„Bürger, schützt Eure Banken!“

Im Caricatura Museum in Frankfurt am Main ist bis 19. März eine Ausstellung zur Geschichte der satirischen Zeitschrift „Pardon“ zu sehen, die von 1962 bis 1982 erschien. Einer der beiden Kuratoren der Ausstellung ist Gerhard Kromschröder, der als „Pardon“-Redakteur zusammen mit Nikolaus Jungwirth 1971 die satirische Initiative „Bürger, schützt Eure Banken!“ gründete. Prominente, die gebeten wurden, die Initiative zu unterstützen, fielen prompt auf sie herein, wie Alfred Dregger, der stramm rechte damalige Vorsitzende der CDU Hessen, sowie der damalige Chef des Bundeskriminalamts Horst Herold. Wir haben Gerhard Kromschröder im Rückblick auf diese Aktion ein paar Fragen gestellt.

Mit Ihrer vermeintlichen Bürgerinitiative war damals der Schutz vor Bankräubern gemeint, die man angeblich an verdächtigem Verhalten vor Banken erkennen sollte. Erscheint heute angesichts von Cum-Ex-Betrügereien und Geldwäsche auch mit Hilfe von Banken eine derartige satirische Aktion überhaupt noch denkbar, und wenn ja, wie könnte sie aussehen?

Kromschröder: Aber immer! Die Leute sind ja viel leichtgläubiger als wir wahrhaben wollen. Und die Banken umgibt in der allgemeinen Wahrnehmung immer noch, trotz aller Skandale, eine Aura der Seriosität. Was sich im Moment abspielt, könnte man durchaus mit einer Satire verdeutlichen, die unserer damaligen Aktion ähnelt: Die Banken werden geschützt, diesmal von oben, trotz aller Betrügereien; sie werden gepampert, und ihre Schulden übernimmt die Allgemeinheit.

Am Schluss des damaligen Artikels in „Pardon“ zu Ihrer Aktion wurde der Brecht-Spruch zitiert: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Sind die Banken inzwischen nicht längst in gewisser Weise selber zu Räubern geworden?

Kromschröder: Natürlich, denn sie sind das, was sie schon immer waren: eher mafiöse Vereinigungen als selbstlose, dem Allgemeinwohl verpflichtete Verwahr- und Vermehrungsanstalten von ihnen anvertrautem Geld.

Könnte oder sollte man „Bürger, schützt Eure Banken!“ heute nicht zeitgemäß neu interpretieren, zum Beispiel als präventive Aufforderung, die Geldinstitute unter öffentliche, demokratische Kontrolle zu nehmen?

Kromschröder: Das ist längst überfällig. Es wird endlich Zeit, dass sich die Bankkunden nicht länger an der Nase herumführen und abmelken lassen, zum Beispiel durch hohe Gebühren und wenig Zinsen; es geht nicht an, dass die Banken weiter die Politik vor sich hertreiben und es so immer wieder schaffen, die Schäden, die sie verursachen, auf die Gesamtbevölkerung abzuwälzen. Statt „Bürger, schützt Eure Banken!“, wie bei uns vor 50 Jahren, könnte der Slogan heute dann vielleicht lauten: „Bürger, übernehmt Eure Banken!“

 

Gerhard Kromschröder hat als investigativer Journalist unter anderem Reportagen über Neonazis, Giftmüll-Skandale und zur Flick-Spendenaffäre gemacht. Mit Günter Wallraff zusammen entwickelte er die Methode der Undercover-Recherche. Berichte darüber veröffentlichte er unter dem Titel „Ich war einer von ihnen“ 1987 im Eichborn Verlag. Ab 1989 war Kromschröder dann Nahost-Korrespondent des Stern. Während des ersten Irak-Kriegs arbeitete er als einziger deutscher Journalist und Fotoreporter im bombardierten Bagdad. Zum zweiten Irak-Krieg erschien sein Buch „Bilder aus Bagdad – Mein Tagebuch“, in dem er seine Erfahrungen als Kriegsreporter beschrieb. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit dem Schriftsteller Gerhard Henschel mehrere Fotobände, bei denen sie sich auf die Lebensspuren verschiedener Dichter begaben, von Wilhelm Busch bis Arno Schmidt.

Gesetzentwurf zum Schutz von Whistleblowern gescheitert

Am 10. Februar 2023 verweigerte der Bundesrat einem Bundestagsbeschluss zum Schutz von so genannten Whistleblowern die Zustimmung. Widerstand von Seiten der Landesregierungen mit CDU/CSU-Beteiligung führte dazu, dass das Gesetz nicht in Kraft treten kann. Bundesregierung und Bundestag können nun den Vermittlungsausschuss anrufen, um dort erneut über die Vorlage zu verhandeln. Eine erneute Abstimmung im Bundesrat würde aber weitere Monate dauern und das Inkrafttreten des Gesetzes entsprechend verzögern.

