Korruptionsverdacht gegen Deutsche Bahn AG

Nach einem Bericht der Financial Times (FT) haben zwei interne Hinweisgeber die Compliance-Abteilung der Bahn offenbar erfolglos vor einem möglichen Betrug beim Megaprojekt „Stuttgart 21“ gewarnt. Die beiden ehemals am Projekt beteiligten Mitarbeiter behaupten, so die britische Tageszeitung, dass ein erheblicher Teil der Kostenexplosion des Projekts auf massives Missmanagement und mögliche Korruption zurückzuführen sei. Leitende Angestellte des Staatsunternehmens hätten unnötige Arbeiten in Auftrag gegeben, wobei Mehrkosten in Höhe von 600 Millionen Euro entstanden seien. Die Whistleblower vermuteten laut FT, dass die hochrangigen Manager dafür auch Gegenleistungen erhielten.

„Als Beispiel hätten sie ein elektrisches Umspannwerk genannt, das nicht Teil der ursprünglichen Planungen gewesen sei“, schreibt das Manager Magazin. „Einer der Ingenieure sei von seinen Vorgesetzten dazu gedrängt worden, den Auftrag im Wert von rund 2,5 Millionen Euro zu vergeben, obwohl eine Alternativlösung für nur 30.000 Euro verfügbar war. In diesem Fall habe sich der Mitarbeiter erfolgreich gegen das Ansinnen gewehrt. In anderen Fällen hätten hochrangige Manager aber die Hinweise auf unnötige Kosten ignoriert – etwa als es um die Verlegung einer U-Bahn-Haltestelle ging, deren Kosten normalerweise mit der Kommune geteilt worden wären.“

Die Deutsche Bahn wies die Vorwürfe gegenüber der FT zurück und erklärte, dass eine mehr als einjährige Untersuchung der vermeintlichen Unregelmäßigkeiten kein Fehlverhalten zutage gebracht habe. Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Bündnis 90/Die Grünen) hat die Deutsche Bahn dennoch aufgefordert, die Vorwürfe schnell aufzuklären. Das Land leiste schließlich den erheblichen finanziellen Beitrag von fast zwei Milliarden Euro für das Projekt und für die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm.

Das Handelsblatt bemerkt grundsätzlich dazu:

„Stuttgart 21, die Verlegung des Bahnhofs und der umliegenden Gleise unter die Erde, ist eines der umstrittensten Bauvorhaben der Deutschen Bahn. Es gab und gibt nach wie vor heftige Bürgerproteste. Einst mit Baukosten von 2,5 Milliarden Euro beziffert, wird der Neubau wohl mindestens 8,2 Milliarden Euro kosten, vielleicht sogar zehn Milliarden Euro. Auch wird der neue Hauptbahnhof deutlich später eröffnet als geplant, statt im Jahr 2019 nun erst 2025. (…) Projekte dieser Größenordnung sind chronisch anfällig für Korruption und Betrug. So gab es in der mittlerweile langen Geschichte von Stuttgart 21 Strafanzeigen von zwei Rechtsanwälten gegen den damaligen Bahnchef Rüdiger Grube und seinen Vorstandskollegen Volker Kefer sowie den aktuellen Infrastrukturvorstand Roland Pofalla, allerdings bislang ohne weitere Folgen. Der Vorwurf: Die Top-Manager würden dem Bahnkonzern Schaden zufügen, weil sie das unwirtschaftliche Projekt fortführen.“

Anmerkung:

Die Deutsche Bahn ist seit ihrer Gründung im Jahr 1994 eine Aktiengesellschaft, die sich zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes befindet.

 

Quellen:

„Bahn-Mitarbeiter warnten vor Korruption bei Stuttgart 21“, Manager Magazin (Online) vom 25. November 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/industrie/stuttgart-21-kostenexplosion-bahn-mitarbeiter-warnten-vor-korruption-laut-ft-bahn-widerspricht-a-b563dbd4-9069-485d-b629-18a68401f84e

Simon Zeise: „Korruptionsvorwürfe gegen Bahn AG“, junge Welt (Online) vom 25. November 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/415366.milliardengrab-korruptionsvorw%C3%BCrfe-gegen-bahn-ag.html

Jens Koenen: „Bahn wehrt sich gegen Korruptionsvorwürfe bei Stuttgart 21“, Handelsblatt (Online) vom 25. November 2021

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/grossprojekt-in-stuttgart-bahn-wehrt-sich-gegen-korruptionsvorwuerfe-bei-stuttgart-21/27833970.html

„Korruptionsvorwürfe bei Stuttgart 21: Hermann für Aufklärung“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 26. November 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verkehr-stuttgart-korruptionsvorwuerfe-bei-stuttgart-21-hermann-fuer-aufklaerung-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-211126-99-153070

 

Ausbau des betrugsanfälligen Minijobsektors

Beschäftigte in etwa 8,6 Millionen Arbeitsverhältnissen verdienen aktuell weniger als 12 Euro brutto pro Stunde, stellte Ende Oktober 2021 die Hans Böckler Stiftung fest. Vor diesem Hintergrund kommentierte jüngst das Neue Deutschland Ankündigungen des Koalitionsvertrages: „Einerseits soll der Mindestlohn auf zwölf Euro steigen. Andererseits wollen SPD, Grüne und FDP die Minijobgrenze erhöhen. Faktisch sichern sie Unternehmen damit eine Option, den höheren Mindestlohn zu umgehen.“ Ob die Erhöhung des Mindestlohns überhaupt schnell erfolge, sei ungewiss. Denn, so die Autorin der linken Tageszeitung, im Sondierungspapier des Dreierbündnisses vom Oktober hätte es noch geheißen, dass der Mindestlohn „im ersten Jahr“ erhöht werde. Im Koalitionsvertrag fehle diese zeitliche Festlegung jedoch.

Ein Schlupfloch sei aber bereits beschlossen. Die Minijobgrenze wird laut Koalitionsvertrag mit Anhebung des Mindestlohns von 450 auf 520 Euro steigen. Minijobs bei einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden sollen damit möglich bleiben. Die FDP habe sich durchgesetzt und das Dreierbündnis die Empfehlung von zahlreichen Forschenden in den Wind geschlagen, die sich für eine Begrenzung dieser Beschäftigungsform aussprechen. Das IAQ (Institut Arbeit und Qualifikation) etwa plädiert dafür, dass Minijobs auf bestimmte Gruppen wie Studierende, Schülerinnen und Rentner beschränkt werden. Der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch (IAQ), so das Neue Deutschland, halte das Vorhaben der Ampelparteien für einen großen Fehler. Denn die meisten Verstöße gegen den Mindestlohn gebe es bei Minijobs. Das sei bekannt. „So würden geringfügig Beschäftigte in der Regel nur bei Anwesenheit bezahlt. ‚Sie erhalten meist keinen bezahlten Urlaub und keine Lohnfortzahlung bei Krankheit, obwohl sie Anspruch darauf haben. Dies gilt vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen, wo die meisten tätig sind.‘ Finanziell sei dies eine erhebliche Einbuße, dadurch würden um die 35 Tage pro Jahr nicht bezahlt, die eigentlich vergütet werden müssten. Faktisch seien Minijobs damit für Unternehmen eine ‚Exitoption aus dem Mindestlohn‘. Und diese Möglichkeit soll nun ausgebaut werden.“

Nach einer aktuellen Studie des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit (IAB) übten im Jahr 2019 insgesamt mehr als sieben Millionen Erwerbstätige Minijobs entweder als Haupt- oder Nebenbeschäftigung aus. In der Corona-Krise sank die Zahl auf rund sechs Millionen – immerhin noch etwa 13,5% aller Erwerbstätigen in Deutschland. Laut IAB-Studie verdrängen sie allein in kleinen Betrieben bis zu 500.000 sozialversicherungspflichtige Stellen.

Quellen:

Matthias Collischon/Kamila Cygan-Rehm/Regina T. Riphahn: „Minijobs in Kleinbetrieben: Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wird verdrängt“, IAB-Forum, 20. Oktober 2021
https://www.iab-forum.de/minijobs-in-kleinbetrieben-sozialversicherungspflichtige-beschaeftigung-wird-verdraengt/?pdf=23532

„Neue Studie des WSI: Rund 8,6 Millionen Beschäftigte verdienen aktuell weniger als 12 Euro in der Stunde – vor allem in Jobs ohne Tarifvertrag“, Pressemitteilung der Hans Böckler Stiftung vom 28. Oktober 2021

Eva Roth: „Rauf mit dem Mindestlohn, raus aus dem Mindestlohn“, Neues Deutschland (Online) vom 27. November 2021
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159019.minijobs-rauf-mit-dem-mindestlohn-raus-aus-dem-mindestlohn.html

 

 

 

 

 

Wirecard-Prüfer unter Kritik

Der Zusammenbruch des Milliardenkonzerns Wirecard AG gilt als einer der größten Finanzskandale der Neuzeit. Das Unternehmen meldete im Juni 2020 Insolvenz an, weil angeblich in Ostasien geparkte Vermögenswerte in Höhe von 1,9 Milliarden Euro unauffindbar waren. Bis heute ist ungeklärt, ob die Gelder in dubiosen Kanälen versickerten oder ob sie niemals existiert hatten, nur zur Täuschung der Finanzmärkte erfunden waren. Dem ehemaligen Wirecard-Chef Markus Braun wird mittlerweile bandenmäßiger Betrug vorgeworfen.

In diesem Zusammenhang geriet auch das global agierende Wirtschaftsprüfungsunternehmen Ernst & Young (EY) ins Feuer der Kritik. Deren Prüfer hatten über Jahre hinweg die Abschlüsse von Wirecard testiert – auch noch, als sich Berichte über die dubiosen Geschäfte des Finanzriesen häuften. Inzwischen wurden umfängliche Schadensersatzklagen geschädigter Anlieger gegen EY eingereicht.

Ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages beauftragte Martin Wambach, den Vorsitzenden des Institutes der Wirtschaftsprüfer (IDW), mit einer Untersuchung des Vorgangs. Dessen Bericht listet zahlreiche Fehler und Versäumnisse der EY-Prüfer auf, wurde bis auf weiteres als geheim eingestuft und sollte unter Verschluss bleiben. Tatsächlich wurde der 168 Seiten umfassende sogenannte Wambach-Report kürzlich auf der Homepage des Handelsblattes veröffentlicht.

Es ist derzeit juristisch strittig, ob eine ungeschwärzte Veröffentlichung des Reports zulässig sei. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte dies im August 2021 verneint. Gegen diese Entscheidung läuft allerdings eine Beschwerde, über die noch nicht entschieden ist.

Das Prüfunternehmen EY reagierte auf die Veröffentlichung mit einer Strafanzeige gegen unbekannt. Gemeint seien Personen, die den als geheim eingestuften Bericht an das Handelsblatt weitergegeben hätten. Wie die FAZ berichtete, sieht das Unternehmen die „persönlichen Schutzrechte seiner Mitarbeiter und Mandanten“ verletzt. Außerdem handele es sich bei der Weitergabe um eine „Umgehung des rechtsstaatlichen Verfahrens“.

Nach einem weiteren Bericht des Handelsblattes ermittelt die Abschlussprüferaufsichtsstelle (Apas) derzeit gegen sieben ehemalige oder aktuelle EY-Mitarbeiter wegen „mutmaßlicher berufsrechtlicher Pflichtverletzungen“. Bei einem dieser Mitarbeiter handele es sich um den ehemaligen Deutschlandchef Hubert Barth. Dieser habe bereits am 6. Februar 2019 von unbekannten Whistleblowern einen Brief mit Informationen über dubiose Geschäfte in der Wirecard-Zweigstelle in Singapur erhalten.

