunktepapiers „Transparenz und Chancengleichheit im politischen Interessenwettstreit“ an.

Auch wenn ein Lobbyregister vermutlich nur ein wenig mehr Klarheit über die Verfilzung der Interessen von Wirtschaft und Politik schaffen kann, hilft weichgespülte politische Rhetorik solcher Art sicher nicht weiter. Ganz praktisch fordert deshalb der Verein LobbyControl ein verpflichtendes Lobbyregister mit schärferen Regeln und Offenlegungspflichten.

Wer möchte, kann einen offenen Brief an die Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung, in dem ein „umfassendes Lobbyregister ohne Schlupflöcher“ gefordert wird, unterschreiben:

https://www.lobbycontrol.de/2020/01/lobbyregister-aktion/

 

Quellen:

Georg Sturm: „Mehr Transparenz wagen“, taz vom 25. Juni 2020

https://taz.de/Lobbyregister-fuer-Abgeordnete/!5697092&s=amthor/

Ders.: „In der Fassadendemokratie“, Neues Deutschland vom 24. Juni 2020

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138286.marco-buelow-in-der-fassadendemokratie.html?sstr=amthor

„Industrie fordert schnelle Einführung eines Lobbyregisters“, Der Spiegel vom 22. Juni 2020

https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/industrie-fordert-schnelle-einfuehrung-eines-lobbyregisters-a-3045292f-ca85-490c-aab9-2ffceada8e9f

Gerald Trautvetter: „Jetzt fordern Lobbyisten das Lobbyregister“, Der Spiegel vom 29. Juni 2020

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/folgen-der-affaere-amthor-lobbyisten-fordern-lobbyregister-a-fface995-61c8-4c3c-83db-dfceaae915fb

Annette Sawatzki (LobbyControl): „Amthor: Ein segensreicher Skandal?“, 29. Juni 2020

https://www.lobbycontrol.de/2020/06/amthor-ein-segensreicher-skandal/

 

 

Deutsche Vermögen in Steueroasen

 Die Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke offenbart, welch unfassbaren Geldsummen von deutschen Vermögenden bzw. Superreichen legal und illegal in die wichtigsten Steueroasen der Welt verschoben werden. Darüber berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 24. Juni 2020. Danach haben im Jahr 2018 Bundesbürger*innen insgesamt 180,8 Milliarden Euro auf Konten der britischen Kanalinsel Jersey geparkt. Die Schweiz hat ebenfalls für das Jahr 2018 Kontoeinlagen von Deutschen in Höhe von 133,1 Milliarden Euro gemeldet; Luxemburg meldete 125,8 Milliarden Euro. Insgesamt hatten deutsche Firmen oder Privatpersonen in den vom Finanzministerium aufgelisteten Steueroasen mindestens 591,3 Milliarden Euro auf entsprechenden Konten deponiert.

Die Statistik des Finanzministeriums sagt auch nichts darüber aus, ob das ins Ausland geschaffte Geld legal oder illegal ist. Die zuständigen Finanzämter überprüfen dies erst nach Eingang und Auswertung der Daten.

Die Informationen basieren auf einem sogenannten automatischen Informationsaustausch. Zur Erschwerung der Steuerhinterziehung informieren sich dabei Staaten gegenseitig über Konten, die ausländische Steuerpflichtige bei ihnen unterhalten. Allerdings fehlen laut SZ in der zugänglichen Liste wichtige Steueroasen. Die Cayman Islands und die Bahamas etwa halten die betreffenden statistischen Angaben zu ihren Ländern geheim.

Quellen:

Bastian Brinkmann: „Deutsches Geld liebt Jersey“, Süddeutsche Zeitung vom 24. Juni 2020

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/steueroasen-jersey-schweiz-luxemburg-1.4945206?reduced=true

Simon Zeise: „Geld ins Ausland verschoben“, junge Welt vom 25. Juni 2020

https://www.jungewelt.de/artikel/380917.steuerdeals-geld-ins-ausland-verschoben.html

ders.: „Steuerbetrug mit System“, Junge Welt vom 25. Juni 2020

https://www.jungewelt.de/artikel/380914.steuerbetrug-mit-system.html?sstr=steuerbetrug

„Mehr deutsches Geld in Jersey als in Schweiz oder Liechtenstein“, FAZ vom 24. Juni 2020

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/mehr-deutsches-geld-in-steueroase-jersey-als-in-schweiz-16829786.html#void

Wuchermieten für prekäre Unterkünfte

Gemeinsame Recherchen der Nordwest-Zeitung (NWZ) und des NDR zeigen am Beispiel Oldenburgs, wie Städte und Gemeinden einen sogenannten Grauen Wohnungsmarkt finanzieren, um zu verhindern, dass Menschen auf der Straße landen. Für einkommensarme Menschen wird es bekanntermaßen immer schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deshalb, so der NDR in einer Reportage am 16. Juni 2020, habe sich eine Vermieterszene etabliert, die mit denjenigen ihr Geld verdient, die sonst kaum eine Chance auf dem freien Wohnungsmarkt haben: Drogenabhängige, Menschen mit Mietschulden und vormals Obdachlose.

„Sie werden in nicht selten winzigen Zimmern untergebracht, die überhöhten Mieten zahlt das Sozialamt direkt an die Vermieter. Gleichzeitig fehlt es offenbar an Kontrollen: Manche der Mieter wohnen in menschenunwürdigen Verhältnissen“, heißt es dort. Vermieter bieten danach einzelne Zimmer in Gebäuden an, die sich in einem hygienisch oder baulich unzumutbaren Zustand befinden. Die NWZ ergänzt:

„In vielen Fällen entsprechen die in den Verträgen angegebenen Zimmergrößen nicht der tatsächlichen Größe der Wohnräume, die selten 15 Quadratmeter überschreiten. Kostenpunkt: Zwischen 300 und 580 Euro pro Monat.“ Der Trick der Vermieter: Sie lassen sich sogenannte Beherbergungsverträge unterschreiben, die Mieter*innen ihrer Rechte berauben. Diese gelten nur als „Gäste“ und können jederzeit vor die Tür gesetzt werden.

Das Problem ist seit Jahren Politik und Behörden bekannt. Neu ist aber, dass sich der Graue Wohnungsmarkt auch in einer Stadt wie Oldenburg mit knapp 170.000 Einwohnern von einer Randerscheinung hin zu einem nicht mehr übersehbaren Problem entwickelt hat. Mittlerweile werden dort nicht weniger als etwa 20 prekäre Häuser mit 150 bis 300 Bewohnern angeboten.

„In einigen prekären Gemeinschaftsunterkünften leben bis zu 20 Personen Tür an Tür. Sie müssen sich Bad und Küche in fragwürdigem Zustand teilen. Das ist nicht ihr einziges Problem, denn die Vermieter lassen sich juristisch fragwürdige Verträge unterschreiben, die eher von Hotels und Pensionen genutzt werden. Mieterrechte wie Kündigungsschutz bleiben dabei häufig außen vor. Das System bewegt sich im Graubereich der Legalität, so Experten. Daher sei es schwierig, juristisch gegen die Vermieter vorzugehen. Der Verwaltung der Stadt Oldenburg sind die Probleme schon lange bekannt. Sie versucht nun mit einer Deckelung der Quadratmeter-Preise auf 13,50 Euro, der Lage Herr zu werden.“ (NWZ, 16. Juni 2020)

Mittels der Beherbergungsverträge sollen, so eine Vertreterin des Deutschen Mieterbundes gegenüber dem NDR, rechtliche Regelungen wie die Mietpreisbremse ausgehebelt werden. Das sei rechtlich fragwürdig, so die Juristin betont zurückhaltend.

Quellen:

Christian Ahlers, Wolfgang Alexander Meyer: „Grauer Wohnungsmarkt: Mietabzocke in Oldenburg“, NWZonline, 16. Juni 2020

https://www.nwzonline.de/wirtschaft/oldenburg-grauer-wohnungsmarkt-mietabzocke-in-oldenburg_a_50,8,2765115217.html

 

Lea Busch, Peter Hornung, Tobias Zwior: „Oldenburg: Geschäft mit Wohnungsnot der Verzweifelten“, Panorama 3, 16. Juni 2020

https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Oldenburg-Geschaeft-mit-Wohnungsnot-der-Verzweifelten,oldenburg1734.html

Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitswirtschaft

Die Corona-Pandemie hat ins Bewusstsein gerückt, welche Folgen die zunehmende Ökonomisierung und Privatisierung im Gesundheitswesen mit sich bringt. Das fing schon bei den fehlenden Vorräten von Masken, Schutzkleidung und anderen Hilfsmitteln an. Der Normalbetrieb in den Krankenhäusern musste unterbrochen werden, weil es an genügend Reserven beim Personal und bei der intensivmedizinischen Ausrüstung mangelte. Die unter dem Diktat einer Kostensenkung getätigten Sparmaßnahmen machten sich so schlagend bemerkbar.

Ein guter Grund also, um gegen die Verwandlung des eigentlich auf das Gemeinwohl und die bestmögliche Versorgung von Kranken verpflichteten Gesundheitswesens in eine gewinnorientierte Gesundheitswirtschaft Einspruch zu erheben, die Rücknahme der Privatisierung von Krankenhäusern zu fordern, sich für eine bessere Bezahlung und erträglichere Arbeitsverhältnisse für Pflegekräfte einzusetzen. Das geschah und geschieht auch.

Dabei könnten die schon seit Jahren veröffentlichten kritischen Berichte und Streitschriften zur Misere im Gesundheitssystem und zu den Praktiken der Pharmakonzerne für die Aufklärung nützlich sein und reale Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Zwei von ihnen sollen hier vorgestellt werden.

Peter Christian Gøtzsche ist ein dänischer Facharzt für Innere Medizin, der viele Jahre klinische Studien für Pharmaunternehmen erstellte. Seit 2010 hat er eine Professur für klinisches Forschungsdesign und Analyse an der Universität Kopenhagen. In seinem 2019 neu aufgelegten Buch „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert“ rechnet er schonungslos mit Fehlentwicklungen und wirtschaftskriminellen Verflechtungen bei der Herstellung von Heilmitteln ab.

Gøtzsche zitiert einen ehemaligen Marketingdirektor der Firma Pfizer, der die Pharmaindustrie mit der Mafia vergleicht. In den USA übertreffe sie, was die Zahl der Straftaten betrifft, alle anderen Branchen. Sie begehe mehr als dreimal so viele schwere oder mittelschwere Gesetzesverstöße wie andere Unternehmen. Auch wenn es um Bestechung und Korruption oder gefährliche Fahrlässigkeit bei der Produktion von Medikamenten geht, seien die Pharmakonzerne Rekordhalter. Alle, die für ihren Verkaufserfolg wichtig sind, würden mit Vorteilen bedacht: Ärzte, Krankenhausverwalter, Beamte in den einschlägigen Behörden, Hochschullehrer, Minister, politische Parteien.

Im Unterschied zu anderen Waren ist der Gebrauchswert, der Nutzen von Medikamenten für diejenigen, die sie konsumieren, weil sie ihnen verordnet wurden, in den meisten Fällen nur unzureichend zu beurteilen. Das gilt besonders auch für die Nebenwirkungen. Die Patienten müssen sich hier auf ihre Ärzte verlassen – und die müssen sich letzten Endes auf die Fachleute verlassen, die diese Medikamente entwickelt, in klinischen Studien erprobt und schließlich zugelassen haben. Das wäre alles kein Problem, wenn nicht mit Medikamenten hohe Gewinne gemacht werden könnten, weil die Firmen, die sie produzieren, ein Patent und Vermarktungsmonopol für sie haben.