„In der aktuellen Fassung sieht der Gesetzentwurf vor, dass Hinweisgeber sich an interne wie auch externe Meldesysteme wenden können. Diese werden ab einer Unternehmensgröße von 50 Mitarbeitern verpflichtend. Dazu soll es die Möglichkeit geben, sich an eine externe Meldestelle zu wenden, die zusätzlich zu den bestehenden in der Finanzaufsicht Bafin und dem Bundeskartellamt eingerichtet werden soll. Unter Umständen soll der Whistleblower die Missstände auch öffentlich machen dürfen. Kündigungen aufgrund einer Meldung sollen dann ebenso verboten werden wie andere Vergeltungsmaßnahmen.“ (Süddeutsche Zeitung vom 9. Februar 2023)

Die EU hatte bereits 2019 eine Richtlinie erlassen, die von den Mitgliedsstaaten bis zum Dezember 2021 in nationales Recht hätte umgesetzt werden müssen. Bis heute hat Deutschland das nicht hinbekommen, auch weil die alte Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sich nicht auf einen Gesetzesentwurf einigen konnte. Unter anderem war ein Vertragsverletzungsverfahren auf EU-Ebene die Folge.

Die Vorsitzende des Whistleblower-Netzwerks, Annegret Falter, kommentierte:

CDU/CSU lassen Whistleblower mit ihrer Blockadehaltung im Bundesrat erneut im Stich, wie bei allen früheren Anläufen für ein Hinweisgeberschutzgesetz. Den Schaden davon haben nicht nur die Whistleblower, sondern auch Demokratie, Rechtsstaat und die Wirtschaft selber. (…) Die soeben im Bundesrat vorgetragenen Argumente gegen den vorliegenden Gesetzentwurf wegen einer vermeintlich zu hohen Belastung der Wirtschaft in Krisenzeiten sind der ewig gleiche alte Wein in neuen Schläuchen.“

Weiter heißt es in einer Meldung der Organisation:

„Whistleblower sorgen mit ihren Meldungen für die frühzeitige Aufdeckung von Missständen in Unternehmen – bevor der Schaden zu Reputationsverlust und Haftungsansprüchen führt. Zudem weisen sie die Gesellschaft auf staatliche Kontroll- und Regelungslücken hin (z.B. bei Cum-Ex). Deswegen liegt es im ureigensten Interesse von Gesellschaft, Whistleblower zu ermutigen. Derzeit werden sie jedoch durch fehlende Rechtsklarheit und Rechtssicherheit abgeschreckt.“

Auch Finanzwende e.V. kritisiert die Union dafür, die die Hinweisgeber „im Regen stehen“ lasse:

„‚Es ist beschämend, dass wir Hinweisgebern immer noch nicht den von der EU vorgeschriebenen Mindestschutz bieten. Es ist eigentlich überfällig, dass wir Whistleblower besser schützen‘, erklärte Konrad Duffy, Referent Finanzkriminalität bei der Bürgerbewegung Finanzwende. Die Organisation machte noch vor der Bundesrats-Abstimmung bei einer Aktion deutlich, dass sich die CDU nicht auf die Seite von Finanzkriminellen und Co. stellen solle. ‚Sei es CumEx, Wirecard oder andere Skandale – immer wieder haben Whistleblower zu deren Aufdeckung und Aufklärung beigetragen. Der Dank ist, dass die CDU sie erneut im Regen stehen lässt‘, kritisierte Konrad Duffy von Finanzwende.

Immer wieder riskieren Hinweisgeber viel, um Betrug, Korruption und Missbrauch ans Licht zu bringen. Mit dem neuen Gesetz sollte sich die Lage zumindest etwas bessern. (…) Aus Sicht von Finanzwende hätte das Gesetz trotz Mängeln einen wichtigen Fortschritt bedeutet. ‚Die CDU hatte in ihrer Zeit der Regierungsverantwortung die Chance, die EU-Vorgaben nach eigenen Vorstellungen umzusetzen. Jetzt zu blockieren, ist in hohem Maße unverantwortlich‘, machte Duffy die Position seiner Organisation deutlich.“

Transparency International kommentiert die Entscheidung des Bundesrats wie folgt:

„Was für ein Trauerspiel! Die Union hat heute mit fachlich fragwürdigen und zum Teil schlicht unrichtigen Argumenten das Gesetz zum Schutz von Hinweisgebenden blockiert. Insbesondere die von der Union kritisierte Verpflichtung zum Nachgehen auch anonymer Hinweise ist essentiell für Hinweisgeberschutz – und in vielen Unternehmen bewährte Praxis. Durch die Blockade im Bundesrat müssen die betroffenen Personen, die auf Missstände hinweisen und damit Zivilcourage beweisen, weiter auf einen verlässlichen Schutzschirm warten. Das beschert in Unternehmen und Behörden sowie den Hinweisgebenden weiterhin große rechtliche Unsicherheit. Für Deutschland ist das auch im internationalen Vergleich ein Armutszeugnis, schließlich ist die Frist zur Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie bereits Ende 2021 verstrichen.“

Das Handelsblatt schrieb am 11. Februar:

„Wie wichtig Whistleblowing ist, belegen Fälle wie der des Zahlungsdienstleisters Wirecard oder der Fondstochter der Deutschen Bank, DWS, wo jeweils Mitarbeitende auf Missstände aufmerksam gemacht hatten. Pav Gill, damaliger Leiter der Asien-Rechtsabteilung bei Wirecard, brachte den Bilanzskandal ins Rollen, indem er Journalisten die entscheidenden Dokumente zukommen ließ. Die ehemalige DWS-Nachhaltigkeitschefin Desiree Fixler ging mit Vorwürfen des Greenwashings bei nachhaltigen Geldanlageprodukten an die Öffentlichkeit.“

Das Wirtschaftsblatt wies am 10. Februar darauf hin, dass auch Wirtschaftskreise den Gesetzentwurf unterstützen:

„Für die Wirtschaft könnte hingegen ein besserer Schutz von Hinweisgebern große Vorteile haben. Die Versicherer versprechen sich davon langfristig einen Rückgang der Wirtschaftskriminalität: ‚Zum einen erhöhen Whistleblowing-Systeme das Risiko, entdeckt zu werden, und schrecken potenzielle Täter ab‘, sagte Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), dem Handelsblatt. Außerdem würden Taten früher erkannt und können so weniger Schaden anrichten. Das werde ‚positive Effekte für die deutsche Wirtschaft‘ haben. In mittelgroßen Unternehmen sind Hinweisgebersysteme bisher kaum vorhanden. Nach einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des GDV gab es im Frühjahr 2022 nur in jedem vierten mittelgroßen Unternehmen ein Hinweisgebersystem, wie es jetzt vorgeschrieben werden soll.“

Auch das Neue Deutschland kommentierte das Versagen der deutschen Politik beim Schutz des Whistleblowings:

„Sieben Anläufe gab es seit 2008, in Deutschland ein Gesetz zu verabschieden, das Hinweisgeber*innen vor Repressionen schützen soll, die auf Missstände in Unternehmen oder bei Behörden aufmerksam machen. Versuch Nummer acht scheiterte am Freitag im Bundesrat am Widerstand jener Länder, in denen die Union mitregiert. Die fadenscheinigen Argumente der Konservativen gegen effektiven Whistleblowerschutz haben sich in all den Jahren nicht geändert und bleiben ebenso falsch wie politisch durchschaubar.

CDU und CSU bemühen auch jetzt wieder mantraartig den Klassiker schlechthin aller wirtschaftsnahen Parteien: Das Gesetz verursache für Unternehmen hohe Kosten und personellen Aufwand! Nun ist Bürokratie in der Öffentlichkeit ein negativ besetztes Wort, klingt es doch nach einem überregulierten, alles in Akten erstickenden Staat. Doch der Schutz von Personen, die mutmaßliche Gesetzesverstöße – und nur darum geht es – mitbekommen und melden wollen, ist etwas, wovon am Ende alle profitieren und wofür es staatliche Vorgaben braucht. (…)  Was die Union betreibt, ist Blockadepolitik zum Schutz von Unternehmensinteressen. Man darf nicht vergessen: Bis 2021 saßen CDU und CSU 16 Jahre in der Regierung. Ein Whistleblower-Gesetz haben sie in all der Zeit nie umgesetzt.“

Quellen:

„Unionsparteien lassen Whistleblowerschutzgesetz erneut scheitern“, Meldung des Whistleblower Netzwerk e.V. vom 9. Februar 2023

https://www.whistleblower-net.de/online-magazin/2023/02/09/bundesrat-blockiert-hinweisgeberschutzgesetz/

„CDU schützt Finanzkriminelle statt Hinweisgeber“, Pressemitteilung von Finanzwende e.V. vom 10. Februar 2023

https://www.finanzwende.de/presse/cdu-schuetzt-finanzkriminelle-statt-hinweisgeber/

„Bundesrat lehnt das Hinweisgeberschutz-Gesetz ab“, Pressemitteilung von Transparency International Deutschland e.V. vom 10. Februar 2023

https://www.transparency.de/aktuelles/detail/article/bundesrat-lehnt-das-hinweisgeberschutz-gesetz-ab

Mona Fromm: „Whistleblowing-Gesetz bleibt umstritten – bietet aber auch Chancen für Unternehmen“, Handelsblatt (Online) vom 11. Febraur 2023

https://www.handelsblatt.com/karriere/hinweisgeberschutzgesetz-whistleblowing-gesetz-bleibt-umstritten-bietet-aber-auch-chancen-fuer-unternehmen/28973896.html?

Robert D. Meyer: „Union verhindert Schutz von Whistleblower*innen“, Neues Deutschland (Online) vom 10. Februar 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170877.informantenschutz-union-verhindert-schutz-von-whistleblower-innen.html?