Quellen:

Bernd Müller: „Milliarden versickert?“, junge Welt vom 24. November 2021
https://www.jungewelt.de/artikel/415176.finanzskandal-milliarden-versickert.html?sstr=Wirecard

Mark Fehr und Marcus Jung: „Wirecard-Skandal: EY erstattet Anzeige wegen Wambach-Bericht“, FAZ vom 22. November 2021
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/wirecard-skandal-ey-erstattet-anzeige-wegen-wambach-bericht-17647144.html

Bender, Fröndhoff, Holtermann, Iwersen, Votsmeier: „EY und der Wirecard-Skandal – Immer Prüfer geraten ins Visier der Aufsicht“, Handelsblatt vom 26. November 2021
https://www.handelsblatt.com/finanzen/auch-ex-deutschlandchef-betroffen-ey-und-der-wirecard-skandal-immer-mehr-pruefer-geraten-ins-visier-der-aufsicht/27828336.html

 

Weltweite Versklavung

„Wenn wir an Sklaverei denken, sehen wir in Ketten gelegte Menschen, die aus Afrika gewaltsam in alle Welt verschifft werden. Nur selten verbinden wir die Sklaverei mit den Arbeits- und Lebensbedingungen der Gegenwart. Tatsächlich ist die Sklaverei als rechtlich abgesichertes Arbeitssystem heute fast weltweit abgeschafft. (…) Doch die Annahme, es gäbe heutzutage keine Sklaverei mehr, geht an der Realität vorbei. Tatsächlich sind heute – in absoluten Zahlen – mehr Menschen versklavt als jemals zuvor in der Geschichte.“ 

So beginnt der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) im November 2021 vorgelegte „Atlas der Versklavung“, der anhand von zahlreichen Daten und Fakten die vielen heutigen Gesichter der Zwangsarbeit und Ausbeutung aufzeigt. „Kriminelle, die mit Menschen handeln, beuten ihre Opfer auf vielfältige Weise aus und beeinflussen auch die globalisierte legale Wirtschaft. Sklaverei existiert in vielen Wirtschaftszweigen, sie wird genutzt bei der Produktion unserer Smartphones, des Palmöls in unseren Kosmetika und Shampoos, der Meeresfrüchte, die wir im Supermarkt kaufen; sie ist in unsere Kleidung eingewebt und in der globalen Sexindustrie sowie unter Haushaltshilfen verbreitet“, heißt es im Vorwort der Broschüre.

Der Atlas geht auf 50 Seiten unter anderem auf die Definitionsprobleme des Themas ein, beschreibt Zwangsarbeit in den globalen Lieferketten und untersucht weltweit einzelne Branchen (Fischerei, Baugewerbe, Landwirtschaft). Einzelne Länder und Regionen werden beispielhaft in den Fokus gerückt (zum Beispiel Mauretanien, Mali, Haiti, Brasilien, Nordkorea, aber auch Europa). Auch wird der vielfältige zivilgesellschaftliche Widerstand gegen die verschiedenen Formen der Sklaverei thematisiert.

Sklaverei könne nur dadurch beendet werden, dass die Wirtschaft reguliert, der Zugang zu sozialen Rechten verbessert und legale Formen der Migration ermöglicht würden, hieß es im Rahmen der Präsentation der Studie in Berlin. Nur etwa 0,2 Prozent der weltweiten Fälle von Sklaverei würden juristisch untersucht und strafrechtlich verfolgt. Nötig seien deshalb auch in Deutschland der Ausbau und die langfristige Finanzierung von Beratungsstellen für Betroffene von Arbeitsausbeutung sowie regelmäßige Kontrollen des Zolls.

Quellen:

„Atlas der Versklavung. Daten und Fakten über Zwangsarbeit und Ausbeutung“, Rosa-Luxemburg-Stiuftung (Hg.), November 2021

https://www.rosalux.de/publikation/id/45336/atlas-der-versklavung?cHash=2b22333b1bfd69112e0f017fe48d06bc

Haidy Damm: An unsichtbaren Ketten, Neues Deutschland vom 10. November 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158489.moderne-sklaverei-an-unsichtbaren-ketten.html?sstr=versklavung

 

 

Eldorado für Geldwäsche

 „Deutschland hat ein gewaltiges Problem mit schmutzigem Geld“ – so lautet das Urteil des ARD-Magazins Plusminus. Dieses hat sich am 10. November 2021 in einem Beitrag mit dem Delikt der Geldwäsche als dem Herzstück organisierter Kriminalität auseinandergesetzt. Danach geht das Bundesfinanzministerium von 100 Milliarden Euro kriminellem Geld aus, welches hier pro Jahr gewaschen wird. Allerdings landen kaum Fälle vor Gericht; nur ein paar Hundert Urteile werden pro Jahr gesprochen. Das Problem ist, dass die sogenannten Vortaten, aus denen das schmutzige Geld stammt, oft nicht zu ermitteln sind. Diese strafbaren Handlungen müssen aber zumeist vor Gericht nachgewiesen werden, um Urteile wegen Geldwäsche zu erwirken. Ein anonym bleibender Ermittler wird mit den Worten zitiert: „Die Bereitschaft vieler Staatsanwaltschaften, ein Verfahren wegen Geldwäsche ohne bekanntes Grunddelikt zu führen, ist vielfach gleich Null.“

Allerdings ist eine generelle Pflicht zur Offenlegung der Vermögensherkunft bisher juristisch nicht möglich. Frank Buckenhofer von der Gewerkschaft der Polizei fordert deshalb eine neue Behörde mit ausreichenden Befugnissen. Gemeint ist eine Finanzpolizei, die präventive Finanzermittlungen aufnehmen kann. Personen oder Unternehmen, die als Dienstleister Geldwäsche für die organisierte Kriminalität betreiben, seien so abgeschottet, dass sie nie in eine Beziehung zu einer Vortat gesetzt werden könnten. „Und da hilft dann diese präventive Finanzermittlung, weil, wenn die dann trotzdem nicht erklären können, woher sie diese Mengen Geld haben, dann sage ich: Wenn du nicht erklärst, wo das Geld her ist, dann nehme ich es dir weg.“ (Zitat Frank Buckenhofer)

Quelle:

Sabina Wolf: „Unternehmen im Visier der Geldwäscher“, Plusminus (ARD) vom 10. November 2021

https://www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/sendung/geldwaesche-unternehmen-100.html

Private Equity in der Pflegebranche

Eine gemeinsam von der NGO Finanzwende und der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebene aktuelle Studie untersucht das Agieren aggressiv auftretender Investoren im Pflegebereich. Welche Rolle haben Private-Equity-Firmen in den letzten Jahren für die Finanzialisierung des Pflegesektors gespielt? Anhand der drei Beispiele Deutschland, Frankreich und Großbritannien wird erläutert, wie und mit welchen Ergebnissen sich Finanzmarktakteure mit hohen Gewinnerwartungen auch in diesem sensiblen Bereich der Daseinsfürsorge ausbreiten, also Pflegheimgruppen aufkaufen und sie in kurzer Zeit gewinnbringend umgestalten.

„Der Pflegesektor scheint das perfekte Investitionsziel für Private-Equity-Firmen und die dahinterstehenden Investoren zu sein. Die Nachfrage nach Pflegedienstleistungen ist rasch gestiegen und wird angesichts einer alternden Bevölkerung weiter zunehmen. Der Sektor bietet verlässliche Einkommensströme durch Pflegeversicherungen, Steuergelder sowie die Eigenbeteiligungen von Patienten und Angehörigen. Zudem sind die Immobilien von Pflegeheimketten für Investorinnen ein attraktiver Vermögensgegenstand, der in Paketen an andere Investoren weiterverkauft werden kann.“ (Théo Bourgeron et al., Seite 3)

Die Studie zeigt, dass die verschiedenen Private-Equity-Firmen in ihrer Renditeorientierung ähnlich vorgehen. Erleichtert wird deren Agieren durch den geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad sowie unzureichende Qualitätskontrollen in diesem Sektor.

  • Die Finanzunternehmen setzen nur wenig Eigenkapital ein, nutzen dagegen zum einen das Geld anderer Investoren wie etwa Pensionsfonds und zum anderen hohe Schulden, um Investitionen durchzuführen. Ein großer Teil der Schulden wird dann auf die erworbenen Unternehmen übertragen, so dass die langfristige Existenz der Pflegeheimgruppen gefährdet ist.
  • Pflegeheimgruppen müssen oft „Gesellschafterdarlehen“ mit hohen Zinssätzen bedienen. In der Folge führte das zu einzelnen Insolvenzen.
  • Private-Equity-Firmen strukturieren den Immobilienbestand erworbener Pflegeheimgruppen um. Nahezu alle Immobilien wurden in den untersuchten Fällen verkauft und anschließend nach der Methode „Sale & Lease Back“ wieder angemietet. 
  • Die Gewinne der Pflegeheimgruppen wurden in allen Fällen an Muttergesellschaften in Schattenfinanzzentren wie Luxemburg oder Jersey transferiert (vgl. Théo Bourgeron et al., Seite 3f.).

 

Die kontinuierlichen Übernahmen im deutschen Pflegeheimsektor verweisen auf die Strategie, größere Ketten zu schaffen, die mit großen Gewinnspannen weiterverkauft werden können. „So kaufte das US-amerikanische Private-Equity-Unternehmen Carlyle 2013 die deutsche Pflegeheimgruppe Alloheim für 180 Milllionen Euro und verkaufte das Unternehmen vier Jahre später für 1,1 Milliarden Euro an den nächsten Finanzinvestor.“ (Théo Bourgeron et al., Seite 14)

Die Studie stellt mit Bezug auf eine britische Untersuchung fest, dass bei Private-Equity-Modellen mindestens zehn Prozent der jährlichen Gesamteinnahmen des Sektors in Großbritannien in den Taschen von Finanzinvestoren landen. Die Bürgerbewegung Finanzwende geht davon aus, dass in Deutschland ähnliche Summen nicht bei den Pflegebedürftigen ankommen, sondern dem ohnehin schlecht finanzierten Pflegesystem entzogen werden.

Die Autor*innen bezweifeln, dass Private-Equity-Firmen überhaupt im Pflegebereich aktiv sein sollten. Unterstützt werden sie dabei vom Ergebnis einer zusätzlich in Auftrag gegebenen Umfrage, nach der 60 Prozent der Bevölkerung den Aufkauf von Pflegeheimen durch private Investoren ablehnen.

Was ist eigentlich Private Equity?

Eine ausführliche Erklärung findet sich auf Seite 14 der angegebenen Studie.

Quellen:

„Private-Equity-Investoren in der Pflege“, Finanzwende Recherche, 14. Oktober 2021

https://www.finanzwende-recherche.de/unsere-themen/private-equity-investoren-in-der-pflege/

„Neue Studie: Schädlicher Einfluss von Private-Equity-Investoren im Pflegebereich“, Pressemitteilung von Finanzwende Recherche, 14. Oktober 2021

https://www.finanzwende-recherche.de/2021/10/14/neue-studie-schaedlicher-einfluss-von-private-equity-investoren-im-pflegebereich/

Théo Bourgeron/Caroline Metz/Marcus Wolf: Private-Equity-Investoren in der Pflege: Eine Studie über das Agieren von Private-Equity-Investoren im Pflegebereich in Europa, Finanzwende/Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2021

https://www.finanzwende-recherche.de/wp-content/uploads/2021/10/Finanzwende_BourgeronMetzWolf_2021_Private-Equity-Investoren-in-der-Pflege_20211013.pdf

Eine vom Journalistenteam Investigate Europe durchgeführte Recherche stellt ebenfalls fest:

„Ein stetig wachsender Teil der staatlichen Ausgaben für die Pflege fließt in die Kassen transnationaler Unternehmen, die damit eine wichtigen Teil der sozialen Infrastruktur in ihren Besitz bringen; die 20 größten Konzerne verwalten bereits mehr als 4.681 Heime für mehr als 400.000 Pflegebedürftige (…).