Das verführt Unternehmen dazu, wie Gøtzsche an vielen Beispielen belegt, Medizin auf den Markt zu bringen, deren Nutzen fragwürdig ist, die kaum einen Neuigkeitswert besitzt oder für den Patienten sogar Risiken birgt. Mit Hilfe von bezahlten Gutachtern wird dies dann häufig zu vertuschen versucht. Um mehr Produkte absetzen zu können, schöpfen die Pharmakonzerne alle Beeinflussungsmöglichkeiten aus, um neue Krankheiten zu definieren oder bestehende Grenzwerte für das, was als behandlungsbedürftig gilt, herunterzuschrauben. Bei den Blutdruck- und Cholesterinwerten ist das mit Erfolg geschehen. Auf der anderen Seite werden sinnvolle und notwendige Medikamente erst gar nicht entwickelt, wenn sie keinen Profit abzuwerfen versprechen.

Ein Kapitel gegen Ende des Buches betitelt der Autor mit dem Aufruf: „Den Pharmakonzernen Paroli bieten“. Darin macht Gøtzsche eine Reihe von Vorschlägen. Neue Medikamente sollten in staatlichen Betrieben entwickelt – oder mit öffentlichen Mitteln honoriert, statt privat patentiert zu werden. Bei ihrer Erprobung und Zulassung müsse Transparenz oberstes Gebot sein. Es sollte in allen Ländern öffentlich zugängliche Register über die Zusammenarbeit von Ärzten mit der Industrie geben. Und den Pharmaunternehmen solle man kein Wort mehr glauben, jedenfalls solange nicht, wie sie sich in privater Hand befinden.

Das zweite hier vorzustellende Buch ist ebenfalls im letzten Jahr erschienen: „Erkranken schadet Ihrer Gesundheit“ von Bernd Hontschik. So ironisch und locker der Titel klingt sind auch manche der in ihm  versammelten Glossen und Skizzen zum Gesundheitswesen verfasst – bei aller Ernsthaftigkeit der Kritik an dessen neoliberaler Umformung.

Hontschik war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und dann bis 2015 in eigener Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers „Körper, Seele, Mensch“ und Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag. Regelmäßig schreibt er Kolumnen in der Frankfurter Rundschau und der taz. Sie bilden das Ausgangsmaterial für sein neues Buch.

Hontschiks Blick auf die Probleme könnte man im besten Sinne als den eines Sozialmediziners charakterisieren. Schon am Anfang des Buches berichtet er über die Schwierigkeit, Todesursachen zu definieren – was ja gerade wieder bei der Corona-Pandemie aktuell geworden ist. Er verweist dabei auf die entscheidende Frage, den Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit mit den sozialen Verhältnissen: „Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Menschen, die in Armut leben, eine mindestens zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben als ökonomisch sorgenfreie Menschen, ist dann Armut die Todesursache?“

Unter dem Titel „Arme Viren“ benennt Hontschik eine Reihe von Infektionskrankheiten, die viele Millionen Menschen in den Ländern des Südens befallen haben und immer noch befallen: die Chagas-Krankheit, das Denguefieber, die Chikungunya-Krankheit, das Zika-Fieber und Ebola. Für all diese epidemischen Infektionen gibt es keine Medikamente und keine Impfstoffe – außer neuerdings gegen das Denguefieber, wo die Impfung aber unbezahlbar teuer ist. Hontschiks Fazit: „Für Erkrankungen armer Menschen in armen Ländern hat die Medizin nichts zu bieten. Es gibt keine Behandlung, es gibt keine Impfung, es wird gar nicht erst geforscht, wenn keine Profite am Horizont winken. Gäbe es keine Slums, gäbe es keine katastrophalen sanitären Verhältnisse, dann wären all diese Krankheiten kein wirkliches Problem.“

Auch bei uns spielt das Geld inzwischen eine Hauptrolle im Gesundheitswesen. Mit dem Märchen von der „Kostenexplosion“ wurde seit den 1970er Jahren die Politik der Einsparung, des Stellenabbaus und der Privatisierung begründet. Heute steht Deutschland bei der Zahl der privatisierten Krankenhausbetten weltweit an der Spitze, noch vor den USA. Es geht nun um Rendite und Wettbewerb. Da passt es gut, dass mit dem System der „Fallpauschalen“ die Krankenhausfinanzierung von Tagessätzen auf Operationszahlen umgestellt wurde. Seitdem gibt es immer mehr entsprechende Indikationen, werden immer mehr Wirbelsäulen versteift, Knie ersetzt und Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht.

„Mit guter Medizin hat das nichts zu tun“, stellt Hontschik fest. Wohl aber mit der Erzielung hoher Dividenden, wie sie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig erreichbar sind. Dieses Geld stammt letztlich aus den Beiträgen der Versicherten und wird dem Gesundheitswesen entzogen. Hontschik nennt das „einen – wenn auch legalisierten – Diebstahl öffentlichen Eigentums“.

Es versteht sich, dass der Autor für eine solidarische Bürgerversicherung eintritt, in die alle, auch die Beamten und Selbständigen einzahlen sollen – also auch die Besserverdienenden mit dem geringeren Krankheitsrisiko.

 

Peter C. Gøtzsche:
Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität.
Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert

Riva Verlag, München 2019
512 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-7423-1161-0

 

Bernd Hontschik:
Erkranken schadet Ihrer Gesundheit

Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2019
160 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-86489-265-3

 

 

Steuervermeidung zur Gewinnoptimierung: Der Fall Fresenius

Vor allem Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus wie Google, Apple, Facebook oder Amazon standen bislang im Fokus der Kritik, wenn es um die systematische Vermeidung von Steuerzahlungen ging. In den letzten Monaten gerieten jedoch auch in Deutschland ansässige Firmen in die Diskussion. Es wurde darüber gestritten, ob es legitim sei, dass Unternehmen staatliche Corona-Hilfen kassieren, während sie gleichzeitig in Steueroasen aktiv sind.

So wird auch Fresenius als einer der führenden, weltweit tätigen Gesundheitskonzerne für seine aggressive Steuergestaltung gerügt. Das Netzwerk Steuergerechtigkeit veröffentlichte im Januar 2020 eine wegweisende Studie zu dem Unternehmen aus Bad Homburg, das seine Umsätze und Gewinne größtenteils im Rahmen des staatlich regulierten Gesundheitswesens erwirtschaftet. Obwohl die Einnahmen überwiegend durch Steuern und Versicherungsbeiträge finanziert werden, verschiebt das Unternehmen Gewinne in fast alle bekannten Steueroasen der Welt – und vermeidet damit höhere Unternehmenssteuern in den Ländern, in denen es seine Umsatzerlöse vorrangig erzielt hat. Gewinne werden dort künstlich kleingerechnet, wo Unternehmenssteuern vergleichsweise hoch sind, dagegen hohe Gewinne an Standorten ausgewiesen, an denen niedrige Steuersätze gelten.

Laut dieser Studie entfallen 23 Prozent des weltweiten erwirtschafteten Umsatzes und 32 Prozent der Konzernbelegschaft auf Deutschland – aber nur 10 Prozent der ausgewiesenen Gewinne. Fresenius zahlte danach in den letzten zehn Jahren durchschnittlich nur 25,2 Prozent Steuern, obwohl die Steuersätze in den wichtigsten Märkten – Deutschland und den USA – bei 30 bzw. 35 Prozent lagen. Hätte Fresenius in diesem Zeitraum seine Gewinne regulär versteuert, wären bis zu 2,9 Milliarden Euro an zusätzlichen Steuern fällig geworden.

Eine auch von Fresenius favorisierte Methode zur „Steueroptimierung“ besteht darin, konzerninterne Kredite zu vergeben. Auf diese Weise, so die Autoren der Studie, konnten beispielsweise die beiden irischen Tochtergesellschaften im Jahr 2017 einen Gewinn von 47 Millionen Euro erzielen – ganz ohne Mitarbeiter*innen und allein durch die Vergabe von Darlehen an Konzerngesellschaften in Spanien und den USA. Der Konzern nahm über Finanzierungsgesellschaften in Luxemburg, Irland, den Niederlanden und dem US-Bundesstaat Delaware neun Milliarden Euro an Fremdkapital auf und reichte die Darlehen innerhalb der Gruppe weiter. „Dabei kommt ihnen (den multinationalen Konzernen, d. Verf.) das gegenwärtige Steuerrecht entgegen, demzufolge Gewinne und Steuern für jede einzelne Einheit, Tochtergesellschaft oder Gruppe von Tochtergesellschaften innerhalb eines Konzerns auszuweisen sind. Die Tochtergesellschaften stellen sich also gegenseitig Rechnungen über Darlehen, Warenlieferungen, Dienstleistungen oder die Nutzung von Patenten, Technologien und Markennamen. (…) Die Konzerne betonen, die Transaktionen würden zu ‚marktüblichen Konditionen‘ abgewickelt, ganz so, als seien die Vertragsparteien nicht wirtschaftlich miteinander verflochten. Für die Steuerbehörden ist es oft schwierig, solche Behauptungen anzufechten.“ (Fresenius-Studie, Seite 7)

Dieses Vorgehen scheint legal zu sein: Das Netzwerk Steuergerechtigkeit spricht deshalb bei der Vorgehensweise von Fresenius lediglich von angewandten „Steuertricks“ und von „Steuervermeidung“. Diese sind zwar ebenso wie das kriminelle Delikt der Steuerhinterziehung darauf ausgerichtet, Gewinne zu verschieben und Steuerzahlungen zum Teil drastisch zu senken, erfolgen aber auf rechtmäßige und nicht strafbare Weise. Jedoch kollidiert dieses Geschäftsgebaren zumindest mit dem konzerneigenen „Bekenntnis zu rechtlicher und ethischer Verantwortung als Unternehmen“, das Fresenius auf seiner Website als eine „strategische Priorität“ angibt. 

Da bislang als Regel gilt, dass Geldflüsse von und zu Tochterfirmen in Steueroasen nicht veröffentlicht werden müssen, drängen die Autoren der Studie als Schlussfolgerung ihrer Analyse darauf, dass der Konzern seine Steuerpraktiken transparent machen sollte und die Tochtergesellschaften in Steueroasen auflöst. Die Bundesregierung solle auf eine echte Reform des Systems der internationalen Unternehmensbesteuerung hinwirken statt ausschließlich Interessen der deutschen Konzerne zu vertreten und einen destruktiven Steuersenkungswettbewerb zu fördern.

„Da viele der Steuervermeidungstricks legal sind, sind letztlich globale Steuerreformen erforderlich. Die internationalen Fresenius-Tochtergesellschaften agieren nicht unabhängig, sondern als Teil einer globalen Konzernstruktur. Sie sollten entsprechend behandelt werden, auch steuerlich. Anstatt jedes Unternehmen separat zu besteuern und die Verrechnungspreise für den innerbetrieblichen grenzüberschreitenden Handel festzulegen, sollte derjenige Anteil am globalen Konzerngewinn, der der tatsächlichen Geschäftstätigkeit im Land entspricht, Grundlage der einzelstaatlichen Besteuerung sein. Dies würde eine Änderung des derzeitigen internationalen Steuersystems erfordern.“ (Fresenius-Studie, Seite 18)

Die Ergebnisse der Fresenius-Studie lassen sich verallgemeinern: Alle 30 im deutschen Aktienindex Dax gelisteten und damit führenden Unternehmen im Land sind über Tochterfirmen in Niedrigsteuerländern vertreten, von denen manche als Steueroasen genutzt werden dürften (Stand 2. Juni 2020).