Dietmar Neuerer: „Unions-Länder stoppen besseren Schutz von Whistleblowern – SPD und Grüne halten an Regelungen fest“, Handelsblatt (Online) vom 10. Februar 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/keine-mehrheit-unions-laender-stoppen-besseren-schutz-von-whistleblowern-spd-und-gruene-halten-an-regelungen-fest/28975540.html

Nils Wischmeyer: „Whistleblower bitte warten“, Süddeutsche Zeitung vom 9. Februar 2023

Herber Rückschlag beim Kampf gegen Geldwäsche

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Ende November 2022 soll in EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr für jedermann einsehbar sein, wer als Eigentümer hinter einer bestimmten Firma steht. Die EU muss nun ihre Geldwäsche-Richtlinie überarbeiten, um die Privatsphäre von Firmeneigentümern besser zu schützen. In der Folge haben bereits viele Länder ihre Transparenzregister geschlossen oder den Zugang eingeschränkt.

Die Wiener Tageszeitung DER STANDARD schrieb in seiner Onlineausgabe vom 10. Februar:

„Das Urteil war kaum publik, da ging das sogenannte Transparenzregister in Luxemburg bereits offline. Es folgten die entsprechenden Datenbanken in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Damit wurden mit einem Richterentscheid jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anstrengungen zunichtegemacht. Von einem Tag auf den anderen war nicht mehr öffentlich einsehbar, wer sich hinter verworrenen Konstruktionen aus Briefkastenfirmen, Stiftungen und Trusts versteckt.

Es sei eine ‚perverse Entscheidung‘, kritisiert der Steueroasen-Experte Andres Knobel von der Nichtregierungsorganisation Tax Justice Network. Andere sprechen von einem ‚totalen Desaster‘. Ausgerechnet in einer Zeit, in der Ermittler, Journalisten und Aktivistinnen auf der ganzen Welt versuchen, Vermögen von sanktionierten Russen aufzuspüren und einzufrieren, wird eines der wichtigsten Werkzeuge für diese Detektivarbeit kaputt gemacht.“

Auch Deutschland zog entsprechende Konsequenzen: Derzeit müssen Personen, die einen Antrag auf Einsicht ins deutsche Transparenzregister stellen, ein sogenanntes berechtigtes Interesse nachweisen und zwar für jede einzelne zu recherchierende Firma, was sehr aufwändig ist. Auf den Antragsbescheid muss gegebenenfalls Wochen gewartet werden, was bei umfangreichen Recherchen eine massive Behinderung darstellt.

Weitere Reaktionen auf das Urteil:

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin kritisiert genau diese Wirkung der Gerichtsentscheidung, da somit auch Ermittlungsbehörden begründete Anträge für eine Einsicht ins deutsche Transparenzregister stellen müssten – was die Nutzung umständlich mache. Ein Oberstaatsanwalt beklagt, dass gerade in größeren Wirtschaftsverfahren eine Vielzahl von Einzelfirmen und Firmenverbünden eine Rolle spielen würden, für die dann jeweils einzelne Anfragen mit jeweiligen Begründungen anfielen (vgl. tagesschau.de).

Die NGO Finanzwende stellt fest, dass „das Urteil ein herber Schlag ins Gesicht sei“ (Süddeutsche Zeitung). Bei Enthüllungen wie den Panama Papers  oder anderen Leaks sehe man, wie wichtig dieser Zugang zu den Transparenzregistern sei – auch für Privatpersonen, die wissen wollten, wem ihr Haus eigentlich gehöre. Viele große Immobilienunternehmen versteckten ihre wahren Eigentümer hinter anonymen Offshore-Konstruktionen (ebd.).

Eine Vertreterin von Transparency International kritisiert das Urteil, weil es die Möglichkeiten der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft einschränke, Korruption, Geldwäsche, Umweltverbrechen und organisierte Kriminalität aufzudecken (ebd.). Auf ausländische Transparenz-Register hätten deutsche Ermittlungsbehörden jetzt auch keinen automatischen Zugriff mehr, erklärt Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Sie könnten zwar ein Rechtshilfeersuchen stellen, was aber vermutlich wieder zu mehr Bürokratie und Verzögerung bei den Ermittlungen führe (vgl. tagesschau.de).

Der Hintergrund der Entscheidung:

Vor dem EuGH geklagt hatte unter anderen Patrick Hansen, Chef der Luxemburger Firma Luxaviation. Vorgeblich, weil die EU-Gesetzgebung seine Privatsphäre und Sicherheit sowie den Schutz seiner persönlichen Daten verletzt hätte. Das EuGH-Urteil wird aktuell von den Medien aufgegriffen, weil internationale Recherchen, koordiniert vom Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), nun nachweisen, dass Hansen in den vergangenen 15 Jahren Eigentümer, Direktor oder Verwaltungsratsvorsitzender von rund 100 Offshore-Firmen in einschlägig bekannten Steueroasen wie Luxemburg, den Britischen Jungferninseln oder Belize war (vgl. Süddeutsche Zeitung).

Offenbar war er auch in Geschäfte mit zwei russischen Milliardären aus dem Ölbusiness involviert. Vom Sohn eines dieser Milliardäre scheint Luxaviation auch Darlehen in Höhe vieler Millionen Dollar bekommen zu haben. Das, so zeigen die Recherchen, könnte den schnellen Aufstieg von Luxaviation zur Nummer Zwei im Privatjetgeschäft erklären.