Anonyme Finanzinvestoren übernehmen immer größere Anteile am Pflegegeschäft und entziehen ihre mit öffentlichen Geldern erzielten Gewinne der Besteuerung, indem sie ihre Erlöse in Offshore-Zentren verschieben.

Die zunehmende Privatisierung geht in vielen EU-Ländern einher mit Einsparungen beim Personal und Mängeln bei der Pflegequalität, aber die Regierungen lassen den Prozess laufen und versagen vielerorts bei der Kontrolle.

Quelle:

Nico Schmidt/Harald Schumann: „Heime als Gewinnmaschinen für Konzerne und Investoren“, Der Tagesspiegel vom 16. Juli 2021

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/das-milliardengeschaeft-altenpflege-heime-als-gewinnmaschinen-fuer-konzerne-und-investoren/27424770.html

vgl. auch:

https://www.investigate-europe.eu/de/2021/heime-als-gewinnmaschinen-fuer-konzerne-und-investoren/

https://www.investigate-europe.eu/de/2021/millardengeschaeft-altenpflege-konzerne/

 

Steuerbetrug viel größer als bisher bekannt

„Solche Geschäfte sind gewissermaßen das perfekte Verbrechen. Kompliziert, abstrakt, weit weg von unserem Alltag. Auf den ersten Blick gibt es keine Opfer. Niemand scheint direkt betroffen.“

Dieses Zitat aus einem Bericht des Recherchezentrums Correctiv bezieht sich auf den immensen Steuerbetrug, bei dem es den Tätern nicht nur darum geht, Steuern zu vermeiden – sondern aktiv in die Staatskassen zu greifen und Milliardenbeträge zu stehlen.

Eine aktuelle internationale Untersuchung, an der in Deutschland das NDR-Politmagazin Panorama und  Correctiv beteiligt waren, zeigt: Der entstandene Schaden aufgrund von Cum-Ex, Cum-Cum und anderer Steuertricksereien ist weit größer als bislang vermutet. Nach dieser Untersuchung belaufe sich die Summe europaweit auf rund 150 Milliarden Euro, davon knapp 36 Milliarden in Deutschland in den letzten 20 Jahren. Noch 2018 war man nur von rund 55 Milliarden Euro in Europa ausgegangen. Der deutsche Staatshaushalt habe tatsächlich allein mit Cum-Ex-Deals mehr als sieben Milliarden Euro verloren, mit Cum-Cum 28,5 Milliarden.

In Frankreich entstanden in den vergangenen beiden Jahrzehnten Steuerausfälle von etwa 33 Milliarden Euro, in den Niederlanden 27 Milliarden, in Spanien 19 Milliarden. Geringere Verluste verzeichneten Staaten wie etwa Großbritannien und auch die USA, in denen strengere Gesetze gelten und die Finanzmarktaufsicht schärfer vorgeht (vgl. Tagesspiegel).

Worum handelt es sich bei Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäften? Es geht bei beiden Varianten um Steuerrückzahlungen im Zusammenhang mit Dividendenzahlungen:

„Ähnlich wie auch bei Cum-ex profitieren die Akteure davon, dass der Staat Steuern zurückerstattet, obwohl diese gar keinen Anspruch darauf haben. Der Unterschied in der Bezeichnung liegt darin, dass die Aktien mal mit, also ‚cum‘, Dividende gehandelt werden und mal ohne, also ‚ex‘. Bei ‚Cum-cum‘-Geschäften geht es um Aktiengeschäfte, die vor dem Dividendenstichtag eingefädelt werden.

Zudem spielen ausländische Investoren eine besondere Rolle, denn die werden in vielen Ländern der Welt steuerrechtlich anders behandelt als inländische Institute, auch in Deutschland. Während sich inländische Investoren die einmal gezahlte Steuer zurückerstatten lassen können, ist dies ausländischen Unternehmen nur eingeschränkt möglich. In diesen Fällen liehen sich deutsche Banken, zum Beispiel die Commerzbank, für den Zeitraum der Auszahlung der Dividende die Aktien. Die deutschen Unternehmen ließen sich die Kapitalertragsteuer erstatten – und teilten dann die Zahlung mit dem ausländischen Geschäftspartner, dem die Aktien eigentlich gehörten.“ (FAZ)

Seit Juli dieses Jahres gelten Cum-Ex-Deals nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs als strafbar. Die Staatsanwaltschaft Köln, über die viele Ermittlungsverfahren laufen, geht mittlerweile auch gegen mehr als tausend Beschuldigte vor. Gerhard Schick vom Verein Finanzwende spricht jedoch von einer deutlichen Diskrepanz zwischen den Zahlen der aktuellen Studie und Angaben des Bundesfinanzministeriums. Dem vermuteten Schaden bei Cum-Cum-Deals in Höhe von über 28 Milliarden Euro stünden bisher nur Rückzahlungen in Höhe von 135 Millionen Euro gegenüber. Bund und Länder hätten jahrelang die Aufklärung blockiert (vgl. Tagesspiegel).

Auch Correctiv zeigt sich pessimistisch, was Aufklärung und Verfolgung dieser Art der Wirtschaftskriminalität betrifft, und verweist auf die internationale Dimension des Steuerbetrugs:

„Das Finanzministerium von Scholz scheint nicht die einzige Behörde zu sein, die im Kampf gegen steuergetriebene Deals versagt. Wir haben über das Informationsfreiheitsgesetz Einsicht in Akten beantragt und so einen Einblick bekommen, wie europäische Behörden hinter den Kulissen mit der Problematik der Cum-Ex-Geschäfte und anderer steuergetriebener Deals umgehen. Das Bild ist auch drei Jahre nach den Cum-Ex-Enthüllungen verheerend. Europäische Staaten scheitern bei der Bekämpfung des systematischen Steuerbetrugs.“

Quellen:

Corinna Budras: „140 Milliarden Euro Beute durch Steuertricksereien“, FAZ (Online) vom 21. Oktober 2021

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/cum-cum-geschaefte-140-milliarden-euro-durch-steuerbetrug-17596283.html

Correctiv (Recherchezentrum): „Top Story: Die CumEx-Files 2.0“

https://correctiv.org/schwerpunkte/cum-ex-steuerbetrug/

„Cum-Ex: Steuerräuber ohne Schuldgefühl“, ARD-Magazin Panorama vom 21. Oktober 2021

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/-,panorama17208.html

Albert Funk: „Betrug bei Dividenden richtet weltweit 150 Milliarden Euro Schaden an“, Tagesspiegel (Online) vom 21. Oktober 2021“

https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/cum-ex-deals-und-andere-geschaefte-betrug-bei-dividenden-richtet-weltweit-150-milliarden-euro-schaden-an/27725068.html

 

 

 

Betrugsvorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler

Im Februar 2016 hatte der Leerverkäufer (engl. Shortseller) Fraser Perring einen aufsehenerregenden 100seitigen Bericht über Bilanzfälschungen von Wirecard veröffentlicht und damit den Niedergang des ehemaligen Dax-Hoffnungsträgers eingeleitet. Jetzt greift er die Adler Group an, eine der größten Vermieterfirmen Deutschlands. Sein Geschäftsmodell funktioniert wie folgt: Perring überprüft Unternehmensbilanzen nach Bilanzfälschungen und anderen Unstimmigkeiten, leiht sich dann Aktien der Konzerne und verkauft sie weiter. Anschließend veröffentlicht er seine kritischen Studien über das jeweilige Unternehmen und wartet bis zum Rückgabetermin auf sinkende Kurse. Die Kursdifferenz streicht er dann als Gewinn ein. 

Wie das Handelsblatt berichtet, setzte er diesmal einen nicht bekannten Betrag auf den Fall der Aktie der Adler Group S.A. Die Adler Group mit Firmensitz in Luxemburg ist im S-Dax gelistet und operiert von Berlin aus. Sie entstand im Jahr 2020 aus dem Zusammenschluss der ADO Properties, Adler Real Estate und des Berliner Projektentwicklers Consus Real Estate und vermietet rund 70.000 Wohnungen in deutschen Großstädten. Perrings Investmentfirma Viceroy wirft in einem aktuellen Bericht Adler vor, ein „hotbed of fraud, deception and financial misrepresentation“ zu sein („eine Brutstätte für Betrug, Täuschung und finanzieller Falschdarstellung“). Adler wies die Anschuldigungen auf Schärfste zurück – die Aktie stürzt dennoch vorübergehend ab.

Das Handelsblatt schreibt in seiner Ausgabe vom 7. Oktober 2021:

„Perring hat heute auf der Webseite Viceroyresearch.org einen 61 Seiten langen Report seines Rechercheinstituts ‚Viceroy Research‘ vorgelegt. Adler ist darin als undurchsichtiges Unternehmensgeflecht beschrieben. Der Konzern sei darauf ausgelegt, besser kapitalisierte Unternehmen zu übernehmen, sie mit Schulden zu belasten und über nicht offengelegte Transaktionen mit nahe stehenden Parteien auszuhöhlen. Zugleich kritisiert Perring stillstehende Baustellen, Bilanzierungstricks und eine angebliche Überbewertung der Immobilien. Als Profiteure dieser Machenschaften hat Perring eine Gruppe aus Gesellschaftern und Managern bei Adler und im Umfeld des Konzerns ausgemacht. Diese gehörten zu einem Netzwerk um den Unternehmer Cevdet Caner, der den Immobilienkonzern angeblich aus dem Hintergrund wie ein Schatten-CEO kontrolliere. Perring wirft dem Zirkel aus ‚Friends & Family‘ verdeckte Insidergeschäfte vor. Die Leidtragenden seien Aktionäre und Anleihegläubiger.“

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) überprüft nach eigenen Angaben die in der Viceroy-Studie erhobenen Vorwürfe gegen Adler. Sollten sich daraus Verdachtsmomente für Straftaten ergeben, werde man diese bei der Staatsanwaltschaft anzeigen.

Quellen:

„Adler Group – Bond Villains“, Viceroy Research, 6. Oktober 2021

https://viceroyresearch.org/2021/10/06/adler-group-bond-villains/

René Bender/Felix Holtermann/Kerstin Leitel/Lars-Marten Nagel: „Wirecard-Jäger erhebt schwere Vorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler“, Handelsblatt vom 7. Oktober 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/shortseller-fraser-perring-wirecard-jaeger-erhebt-schwere-vorwuerfe-gegen-immobilienkonzern-adler/27681396.htmlhttps://www.bing.com/?FORM=SLBRDF&PC=SL09&ticket=ST-1133880-G01uoJMBLOxSNPVNmkZ5-cas01.example.org

Jack Sidders/Laura Benitez/Luca Casiraghi: „ House of Caner: Adler sitzt auf 8 Mrd. Euro Schulden“, Capital vom 8. Oktober 2021

https://www.capital.de/wirtschaft-politik/house-of-caner-adler-sitzt-auf-8-mrd-euro-schulden

 

RWE und der verrückte Emissionshandel

Im Januar 2019 wurde in Deutschland beschlossen, bis spätestens 2038 aus der Kohleenergie auszusteigen. Auch einer der umsatzstärksten Stromversorger hierzulande, RWE, muss seine Kohlekraftwerke bis dahin schrittweise abwickeln. Das Handelsblatt beschrieb in seiner Ausgabe vom 19. September 2021, warum der Konzern jedoch weiterhin gut an dem klimaschädlichen Energieträger verdient.