Quellen:

Pressemitteilung des Netzwerk Steuergerechtigkeit vom 21. Januar 2020:

„Fresenius und Steuervermeidung. Beim Steuertricksen gehören deutsche Unternehmen zur Weltspitze“

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/pressemitteilung-fresenius-und-steuervermeidung-21-1-2020/

CICTAR & Netzwerk Steuergerechtigkeit – Deutschland: Fresenius. Ungesunde Geschäftspraktiken. Globale Steuervermeidung eines multinationalen Gesundheitskonzerns aus Deutschland, Januar 2020

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/wp-content/uploads/2020/02/fresenius_ungesunde-geschc3a4ftspraktiken_deu200120.pdf 

Joachim Maiworm lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime

 

 

Fakten zu Fresenius

 „Fresenius ist ein weltweit tätiger Gesundheitskonzern mit Produkten und Dienstleistungen für die Dialyse, das Krankenhaus und die ambulante Versorgung. Mit über 290.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in mehr als 100 Ländern und einem Jahresumsatz von über 35 Milliarden Euro ist Fresenius heute eines der führenden Unternehmen im Gesundheitsbereich weltweit.

 Zur Fresenius-Gruppe gehören vier eigenständig agierende Unternehmensbereiche, die Marktführer in Wachstumsbereichen des Gesundheitssektors sind: Fresenius Medical Care ist weltweit führend bei der Behandlung von chronischem Nierenversagen. Fresenius Helios ist Europas größte private Kliniken-Gruppe. Fresenius Kabi bietet lebensnotwendige Medikamente, Medizinprodukte und Dienstleistungen für kritisch und chronisch Kranke. Fresenius Vamed ist spezialisiert auf das Projekt- und Managementgeschäft von Gesundheitseinrichtungen.“

(Selbstdarstellung Fresenius, Webseite des Konzerns)

 Der größte Anteilseigner von Fresenius ist die gemeinnützige Else Kröner-Fresenius-Stiftung mit 26,6%. Vermögensverwalter wie BlackRock und Allianz Global Investors halten 4,74% bzw. 4,98% der Anteile.

(vgl. boerse.de, 31. Mai 2020)

 Fresenius startete trotz der Corona-Krise mit Zuwächsen bei Umsatz und Gewinn ins Jahr 2020. Im ersten Quartal 2020 stieg der Umsatz um acht Prozent auf 9,1 Milliarden Euro. Der auf die Aktionäre entfallende Gewinn kletterte um etwa 1,3 Prozent auf 459 Millionen Euro. Alle Unternehmensbereiche trugen zum Umsatzwachstum bei.

(Fresenius: Quartalsfinanzbericht Q1/2020, erschienen am 7. Mai 2020)

Desaster der Privatisierung

 Zum Trauerspiel um die Privatisierung der Deutschen Bahn und deren destruktive Folgen ist schon viel geschrieben worden. Und es dürfte mehr als wahrscheinlich sein, dass die Bundesregierung die kürzlich beschlossene gigantomanische Neuverschuldung demnächst zum Anlass für eine neue Privatisierungswelle nimmt. Dies würde die bereits arg gerupfte verkehrstechnische Infrastruktur der Bundesrepublik ganz sicher noch weiter beschädigen. Insofern sollte man das kürzlich erschienene Buch „Schaden in der Oberleitung“ des Journalisten und ausgewiesenen Bahnspezialisten Arno Luik unbedingt zur Kenntnis nehmen.

Luik beginnt sein Buch mit einer Beschreibung des milliardenträchtigen, dafür aber verkehrstechnisch völlig unsinnigen Umbaus des Stuttgarter Hauptbahnhofs – für den Autor ein Symbol der in unserer Gegenwart fortschreitenden Zerstörung der Bahn. Der Protest breiter Bevölkerungskreise ging damals durch alle Medien und beförderte sogar einen Wechsel der Landesregierung. Bewirken tat dies freilich gar nichts – die Weichen waren längst in eine andere Richtung gestellt. Nachdem der Protest wieder aus den Medien verschwunden war, wurde das Projekt dann entgegen jeder Logik weiter umgesetzt.

Das angekündigte Desaster um „Stuttgart 21“ ist für den Autor jedoch nur der Aufhänger für eine Generalabrechnung mit der Bahnprivatisierung insgesamt. Aus einer angeblich ineffizienten, insgesamt aber funktionierenden staatseigenen Behörde wurde binnen weniger Jahrzehnte ein undurchschaubares Geflecht formell eigenständiger Firmen. Diese sind zwar mehrheitlich immer noch zu 100 Prozent im Staatsbesitz und werden vom Finanzministerium reichlich subventioniert. Ihr Management gehorcht jedoch einer eigenen, von betriebswirtschaftlichen Interessen diktierten Logik. Und diese ist mit den Interessen der Bahnnutzer meist nicht kompatibel. Erwirtschafteter Gewinn versickert in den Tiefen undurchsichtiger Projekte und in den Taschen führender Mitarbeiter – für Verluste muss immer der Steuerzahler aufkommen.

Luik zitiert reihenweise Ingenieure und andere langjährige Bahnmitarbeiter, die permanent auf gravierende Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen sowie gegen elementare Regeln der Technik hinweisen und deren Kassandrarufe vom Management zumeist nicht zur Kenntnis genommen werden. Das Buch erinnert auch an die Stilllegung zahlreicher vermeintlich „unrentabler“ Strecken sowie an Außerbetriebnahme und Verkauf zahlreicher Bahnhofsgebäude. Tatsächlich lief die Verkehrspolitik der letzten Jahre wohl hauptsächlich auf eine Förderung der großen Autokonzerne zuungunsten der Eisenbahn hinaus. Und der Steuerzahler, aus dessen Taschen die Umgestaltung der Bahn finanziert wurde, bezahlte letztlich dafür, dass Bahnfahren immer teurer, immer schlechter, immer umweltzerstörender und auch – wegen aus Kostengründen aufgeweichter Sicherheitsbestimmungen – immer lebensgefährlicher wurde. Und außerdem dafür, dass sich Immobilienspekulanten und ähnliche Figuren an der Verschleuderung bisher bahneigener Grundstücke und Gebäude eine goldene Nase verdienen konnten.

Der Autor nennt diese Entwicklung einen „großen Eisenbahnraub“, watscht gnadenlos alle seit 1990 amtierenden Bahnchefs und Verkehrsminister ab, die an selbigem beteiligt waren. Luik zitiert zahlreiche zu Beginn der Bahnprivatisierung verkündete „Visionen“, vergleicht sie mit den tatsächlichen Resultaten der Privatisierungspolitik und stellt die angeblichen Visionäre als genau die unfähigen und inkompetenten „Macher“ dar, die sie tatsächlich auch sind. Wobei sie zwar einen katastrophalen, aber auch noch gut bezahlten Job machten. Im Buch wird die durchweg miserable Bezahlung der Bahnmitarbeiter dokumentiert und mit den millionenschweren Boni und Abfindungen des höheren Managements verglichen.

Gegen Ende des Buches fordert der Autor dann ganz offen, die aus seiner Sicht völlig verrückte Verkehrspolitik der letzten 30 Jahre wieder zurückzudrehen.

Dass die genannte Verrücktheit, die hier nicht bestritten werden soll, in eine ebenso verrückte Systemlogik eingebettet ist, schreibt der Autor leider nicht. Daher abschließend ein persönlicher Kommentar des Rezensenten. Wenn sich jemand in einem späteren Jahrhundert einmal daranmachen sollte, die Geschichte unserer kapitalistischen Gesellschaft aufzuschreiben, so wird deren Anfang vermutlich wie folgt lauten: „Damit der Kapitalismus überhaupt funktionieren konnte, zwangen dessen Macher anfangs die Bevölkerung, unter gewaltigen Anstrengungen eine gigantische Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen. Und dann fraßen eben diese Macher diese Infrastruktur aus nicht zu stillender Geldgier wieder auf.“

Arno Luik: Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn

Westend Verlag, Frankfurt am Main 2019
293 Seiten, 20,00 Euro
ISBN 978-3-86489-267-7

Freigeld für alle, die es sich leisten können

Kaum etwas verdeutlicht die Hackordnung in spätkapitalistischen Gesellschaften so deutlich wie die Prioritätensetzung bei den historisch beispiellosen Hilfs- und Konjunkturprogrammen, die angesichts der Corona-Krise aufgelegt oder zumindest angekündigt worden sind.

Da soll noch mal jemand behaupten, der Kapitalismus sei auf seine alten Tage innovationsmüde geworden. Mit Ausbruch der Corona-Krise, deren Folgen die Bundesregierung nun mit einem Konjunkturpaket zu mildern sucht, entwickelten findige Betrüger in Windeseile neue Maschen, um Gelder bei all jenen Menschen abzugreifen, die wirtschaftlich unter Druck gerieten und Soforthilfen für Selbstständige erhielten. (1) Mit gefälschten Behördenmails, die ihre Empfänger zur Angabe unrechtmäßig erhaltener Hilfsgelder auffordern, sollte gezielt die Unsicherheit rund um die entsprechenden „Soforthilfen“ des Bundes und der Länder ausgenutzt werden. Offensichtlich wollten die Betrüger jene Selbstständige, die bereits Hilfsgelder erhalten haben, dazu bringen, diese an die angebliche „Behörde“ teilweise oder vollständig zurückzuüberweisen.

Den Hintergrund dieser Masche bildet die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung der Soforthilfen für Selbstständige und ihrer tatsächlichen rechtlichen Ausgestaltung. Der Bund hat sich bei der engen Auslegung der Finanzierungsmöglichkeiten für Solo-Selbstständige gegenüber den Ländern durchgesetzt. Dadurch dürfen diese Gelder nicht dazu verwendet werden, Einnahmeausfälle zu kompensieren. Stattdessen können hierbei nur laufende Betriebskosten wie Miete, Leasing oder Kredite geltend gemacht werden. Dieses führt folglich dazu, dass besonders bedürftige Selbstständige wie Freiberufler oder Künstler, die geringe laufende „Betriebskosten“ haben, kaum von den medial groß angekündigten Soforthilfen profitieren. Deswegen kursieren bereits im Bundeswirtschaftsministerium Schätzungen, dass tausende von Solo-Selbstständigen ihre Hilfsgelder letztendlich zurückzahlen müssen. (2) Die eingangs erwähnte Betrugsmasche nutzt punktgenau diese Verwirrung und Unsicherheit aus, um Selbstständige in eine Falle tappen zulassen.

Solche findigen Gauner sind allerdings nur die kleinen Fische beim großen Absahnen im Gefolge der billionenschweren Krisenpakete, die in den Zentren des Weltsystems in Windeseile geschnürt werden, um den im Gefolge des aktuellen Krisenschubs drohenden Wirtschafkollaps buchstäblich um jeden Preis zu verhindern. Wenn man sich in der richtigen gesellschaftlichen Position befindet, scheint es nun so, als ob Manna vom Himmel fallen würde. Es ist ein warmer Geldregen, der aber nur für all jene niedergeht, die ihn sich auch leisten können.

Eine Nummer größer als bloße Betrüger sind die in der rechtlichen Grauzone operierenden Geschäftemacher, die Lücken in der Gesetzgebung ausnutzen, um so richtig abzusahnen. Kurz nach Verabschiedung der Corona-Maßnahmen wollte beispielsweise alle Welt Unternehmensberater werden. Das Bundeswirtschaftsministerium meldete Ende April, dass binnen kürzester Zeit mehr als 8.500 Anträge auf offizielle Akkreditierung als Wirtschaftsberater dem Hause vorlagen. (3) Bei einem großen Teil all dieser Antragssteller, die sich plötzlich in die abenteuerliche Welt der Unternehmensberatung zu stürzen suchen, dürfte es sich schlicht um Trittbrettfahrer handeln, die auf die Schnelle Kasse machen wollen.