Die Richtlinie, deren Regelung durch Hansens Klage außer Kraft gesetzt wurde, hatte die EU erst 2018 beschlossen – „eher zum Unmut jener Finanzplätze und EU-Länder, die häufig von nicht ganz sauberen Finanzpraktiken profitieren“ (DerStandard). Letztlich ausgelöst wurde die Richtlinie durch die Veröffentlichung der sogenannten Panama Papers, die den milliardenschweren Missbrauch anonymer Firmenkonstruktionen in Steueroasen offengelegt hatten.

Quellen:

Carina Huppertz/Frederik Obermaier/Michael Sauga/Jakob Pflügl: „Wie ein Luxemburger Geschäftsmann Europas Kampf gegen Geldwäsche ausbremste“, DerStandard (Online) vom 10. Februar 2023

https://www.derstandard.de/story/2000143404703/wie-ein-luxemburger-geschaeftsmann-europas-kampf-gegen-geldwaesche-ausbremste

Mauritius Much: „Dämpfer im Kampf gegen Geldwäsche“, Süddeutsche Zeitung vom 11./12. Februar 2023

Benedikt Strunz/Sebastian Pittelkow/Palina Milling/Petra Blum: „Weniger Transparenz nach EuGH-Urteil“, tagesschau.de, 10. Februar 2023

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/eugh-urteil-schliessung-register-klaeger-russland-101.html

 

Krisengewinner: Neues über die Corona-Profiteure

Maskendeals: Die bayerische CSU-Connection

Die PR-Unternehmerin Andrea Tandler, Tochter des ehemaligen CSU-Generalsekretärs Gerold Tandler, hatte zu Beginn der Corona-Pandemie Schutzmasken-Deals der Schweizer Firma Emix mit den Gesundheitsministerien in Bayern und NRW sowie dem Bundesgesundheitsministerium vermittelt (zum stolzen Preis von 8,90 Euro pro Maske) – dabei CSU-Kanäle genutzt und insgesamt 48 Millionen Euro an Provisionen kassiert. Seit 24. Januar 2023 sitzt sie in München wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung in zweistelliger Millionenhöhe im Zusammenhang mit den Maskengeschäften in Untersuchungshaft. Zudem ermittelt die dortige Staatsanwaltschaft gegen sie nun auch wegen Subventionsbetrug bei den staatlichen Corona-Hilfen. Im Mai 2020 hatte Tandler für ihre Münchner PR-Agentur 9.000 Euro Staatshilfe in Anspruch genommen – nachdem sie mit den Maskendeals bereits steinreich geworden war. Gemäß einer Richtlinie des bayerischen Wirtschaftsministeriums war die Corona-Soforthilfe als Höchstsumme für in Not geratene Kleinunternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten gedacht. Im Mai 2020 wurde die Summe ausbezahlt, erst ein Jahr später zahlte Tandler die Corona-Hilfe zurück. Die Staatsanwaltschaft in München geht jetzt von Subventionsbetrug aus und wirft Tandler vor, dem Staat ihre Masken-Provisionen bewusst verschwiegen zu haben (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 2. Februar 2023).

Quellen:

Klaus Ott: „Justiz sieht Fluchtgefahr bei Andrea Tandler“, Süddeutsche Zeitung vom 26. Januar 2023

ders.: „Verdacht auf Subventionsbetrug“, Süddeutsche Zeitung vom 2. Februar 2023

 

Überhöhte Preise für PCR-Tests

Im Januar 2023 berichtete ein Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) von einer Milliardenverschwendung bei PCR-Tests. Hersteller und Labore konnten demnach während der Pandemie mit den Krankenkassen stark überhöhte Preise für die Corona-Tests vereinbaren. Ende Januar 2020 schrieb die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Mail an den Verband der Krankenkassen und das Gesundheitsministerium. „Darin schlagen die Ärztevertreter vor, die Kosten für PCR-Tests auf das neue Coronavirus auf 59 Euro festzulegen. Damit orientierten sie sich am Preis für einen vergleichsweise seltenen Hepatitis-Test – und nicht etwa an PCR-Tests für Influenza- oder RS-Viren. Letztere werden mit 19,90 Euro vergütet. Nur zwei Tage später, vom 1. Februar an, zahlten die Kassen den Laboren dann die 59 Euro pro Test.“ (Süddeutsche Zeitung vom 9. Januar 2023) Offensichtlich hatte das Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU) darauf gedrängt, die 59 Euro zu akzeptieren.

Laut SZ brachten selbst Warnungen von Herstellern und Experten das Ministerium und die Krankenkassen nicht davon ab, die überteuerten Preise zu bezahlen und dafür bis heute etwa sechs Milliarden Euro auszugeben. So hatte der Chef des Berliner Testherstellers TIB Molbiol seit Januar 2020 gegenüber Medien wiederholt bestätigt, dass PCR-Tests einschließlich Auswertung für zehn Euro zu machen seien. Heute erhalten die Labore nach Angaben der SZ noch 27,30 Euro plus Transportkosten für die Tests.