Im ersten Halbjahr 2021 erzielte die Kohle- und Atomsparte von RWE danach 235 Millionen Euro mehr Gewinn als im Vorjahreszeitraum. Der Strompreis im Großhandel stieg zwar sprunghaft an, der Preis für CO2-Zertifikate, die insbesondere die Kohleverstromung verteuern sollen, aber ebenso. Im letzten Jahr kostete ein Zertifikat, das zum Ausstoß einer Tonne des Treibhausgases berechtigt, rund 25 Euro. Aktuell liegt der Preis bei etwa 60 Euro. RWE aber, so heißt es, könne den steigenden C02-Preisen gelassen entgegenblicken, da sich das Unternehmen schon vor Längerem zu äußerst günstigen Konditionen gegen das CO2-Preis-Risiko gewappnet habe – und zwar für das ganze Jahrzehnt. RWE hatte sich schlicht mit den Erlaubnisscheinen eingedeckt, als die Preise noch im Keller waren. Bis 2030 seien die finanziellen Auswirkungen steigender CO2-Preise vollständig abgesichert.

Jedoch steht RWE als Feindbild für die Klimaschützer massiv unter politischem und öffentlichem Druck, endlich die Energiewende umzusetzen. Das Handelsblatt schreibt über die Strategie des Konzerns: „Es wird sogar spekuliert, dass RWE in den kommenden Jahren vorrangig die CO2-Rechte am Markt verkaufen und die eigenen Kraftwerke wiederum mit teureren Rechten am Markt versorgen könnte. Die Tradingabteilung würde dann hohe Gewinne verbuchen, die Gewinne mit den Kohlekraftwerken würden dagegen nicht zu üppig ausfallen – was politisch opportun wäre.“

Der Nachrichtendienst heise online erinnert daran, was es mit dem Emissionshandel auf sich hat:

„Ein Preis auf den Ausstoß von CO₂ (Kohlendioxid), dem mit Abstand wichtigsten Treibhausgas, ist für viele Umweltökonomen das Mittel der Wahl, um die Wirtschaft umzubauen. Seit 2005 müssen in der EU die Betreiber von Kohlekraftwerken und in den folgenden Jahren auch diverse andere Industriebranchen, wie Stahl, Chemie, Papier und Zement, für jede emittierte Tonne CO₂ ein Zertifikat vorweisen oder eine Strafgebühr bezahlen.

Die Zertifikate werden entweder bei staatlichen Auktionen oder an der Börse erworben. In den ersten Jahren gab es sie sogar umsonst, was die deutschen Kraftwerksbetreiber nicht daran hinderte, ihren fiktiven Preis in die Stromrechnungen der Kunden einzurechnen. Mehrere Milliarden Euro Sondergewinne haben RWE & Co. seinerzeit auf diesem Wege gemacht.

Inzwischen müssen die Energieversorger und ein Teil der übrigen betroffenen Konzerne für neue Zertifikate zahlen. Das Problem: Die Zertifikate haben kein Verfallsdatum und sie wurden in der Vergangenheit sehr großzügig ausgegeben.“

Quellen:

Jürgen Flauger/Kathrin Witsch: „Milliardengeschäft Kohle: Warum RWE sogar an steigenden CO2-Preisen verdient“, Handelsblatt vom 19. September 2021

https://www.handelsblatt.com/technik/thespark/energiekonzern-milliardengeschaeft-kohle-warum-rwe-sogar-an-steigenden-co2-preisen-verdient/27617624.html?ticket=ST-7162300-Od5UrDkhRPixOBJnkXc5-ap2

Wolfgang Pomrehn: „RWE: Zusatzgewinne durch Emissionshandel“, heise online, 21. September 2021

https://www.heise.de/tp/news/RWE-Zusatzgewinne-durch-Emissionshandel-6197570.html

Gegen Mieterverdrängung durch Bayer-Konzern

Um seinen Unternehmensstandort im Berliner Bezirk Wedding auszubauen, will der Pharmakonzern Bayer Schering Pharma AG offenbar vier Wohngebäude abreißen lassen. Darüber berichtete bereits am 18. August 2021 der Blog der lokalen Initiative Moabitonline und im Anschluss daran auch der Berliner Tagesspiegel. Kündigungen für die betroffenen Mieter*innen in der Tegeler Straße 2-5 (mit etwa 50 Wohnungen) seien bereits erfolgt; für weitere Gebäude in derselben und einer angrenzenden Straße wird ebenfalls mit Abrissen und Kündigungen gerechnet. Nach Angaben des Tagesspiegel verbindet Bayer damit eine Investition in dreistelliger Millionenhöhe, die – so ein Unternehmenssprecher – mehr als 1.000 Arbeitsplätzen in Berlin langfristig gewährleisten soll. Insgesamt arbeiten am Berliner Standort von Bayer etwa 5.000 Mitarbeiter*innen.

Im August fand vor den Häusern der Tegeler Straße eine kämpferische Kundgebung unter dem Motto „Abriss geht gar nicht!“ statt. Unter anderem wurde ein Grußwort der Coordination gegen Bayer-Gefahren verlesen. Ein Auszug daraus:

„Die Coordination gibt es seit 1978. Wir haben als Bürgerinitiative begonnen und sind mittlerweile ein internationales Netzwerk. Wir sind jedes Jahr auf BAYER-Hauptversammlungen präsent und konfrontieren den Vorstand mit seinen Verbrechen. (…) Unsere Einladung, auf der jährlichen BAYER-Hauptversammlung zu sprechen, richtet sich hiermit ausdrücklich auch an Euch! Bezahlbarer Wohnraum wird in Berlin immer rarer, die Bevölkerung kann sich ihre eigene Stadt nicht mehr leisten. Dass nun 140 von den letzten bezahlbaren Altbau-Wohnungen, soziale Infrastruktur sowie KiTas, Kleingewerbe und Kunstateliers zerstört werden sollen, damit BAYER mit Immobilien Kohle scheffeln kann, ist ein Konzernverbrechen. Hier steht ganz klar das Profitinteresse eines Konzerns gegen das Recht von Menschen, gut und bezahlbar zu leben. Dieses Vorgehen hat nichts mit dem progressiven, sozialen, umweltfreundlichen Image zu tun, welches der Konzern versucht, von sich zu zeichnen. Dieses skandalöse Vorgehen muss daher konsequent ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Auf der Hauptversammlung hören alle Aktionär*innen zu. Die Öffentlichkeit schaut auf den Konzern. (…) Nutzt die Chance, auf der Hauptversammlung Eure Stimme zu erheben! Auch, dass der Werkschutz von BAYER stundenlang die Straße observiert und die Mieter*innen einschüchtert, ist ein Skandal, der unbedingt breit sichtbar gemacht werden muss. Der Konzern greift stets zu Verdunkelung und Repression, wenn sein Profit-Interesse angegriffen wird. (…) Die Profitmaximierungslogik des Kapitalismus ist in der Chemiebranche genauso zerstörerisch wie auf dem Wohnungsmarkt. Deshalb ist unsere Forderung auch genau die gleiche wie die der bekannten Berliner Kampagne ‚Deutsche Wohnen und Co. enteignen‘: BAYER muss vergesellschaftet werden!“ 

Quellen:

Thomas Lippold: „Bezirk will Abriss von Wohngebäuden durch Bayer verhindern“, Tagesspiegel vom 20. August 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/millionen-investitionen-von-pharmakonzern-in-mitte-bezirk-will-abriss-von-wohngebaeuden-durch-bayer-verhindern/27536794.html

Susanne Torka: „Wohnraumvernichtung durch Bayer und Bezirksamt Mitte“, 18. August 2021, MoabitOnline

https://moabitonline.de/36730#comment-38471

Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V.: „Grußwort BAYER-Mettmannkiez-Demo Berlin“

https://moabitonline.de/wp-content/uploads/2021/08/Rede-Mettmannkiez-Demo-210914.pdf

 

 

30 Jahre Business Crime Control

Die diesjährige Mitgliederversammlung und Fachtagung von Business Crime Control e.V. fanden am 28. August 2021 im Club Voltaire in Frankfurt am Main statt. In seinem Grußwort betonte der scheidende Vorsitzende Prof. Dr. Erich Schöndorf die Notwendigkeit, „auf der ökologischen Zielgeraden noch ein bisschen zuzulegen“, damit die Folgen der Klimakrise noch abgewendet werden können. Schöndorf war als Staatsanwalt seinerzeit unter anderem mit dem Holzschutzmittel-Prozess befasst, lehrte später Umweltstrafrecht an der FH Frankfurt am Main und schrieb einige Bücher zu Umweltthemen, zuletzt das Hörbuch „Game over?“

Ein Grußwort gab es auch von dem Mitbegründer von BCC, Prof. Dr. h.c. Dieter Schenk, der als Kriminaldirektor im Bundeskriminalamt arbeitete, bevor er sich als freier Autor unter anderem mit der Geschichte des Amtes und den Verstrickungen dort leitend Tätiger im NS-Regime auseinandersetzte.

Als neuen Vorsitzenden wählte die Mitgliederversammlung Hans Möller, Diplom-Meteorologe und aktiv im Koordinierungskreis von attac Frankfurt am Main. Zum stellvertretenden Vorsitzenden wurde der Fernsehjournalist und Publizist Herbert Stelz gewählt. Eberhard Ruoff bleibt Kassierer, Victoria Knopp Schriftführerin. Prof. i.R. Reiner Diederich und Frank Ebert wurden als Beisitzer bestätigt. Neu als Beisitzer wurde Herbert Storn gewählt, Mitglied im Landesvorstand der GEW Hessen und aktiv bei Gemeingut in BürgerInnenhand.

Die sich anschließende Fachtagung stand unter dem Thema: „Vergehen an Klima und Umwelt – staatlich genehmigt und gefördert? Die Fälle Gigafactory Tesla und Kali + Salz AG“. Zunächst berichtete der Mitbegründer und Ehrenvorsitzende von BCC Prof. Dr. Hans See über die Ziele, die man sich bei der Gründung des Vereins gesetzt hatte. Es sei nicht in erster Linie darum gegangen, durch Gesetzesverschärfungen Wirtschaftskriminalität zu unterbinden, sondern sie präventiv zu verhindern – durch mehr Mitbestimmung in den Betrieben und Unternehmen, durch eine Entwicklung hin zur Wirtschaftsdemokratie anstelle der Chefetagen als „demokratiefreie Zone“.

Die Gründer von BCC hätten sich vorgestellt, dass es alternativ zur üblichen Wirtschaftskriminologie eine Art Thinktank geben könnte, der das Thema kapitalismuskritisch angeht, aber nicht der Illusion anhängt, dass mit einer Änderung des Wirtschaftssystems quasi automatisch die Wirtschaftskriminalität verschwindet. Die Geschichte der staatssozialistischen Länder habe gezeigt, dass die Lebensgrundlagen gefährdende Verhaltensweisen und Wirtschaftsverbrechen keineswegs ausgeschlossen oder beseitigt waren.