Am Anfang dieser großen deutschen Unternehmensberaterschwemme stand die behördliche Sorge um das Wohlergehen der deutschen Wirtschaft in der kommenden Wirtschaftskrise. Wer könne Unternehmen besser darüber beraten, wie man schwere Zeiten übersteht, als Unternehmensberater? Folglich legte das Wirtschaftsministerium ein Programm auf, in dessen Rahmen Unternehmen Hilfsgelder von bis zu 4.000 Euro beantragen konnten, um damit die Dienstleistungen von Unternehmensberatungen in Anspruch nehmen zu können. Dies sollte keine große Sache werden; es war nur eine Maßnahme unter vielen Projekten im gigantischen Krisenpaket der Bundesregierung. Diese beschloss immerhin eine Neuverschuldung von 156 Milliarden Euro – zuzüglich Wirtschaftsgarantien von rund 600 Milliarden. (4) Für Beratertätigkeiten waren hierbei ursprünglich nur rund 15 Millionen Euro vorgesehen. Mitte Mai lagen beim Bundeswirtschaftsministerium hingegen schon 27.534 Anträge auf Finanzierung einer Beratertätigkeit vor, die den Steuerzahler wohl bis zu 100 Millionen Euro kosten werden.

Das sogenannte „Programm zur Förderung unternehmerischen Know Hows“ des Wirtschaftsministeriums hat folglich zu einem stürmischen Konjunkturaufschwung in der Beraterbrache geführt. Dies belegen nicht nur die vielen Anträge auf Zulassung. Inzwischen wetteifern Wirtschaftsberater darum, möglichst viele Kunden dazu zu bringen, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Es seien nun aber „viele unseriöse Anbieter“ auf dem Markt tätig, hieß es bei der Süddeutschen Zeitung (SZ). Diese würden mitunter ganze Berufsgruppen mit Massenmails abgrasen, um möglichst viele Aufträge einheimsen zu können. Manchmal würden schlicht „kostenfreie Marketingkonzepte“ durch einige „Scharlatane“ versprochen, so die SZ. Diese berichtete von einem Fall, in dem ein Verbund von 30 Finanzberatern einen Unternehmensberater sucht, der für jeden der Beteiligten einen Antrag stellt. So will man 120.000 Euro kassieren, die dann teilweise in einen „neuen Marketingauftritt“ investiert werden sollen. Der Fantasie der Märkte sind beim Thema Freigeld offensichtlich kaum Grenzen gesetzt.

Mitunter werden marktschreierische Werbemethoden verwendet: Man kriege „4000 Euro geschenkt“, jubelten Berliner Unternehmensberater in einem Werbevideo. Dieses versprach potenziellen Unternehmenskunden, dass sie im Rahmen ihrer Dienstleistungen noch weitere staatliche Hilfsgelder wie Kurzarbeitergeld oder staatliche „Corona-Hilfen“ abgreifen könnten – obwohl laut Bundeswirtschaftsministerium solche „Förderberatungen“ nicht förderfähig seien. Laut SZ gibt es inzwischen Überlegungen, wie dem evidenten Missbrauch vorgebeugt werden könne. Jedoch scheint das Programm eben diesen Missbrauch geradezu zu provozieren. Zum einen werden die Gelder direkt an die Berater und nicht an tatsächlich beratungsbedürftige Kleinunternehmen und Mittelständler überwiesen. Zum anderen gibt es keine Vorgaben zur prozentualen finanziellen Selbstbeteiligung: Unternehmen und Berater müssen nicht, wie sonst üblich, eigene Finanzmittel beisteuern. Der Bund, der bei selbstständigen Künstlern und Kulturschaffenden peinlich drauf achtet, keinen Cent zu viel aufzuwenden, ist gerade bei der windigen Branche Unternehmensberatung ungewöhnlich locker vorgegangen.

Noch lockerer handhabt der Staat aber die Vergabe von Hilfsgeldern und Krediten bei Großunternehmen – also in Größenordnungen, wo 4.000 Euro nicht mal mehr als „Peanuts“ wahrgenommen werden. Jeder Lohnabhängige, der mal Hartz IV beantragen musste, denkt mit Grauen an den entsprechenden Formularberg, bei dessen Ausfüllung alle finanziellen Umstände der Betroffenen genaustens beleuchtet werden. Sobald milliardenschwere Konzerne die Hand aufhalten, nimmt man es in Berlin hingegen nicht mehr so genau. Es hätten sich bereits tausende von Unternehmen um staatliche Corona-Hilfen bemüht, hieß es schon Ende April in Medienberichten, doch dieselben Behörden, die bei Hartz-Opfern ganz genau hinschauen, würden sich kaum für die Steuermoral all der Unternehmen interessieren, die nun die Hand für all die Euro-Milliarden offenhalten. (5)

Es sind gerade international tätige Großunternehmen, die zumeist umfassende Möglichkeiten zur Steuervermeidung nutzen, indem Gewinne und Verluste konzernintern so lange umgebucht werden, bis die tatsächliche Steuerquote auf ein Minimum gedrückt wird. Eine unter den für die Geldvergabe verantwortlichen Verwaltungen durchgeführte Umfrage ergab, dass in der Bundesrepublik Antragssteller kaum darauf durchleuchtet würden, ob sie in der Vergangenheit Steuertricks anwandten. Diese Methoden der Steuervermeidung, die sich oftmals in einer rechtlichen Grauzone befinden, gelten in anderen Ländern hingegen als Ausschlussgrund bei der staatlichen Kredit- und Subventionsvergabe in der Corona-Krise. Mehrere Länder, unter anderem Dänemark und Polen, haben beispielsweise erklärt, dass Konzerne mit einem Hauptsitz in Steueroasen keine Hilfen erhalten würden. Der deutsche Staat würde hingegen die gigantischen Corona-Hilfen nicht dazu nutzen, um mit strengen Vergaberichtlinien einer üblichen Praxis von Großunternehmen oder international tätigen Konzernen ein Ende zu bereiten: der Privatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der Verluste. Man schaue jetzt „nicht so genau hin, wie mal eigentlich sollte“, klagte auch die Deutsche Steuergewerkschaft angesichts der lockeren Vergabepraxis des Bundes.

Der historisch beispiellose Krisenschub des kapitalistischen Weltsystems, der durch die Pandemiemaßnahmen getriggert wurde, führt aber tatsächlich viele Unternehmer in wirtschaftliche Schwierigkeiten, sodass sich auch die „Kapitäne“ der freien Wirtschaft zu großen Opfern genötigt sehen. Dies macht das Beispiel eines Auto-Pfandhauses in der von Schweizer Staatsgebiet umgebenen deutschen Exklave Büsingen evident. Nach Ausbruch der Wirtschaftskrise suchten in finanzielle Schieflage geratene Schweizer Firmenchefs das Pfandhaus auf, wollten ihre teuren Luxusschlitten gegen Bares verpfänden, um so ihren Laden über Wasser halten zu können. Die Parkflächen füllten sich schnell mit Ferraris, Rolls Royces und Aston Martins.

Dies änderte sich Ende März nach der Verabschiedung entsprechender Hilfsprogramme in der Schweiz. Seitdem Hilfsgelder an die Wirtschaft fließen, würden „auffällig viele Luxusautos von Unternehmen wieder abgeholt“, erklärte ein Mitarbeiter des Pfandhauses gegenüber den Medien. (6) Man sei sich darüber im Klaren, dass „viele Kunden die Notkredite zum Rückkauf ihres Pfandkredits verwenden, den sie ursprünglich mit ihrem Auto gedeckt hatten“. Es gehe dabei meistens um hohe fünfstellige Beträge. Die Schweiz hat solche Refinanzierungsdeals eigentlich verboten, doch böten die Autopfandkredite ein Schlupfloch, da darüber keine Meldungen an die entsprechenden Informationsstellen gemacht werden müssten. Die meisten Deals laufen bequem über Bargeld ab, sie hinterlassen somit keine Spuren. Folglich können arme Schweizer Unternehmer ihr geliebtes Statussymbol schnell wieder in die heimische Garage überführen – dank üppiger Staatshilfen. Es ist ein Sozialismus für Reiche, der alle diesbezüglichen Klischees vollauf erfüllt.

Werden aus den Millionen erstmal Milliarden, so ist nahezu alles möglich. The sky is the limit. Mitte Mai konnte sich eine der reichsten Milliardärsfamilien der Bundesrepublik, die BMW-Großaktionäre und Erben der Quandt-Familie, über eine Dividendenausschüttung von vielen Millionen Euro freuen – mitten in einer schweren Systemkrise. Stefan Quandt, der rund 25 Prozent an BWM hält, kann sich an einem warmen Geldregen von 425 Millionen Euro ergötzen. Seine Schwester, Susanne Klatten, die etwa 20 Prozent hält, muss sich mit 344 Millionen begnügen. (7) Ungeachtet aller öffentlichen Kritik behauptet der BWM-Chefmanager Oliver Zipse, der Konzern würde in seiner Dividendenpolitik „zuverlässig“ handeln. Überdies sei die Erfolgsbeteiligung der Belegschaft, von der sich rund ein Drittel in steuerfinanzierter Kurzarbeit befand, an die Ausschüttung der Dividende von insgesamt 1,6 Milliarden Euro gekoppelt.

Diese Entscheidung des Quandt-Clans, dem Konzern mitten in der schwersten Rezession der Unternehmensgeschichte Milliarden zu entziehen, erweckt den Eindruck, als ob die Ratten das sinkende Schiff verließen. Die guten Zeiten der Autobranche sind gezählt, also nimmt man noch alles mit, was geht, um in ein paar Jahren die Kosten der Sanierung oder Abwicklung zu sozialisieren. Doch zugleich stellt dieses Vorgehen des bajuwarischen Autobauers einen direkten Affront gegen Finanzminister Olaf Scholz dar. Um sich gegen den Vorwurf der Verschwendung von Steuergeldern zu wehren, hatte dieser Ende April erklärt, dass „Nothilfen“ für Deutschlands Konzerne nur unter „strengen Auflagen“ gezahlt würden. (8) Dabei behauptete Scholz, dass alle Unternehmen, die Dividenden oder Boni auszahlten, von den Staatsgeldern ausgeschlossen würden.

Dem Quandt-Clan, der durch Zwangsarbeit im Dritten Reich richtig groß wurde, kann doch nicht ernsthaft zugemutet werden, in einer schweren Systemkrise auf den gewohnten warmen Geldregen zu verzichten. Dabei hat nicht nur BMW mit seiner milliardenschweren Dividendenausschüttung den Finanzminister in die Schranken verwiesen. Ausschüttungen von Dividenden in Milliardenhöhe planen auch andere PKW-Produzenten und Zulieferer der Autobranche wie Continental, Daimler oder Volkswagen. Dennoch rechnete Deutschlands Oligarchie und Oberschicht mit der Zahlung weiterer Steuermilliarden an in ihrem Besitz befindlichen Konzerne, insbesondere in Gestalt von Kaufprämien. Auch BMW forderte eisern „Kaufanreize“ für seine Produkte. Der noch Anfang Mai beim „Autogipfel“ in Berlin deutlich spürbare Widerstand der Bundesregierung (9), der dividendenfreudigen Autobranche krisenbedingt mit milliardenschweren Subventionen unter die Arme zu greifen, schien Ende des Monats bereits wieder verflogen. (10)

Der Druck der Autolobby – mitunter ausgeübt durch die um Standorte und Arbeitsplätze besorgten Landesregierungen – ist immens. Laut ersten inoffiziellen Details sollten nämlich trotz Klimakrise nicht nur Elektroautos von den Kaufprämien profitieren, sondern auch gewöhnliche Spritfresser mit einem CO2-Ausstoss von bis zu 140 Gramm. Erst Proteste und breite öffentliche Empörung brachten es fertig, den „Autogipfel“ Anfang Juni, auf dem die Subventionen offiziell beschlossen werden sollten, vorerst abzusagen. Stattdessen sollte zuerst eine Koalitionsrunde über das Vorhaben beraten. (11) Dass der erhoffte Beschluss nun doch nur für Elektroautos zustande kam, war dann für die Autolobby zwar eine herbe Enttäuschung. Die stattdessen als Kaufanreiz beschlossene Reduzierung der Mehrwertsteuer sorgte jedoch für einhelligen Beifall im Unternehmerlager.