Die SZ schrieb weiter: „Dass Tests deutlich billiger zu haben waren, zeigt das Beispiel Wien. Dort wurde gepoolt, um die Kosten niedrig zu halten. Beim Poolen werden Tests von zum Beispiel zehn Personen zu einer Probe vermischt. Ist die gemischte Probe negativ, kann eine Infektion für alle zehn Personen ausgeschlossen werden. Nur wenn eine der Personen positiv ist, müssen alle Personen noch mal getestet werden, um herauszufinden, wer positiv war. So konnte Wien allen Einwohnern PCR-Tests anbieten und zahlte sechs Euro pro Test.“

Einer der Profiteure der Milliarden-Verschwendung in Deutschland ist die Laborfirma Sonic Healthcare. Ende Juli des vergangenen Jahres teilte das Unternehmen mit, dass ihr Gewinn „förmlich explodiert“ sei, von 82 auf 274 Millionen Euro.

Quellen:

Daniel Drepper/Markus Grill/Sarah Wippermann: „Mit 59 Euro fing alles an“, Süddeutsche Zeitung vom 9. Januar 2023

David Maiwald: „Milliarden im Teströhrchen“, junge Welt vom 13. Januar 2023

 

Enorme Preissteigerungen für Impfstoffe mitten in der Pandemie

Die Pharmafirmen Biontech, Pfizer und Moderna haben den Preis für ihre Corona-Impfstoffe während der Pandemie um mehr als 50 Prozent erhöht. Das, so die SZ in ihrer Ausgabe vom 27. Januar 2023, gehe aus bisher geheim gehaltenen Zahlen hervor, die dem Rechercheverbund aus NDR, WDR und SZ vorliegen. Beim US-Konzern Moderna bestellte Deutschland im Dezember 2020 rund 15 Millionen Impfdosen für je 19,50 Euro. Drei Monate später lagen die Kosten für weitere 38 Millionen Dosen bereits bei 29,70 Euro pro Dosis. Die Kooperationspartner Biontech und Pfizer kassierten 15,50 Euro pro Impfdose, als Deutschland Ende 2020 eine Bestellung von 39 Millionen Dosen aufgab. Im September 2021 wurden 168 Millionen Dosen zu einem Preis von je 23,20 Euro geordert. Insgesamt hat der deutsche Staat inzwischen Vakzine für 13,1 Milliarden Euro bestellt, das heißt acht Dosen pro Einwohner. Nach Expertenmeinung ist diese Menge jedoch viel zu hoch. Ein Großteil der Lieferungen muss voraussichtlich wegen Überschreiten des Verfallsdatums vernichtet werden.

Diese Entwicklung führte dazu, dass die Corona-Pandemie der Pharmabranche in den vergangenen beiden Jahren den stärksten Umsatzschub seit Jahrzehnten bescherte. Wie das Handelsblatt Anfang des Jahres in einem Branchenbericht feststellte. muss sich die Branche jedoch für das Jahr 2023 auf eine „Wachstumsdelle“ einstellen. Insbesondere die Umsätze mit Impfstoffen und Medikamenten gegen Covid dürften sich nach bisherigen Schätzungen von Analysten etwa halbieren – nachdem sie im vergangenen Jahr noch sehr deutlich auf etwa 100 Milliarden Dollar gestiegen waren (Handelsblatt vom 4. Januar 2023). Dennoch erwartet der Chef des US-Unternehmens Pfizer, das 2022 den bisher höchsten Umsatz und Gewinn in der Geschichte der Pharmaindustrie verzeichnen konnte, dass das Covidgeschäft trotz des Einbruchs im laufenden Jahr längerfristig eine milliardenschwere Einnahmequelle bleiben wird. 2023 werde wohl bereits der Tiefpunkt des Geschäfts erreicht sein; in den nächsten Jahren seien wieder höhere Erlöse zu erwarten. Pfizer geht davon aus, dass die staatlichen Vorratsbestände an Impfstoffen im Verlauf des Jahres 2023 aufgebraucht sein werden (Handelsblatt vom 31. Januar 2023).

Quellen:

Markus Grill/Klaus Ott: „Geschwärzte Verträge und Milliardenprofite“, Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 2023

Siegfried Hofmann: „Pfizers Covid-Umsatz schrumpft stark, bleibt aber ein Milliardengeschäft“, Handelsblatt (Online) vom 31. Januar 2023

ders.: „Die Pharmaindustrie steht nach dem Corona-Boom vor einer Wachstumsdelle“, Handelsblatt (Online) vom 4. Januar 2023

 

Beschäftigte zweiter und dritter Klasse: Zur Arbeitssituation von Saisonarbeitskräften in Deutschland

Anfang Februar 2023 legten die Gewerkschaft IG Bau und der Deutsche Gewerkschaftsbund den seit 2018 regelmäßig erscheinenden Jahresbericht „Saisonarbeit in der Landwirtschaft“ der Initiative Faire Landarbeit vor. Die Initiative ist nach eigener Darstellung ein Bündnis gewerkschaftsnaher Beratungsstellen, der IG BAU, kirchlicher Beratungsstellen und weiterer Organisationen.