Der Verein sei bewusst nach der „Wiedervereinigung“ gegründet worden, als die bipolare Weltordnung am Ende war. Es ging um die Wahrnehmung der Schäden, die durch illegales oder illegitimes unternehmerisches Handeln erzeugt werden. Die durch Wirtschaftskriminalität entstehenden Schäden seien höher als die aller anderen Arten von Kriminalität zusammengenommen gewesen und das sei auch heute noch so. Dies sollte sachlich-fachlich analysiert werden. Was dazu in den Lageberichten des Bundeskriminalamts gestanden habe, sei viel zu oberflächlich gewesen.

Auch herrschte bei manchen noch ein Denken vor, das die Wirtschaftskriminalität als Teil des wirtschaftlichen Kreislaufs sah und damit verharmloste. Bei den Milliarden Drogengeldern wurde beispielsweise gedacht: Abgesehen von den gesundheitlichen Folgen für die Süchtigen und der notwendigen Kriminalisierung des Drogenverkaufs – das Geld ist ja wenigstens nicht verloren, es wird wieder investiert und mehrt so letzten Endes den gesamtgesellschaftlichen Reichtum.

BCC habe zeigen wollen, dass Wirtschaftskriminalität mehr ist als eine Straftat. Bei der Umweltzerstörung, der Abholzung von Wäldern, der Nutzung von Pestiziden geht es nicht nur um Verstöße gegen Gesetze, sondern um unser aller Leben und Wohlergehen. Zum Teil gibt es ja noch nicht einmal juristische Möglichkeiten, hier etwas zu unterbinden, oder sie werden nicht angewandt (wie die anderen Referate der Tagung belegten). Seit über 50 Jahren, seit dem Bericht des Club of Rome im Jahr 1972 werde darüber informiert und diskutiert. Vielen, die sich heute zum Beispiel bei Fridays for Future engagieren, sei dies oft überhaupt nicht bewusst. Es bestehe immer die Gefahr der Vereinnahmung von Bewegungen – eine klassische Methode. Dann werde „der ganze Staat grün angestrichen“, ohne dass sich viel ändert.

Seit den 1970er Jahren sei, wenn es um Wirtschaftskriminalität ging, die Mafia ein großes Thema gewesen. Weniger im Fokus standen die politischen Kräfte und Strukturen, die mit der Mafia in irgendeiner Weise verbunden waren, wie in Italien beispielsweise die christlich-demokratische Partei. Oder die Banken, die dabei halfen, Geld zu waschen und es in den normalen Verwertungskreislauf einzuschleusen.

Ein Thema, das ebenfalls vernachlässigt war, aber von BCC aufgegriffen wurde: die Wissenschaftskriminalität, das Dunkelfeld der gekauften Wissenschaft. Dazu habe einmal ein Manager aus der Atomindustrie gesagt: „Ich kann, wenn ich genug Geld habe, jedes Gutachten bekommen“.

Nach der Gründung von BCC entstanden weitere Organisationen, die sich unter anderem auch mit Wirtschaftskriminalität befassen – beispielsweise Transparency International, LobbyControl oder Attac. Charakteristisch für den spezifischen Ansatz von Business Crime Control  bleibe die Forderung nach einer präventiven Kriminalitätspolitik durch Demokratisierung der Wirtschaft, nach einer „kriminalpräventiven Mitbestimmung“.

In der Diskussion wurde die Notwendigkeit betont, wieder die demokratietheoretische Debatte zu beleben und sich mit anderen Initiativen zu vernetzen, die sich gegen die sozialschädlichen Folgen einer gegen Gesetze und ethische Normen verstoßenden Ökonomie zur Wehr setzen.

Es folgte der Beitrag von Dr. Walter Hölzel, dem Vorsitzenden der Werra-Weser-Anrainerkonferenz e.V.: „Kaliherstellung in Deutschland – ein seit Jahrzehnten eingeübtes System zur Umgehung des Rechts“. Es geht um die K+S AG, früher Kali und Salz AG mit Sitz in Kassel. K+S ist der weltweit größte Salzproduzent und in der internationalen Spitzengruppe, was kali- und magnesiumhaltige Produkte für landwirtschaftliche und industrielle Zwecke betrifft.

Bei der Herstellung von Kalisalz entstehen Abwässer, die bisher mit staatlicher Genehmigung in den Untergrund verpresst oder in die Flüsse Werra und Weser eingeleitet werden. Die Versalzung der Flüsse hat zur Folge, dass in ihnen die Süßwasser-Lebensgemeinschaft vernichtet wird und bis Bremen kein Trinkwasser mehr aus dem Uferfiltrat gewonnen werden kann.

Zum internationalen Tag des Wassers 2007 fand eine Konferenz der Flussanrainer statt, auf der die umweltschädlichen Praktiken von K+S kritisch beleuchtet wurden. 2008 wurde dann die Werra-Weser-Anrainerkonferenz als gemeinnütziger Verein gegründet. In ihm sind Kommunen, Verbände, Vereine und Wirtschaftsunternehmen zusammengeschlossen, die in der Flussgebietseinheit Weser von der Versalzung der Flüsse und des Grundwassers betroffen sind.

Der Verein hat inzwischen umweltfreundliche Alternativen entwickelt, deren technische und wirtschaftliche Machbarkeit 2014 vom Umweltbundesamt bestätigt wurde. Sie zeigen, wie die Ziele der EU-Wasserrahmen-Richtlinie bis 2027 verwirklicht werden könnten.

Im Beitrag von Walter Hölzel wurden die Verstrickungen von Behörden mit dem Unternehmen K+S bei der Erteilung von Genehmigungen dargestellt, die mittlerweile von der Staatsanwaltschaft Meiningen als rechtswidrig eingestuft wurden.

Über ein weiteres Beispiel, wie Bürgerinitiativen und zivilgesellschaftliche Organisationen sich gegen eine allzu kapitalhörige Genehmigungspraxis zur Wehr setzen können, berichtete der Berliner Anwalt für Umweltrecht Thorsten Deppner. Sein Thema: „Großindustrieansiedlung auf zweifelhafter Rechtsgrundlage – der Fall Tesla in Brandenburg“. Deppner vertritt den Brandenburger Landesverband des Naturschutzbunds Deutschland und die Grüne Liga Brandenburg im Streit um die Zulassung des vorläufigen Beginns von Rodungs- und Baumaßnahmen für die „Gigafactory“ Tesla. In ihr sollen in großem Maßstab E-Autos, auch E-SUVs gebaut werden. Dies schaffe Arbeitsplätze und beschleunige das notwendige Ende des Verbrennungsmotors – so die Begründung der Landesregierung für die schnelle Zulassung. Die Umweltverbände unterlagen einerseits vor Gericht mit ihren Einwänden, hatten aber auch in einem Fall Erfolg und erwirkten einen vorübergehenden Baustopp. Die juristische Auseinandersetzung dauert an.

Zusammenfassend referierte dann Herbert Storn über „Skandale mit System“. Was als Einzelfälle erscheint sei symptomatisch für die sozial- und umweltschädlichen Folgen einer ungebremsten Kapitalverwertung. Der Schutz von Mensch und Umwelt bilde zwar eine normative Grundlage für das gesellschaftliche Leben, die unter anderem im Grundgesetz festgeschrieben ist. Aber das Profitprinzip als normative Grundlage des kapitalistischen Wirtschaftens stehe dem entgegen. Hinzu komme die immer stärkere Machtkonzentration bei den transnationalen Konzernen, die kaum noch unter eine demokratische Kontrolle zu bringen ist. Die Widersprüche verschärften sich in der Krise bis zu einem Punkt, an dem sie jedem offensichtlich werden. Notwendig sei es, alle kritischen Initiativen zusammen zu bringen, die Aufklärung leisten und Widerstand gegen die destruktiven Entwicklungen leisten können.

Aus: Beilage von BIG Business Crime zu Stichwort BAYER Nr. 4/2021

 

Unternehmensstrafrecht: In Zukunft schärfere Regelungen gegen Wirtschaftskriminalität?

„Wir wollen sicherstellen, dass Wirtschaftskriminalität wirksam verfolgt und angemessen geahndet wird“: Vor dem Hintergrund von Dieselaffäre, Fleischskandalen und Cum-Ex-Geschäften hatten sich die Regierungsfraktionen im aktuellen Koalitionsvertrag auf schärfere Sanktionen gegen Unternehmen festgelegt. Dann folgte allerdings ein langer Streit über die konkrete Ausgestaltung des Vorhabens. Im Juni des letzten Jahres beschloss die Bundesregierung schließlich den von der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz vorgelegten Entwurf des „Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“. Ein Jahr nach Vorlage des Regierungsentwurfes folgte dann jedoch das endgültige Aus für das Gesetzesvorhaben. Massive Gegenwehr gegen höhere Strafen für kriminelle Unternehmen aus Kreisen der Wirtschaft und der Union hatten nun doch noch zum Scheitern der Regierungsvorlage geführt.

Einer der Kernpunkte dieser Vorlage bildete ein neues Sanktionsrecht. Für Gesetzesverstöße von Unternehmen wie Betrug, Korruption oder Umweltdelikte konnten und können bislang nur Geldbußen von maximal zehn Millionen Euro verhängt werden. Der Regierungsentwurf sah hingegen für Konzerne mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 100 Millionen Euro Bußbescheide in Höhe von bis zu zehn Prozent ihres Jahresumsatzes vor. Künftig sollten zudem – bei einen Verdacht, dass aus dem Unternehmen heraus Straftaten begangen werden – Staatsanwaltschaften nach dem Legalitätsprinzip gegen Firmen ermitteln. Bisher liegt es hingegen im Ermessen der einzelnen Behörden, ob und wie gegen Delikte von Unternehmen vorgegangen wird.

Obwohl die geplanten Unternehmenssanktionen in dieser Legislatur nun nicht mehr kommen, hält es das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom 16. August 2021 für sehr wahrscheinlich, dass sich Unternehmen in naher Zukunft auf schärfere Regelungen einstellen müssen. Zwar tauche ein neues Sanktionsrecht in den Wahlprogrammen von Union und SPD nicht mehr auf. Doch auf Nachfrage würden sich die beiden Parteien dafür grundsätzlich offen zeigen. Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, sagte gegenüber der Zeitung, dass die Betrügereien von Unternehmen mit Coronatests gerade erst gezeigt hätten, wie sinnvoll solche Regelungen wären.

Nach Angaben des rechtspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jan-Marco Luczak, will die Union Rechtsverstöße in der Wirtschaft „gezielt bekämpfen“, nicht aber Unternehmen „generell kriminalisieren“. „Wir wollen einen Regelungsrahmen“, so Luczak, „der Anreize für Unternehmen schafft, sich rechtstreu zu verhalten und mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren“. Dafür sei die Fraktion auch in Zukunft offen und gesprächsbereit.

Die Grünen hingegen halten – wie Bundesgeschäftsführer Michael Kellner dem Handelsblatt mitteilte – ein Gesetz zu Unternehmenssanktionen weiterhin für erforderlich und wollen Unternehmen bei Rechtsverstößen künftig wirksamer zur Rechenschaft ziehen.

Im Wahlprogramm der FDP tauchen Unternehmenssanktionen dagegen laut Handelsblatt mit keinem Wort auf. Die größte Abschreckungswirkung, Straftaten zu begehen, habe nach Auffassung der Liberalen immer noch die individuelle Haftung. „Gerade vor dem Hintergrund der sehr hohen Belastungen der deutschen Wirtschaft durch die Politik der Großen Koalition und durch Corona sind zusätzliche Belastungen durch ein Unternehmensstrafrecht der falsche Weg“, zitiert das Blatt das Wahlprogramm der FDP.