Da Deutschlands notleidende Auto-Oligarchie sich verbissen um Milliardenbeträge bemüht, darf der Staat auch notleidende Spekulanten nicht vergessen. Heinz Herrmann Thiele bleibt lieber im Hintergrund. Der Investor und Großaktionär zählt immerhin zu den zehn reichsten Bundesbürgern – also zu jener Gesellschaftsschicht, die sich Verschwiegenheit und Diskretion auch leisten kann. Kurz nach Ausbruch der Pandemie, als die Aktie der Lufthansa abschmierte, investierte Herr Thiele viel Kapital in den Kauf von Wertpapieren dieser Fluggesellschaft, sodass er mit einem Anteil von rund zehn Prozent über Nacht zu deren größtem Anteilseigner aufsteigt. (12) Dieses Investment verfolgt somit den Zweck, von einer Rettung der Lufthansa durch den Staat zu profitieren. Es ist letztendlich eine Spekulation auf Staatsgelder. Der „Vorzeigebetrieb“ in Thieles Imperium, der Autozulieferer Knorr-Bremse, profitiert ebenfalls von der Kurzarbeitergeldregelung. Zugleich strich Herr Thiele 200 Millionen Euro bei der Dividendenausschüttung seines Betriebs ein, den er zu 70 Prozent kontrolliert. Milliarden kassieren und Milliarden an Staatsgeldern abgreifen – dies scheint im Krisensozialismus die neue Norm zu sein, die all jenen zugutekommt, die es sich leisten können.

Was bleibt von den Krisen-Geldern übrig, angesichts eines drohenden Steuerloches von fast 100 Milliarden Euro (13) – nachdem all jene kräftig bedient wurden, die sich eine gute Lobbyarbeit in Berlin finanzieren können? Es gibt Dinge, die man sich in Krisenzeiten – wenn es mal wieder gilt, Konzerne und Banken mit vielen Milliarden Euro zu stützen – schlicht nicht leisten kann. Nahrung zum Beispiel. In der Bundesrepublik als einem der reichsten Länder der Welt sind ohnehin Millionen Menschen von Mangelernährung betroffen. Die Corona-Pandemie hat die Situation noch zusätzlich zugespitzt, weil sich die Betroffenen aufgrund explodierender Preise für Frischprodukte ausreichende Mengen von Obst und Gemüse schlicht nicht kaufen können.

Ende April appellierten Verbraucherorganisationen folglich an die SPD, die zu Beginn der Corona-Pandemie gemachten Zusagen einzuhalten und die Hartz-IV-Sätze anzuheben (14), um die bereits gegebene Mangel- und Unterernährung insbesondere unter den Kindern von Hartz-IV-Beziehern nicht noch weiter ansteigen zu lassen. (15) Die NGO Foodwatch, die ein Sofortprogramm gegen Ernährungsarmut fordert, nannte hierbei eine ganze Reihe von Krisenfaktoren, die die marginalisierten Bevölkerungsschichten der Bundesrepublik in die Mangel nehmen.

Viele Tafeln, bei denen sich verarmte und marginalisierte Menschen versorgten, haben inzwischen dicht gemacht. Zudem seien die kostenlosen Schulessen ausgefallen, die für die Ernährung sozial benachteiligter Kinder wichtig seien. Frische Lebensmittel wie Gemüse seien im April dieses Jahres um rund 27 Prozent teurer als im Vorjahreszeitraum. All jene sozial abgehängten Menschen, die seit der Durchsetzung von Hartz-IV ihren Nachwuchs mit 4,09 Euro täglich ernähren müssen, stellt diese Situation vor ein unlösbares Problem.

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken versprach in einer Stellungnahme eine Klärung, ob vorübergehende Mehrbedarfe der Hartz-Opfer tatsächlich gegeben seien, wollte gegebenenfalls in Gesprächen mit dem Koalitionspartner CDU/CSU eruieren, welche zusätzlichen Maßnahmen eventuell beschlossen werden könnten. Nur zwei Wochen später, Mitte Mai, stimmte die SPD – gemeinsam mit CDU/CSU, FDP und AfD – gegen den von den Grünen und der Linkspartei eingebrachten Antrag auf Erhöhung der Hartz-Sätze um eine Corona-Zulage. (16)

Anmerkungen:

(1) „Betrüger verschicken gefälschte Mails“, tagesschau.de, 05.Mai.2020

(2) „Bericht: Tausenden Soloselbstständigen droht Rückzahlung der Corona-Soforthilfen“, RND.de, 23. April 2020

(3) „Wie selbsternannte Unternehmensberater an Hilfsgeld gelangen wollen“, sueddeutsche.de, 14. Mai 2020

(4) „156 Milliarden gegen die Corona-Krise“, tagesschau.de, 25. März 2020

(5) „Staat zahlt Corona-Hilfen an Steuer-Trickser“, sueddeutsche.de, 22. April 2020

(6) „Unternehmer kaufen mit Corona-Nothilfen ihre verpfändeten Luxusschlitten zurück“, focus.de, 25. Mai 2020

(7) „Mangel an Gemeinschaftsgefühl: BMW löst eine Welle der Empörung aus – werden Söders Pläne durchkreuzt?“, merkur.de, 18. Mai 2020

(8) „Scholz betont strenge Auflagen für Nothilfen“, n-tv.de, 26. April 2020

(9) „Deutschland: Vorerst keine Wiederauflage der Abwrackprämie“, kurier.at, 5. Mai 2020

(10) „Die Kaufprämie ist falsch, aber sie kommt“. rp-online.de, 28. Mai 2020

(11) „Der „Autogipfel“ im Kanzleramt fällt aus“, berliner-zeitung.de, 29. Mai 2020

(12) „Corona: Hilfe für Milliardäre?“, daserste.ndr.de, 14. Mai 2020

(13) „Corona-Krise reißt Steuerloch von fast 100 Milliarden Euro in die Kassen“, welt.de, 14. Mai 2020

(14) „Mehr Hartz IV wegen Corona“, taz.de, 30. April 2020

(15) „Viele deutsche Kinder sind mangelernährt – Armut ist ein großer Faktor“, web.de, 3. Februar 2018

(16) „Wenn die Lobby fehlt: Bundesregierung verweigert Corona-Zuschüsse für Arme“, rt.de, 19. Mai 2020

Tomasz Konicz arbeitet seit etwa 15 Jahren als freier Journalist und Buchautor. In BIG Business Crime Nr. 1/2015 erschien von ihm: „Geschäftsfeld Barbarei. Der Islamische Staat als global agierender Terrorkonzern“.

 

 

Die TOP-Liga der deutschen Aktiengesellschaften und die Steuerparadiese

Die Linke im Bundestag veröffentlichte im Juni 2020 eine Studie, die – nach ihren eigenen Worten – darüber Aufschluss geben will, „ob auch DAX-Konzerne in Steueroasen präsent sind und wie transparent sie dabei vorgehen“. Wir zitieren nachfolgend aus dem Vorwort des finanzpolitischen Sprechers der Fraktion Die Linke im Bundestag Fabio de Masi:

„Steuertricks gehören zum Geschäftsmodell aller 30 DAX-Konzerne. Unsere Studie zeigt, dass die Flaggschiffe der deutschen Wirtschaft von Delaware bis Luxemburg mit tausenden Töchtern in Steuerparadiesen vertreten sind. Selbst Unternehmen mit Bundesbeteiligungen verfügen über hunderte Töchter in Steueroasen. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung bei der internationalen Steuerdiplomatie gegen Steuervermeidung von Konzernen. Es ist ein Skandal, dass bei Bahn, Post, Telekom und Commerzbank nicht einmal Einfluss auf die Geschäftspolitik genommen wird, wenn es um Steuervermeidung geht.

Auch Gewinne aus Deutschland sind in den Steueroasen geparkt. Steueroasen und Schattenfinanzplätze scheuen das Licht der Öffentlichkeit. Die Bundesregierung blockiert seit Jahren die Einführung einer Veröffentlichungspflicht von Kennzahlen wie Beschäftigte, Umsätze, Gewinne und gezahlte Steuern pro Land.“

Quelle:

Der DAX in Steueroasen. Studie für die Fraktion DIE LINKE im Bundestag, Juni 2020 (Autor: Steffen Redeker)

https://www.fabio-de-masi.de/de/article/2757.studie-der-dax-in-steueroasen.html

Umkämpfte Privatisierung der S-Bahn Berlin

Am 26. Mai 2020 beschloss der rot-rot-grüne Berliner Senat, die Verkehrsleistungen von zwei Teilnetzen der S-Bahn (Nord-Süd und Stadtbahn, zusammen etwa zwei Drittel des Gesamtnetzes) auszuschreiben. Damit besteht die Möglichkeit, dass auch private Anbieter zum Zug kommen. Die Ausschreibung gestaltet sich als recht kompliziert, denn sie enthält vier sogenannte Lose, je zwei für Wartung bzw. Instandhaltung sowie für den Zugbetrieb auf jedem der zwei Teilnetze. Der Zuschlag könnte also unter Umständen an vier verschiedene Betreiber gehen. Die S-Bahn Berlin GmbH, hundertprozentige Tochter der Deutschen Bahn AG, hat als bisheriger Gesamtbetreiber des Netzes allerdings auch die Möglichkeit, alle vier Lose zu gewinnen und den gesamten Betrieb einschließlich Wartung weiter zu verantworten. Im Nord-Süd-Netz soll der neue (bzw. der bisherige) Betreiber im Dezember 2027 starten, auf der Stadtbahn im Februar 2028. Die in Berlin sehr wichtige Ringbahn wird seit Jahren langfristig von der S-Bahn GmbH betrieben.

„Kritiker wie die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG äußerten zuletzt wiederholt die Befürchtung, dass bei der gestückelten Ausschreibung andere Anbieter als die Bahn zum Zuge kommen und sich die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten verschlechtern“, schreibt die Berliner Morgenpost am 26. Mai. Auch Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) e.V. wehrt sich gegen die beschlossene „Zerschlagung und Privatisierung“ der S-Bahn in insgesamt drei Teilnetze. „Wollen wir eine öffentliche Daseinsvorsorge, die öffentlich betrieben wird, oder lassen wir zu, dass Private auch in den Bereich der S-Bahn eindringen, dort Gewinne erzielen und eine klimafreundliche Weiterentwicklung stören oder verhindern“, heißt es in einem Aufruf vom 28. Mai. Mittels möglichst vieler Einzelpetitionen soll „diese gewaltige Privatisierung“ noch gestoppt werden.

Auf der Webseite des Vereins stellt GiB verschiedene Petitionsentwürfe bereit, die von Interessierten – auch in Teilen – übernommen werden können.