Danach kamen etwa 60 Prozent der insgesamt knapp über 135.000 Beschäftigten (Stand 30. Juni 2021), wie in den Vorjahren, aus Rumänien. Als weitere Herkunftsländer gibt der Bericht Polen, Ungarn und Bulgarien an. Saisonarbeiter:innen reisten aber auch vermehrt aus der Ukraine, aus Kirgisistan und Usbekistan an.

In einer Pressemitteilung vom 3. Februar 2023 heißt es:

„In vielen Betrieben stellt nicht die Arbeitszeit, sondern die Dokumentation der geernteten Menge die Grundlage für die Lohnabrechnung dar. Arbeitsstunden werden oftmals von Hand von der Betriebsleitung aufgeschrieben. So lässt sich nur schwer nachvollziehen, wie sich das Entgelt zusammensetzt und ob der gesetzliche Mindestlohn eingehalten wird. Hinzu kommt, dass Überstunden nicht bezahlt werden und hohe Mieten sowie ‚Arbeitsmaterialien‘ vom Lohn abgezogen werden. Da die Löhne meistens erst kurz vor der Abreise ausbezahlt werden, ist eine erfolgreiche Reklamation schwierig. Nötig wäre eine transparente digitale Zeiterfassung.“

Infolge des Klimawandels sind Saisonbeschäftigte immer stärker von Hitzestress und UV-Strahlung betroffen. „Zwar waren die damit einhergehenden Risiken in unserer Beratungsarbeit in diesem Jahr kein Schwerpunkt“, heißt es in dem Bericht, „aufgrund der Hitze waren sie jedoch sehr präsent in unseren Gesprächen bei Feldbesuchen“. Wichtige Schutzmaßnahmen seien auf vielen Feldern noch nicht umgesetzt worden. So fehlten Schattenplätze zum Abkühlen und Trinkwasser sowie Schutzmittel wie Sonnencreme und Kopfbedeckungen. „Wir gehen zudem davon aus, dass die Bezahlung nach Akkord Beschäftigte unter Druck setzt, auf gesundheitlich relevante Pausen in den heißen Phasen des Tages zu verzichten.“

Die Statistiken des Zolls zeigten für die Landwirtschaft zudem eine äußerst geringe Dichte an Mindestlohnkontrollen. So wurden im Jahr 2021 nur 1,1 Prozent der Betriebe mit abhängig Beschäftigten kontrolliert, in der ersten Hälfte 2022 noch weniger. In 8,6 Prozent aller Kontrollen in der Landwirtschaft führten diese 2021 zu einem Verfahren wegen Mindestlohnverstoß –  im Baugewerbe oder im Bereich Spedition und Logistik war die Quote geringer. Auch die Dichte der Arbeitsschutzkontrollen in der Landwirtschaft hält die Initiative für nicht ausreichend. Sie liege branchenübergreifend in Deutschland bei lediglich 40 Prozent der von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) geforderten Dichte. 

Die Initiative stellt in ihrem Bericht folgende Forderungen an die Bundesregierung auf:

1) Kurzfristig Beschäftigte in der Landwirtschaft müssen in Deutschland Anspruch auf den vollen, gesetzlichen Krankenversicherungsschutz haben.

2) Die Kontrollen zur Einhaltung des Mindestlohns und zum Arbeitsschutz müssen deutlich ausgeweitet werden.

3) Die verpflichtende Einführung eines manipulationssicheren, digitalen Arbeitszeiterfassungssystems muss sichergestellt werden.

4) Die Kosten für Unterkünfte müssen vom Arbeitgeber getragen werden.

5) Der Arbeits- und Gesundheitsschutz auf den Feldern der Landwirtschaft muss konsequent umgesetzt und verstärkt werden.

6) Die reguläre Beschäftigung für ukrainische Geflüchtete und die Einhaltung der Standards der EU-Saisonarbeiterrichtlinie für alle Saisonbeschäftigten aus Drittstaaten müssen sichergestellt werden.

Quellen:

„Keine ausreichende Krankenversicherung und undurchsichtige Lohnzahlungen“, Medieninfo der IG Bau-Agrar-Umwelt vom 3. Februar 2023

https://igbau.de/Binaries/Binary18587/2023-PM-02-Jahresbericht-Saisonarbeit-2022.pdf

„Saisonarbeit in der Landwirtschaft. Bericht 2022“, hrsg. von der Initiative Faire Landarbeit (Autor: Benjamin Luig), Februar 2023

https://igbau.de/Binaries/Binary18586/InitiativeFaireLandarbeit-Saisonbericht2022-A4-web.pdf

 

 

 

 

 

Fehlende Aufarbeitung von Cum-Ex wegen Personalmangel

Die schwarz-grüne Regierung in NRW verspricht in ihrem Koalitionsvertrag vom Juni 2022, dass sie Delikte wie Cum-Ex „entschlossen bekämpfen und aufarbeiten“ und die Rolle der früheren WestLB dabei aufklären werde. „Die Ermittlungen in Sachen West-LB laufen allerdings schleppend, sieben Jahre nach deren Beginn scheint eine Anklage nicht in Sicht zu sein“, schreibt die Süddeutsche Zeitung (SZ) in ihrer Ausgabe vom 23. Januar 2023.