Der Ökonom Heinz-J. Bontrup kritisierte bereits im letzten Jahr den damals noch aktuellen Regierungsentwurf. In einem Interview mit den „NachDenkSeiten“ sagte er unter anderem, dass in der Vergangenheit unternehmensseitig begangene kriminelle Wirtschaftsdelike eben nicht strafrechtlich verfolgt werden konnten. Diese Delikte unterlagen stattdessen dem Ordnungswidrigkeitengesetz, wo bei der Sanktion nur ein Bußgeld drohte. „Bußgelder schrecken aber kriminelle Unternehmen nicht ab. Im Gegenteil, sie können sich die Geldstrafen ex-ante berechnen und diese dann in ihren Produkten einpreisen, so dass am Ende, fliegen die Unternehmen auf, auch noch der ‚dumme‘ Nachfrager das Bußgeld für die Täterunternehmen bezahlt.“

Streng genommen, meinte Bontrup weiter, würde es auch mit dem neuen Gesetz kein „Unternehmensstrafrecht“ geben. „Strafrecht impliziert neben Geldstrafen immer auch die Möglichkeit einer Haftstrafe. Man kann aber ein Unternehmen, also eine juristische Person, nicht verhaften – allenfalls kann man das Unternehmen zerschlagen oder enteignen, was übrigens im GWB* bei schweren Verstößen gegen den Wettbewerb, mit Ausnahme einer Enteignung, durchaus vorgesehen ist, bis heute realiter aber noch nicht einmal umgesetzt wurde. Und jetzt wird es interessant und entscheidend: Eine Zerschlagung oder Enteignung sieht das neue ‚Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft‘ nicht vor, sondern, wie im GWB, nur eine monetäre Sanktionierung über Bußgelder, die hier dem GWB angelehnt wurden. (…) Glauben Sie mir: Wenn der Gesetzgeber den Unternehmenseigentümern, und um die geht es bei Unternehmen letztlich, mit einer konkreten Zerschlagung oder in ganz schweren Fällen mit einer Wegnahme ihrer Unternehmen (Enteignung ohne Entschädigung) bedrohen würde, dann gäbe es auch keine kriminellen Handlungen mehr. Ein dazu notwendiges, wirkliches Unternehmensstrafgesetz zu verabschieden, traut sich aber die herrschende Politik nicht. Insofern muss man von einem Staatsversagen sprechen (…).“

* Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)

 

Quellen:

Heike Anger: „Betrug, Korruption oder Umweltdelikte: Unternehmenssanktionen werden kommen“, Handelsblatt (Online) vom 16. August 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wirtschaftskriminalitaet-betrug-korruption-oder-umweltdelikte-unternehmenssanktionen-werden-kommen/27521226.html

Corinna Budras: „Gesetzesentwurf gekippt: Skandale ohne Folgen“, FAZ (Online) vom 9. Juni 2021

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/koalition-beerdigt-gesetz-zu-unternehmenssanktionen-17381080.html

„Ein wirkliches Unternehmensstrafgesetz zu verabschieden, traut sich die herrschende Politik nicht“, Interview der „NachDenkSeiten: Die kritische Website“ mit Heinz-J. Bontrup vom 3. August 2020

https://www.nachdenkseiten.de/?p=63536

 

Cyberattacken nehmen stark zu

Bereits am 5. August 2021 stellten der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Sinan Selen, und der Präsident von Bitkom*, Achim Berg, bei der Bundespressekonferenz die repräsentative Studie „Wirtschaftsschutz und Cybercrime“ vor.

Die Schäden durch analoge und digitale Angriffe wie Diebstahl, Industriespionage und Sabotage sind demnach aktuell auf 223,5 Milliarden Euro gestiegen. Im Jahr 2019 hatte die Schadenssumme noch bei 102,9 Milliarden Euro gelegen. Bitkom hatte über tausend Unternehmen quer durch alle Branchen im Zeitraum vom 11. Januar bis 9. März 2021 jeweils nach Schäden in den vergangenen zwölf Monaten befragt. Etwa 90 Prozent der Unternehmen gaben an, Opfer von Cyberkriminalität geworden zu sein.

„Der starke Anstieg krimineller Aktivitäten geht vor allem auf Cyberattacken zurück, von denen 86 Prozent der Unternehmen laut der Bitkom-Studie betroffen waren. ‚Kein anderes Angriffsszenario ist so stark gestiegen wie Digitalattacken‘, sagte Berg am Donnerstag bei der gemeinsamen Vorstellung der Ergebnisse mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Berg bezeichnete die Entwicklung als ‚schockierend‘. Hinter den meisten Angriffen steckten immer häufiger Profis, die ‚richtig hohe Schäden verursachen‘. Ein Grund für die massive Zunahme von Cyberattacken ist der Wechsel ins Homeoffice im Zuge der Corona-Pandemie. Die neue Welle der Heimarbeit habe dazu geführt, dass viele Kriminelle vor allem das ‚schwächste Glied der Sicherheitskette‘, den Faktor Mensch, bei ihren Attacken anvisierten, so die Studie. Dabei reicht es, dass ein Mitarbeiter sein Passwort telefonisch weitergibt oder einen infizierten Anhang einer E-Mail anklickt, um den Hackern das Tor zur Unternehmenswelt weit zu öffnen.“ (Handelsblatt vom 5. August 2021)

Nach Angaben der Studie erfolgen viele der Angriffe aus dem Ausland. Die befragten Unternehmen vermuteten mit rund 60 Prozent Osteuropa und Russland als die Region, aus der die meisten Hackerattacken kamen, gefolgt von Deutschland (43 Prozent) und China (30 Prozent). Laut Verfassungsschutz ist auch eine Zunahme von staatlichen Cyberangriffen festzustellen. 84 Prozent der befragten Unternehmen befürchten, dass Cyberattacken weiter zunehmen werden. Besonders bedroht sehen sich Betreiber der kritischen Infrastruktur wie Stromnetzbetreiber oder Telekommunikationsunternehmen.

Die netzpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Anke Domscheit-Berg, kritisierte gegenüber dem Neuen Deutschland, dass die Bundesregierung viel zu wenig tue, um die Risiken zu begrenzen. Sie verdeutlicht das am Beispiel des Landkreises Anhalt-Bitterfeld.

„Dort fand Anfang Juli ein Angriff auf die IT-Systeme der Verwaltung mit einer ‚Ransomeware‘ genannten Schadsoftware statt. Eine schlichte Erpressung. Die Angreifer verschlüsselten die Daten auf den Speichern der Verwaltung und verlangten Geld dafür, damit die Daten wieder entschlüsselt werden. Das Lösegeld wurde nicht gezahlt. Wenige Tage nach dem Angriff musste der Landkreis den Katastrophenfall ausrufen, weil die Verwaltung nicht mehr arbeitsfähig war und viele Dienstleistungen nicht mehr erbringen konnten, auf die Bürger*innen angewiesen sind. Wohngeld, BaföG, Eingliederungshilfen und viele weitere Antragsverfahren mussten neu organisiert und über eine Notinfrastruktur realisiert werden. Zuletzt vermeldete der Landkreis den kleinen Erfolg, dass auch die Zulassung von Kraftfahrzeugen nach mehr als drei Wochen wieder technisch möglich sei. Die Bundeswehr kam mit ihren Cyberabteilungen zum Einsatz, um die 900 Computer der Verwaltung wieder arbeitsfähig zu machen und Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.“ (Neues Deutschland vom 5. August 2021)

Zur Angreifbarkeit der Systeme trage aber auch die Bundesregierung selbst bei. Denn trotz latenter Bedrohung wolle die Regierung weiterhin Sicherheitslücken geheim halten, um sie für Überwachung ausnutzen zu können. Faktisch sei jeder Staatstrojaner eine Schadsoftware, die auch genauso funktioniere und die gleichen Angriffswege nutze.

* Der 1999 gegründete Digitalverband Bitkom (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.) vertritt die deutsche Informations- und Telekommunikationsbranche und damit mehr als 2.000 Mitgliedsunternehmen.

Quellen:

„Wirtschaftsschutz 2021“, Studie der Bitkom vom 5. August 2021

https://www.bitkom.org/sites/default/files/2021-08/bitkom-slides-wirtschaftsschutz-cybercrime-05-08-2021.pdf

„Angriffsziel deutsche Wirtschaft: mehr als 220 Milliarden Euro Schaden pro Jahr“, Pressemitteilung Bitkom vom 5. August 2021

https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Angriffsziel-deutsche-Wirtschaft-mehr-als-220-Milliarden-Euro-Schaden-pro-Jahr

Daniel Lücking: „Angriffsziel Heimarbeit“, Neues Deutschland vom 5. August 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155312.cybersicherheit-angriffsziel-heimarbeit.html

Teresa Stiens: „Angriff auf die deutsche Wirtschaft: Cyberkriminalität kostet Unternehmen Milliarden“, Handelsblatt vom 5. August 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bitkom-studie-angriff-auf-die-deutsche-wirtschaft-cyberkriminalitaet-kostet-unternehmen-milliarden/27483826.html

 

Exzessive Profite von Impfstoffherstellern

Nach einer aktuellen Studie der internationalen NGO The People’s Vaccine Alliance erzielen die großen mRNA-Impfstoffhersteller, darunter BioNTech (Mainz), riesige Profite aus der Covid-19-Pandemie. Die NGO kommt zu dem Schluss, dass die von BioNTech und Pfizer aus dem Verkauf ihres Vakzins gezogenen Einnahmen um rund 24 Milliarden US-Dollar über dem Herstellungspreis liegen.

„Demnach könnte eine Dosis des BioNTech/Pfizer-Vakzins für rund 1,18 US-Dollar produziert werden, eine Dosis des Moderna-Vakzins für 2,85 US-Dollar. Soweit die tatsächlich gezahlten Preise bekannt sind, liegen sie bei Moderna um das 4- bis 13-Fache über den von The People’s Vaccine Alliance geschätzten Produktionskosten, bei BioNTech/Pfizer sogar um das 6- bis 24-Fache. Der niedrigste bekannte Preis für eine Dosis des BioNTech/Pfizer-Vakzins wurde von der Afrikanischen Union (AU) gezahlt; er liegt mit 6,75 US-Dollar pro Dosis beim 6-Fachen der geschätzten Produktionskosten. Den höchsten Preis bezahlte Israel mit 28 US-Dollar pro Dosis. Moderna wiederum soll von Kolumbien 30 US-Dollar pro Impfdosis verlangt haben – das Doppelte dessen, was die US-Regierung zahlte. Südafrika hat sich gezwungen gesehen, ein Angebot von Moderna als unbezahlbar abzulehnen; Berichten zufolge verlangte der Konzern 42 US-Dollar pro Dosis.“ (german-foreign-policy.com vom 4. August 2021)

Nach Einschätzung von The People’s Vaccine Alliance hat dabei die EU die Preise „besonders schlecht verhandelt“ und damit den Impfstoffherstellern besonders hohe Profite beschert. Der Betrag, den die EU über den reinen Herstellungspreis hinaus ausgegeben habe, belaufe sich auf gut 31 Milliarden Euro, 19 Prozent des gesamten EU-Haushalts für das Jahr 2021. Berlin sichere die Profite der Impfstoffhersteller, indem es die zeitweise Aussetzung der Impfstoffpatente weiterhin blockiere. Schwellen- und Entwicklungsländer würden vor allem von China versorgt – mit inzwischen über 570 Millionen Impfdosen.

In The People’s Vaccine Alliance haben sich etwa 70 internationale NGOs, darunter Oxfam und Amnesty International, zusammengeschlossen.