Quellen:

„Größte Ausschreibung der S-Bahn-Geschichte kann starten“, Berliner Morgenpost, 26. Mai 2020

https://www.morgenpost.de/berlin/article229210774/Groesste-Ausschreibung-der-S-Bahn-Geschichte-kann-starten.html 

Gemeingut in Bürgerinnenhand e. V.: „GiB-Infobrief: Jetzt aktiv werden gegen die Zerschlagung und Privatisierung der S-Bahn Berlin“, 28. Mai 2020

https://www.gemeingut.org/gib-infobrief-jetzt-aktiv-werden-gegen-die-zerschlagung-und-privatisierung-der-s-bahn-berlin/

 

 

Mangelhafte Aufarbeitung des „Cum-Ex“-Skandals: Verjährungen drohen

Laut Stefan Weismann, Präsident des Bonner Landgerichts, kommt der Staat bei der juristischen Aufarbeitung des milliardenschweren „Cum-Ex“-Steuerbetrugs nicht hinterher. „Weil es um bandenmäßigen Betrug geht, beträgt die Verjährungsfrist 20 Jahre“, sagte Weismann gegenüber dem Handelsblatt. Das sei im Prinzip eine lange Zeit. Aber die Mehrheit der juristisch zu bewertenden „Cum-Ex“-Geschäfte würde zwischen 2007 und 2009 liegen. Die erste Verjährung wäre also 2027. Weismann: „Bei der Vielzahl und Komplexität der Fälle ist das nicht mehr allzu fern.“ (Handelsblatt, 25. Mai 2020)

Nach Angaben des Handelsblatts sind in den „Cum-Ex“-Skandal mehr als 100 Banken mit etwa 1.000 Verantwortlichen auf vier Kontinenten verwickelt. Die Speerspitze der Aufklärung bildet die Staatsanwaltschaft Köln. Diese versinkt aber offenbar in einer Vielzahl von immer neuen Fällen, weil die ihr zur Verfügung stehenden Stellen für deren Bearbeitung nicht ausreichen.

„Das erste Urteil im Cum-Ex-Skandal liegt zwei Monate zurück. Die Staatsanwälte bereiten nun die nächste Anklage vor. Das Strafverfahren betrifft vier aktuelle und ehemalige Banker der M.M. Warburg Gruppe. Anders als im ersten Prozess bestreiten die Beschuldigten eine Schuld – das macht das Verfahren nicht kürzer. Frühestens im Herbst, schätzen Insider, könnte eine dritte Anklage folgen. Würde weiterhin jeder Fall sukzessive abgehandelt, wären noch sehr viele Jahre erforderlich. (…) Insider berichten von einem Stimmungswechsel unter den Steuersündern. Habe es angesichts des Aufmarsches in Bonn vor einem Jahr noch die Neigung gegeben, sich bloß schnell und glimpflich mit der Justiz zu einigen, würden mehrere Beschuldigte auf Konfrontation und Verzögerung umschalten. Ihre Botschaft an den Rechtsstaat: Ihr werdet ja doch nicht rechtzeitig fertig.“ (Handelsblatt, 25. Mai 2020)

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) bestätigt diese pessimistische Perspektive anhand eines „Cum-Ex“-Falles in Frankfurt:

„Monatelang saß Wolfgang Schuck, einst Chef des Frankfurter Bankhauses Maple, in Untersuchungshaft. Das Geldinstitut soll den Fiskus um 388 Millionen Euro geprellt haben, der Ex-Chef ist einer der Hauptverdächtigen in einem riesigen Wirtschaftskrimi, der Cum-Ex-Affäre. Doch vergangene Woche kam Schuck frei, gegen eine Kaution in Höhe von 1,8 Millionen Euro und weitere Auflagen. Das habe auch mit Corona zu tun, glauben Anwälte, die mit dem Fall Maple zu tun haben. ‚Ein voller Gerichtssaal, wie soll das gehen?‘ Wäre der Ex-Maple-Chef weiter im Gefängnis, dann müsste das Landgericht Frankfurt bald einen Prozess gegen Schuck und sechs weitere Angeschuldigte ansetzen. Haftfälle haben Vorrang.“

Offensichtlich schiebt die Justiz in Corona-Zeiten lange Verhandlungen mit vielen Beteiligten wegen des Infektionsrisikos gerne auf (während die Verjährungsfristen selbstverständlich weiterlaufen). Und sie lässt eine auffallende Milde gegenüber mutmaßlichen Straftäter*innen walten.

Die SZ schreibt: „In München zeichnet sich ein rasches Ende eines Prozesses um Schwarzarbeit in der Baubranche ab. Die vier Angeklagten, die einen Schaden in Millionenhöhe verursacht haben sollen, dürfen auf ein mildes Urteil hoffen. In Köln habe ein Verfahren um den Verkauf von Doping-Mitteln plötzlich keine Eile mehr, nachdem der Hauptverdächtige aus der Untersuchungshaft freigekommen sei, erzählt ein beteiligter Jurist. (…) Das Coronavirus hilft mutmaßlichen Betrügern und Steuerhinterziehern, die in großer Zahl und großem Stil Straftaten begangen haben sollen. ‚De facto entwickeln wir uns durch Corona zurück in die Zeit, als Fälle von Wirtschaftskriminalität weniger deutlich verfolgt wurden als andere Verbrechen‘, warnt Michael Kubiciel, Strafrechtsprofessor an der Universität Augsburg. (…) Auf große Wirtschaftsprozesse spezialisierte Verteidiger haben in Corona-Zeiten jedenfalls meist leichtes Spiel. ‚Wir bekommen fast jeden Antrag durch‘, sagen mehrere Anwälte. Ob das nun um Haftverschonung gehe oder um Vernehmungstermine, die verschoben werden sollen. Ein Anwalt sagt, ‚wir haben derzeit in weiten Teilen des Wirtschaftsstrafrechts einen Corona-bedingten Stillstand der Rechtspflege‘.“

Quellen:

Volker Votsmeier / Sönke Iwersen: „Staat kommt bei Aufarbeitung des historischen Steuerbetrugs nicht hinterher – Verjährungen drohen“, Handelsblatt, 25. Mai 2020

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-staat-kommt-bei-aufarbeitung-des-historischen-steuerbetrugs-nicht-hinterher-verjaehrungen-drohen/25851282.html

Klaus Ott / Jörg Schmitt / Nils Wischmeyer: „Wirtschaftsprozesse: Coronavirus hilft mutmaßlichen Betrügern“, Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2020

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/pandemie-gericht-verfahren-1.4895394

Intransparente Immobilienmärkte

Geldwäsche und andere dubiose Geschäfte werden oft durch undurchsichtige Eigentümerstrukturen auf den Immobilienmärkten begünstigt. In einer am 12. Mai 2020 veröffentlichten und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Studie nehmen die Autoren Christoph Trautvetter und Markus Henn die Umsetzung des seit Anfang des Jahres öffentlichen deutschen Tranzparenzregisters unter die Lupe. Sie ziehen ein sehr kritisches Fazit.

In der Zusammenfassung gleich am Anfang der Studie heißt es:

„Anhand einer Auswahl von über 400 Gesellschaften, die in Berlin Immobilien besitzen, und 15 illustrativen Beispielen zeigt diese Studie, wie groß das Problem von anonymen Immobilieneigentümern und intransparenten Eigentümerstrukturen in der Stadt ist, welche Formen die Anonymität annimmt und warum das 2017 eingeführte Transparenzregister, das eigentlich für mehr Transparenz bei den Eigentümerstrukturen sorgen sollte, seinen Namen (noch) nicht verdient. (…) Für immerhin 135 der untersuchten Gesellschaften konnte trotz umfassender Recherche in den verfügbaren Registern keine natürliche Person als Eigentümer identifiziert werden. Diese Gesellschaften bleiben also weiterhin anonym und verstoßen dabei in vielen Fällen gegen das 2017 erlassene Gesetz.“ (Seite 5)

Und im Resümee am Ende der Studie ist dann zu lesen:

„Als deutsche Hauptstadt und als Mieterstadt (mit einem Anteil von 83 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes) mit im deutschlandweiten und internationalen Vergleich extremen Preissteigerungen im Immobilienbestand steht Berlin besonders im Fokus. Der Anteil internationaler, finanzmarktorientierter und anonymer Investor*innen ist hier besonders hoch, die Gefahr der Geldwäsche auch. Für eine effektive Strafverfolgung, für die politische Regulierung ebenso wie für die Selbstregulierung des Marktes und nicht zuletzt für eine informierte öffentliche Debatte über Vermögen und Verantwortung braucht es mehr Transparenz auf dem Berliner Immobilienmarkt.“ (Seite 15)

Quellen:

Christoph Trautvetter: „Warum viele Immobilieneigentümer in Berlin weiter anonym bleiben: Keine Transparenz trotz Transparenzregister“, 12. Mai 2020

https://blog-steuergerechtigkeit.de/2020/05/immobilientransparenzstudie/

Christoph Trautvetter / Markus Henn: Keine Transparenz trotz Transparenzregister. Ein Recherchebericht zu Anonymität im Berliner Immobilienmarkt, Mai 2020 (Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_5-20_Immobilien-Transparenz.pdf

Katastrophale Arbeitsbedingungen in deutschen Schlachthöfen

Drei Faktoren machen das Coronavirus für die Menschen gefährlich: das Alter, mögliche Vorerkrankungen und – zumeist ausgeblendet – der sozioökonomische Status der Betroffenen. In den letzten Tagen und Wochen geriet allerdings ein bisher weitgehend ignorierter Personenkreis in den öffentlichen Fokus: die osteuropäischen Arbeiter in deutschen Schlachthöfen. Im Rahmen einer von den Grünen beantragten Aktuellen Stunde im Bundestag am 13. Mai sah sich schließlich auch Bundesarbeitsminister Heil genötigt, die Arbeitsbedingungen in der Branche zumindest verbal zu kritisieren. Die diesbezüglichen Nachrichten der vergangenen Tage seien beschämend und nicht zu tolerieren, so der SPD-Politiker.

Der Hintergrund: Die Gewerkschaft NGG geht davon aus, dass rund 30.000 Menschen in der Fleischwirtschaft über Werkverträge beschäftigt sind, darunter 5.000 aus anderen EU-Ländern entsandte Arbeitnehmer mit ausländischem Arbeitsvertrag. Da die Arbeitskräfte in der Regel in sehr beengten Sammelunterkünften von Subunternehmen leben müssen, sind Ansteckungen schlicht unvermeidbar. So waren beispielsweise in einer Fleischfabrik in Coesfeld bis zum 12. Mai 260 der rund 1.200 Arbeiter positiv getestet worden. (Handelsblatt, 12. Mai 2020)

Überraschen kann die Häufung der Infektionen indes nicht. Die oft desaströsen Lebens- und Arbeitsbedingungen führten laut Einschätzung des Robert-Koch-Instituts bereits im Jahr 2018 zu einer „auffälligen Häufung“ von Tuberkulosefällen unter rumänischen Schlachthof-Beschäftigten. Dass seitdem die Situation der Arbeiter weiterhin ignoriert wurden, befördert nun die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie. (German Foreign Policy, 12. Mai 2020)

Ein treffender Kommentar des Deutschlandfunks zur Lage sei hier ausführlich dokumentiert:
„Seit Jahren werden vor unseren Augen zehntausende Osteuropäer in einer Art und Weise ausgebeutet, die an moderne Sklaverei grenzt. Sie verschulden sich, um nach Deutschland zu kommen, zahlen an dubiose deutsche Firmen Vermittlungsgebühren, um sich dann in deutschen Schweinefabriken zu Grunde zu schuften. Zehn bis zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Dann geht es zum Schlafen in verschimmelte Schrottimmobilien, für die sie dann noch ein paar Hundert Euro an Miete an den Subunternehmer abdrücken müssen. Den gesetzlichen Mindestlohn bekommen die Arbeiter oft nur auf dem Papier. Überstunden werden nicht gezahlt, es gibt Abzüge für Arbeitskleidung, Arbeitsschuhe und Dinge, die gar nicht existieren. (…) Wir reden hier nicht von ein paar schwarzen Schafen in der Branche, denn diese Ausbeutung hat System und war und ist von der Politik geduldet, wenn nicht sogar gewollt. Denn der Fleischindustrie wird es extrem leicht gemacht, die Ausbeutung outzusourcen an eine Riege dubioser Subunternehmer. Die organisierte und von der Politik geduldete Ausbeutung hat einen Namen: Werkverträge. Statt Schlachter direkt anzustellen, vernünftig zu bezahlen und nach deutschem Arbeitsrecht zu beschäftigen, vergeben fast alle Großschlachtereien Werkverträge an Subunternehmer, die tricksen, um Lohn betrügen, ihre Arbeiter abzocken, wo sie können. (…) Dass der Aufschrei jetzt so groß ist, hat auch nur zum Teil mit aufkommender Empathie für die Arbeitern zu tun. Durch die Coronafälle in den Schrottimmobilien müssen manche Regionen schlicht ein bisschen länger auf die ersehnten Coronalockerungen warten. Es geht um Eigeninteressen.“ (Deutschlandfunk, 13. Mai 2020)

Warum der deutsche Staat kaum gegen die kriminellen Verhältnisse in der Fleischbranche vorgeht, beschreibt folgender Beitrag:

„Die desaströsen Verhältnisse in den Schlachthöfen ermöglichen es der deutschen Fleischindustrie nicht nur, im Inland billiges Fleisch auf den Markt zu werfen. Sie eröffnen auch die Chance, auf dem Weltmarkt um Exportanteile zu konkurrieren. Dabei hatten deutsche Unternehmen zuletzt durchaus Erfolg. Die Bundesrepublik ist, gemessen am Wert der Ausfuhr, der fünftgrößte Fleischexporteur der Welt (nach den USA, Brasilien, Australien und den Niederlanden) sowie der drittgrößte Schweinefleischexporteur (nach Spanien und den USA); der Umsatz, den alleine die Ausfuhr von Schweinefleisch erzielte, lag 2019 bei rund 5 Milliarden US-Dollar. Der größte deutsche Schlachtbetrieb, Tönnies aus dem nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück, erzielte im vergangenen Jahr mit der Verarbeitung von 20,8 Millionen Schweinen davon mehr als drei Viertel in Deutschland sowie von 440.000 Rindern einen Rekordumsatz in Höhe von um die 7,3 Milliarden Euro.“ (German Foreign Policy, 12. Mai 2020)

Schon weit vor der Corona-Krise machte der katholische Pfarrer Peter Kossen aus dem nordrhein-westfälischen Lengerich immer wieder auf die katastrophalen Zustände in der Branche aufmerksam. Mit seinem Anfang des vergangenen Jahres gegründeten Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ engagiert er sich dafür, Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa zu unterstützen und über ihre Rechte aufzuklären. Und er macht konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Situation. In einem Interview mit der ZEIT thematisiert er die beengten Wohnverhältnissen der Werkarbeiter:

„Es gibt eine Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales für die Corona-Krise, die besagt: ‚ein Mensch – ein Raum‘. Damit könnte man schon mal anfangen. (…) Jetzt, in der akuten Situation, könnte man freie Hotelkapazitäten nehmen. Das ist teuer, aber dann könnte man vielleicht noch Menschen retten. Das kann natürlich nur vorübergehend sein, langfristig braucht es sozialen Wohnungsbau, grundsätzliche Strukturen. Eine Gefahr sind auch die Transfers. Häufig werden die Menschen in Kleintransportern zur Arbeitsstätte gefahren, in denen keine Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden können.“

Ebenfalls äußert er sich zur Rolle der Subunternehmer, die auch für die Unterkünfte verantwortlich sind: „Man sollte schon mal fragen, inwieweit Unternehmen ihre Verantwortung delegieren können, wie sie es seit Jahren tun. Immer heißt es: ‚Wir können nichts für Sozial- und Lohndumping.‘ Das ist ein bisschen billig. Es herrscht meiner Einschätzung nach unter vielen Subunternehmern allerdings auch eine hohe Kriminalität: Es gibt dort Menschenhandel, Sozialbetrug und verschiedene andere Delikte. Dadurch, dass man sie im Graubereich belässt, ermöglicht man den Missbrauch.“

Quellen:

Katrin Terpitz: „Tönnies baut eigenes Corona-Testlabor auf“, Handelsblatt vom 12. Mai 2020

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/fleischwirtschaft-toennies-baut-eigenes-corona-testlabor-auf/25823748.html

German Foreign Policy: „Bleibende Schäden (II)“, 12. Mai 2020

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8272/

Manfred Götzke: Kommentar im Deutschlandfunk (13. Mai 2020, 19:15 Uhr)

https://www.deutschlandfunk.de/deutschlandfunk-alles-von-relevanz.4210.de.html

 

 

Wenke Husmann: „Die Leute haben große Angst“ (Interview mit Peter Kossen), ZEIT Online vom 10. Mai 2020

https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-05/coronavirus-schlachthoefe-arbeitsschutzgesetz-fleischwirtschaft-abstand-hygiene

 

 

Diskussion um Auflagen für Konzerne bei Corona-Hilfen

Im Zusammenhang mit der Coronakrise setzen sich aktuell insbesondere Nichtregierungsorganisationen (NGO) dafür ein, dass staatliche Hilfen an Unternehmen und Konzerne an Auflagen geknüpft werden. Als wichtigste Gründe, die gegen massive „Rettungspakete“ für Unternehmen sprechen, werden angeführt: die jährlichen milliardenschweren Gewinnausschüttungen (Dividenden) an Anteilseigner, das Verschieben von Gewinnen in Steueroasen und das Umgehen von klimaschützenden Maßnahmen.

Das Umweltinstitut München etwa wendet sich in Kooperation mit den NGOs Campact und der Bürgerbewegung Finanzwende in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel, Finanzminister Scholz und Wirtschaftsminister Altmaier:

„Unternehmen dürfen nur Staatshilfen erhalten, wenn sie

– keine Boni und Dividenden an ihre Vorstände und AktionärInnen auszahlen,

– keine Gewinne in Schattenfinanzzentren bzw. Steueroasen verlagern (…)

– einen verbindlichen Klimaschutzplan vorlegen, der sie an das 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klima-Abkommens bindet.“

In einer Pressemitteilung von Ende April fordert auch das Netzwerk Steuergerechtigkeit, Beihilfen nur an Konzerne auszuzahlen, „die sich öffentlich dazu bekennen, keine Gewinne zu verschieben.“ Empfänger von Staatshilfen sollten dazu verpflichtet werden, „der Öffentlichkeit ihre Steuerpraktiken detailliert darzulegen und aggressive Steuervermeidung zu beenden“.

Lobbycontrol hatte zum „Autogipfel“ am 5. Mai im Bundeskanzleramt einen Online-Appell gestartet: „Corona-Hilfen: Keine Vorfahrt für die Autolobby!“. Fast 28.000 Unterschriften wurden am Vortag des Treffens von Bundesregierung und den Chefs der deutschen Autokonzerne dem Kanzleramt übergeben. Die NGO kritisiert massiv die privilegierte Behandlung der Autoindustrie, die in der Vergangenheit zu verheerenden Folgen für das Gemeinwohl geführt habe (Stichwort Dieselskandal).

In einem weiteren Beitrag schreibt die NGO: „Auch die Definition dessen, was als ‚systemrelevant‘ gilt, hat sich verschoben: Die Schlüsselindustrie Auto, von der hierzulande besonders viele (meist männlich besetzte) Arbeitsplätze und (relativ hohe) Einkommen abhängen, ist im Zeichen des Klimawandels zum Problemfall mutiert, dessen Geschäftsmodell als überholt und sogar systemgefährdend erscheint. Im Gegenzug machte der Lockdown offenbar, wie sehr das Leben und Überleben unserer Gesellschaft von schlecht bezahlten, mit wenig Lobbymacht ausgestatteten und deshalb meist übersehenen Berufsgruppen abhängt. Die Geduld, mit der viele Bürger:innen der bevorzugten Behandlung von ‚König Auto‘ früher zuschauten, ist offensichtlich erschöpft.“ (Lobbycontrol, 7. Mai 2020)

Quellen:

Umweltinstitut München e. V.: „Keine Staatshilfen für Steuertrickser und Klimasünder“, Newsletter vom 7. Mai 2020

http://www.umweltinstitut.org/newsletter-ausgaben/archiv/newsletter-07052020.html

Netzwerk Steuergerechtigkeit c/o WEED e. V.: „Keine Staatshilfen für private Gewinne in Steueroasen“, Pressemitteilung vom 27. April 2020  

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/wp-content/uploads/2020/04/2020_04_27-Pressemitteilung-Corona-und-Tax.pdf

Lobbycontrol e. V.: „Corona-Hilfen: Keine Vorfahrt für die Autolobby!“, 27.April 2020

https://www.lobbycontrol.de/2020/04/autogipfel-aktion/?pk_campaign=20200508&pk_source=nl

Anette Sawatzki (Lobbycontrol e. V.), „Nach dem Autogipfel ist vor dem Autogipfel: Das Klüngeln geht weiter“, 7. Mai 2020

https://www.lobbycontrol.de/2020/05/vor-dem-autogipfel-ist-nach-dem-autogipfel/?pk_campaign=20200508&pk_source=nl

Schluckt Vonovia die Deutsche Wohnen?

Vier Jahre nachdem der Immobilienkonzern Deutsche Wohnen eine feindliche Übernahme durch den Branchenprimus Vonovia gerade noch verhindern konnte, entzündet sich eine erneute Debatte um einen Zusammenschluss der börsennotierten Wohnungsgiganten. Ein mit 37 Milliarden Euro bewerteter Immobilienriese könnte so entstehen und dem Konzentrationsprozess auf dem deutschen Immobilienmarkt einen weiteren Schub geben. Die Deutsche Wohnen wird derzeit an der Börse mit rund 12,7 Milliarden Euro, Vonovia mit etwa 24,3 Milliarden Euro bewertet. Die Deutsche Wohnen hat bundesweit rund 161.000 Wohnungen im Portfolio, davon befinden sich fast 112.000 in Berlin. Vonovia besitzt mehr als 400.000 Wohnungen in Deutschland, Schweden und Österreich, davon rund 40.000 in der deutschen Hauptstadt.

Vonovia erklärte in einer Stellungnahme vom 23. April 2020, dass Akquisitionen generell ein „integraler Bestandteil“ der Firmen-Strategie seien und „fortlaufend geprüft“ würden. Eine derartige Transaktion in Berlin „wäre aber überhaupt nur realistisch, wenn fundamentale Fragen geklärt wären und sie von einem entsprechenden Willen der Berliner Politik getragen würde, die derzeit mit Hochdruck an der Bewältigung der Corona-Krise“ arbeite. Die WirtschaftsWoche glaubt entsprechend zu wissen, dass Vonovia aktuell mit Beratern an einer Machbarkeitsstudie für eine freundliche Übernahme arbeite, die sowohl den Segen des Deutsche-Wohnen-Managements als auch des Berliner Senats hätte.

Der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild, wies laut Tageszeitung junge Welt darauf hin, dass in manchen Berliner Quartieren, wie zum Beispiel im Stadtteil Tempelhof, bei einer Fusion fast drei Viertel des Wohnbestandes in die Hand eines einzigen Eigentümers gelangen würden. Die auf möglichst hohe Rendite zielende Marktstrategie beider Konzerne sei dabei das Hauptproblem.