Quelle:

„Die Pandemieprofiteure“, Bericht des Online-Nachrichtenportals „Informationen zur Deutschen Außenpolitik“ (german-foreign-policy.com) vom 4. August 2021

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8678/

Weitere Informationen:

„Vaccine monopolies make cost of vaccinating the world against COVID at least 5 times more expensive than it could be“, Presseinformation von Oxfam International vom 29. Juli 2021

https://www.oxfam.org/en/press-releases/vaccine-monopolies-make-cost-vaccinating-world-against-covid-least-5-times-more

 

 

 

Mindestfallzahlen in den Krankenhäusern: Kritik an Schließung von Frühchenstationen

Das Anfang 2020 gegründete „Bündnis Klinikrettung“ kämpft gegen den massenhaften und flächendeckenden Abbau von Krankenhäusern. In einem aktuellen Aufruf heißt es:

„In Deutschland schließen seit Jahren fast monatlich Krankenhäuser. Kommunale Kliniken machen dicht, weil ihnen das Geld ausgeht, private Kliniken werden geschlossen, weil sie aus Sicht der Eigentümer nicht genügend Rendite erbringen. Der Bund fördert solche Schließungen sogar mit 500 Millionen Euro jährlich! Diese Entwicklung muss umgehend gestoppt werden. Krankenhäuser retten Leben. Wir brauchen sie in Krisenzeiten und im Alltag.“

Medienberichte belegen die Relevanz dieser Forderung. Am 25. Mai 2021 informierte etwa der NDR darüber, dass die Versorgung von Frühgeborenen in Mecklenburg-Vorpommern von 2024 an eingeschränkt werden soll. Der Hintergrund: In sogenannten Perinatalzentren können kranke Babys und Frühchen unabhängig von Größe, Alter und Gewicht behandelt werden. Das höchste Beschlussgremium im deutschen Gesundheitswesen, der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), entschied aber Ende des letzten Jahres, die Mindestanzahl für die Behandlung von Frühgeborenen unter 1.250 Gramm hochzusetzen: von 14 Fällen pro Jahr auf 25. Offensichtlich mit dramatischen Folgen für Mecklenburg-Vorpommern (MV). Denn die neue Mindestmenge von 25 Fällen, so der NDR, erreichten dort nur die Kliniken in Schwerin und Rostock, Greifswald und Neubrandenburg dagegen nicht.

Der Bundesverband „Das Frühgeborene Kind e.V.“ betont dagegen die positiven Effekte einer Mindestmenge. In einer Stellungnahme vom Dezember 2020 heißt es: „Es gibt Behandlungen, bei denen die Qualität des Ergebnisses von der Anzahl der Patienten pro Jahr und Krankenhaus abhängt. Im Bezug auf die stationäre Versorgung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm ist ein solcher Zusammenhang bereits seit Jahren nachweislich belegt. Ausreichende Erfahrung im Umgang mit derart unreifen Kindern wirkt sich existenziell auf die Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens aus.“

Die Süddeutsche Zeitung erläuterte bereits Ende 2020 den Hintergrund des Konflikts – mit der gleichen Stoßrichtung. Die Versorgung von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250 Gramm sei in den vergangenen Jahren besonders umstritten gewesen. Für diese extrem unreifen Frühgeborenen hätte die Mindestmenge in Deutschland seit 2010 bei nur 14 Fällen pro Jahr und Klinik gelegen. Der G-BA habe den Wert zwar noch im selben Jahr auf 30 Fälle pro Klinik erhöht. Zahlreiche Studien hätten aber schon damals belegt, dass es in Kliniken mit mehr Erfahrung zu weniger Todesfällen und Behinderungen bei den Frühgeborenen gekommen sei. Doch hätten mehrere Kliniken gegen die Erhöhung der Mindestmenge geklagt.

„Das Bundessozialgericht gab den Klägern recht, allerdings mit einer gewagten Begründung: So sei der Grenzwert von 30 willkürlich, weil ebenso gut 25 oder 50 festgelegt werden könnte. Allerdings gelten solche Grenzen beispielsweise auch für Laborwerte in der Medizin, für die Schwelle zum Übergewicht und für jedes Tempolimit, ohne dass deren Sinn in Frage gestellt würde. Vor wenigen Wochen hatte eine große Analyse von mehr als 50.000 Geburten in Deutschland gezeigt, dass eine Klinik mindestens 50 bis 60 der absoluten Leichtgewichte jährlich behandeln sollte, damit die Aussichten für die Kinder optimal wären. Jedes Jahr würden sich 25 bis 40 Todesfälle unter den Frühchen auf diese Weise verhindern lassen.“

Dr. Sven Armbrust, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Neubrandenburg, hält im NDR-Beitrag vom  vergangenen Mai vehement dagegen und kritisiert die höhere Mindestmenge. „Stattdessen müssen wir sagen, welche Kriterien brauchen wir, um zu definieren, ob das eine gute oder eine schlechte Qualität ist. Und wenn man Kliniken hat, die schlechte Qualität liefern, dann müssen sie die verbessern oder es muss Konsequenzen haben.“ Stationen aber auf Basis von Mindestmengen zu schließen halte er für den falschen Weg.

Im Juni 2021 wurde schließlich das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung” im Bundestag beschlossen (gültig ab 20. Juli 2021) und damit die Mindestmengenregelungen im Krankenhaus juristisch festgezurrt. Ausnahmen sind jedoch – als Kompromisslösung – im Einvernehmen mit den Krankenkassen möglich. Werden solche Absprachen mit den Krankenkassen getroffen, können spezielle Versorgungsleistungen und Behandlungen in dünn besiedelten Regionen weiterhin angeboten werden, obwohl bundesweite Mindestzahlen nicht erfüllt werden. Der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion und Landesvorsitzender der Partei Die Linke in MV, Torsten Koplin, merkt aber an, dass die Entscheider in den Krankenkassen alle außerhalb des Bundeslandes sitzen. MV habe denen gegenüber kein Entscheidungs- oder Weisungsrecht (vgl. Nordkurier vom 17. Juni 2021).

Quellen:

Werner Bartens: „Mehr Erfahrung für die Kleinsten“, Süddeutsche Zeitung vom 19. Dezember 2020

https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/fruehgeborene-mindestmengen-krankenhaeuser-1.5152772

Bündnis Klinikrettung: „Gemeingut Krankenhaus retten: Worum geht es?“

https://www.gemeingut.org/krankenhausschliessungen/#1604497252438-cba0189f-848c

Louisa Maria Carius: „Frühchenstationen in Mecklenburg-Vorpommern vor dem Aus?“, NDR-Nordmagazin vom 26. Mai 2021

https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Fruehchenstationen-in-MV-vor-dem-Aus,neonatologie102.html

„G-BA beschließt neue Mindestmenge für Frühgeborene unter 1250 Gramm“, Stellungnahme (vom 21. Dezember 2020) des Bundesverbands „Das frühgeborene Kind“ e.V. zum neuen Mindestmengen-Beschluss vom 17. Dezember 2020

https://www.fruehgeborene.de/news/stellungnahme-zum-neuen-mindestmengen-beschluss-vom-17122020

Christoph Schoenwiese: „Linke in MV begrüßt Kompromiss bei Frühchenstationen – mit einem Aber“, Nordkurier vom 17. Juni 2021

https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/linke-in-mv-begruesst-kompromiss-bei-fruehchenstationen-mit-einem-aber

 

Commerzbank kündigt Konto eines linken Verlags

Die Commerzbank hat das Geschäftskonto der Mediengruppe Neuer Weg GmbH, in deren Druckerei Publikationen verschiedener linker Gruppen und Initiativen gedruckt werden, gekündigt. Das berichtet der Verlag in einer Mitteilung vom 21. Juli 2021. Über den Grund der Kündigung äußerte sich die Bank offensichtlich nicht. „Die Geschäftsbeziehung des Verlag Neuer Weg mit der Commerzbank verlief über Jahrzehnte ohne jede Beanstandung. Die Kündigung des Kontos erfolgte lediglich mit Verweis auf ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach sie jederzeit die gesamte Geschäftsverbindung oder einzelne Geschäftsbeziehungen ohne Angabe von Gründen kündigen kann“, heißt es dazu vom Verlag.

Ebenso sei das Privatkonto des Geschäftsführers Uwe Pahsticker und das der „Internationalismusverantwortlichen“ der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands), Monika Gärtner-Engel, gekündigt worden. Wenige Wochen zuvor habe die Bank auch das Konto von Stefan Engel, Autor im Verlag Neuer Weg und ehemaliger Parteivorsitzender der MLPD, gekündigt.

Nach Auffassung des Verlags reihen sich diese Angriffe „in eine Rechtsentwicklung der Gesellschaft ein, siehe die Nichtzulassung der DKP zu den Bundestagswahlen, Einschränkungen beim Versammlungsrecht usw.“.* Es sei geradezu lächerlich, „wenn die Commerzbank auf ihrer Homepage ihr Logo jetzt in Regenbogenfarben erscheinen lässt und behauptet ‚Wir bekennen Farbe für Vielfalt‘. Die Vielfalt gilt offensichtlich nur für höchstprofitbringende Geschäftskunden und nicht für Marxisten-Leninisten“.

In der Vergangenheit wurden bereits Geschäfts- und Privatkonten der MLPD bzw. einzelner ihrer Mitglieder von Banken gekündigt, so im Jahr 2009 durch die Deutsche Bank – ebenfalls ohne Nennung von Gründen.

* Die Nichtzulassung der DKP zur Bundestagswahl ist inzwischen aufgehoben worden.

Quellen:

„Kündigung unseres Geschäftskontos durch die Commerzbank“, Mitteilung der Mediengruppe Neuer Weg GmbH vom 21. Juli 2021

https://www.rf-news.de/2021/kw30/210721-mnw_erklaerung-zu-kontenkuendigung-durch-commerzbank.pdf

Luise Strothmann: „Marxisten müssen neue Bank suchen“, taz vom 20.11.2009

https://taz.de/Deusche-Bank-kuendigt-Konto/!5152150/

 

 

 

Finanzskandal im Vatikan

Am 27. Juli 2021 begann in Rom ein außergewöhnlicher Strafprozess um den Verlust von Kirchengeldern. Denn mit Giovanni Angelo Becciu, einem 73-jährigen Sarden, steht zum ersten Mal in der Geschichte ein Kardinal vor einem vatikanischen Gericht. Zehn weitere Personen sind angeklagt, Kirchengelder in dreistelliger Millionenhöhe veruntreut zu haben. Es soll dabei laut Anklage nicht nur zu massiven finanziellen Verlusten gekommen sein, sondern auch zu schweren Delikten wie Unterschlagung, Amtsmissbrauch, Geldwäsche, Korruption, Betrug und Erpressung.

„Becciu war von 2011 bis 2018 Substitut im Staatssekretariat des Vatikan, also Stellvertreter des Chefs in der Verwaltungszentrale der Weltkirche. Dort war er hauptsächlich zuständig für Investitionen. In seine Amtszeit fiel der Erwerb einer Luxusimmobilie im schicken Londoner Stadtteil Chelsea – für mehrere Hundert Millionen Euro. Im ehemaligen Lager des Kaufhauses Harrods an der Sloane Avenue sollten Wohnungen für sehr reiche Kunden gebaut werden. In den Deal waren Trader und Broker verwickelt, die für ihre Vermittlung hohe Kommissionen erhielten. Im Fall von Raffaele Mincione, der das Geschäft eingefädelt hatte, sollen es 40 Millionen Euro gewesen sein.“ (Süddeutsche Zeitung vom 25. Juli 2021)

Am 4. Juli 2021 schrieb die FAZ, dass ein erheblicher Teil der rund 350 Millionen Euro, die das vatikanische Staatssekretariat für den Erwerb des ehemaligen Lagerhauses bezahlt haben soll, aus dem Fonds des sogenannten Peterspfennigs stamme. Dabei handelt es sich um eine Kollekte, die einmal pro Jahr während einer Sonntagsmesse in den katholischen Kirchen weltweit erhoben wird. Nach Darstellung des Vatikan ist der Peterpfennig der „bezeichnendste Ausdruck der Teilhabe aller Gläubigen an den wohltätigen Initiativen des Bischofs von Rom für die Weltkirche“.