Die Berliner Mietergemeinschaft ergänzt: „Der Zeitpunkt des Vonovia-Vorstoßes dürfte auch damit zu tun haben, dass die Deutsche Wohnen bald in den Leitindex DAX aufgenommen werden könnte, was den Unternehmenswert beträchtlich erhöhen und eine Übernahme entsprechend teurer machen würde. (…) Für Berliner Mieter/innen würde eine Übernahme mit Sicherheit nichts Gutes bedeuten, da der neue Branchenriese seine Marktmarkt rigoros zur Profitmaximierung einsetzen würde. Daher bleibt die Vergesellschaftung aller privaten Wohnungsbaukonzerne für die Mieterbewegung ebenso auf der Tagesordnung wie die Verteidigung und Umsetzung des Mietendeckels, eine langfristige durchgreifende Mietenbegrenzung im Bestand sowie ein engagiertes kommunales Neubauprogramm.“

Laut Rouzbeh Taheri, Sprecher der Berliner Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen, scheint der Konzentrationsprozess in der Immobilienbranche einen neuen Schub zu bekommen. Die Vonovia wolle offenbar als Krisengewinnler die gesunkenen Aktienkurse nutzen und die Deutsche Wohnen schlucken. Werde aber ein Miethai durch einen anderen Miethai geschluckt, dann würden die Mieter unter noch größeren Druck geraten. (Berliner Zeitung vom 24. April 2020)

Seit Jahren wird Vonovia wegen überteuerter Mieten, schlechter Instandsetzung und fehlerhafter Nebenkostenabrechnungen scharf kritisiert. Auch hatten Wohnungs- und Gebäudemodernisierungen, die teilweise mit horrenden Mietsteigerungen verbunden waren, überregional zu immer mehr Mieterprotesten geführt und das Image des Konzerns ruiniert.

Quellen:

„Vonovia erwägt neuen Anlauf zur Übernahme von Deutsche Wohnen“, Wirtschaftswoche, 23. April 2020

https://www.wiwo.de/finanzen/immobilien/wohnungskonzern-vonovia-erwaegt-neuen-anlauf-zur-uebernahme-von-deutsche-wohnen/25766320.html

Joachim Jachnow: „Monopoly auf dem Wohnungsmarkt“, Junge Welt, 24. April 2020

https://www.jungewelt.de/artikel/377055.immobilienriesen-monopoly-auf-dem-wohnungsmarkt.html?sstr=vonovia

Rainer Balcerowiak: „Vonovia will erneut Deutsche Wohnen übernehmen“, MieterEcho online, 24. April 2020

https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/uebernahme/

Ulrich Paul: „Übernimmt Vonovia die Deutsche Wohnen?“, Berliner Zeitung, 24. April 2020

https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/debatte-um-moegliche-uebernahme-der-deutsche-wohnen-li.81928

Hohe Gewinne ‒ hochgefährliche Pestizide

Der Pharma- und Agrarchemiekonzern Bayer hat laut Mitteilung vom 27. April seinen Gewinn im ersten Quartal 2020 kräftig steigern können. Und das nicht nur trotz, sondern auch wegen der Coronakrise. Denn vor allem im Geschäft mit rezeptfreien Arzneimitteln ‒ von Vitaminpräparaten bis Schmerztabletten ‒ profitierte Bayer von Vorratskäufen vieler Verbraucher*innen. Daneben waren ein starkes Wachstum im Agrargeschäft zu verzeichnen sowie hohe Zuwächse beim Gerinnungshemmer Xarelto. Im ersten Quartal stieg der Umsatz um 4,8 Prozent auf rund 12,9 Milliarden Euro, der Gewinn sogar um 20 Prozent auf knapp 1,5 Milliarden Euro.

„Möglich war das dank Hamsterkäufen von Bayer-Medikamenten und -Saatgut. Der Konzern verdiente zudem erneut hohe Summen mit dem Verkauf von Pestiziden, darunter solche, die in der EU verboten sind, aber in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas satte Profite erzielen. Dies geht aus einer aktuellen Untersuchung hervor, die mehrere Nichtregierungsorganisationen vergangene Woche publizierten. Pro Jahr sterben zwischen 20.000 und 40.000 Menschen durch Pestizidvergiftung am Arbeitsplatz. Beste Bedingungen findet Bayer in Brasilien unter dem extrem rechten Präsidenten Bolsonaro. Der Konzern ist zudem bemüht, Schadensersatzklagen von Glyphosat-Opfern in den USA definitiv abzuwehren: Die Opfer müssten einsehen, heißt es, dass der Konzern wegen der Coronakrise kaum zahlungsfähig sei.“ (German Foreign Policy)

Laut der erwähnten Studie der NGOs vertreiben die Unternehmen Bayer und BASF in Südafrika und Brasilien zusammen mindestens 28 Wirkstoffe (Pestizide), die in der EU nicht genehmigt sind – bei BASF sind es mindestens 13 und bei Bayer mindestens 15. Für sieben der Wirkstoffe (fünf von Bayer, zwei von BASF) wurde die Genehmigung entweder nach dem Prüfungsverfahren abgelehnt oder von der EU ausdrücklich widerrufen (vgl. „Gefährliche Pestizide“, S. 2). Jährlich werden schätzungsweise drei Millionen Menschen weltweit wegen einer akuten Pestizidvergiftung behandelt, rund 25 Millionen erleiden weniger akute Vergiftungen. 99 Prozent der Todesfälle ereignen sich in Afrika, Asien und Lateinamerika. Das heißt, in den Ländern, in denen unter anderem Bayer die hochgefährlichen Pestizide vermarktet, die in der EU nicht zugelassen sind („Gefährliche Pestizide“, S. 4).

Quellen:

German Foreign Policy, „Profitable Pestizide“, 29. April 2020

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8259/

Benjamin Luig, Fran Paula de Castro u.a.: „Gefährliche Pestizide von Bayer und BASF – ein globales Geschäft mit Doppelstandards“ (hrsg. u.a. von Misereor, Inkota, Rosa Luxemburg Stiftung), 2. überarbeitete Auflage, April 2020

https://www.misereor.de/fileadmin/publikationen/Broschuere_Gerfaehrliche_Pestizide.pdf

Bayer AG: Quartalsmitteilung zum 31. März 2020

https://www.bayer.de/de/quartalsberichte.aspx

 

 

Organisierte Kriminalität als Profiteur der Corona-Krise (Teil 2)

Nach Auffassung des Generalstaatsanwalts von Siziliens Hauptstadt Palermo, Lo Voi, nimmt die Organisierte Kriminalität (OK) nicht nur Italien, sondern ganz Europa ins Visier, um in Zeiten der grassierenden Covid-Pandemie das große Geschäft zu machen. Die Mafia sei daran interessiert, sich „die Wirtschaft einzuverleiben“, wie es Italiens Antimafia-Staatsanwalt Federico Cafiero De Raho formuliert. Gemeint ist damit unter anderem, dass Organisationen wie die ’Ndrangheta die aktuelle Gelegenheit vor allem dazu nutzen wollen, ihre Gelder zu waschen. Die Mafia will außerdem ihre Aktivitäten in Branchen verstärken, die vom Corona-Lockdown besonders betroffen sind: im Transportgeschäft, Großhandel, Gaststättengewerbe und Tourismus.

In einem Beitrag des Nachrichtensenders n-tv vom 11. April 2020 heißt es dazu:

„Dabei bewegt sie sich gleichzeitig auf drei Ebenen, auf der lokalen, der nationalen und der internationalen. Auf lokaler Ebene bedeutet das, sich als Wohltäter zu stilisieren und Geschäftsinhabern zum Beispiel Überbrückungskredite zu gewähren. Angeblich aus reiner Nächstenliebe. Doch irgendwann wird daraus Wucher oder es werden Gefälligkeiten abverlangt. Auf noch niedrigerer Ebene heißt es, denen unter die Arme zu greifen, die normalerweise von Schwarzarbeit leben und jetzt nicht einmal mehr das Geld haben, um Lebensmittel einzukaufen. Wo der Staat zu langsam handelt, sind Cosa Nostra, ’Ndrangheta oder Camorra zur Stelle. Und das stärkt natürlich die Loyalität der Hilfebedürftigen gegenüber den Mafiosi.“

Generalstaatsanwalt Lo Voi unterstreicht, dass die Mafia erfahrungsgemäß bei jeder Krise sofort zur Stelle ist, auch auf internationaler Ebene. Gesetze und Kontrollmaßnahmen mit Blick auf Geldflüsse und Investitionen seien deshalb nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa zu verschärfen ‒ vor allem bei öffentlichen Ausschreibungen.

Die Corona-Krise erschwert zugleich den Kampf gegen die OK. So verweist der Staatsanwalt in Kalabrien, Nicola Gratteri, darauf, dass hunderte Prozesse gegen mutmaßliche Mafiosis zum Stillstand gekommen seien. Seit dem Beginn der Pandemie werden in Italien offenbar nur noch die dringendsten Prozesse weitergeführt.

Quellen:

Andrea Affaticati: „Einmalige Geldwäsche-Möglichkeit. Mafia wird in ganz Europa einkaufen“, n-tv 11. April 2020

https://www.n-tv.de/panorama/Mafia-wird-in-ganz-Europa-einkaufen-article21707786.html

 „Mafia will von Corona-Krise profitieren“, n-tv, 1. April 2020
https://www.n-tv.de/panorama/Mafia-will-von-Corona-Krise-profitieren-article21684306.html 

 

 

 

 

 

Organisierte Kriminalität als Profiteur der Corona-Krise (Teil 1)

Auch die Organisierte Kriminalität (OK) reagiert auf die Corona-Pandemie: Da bestimmte Geschäftsfelder wie Drogenhandel und Prostitution derzeit nicht funktionieren, orientieren sich organisiert Kriminelle um. Sie versuchen, aus der Krise Profit zu schlagen.

Nach Angaben von Oliver Huth vom Bund Deutscher Kriminalbeamter ziehen beispielsweise die Milliarden-Förderprogramme von Bund und Ländern das organisierte Verbrechen an: „Wir kennen das aus der Vergangenheit, da haben Kriminelle relativ schnell die entsprechenden Gesetzeslücken erkannt, um dieser Subventionen habhaft zu werden.“ (Tagesschau) Laut NRW-Innenminister Herbert Reul konnten schon zwischen 3.500 bis 4.000 gefälschte Anträge aufgedeckt werden, die „frappierend echt“ wirkten (n-tv). Huth, der beim Landeskriminalamt NRW Ermittlungsgruppen gegen die Organisierte Kriminalität leitet, geht davon aus, dass Mafiosi in Deutschland mittels Brandstiftung Versicherungsprämien kassieren (zum Beispiel werden Restaurants, die sich derzeit nicht mehr rechnen, kurzerhand angezündet). Und auch, dass die OK zum Zwecke der Geldwäsche in akut von Insolvenz bedrohten Cafés und Restaurants investiert (Tagesschau). Als weiteres Geschäftsmodell nennt Huth die illegale Müllentsorgung. Besitzer seien gerade jetzt froh, leerstehende Gebäude vermieten zu können. „Plötzlich ist die Lagerhalle voll mit Bauschutt und der Mieter verschwindet auf Nimmerwiedersehen.“ (n-tv) Zudem glaubt Huth mit „absoluter Sicherheit“, dass das Geschäft mit Wucherzinsen und Schutzgelderpressung zunehmen werde. „Egal ob Kriminelle oder unbedarfte Bürger, denen es an Geld fehlt: Sie erhalten Angebote, sich Geld gegen Wahnsinnszinsen zu leihen.“ (n-tv)

Quellen:

Thomas Schmoll: „Geldwäsche-Boom erwartet. Organisierte Kriminalität feiert gerade“, n-tv 21. April 2020

https://www.n-tv.de/politik/Organisierte-Kriminalitaet-feiert-gerade-article21729569.html

Volkmar Kabisch/Jan Lukas Strozyk/Benedikt Strunz: „Organisierte Kriminalität: Auf der Suche nach neuen Geschäften“, NDR 31. März 2020

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/organisierte-kriminalitaet-corona-101.html