Beobachter sind gespannt, ob der angeklagte Kardinal während des Prozesses andere hohe Würdenträger durch belastende Aussagen in die Enge treibt. „Becciu war jahrelang so mächtig in der vatikanischen Verwaltung, dass er alles weiß, er kennt auch alle Geheimnisse“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Becciu drohen im Falle eines Schuldspruchs bis zu fünf Jahre Haft.

Quellen:

Matthias Rüb: „Wenn der Vatikan einen Kardinal anklagt“, FAZ (Online) vom 4. Juli 2021

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/finanzskandal-der-kirche-wenn-der-vatikan-einen-kardinal-anklagt-17421476.html?service=printPreview

Oliver Meiler: „Deal mit dem Peterspfennig“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 25. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/vatikan-immobiliendeal-prozess-kardinal-angelo-becciu-1.5362791

Marco Ansaldo/Andreas Englisch/Eveleyn Finger: „Ein Prozess, wie ihn Rom noch nicht erlebt hat“, Die Zeit (Online) vom 22. Juli 2021

https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/vatikanstaat-strafprozess-kirchengelder-spenden-investments-millionenhoehe-betrug/komplettansicht

„Der Peterspfennig heute“, Vatikanisches Presseamt

https://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/obolo_spietro/documents/actual_ge.html

Weitere Informationen:

„Mammutprozess startet am 27. Juli“, Domradio.de vom 19. Juli 2021

https://www.domradio.de/themen/vatikan/2021-07-19/mammutprozess-startet-am-27-juli-vatikan-erhebt-anklage-wegen-finanzskandal-um-londoner-immobilie

„Vatikan blickt auf schwieriges Wirtschaftsjahr zurück“, Vatican News vom 24. Juli 2021

https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2021-07/vatikan-wirtschaft-jahresabschluss-guerrero-bilanz-corona.html

Autobauer Tesla – umweltrechtliche Zulassung wahrscheinlich

Nach Einschätzung von Brandenburgs Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) spricht gegenwärtig nichts gegen eine umweltrechtliche Zulassung für die Fabrik des US-Elektroautoherstellers Tesla in Grünheide bei Berlin. Er hoffe auf einen Produktionsstart im vierten Quartal 2021, wenn „nichts Unvorhergesehenes“ mehr passiere, wie unter anderem der Berliner Tagesspiegel am 18. Juli berichtete. Weil Tesla einen neuen Antrag auf Zulassung – unter Einschluss einer Batteriefabrik – stellte, hat sich das vom Land Brandenburg durchgeführte Genehmigungsverfahren verzögert. Ursprünglich sollte die Produktion der vom Hersteller selbst als „Gigafactory“ bezeichneten ersten Fertigungsanlage in der EU im Juli aufgenommen werden. Tesla plant in Grünheide die Produktion von 500.000 Elektroautos pro Jahr.

Das Unternehmen, so Minister Steinbach, habe im bisherigen Antragsverfahren gezeigt, dass alles dafür getan werde, um Genehmigungshindernisse auszuräumen. Die Bauarbeiten des US-Elektroautoherstellers in Grünheide liefen in Teilabschnitten auf Basis vorläufiger Zulassungen weiter und seien schon weit fortgeschritten. Auch könnten bestimmte Anlagen weiterhin getestet werden, obwohl die Gesamtgenehmigung des Landesumweltamtes für die Fabrik nach wie vor fehle. Wann darüber entschieden werde, sei offen.

Der Naturschutzbund (Nabu) und die Grüne Liga Brandenburg sehen das Projekt kritisch und haben mehrfach versucht, vorzeitige Genehmigungen vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zu Fall zu bringen. Die Umweltverbände hatten sich gegen Tests von Anlagen in den Bereichen Lackiererei, Gießerei und Karosseriebau sowie den Einbau von Tanks für die Abwasserreinigung und die Betankungsanlage gewandt (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2021).

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

„Die Umweltschützer verweisen auf ein Störfallgutachten, sie halten damit eine positive Prognose für die Genehmigung nicht mehr für möglich. Damit fehlt aus ihrer Sicht eine der wichtigen Voraussetzungen für die vorzeitige Zulassung. Der Landesgeschäftsführer der Grünen Liga Brandenburg, Michael Ganschow, sieht die Gefahr, ‚dass der Standort im Wasserschutzgebiet im Verfahren nicht notwendig Berücksichtigung findet‘. Er kritisiert auch, es gebe zahlreiche geschwärzte Stellen im Antrag von Tesla, mit denen die Frage der Gefahr unklar sei.“

Das Magazin Sozialismus.de beschreibt dagegen die Unzufriedenheit des Managements von Tesla mit der deutschen Bürokratie:

„In einem Brandbrief an die Öffentlichkeit drückte Tesla sein Unverständnis darüber aus, dass Projekte, die sich positiv auf die Energiewende auswirken und einen Beitrag zur Klimaneutralität leisten, nicht vorrangig genehmigt werden. ‚Tesla Brandenburg hat hautnah erfahren, dass Hindernisse im deutschen Genehmigungsrecht die notwendige industrielle Transformation und damit die Verkehrs- und Energiewende verlangsamen.‘ Die deutschen Genehmigungsverfahren müssten den verfolgten Zielen der Klimapolitik angepasst werden, sie hinkten dem Ziel hinterher und seien im Grunde die gleichen wie für ein Kohlekraftwerk. Diesen hinterherhinkenden Genehmigungsverfahren ist es nach Tesla auch zu verdanken, dass nach 16 Monaten immer noch keine Hauptgenehmigung für das Werk in Brandenburg vorliege und Tesla auf eigenen Risiko handele, mit der Gefahr, dass letztendlich auch alles wieder zurückgebaut werden müsse.“

Trotz aller Kritik im politischen Spektrum an Tesla ist die Angst des US-Konzerns vor einem möglichen Rückbau der Anlage unbegründet. Schließlich tritt keine der im Brandenburger Landtag vertretenen Parteien, auch die oppositionelle Linke nicht, prinzipiell gegen den Bau der Autofabrik auf.

Quellen:

„Wirtschaftsminister sieht Chance für Genehmigung von Tesla-Fabrik“, Tagesspiegel vom 18. Juli 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/gigafabrik-in-gruenheide-brandenburger-wirtschaftsminister-sieht-chance-fuer-genehmigung-vontesla-fabrik/27431654.html

„Minister: Aktuell keine Gründe gegen Genehmigung für Tesla“, Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/auto-gruenheide-mark-minister-aktuell-keine-gruende-gegen-genehmigung-fuer-tesla-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210718-99-423934

Tomas Morgenstern: „Tesla darf weiterbauen“, Neues Deutschland vom 15. Juli 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154501.tesla-tesla-darf-weiterbauen.html?sstr=tesla16.7.21

Ulrich Bochum: „Teslas Gigafactory“, Sozialismus.de, Heft 6/2021, Seite 42

https://www.sozialismus.de/vorherige_hefte_archiv/sozialismus/2021/heft_nr_6_juni_2021/

 

Massiver Widerstand der Industrie gegen neuen Hochwasserschutzplan

Vor dem Hintergrund der aktuellen Hochwasserkatastrophe hat das BMI (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat) nach Angaben des Handelsblatt „ein bislang wenig beachtetes Vorhaben abgeschlossen, das in diesen Tagen enorme Bedeutung erlangt: den bundesweiten Raumordnungsplan für den Hochwasserschutz“. Bereits 2018 wurde im Koalitionsvertrag von Union und SPD angekündigt, einen entsprechenden Vorsorgeplan „zum Schutz der Menschen und Umwelt entlang unserer Gewässer“ zu entwickeln. „Mit ihm“, schreibt das Handelsblatt, „sollen sich Katastrophen wie dieser Tage möglichst nicht mehr wiederholen und überall dieselben Standards gelten“. 

Danach sollen Straßen- und Bahnnetze sowie kritische Infrastrukturen wie Strom und Mobilfunk besser vor Hochwasser geschützt werden. Vor allem in „Risikogebieten außerhalb von Überschwemmungsgebieten“ soll gar nicht erst geplant oder gebaut werden, wie es in dem Plan heißt, der offenbar dem Handelsblatt vorliegt. Neben den eigentlichen Überflutungs- und Überschwemmungsgebieten gelten zukünftig auch angrenzende Flächen als schutzwürdig, da sie „statistisch ein zunehmendes Schadenspotenzial“ aufweisen.

„Was dieser Tage angesichts der schrecklichen Bilder aus dem Rheinland und der zahlreichen Toten einleuchtend klingt“, fährt die Zeitung fort, „wurde bisher allerdings bekämpft: von Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, aber auch und vor allem von der Industrie“. Das Blatt verweist auf eine Stellungnahme des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) vom 28. Mai 2021. Danach hätte der Bundesraumordnungsplan, wenn er in der aktuellen Fassung verabschiedet würde, massive negative Auswirkungen auf die Entwicklung und das Fortbestehen des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

„Als nicht erforderlich und zielführend angesehen und daher abgelehnt“, bewertet der VCI (Verband der Chemischen Industrie) die staatlichen Pläne. Mit der EU-Hochwasserrichtlinie, dem Wasserhaushaltsgesetz, dem Raumordnungs-, dem Bau- und dem Bodenschutzrecht sowie wasserrechtlichen Anforderungen gäbe es genügend Regeln zum Hochwasserschutz.

Der Lobbyverband Wirtschaftsvereinigung Stahl verwies Ende Juni in einem Brief an den zuständigen Innenstaatssekretär darauf, dass Anlagenbetreiber seit vielen Jahren Hochwasserschutz beachteten. Viele Unternehmen der stahl- und metallverarbeitenden Branche seien an historischen Standorten an Flüssen über Jahrzehnte gewachsen. Der Schutzplan wirke wie eine „Zulassungssperre“ und komme einem „Neubau- und Änderungsverbot“ gleich.

Auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hält nichts von einer Bundesregelung. Das Handelsblatt   zitiert aus einer Stellungnahme des NRW-Wirtschaftsministeriums vom vergangenen Mai. Danach komme schon heute dem Hochwasserschutz im Land eine sehr hohe Bedeutung zu. Für den Bundesplan bestehe „keine ausreichende Veranlassung“, auch gebe es „keinen Mehrwert“. Mit den neuen Vorgaben müssten dagegen mehr als ein Drittel der Bauleitpläne angepasst werden, weil die Regeln auch „für die großflächigen Risikogebiete und die Einzugsgebiete der Gewässer, das heißt letztlich flächendeckend Wirkungen“ entfalten würden.

Quelle:

Daniel Delhaes: „‚Nicht erforderlich und zielführend‘: Wie die Industrie den neuen Hochwasserschutzplan bekämpfte“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/naturkatastrophen-nicht-erforderlich-und-zielfuehrend-wie-die-industrie-den-neuen-hochwasserschutzplan-bekaempfte/27437096.html?ticket=ST-10165452-Y1fmZc17ViPiuBevI3As-ap4