Gemeinsame Recherchen der SZ mit dem WDR ergaben, dass für den komplexen Fall nur zwei Beamte der Steuerfahndung Düsseldorf eingeteilt sind. Der frühere NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) kritisiert die inaktive Rolle der Staatsanwaltschaft Köln in Personalfragen. Schon zu seiner Zeit als Minister habe sich der leitende Oberstaatsanwalt in Köln kaum aktiv um mehr Personal bemüht. Im Interview mit dem WDR-Magazin Westpol stellt er fest, dass die Ermittlungen viel weiter sein könnten. Er habe im Grunde seinerzeit der Staatsanwaltschaft in Köln Stellen „aufzwingen“ müssen. Sein Eindruck sei, dass sowohl der Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft wie auch sein Vertreter kein großes Interesse an diesem Verfahren hätten. Biesenbach: „Es fehlen deutlich Kräfte für Cum-Ex-Verfahren.“ Die Aufklärung in Sachen Cum-Ex drohe deshalb „zu versanden“. Dem widerspricht Biesenbachs Nachfolger Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen). Er sieht kein Stocken der Ermittlungen, weil immer wieder Stellen besetzt würden. Die Justiz bemühe sich, die Arbeit der Staatsanwält:innen nach Kräften zu unterstützen.

Die SZ fasst den letzten Stand der Personalausstattung der Staatsanwaltschaft Köln zusammen:

„Offiziell zählt die eigens für Cum-Ex-Fälle zuständige Abteilung H bei der Staatsanwaltschaft Köln zwar 36 Stellen. Drei davon sind momentan aber nicht besetzt. Drei weitere Kräfte fallen derzeit wegen Elternzeit und Mutterschutz aus. Neun von zuletzt 16 neu geschaffene Stellen wurden dem Justizministerium zufolge mit Mitarbeitern besetzt, die noch ‚sehr dienstjung‘ seien. Bis auf zwei Ausnahmen verfügten sie ‚weder über Erfahrungen in Bearbeitung umfangreicher Wirtschaftsstrafsachen noch über steuer-und bankenrechtliche Vorkenntnisse‘.“

Die Cum-Ex-Verfahren werden am Landgericht Bonn verhandelt. Doch dort, so berichtet der WDR, lässt die angekündigte Prozessflut bislang auf sich warten. Dabei wurden Gerichtssäle für 600.000 Euro modernisiert und neue geplant. Stefan Weismann (Präsident Landgericht Bonn) meinte dazu: „Es war ein anderes Tempo angekündigt.“

Quellen:

„Schleppende Ermittlungen zur WestLB“, Westpol (TV-Magazin des WDR) vom 22. Januar 2023
https://www.ardmediathek.de/video/westpol/westpol/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTdjYjE2NjhhLTU3ZGQtNGUyNy1hY2Y0LTJmMTYyOTg0NDgwYg

Jan Diesteldorf/Nils Wischmeyer: „Personalmangel bremst Cum-Ex-Aufklärung“,
Süddeutsche Zeitung vom 23. Januar 2023

Anklageschrift gegen führenden Unternehmensberater

Bei Unternehmen und staatlichen Institutionen geht ohne Unternehmensberatung häufig gar nichts. Unternehmensberater wie McKinsey & Co. prägen deshalb sowohl Wirtschaftsprozesse als auch gesellschaftliche Lebensverhältnisse entscheidend mit – und verdienen damit Unsummen an Geld. In ihrem im Oktober 2022 zuerst in den USA veröffentlichten „Schwarzbuch McKinsey“ legen die beiden Investigativ-Journalisten der „New York Times“, Walt Bogdanich und Michael Forsythe, nun eine Skandalchronik der weltweit wichtigsten Unternehmensberatung vor. Es ist das bisher aktuellste einer ganzen Reihe von in den vergangenen Jahren erschienenen kritischen Büchern verschiedener Autor:innen über McKinsey – einem Unternehmen, das wohl stellvertretend für die gesamte Consulting-Branche angeprangert werden soll.

Nach eigenen Angaben arbeiten rund 35.000 Mitarbeiter:innen von McKinsey in mehr als 130 Städten und 65 Ländern. Die beiden Autoren gehen primär der Frage nach, mit welchen Methoden dieser riesige und mit über zehn Milliarden Dollar Jahresumsatz international führende Strategieberater vorgeht und welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen seiner Tätigkeit bisher beobachtet werden konnten. Geschieht etwas Skandalöses, stehen die Kunden von McKinsey in der Kritik, da sie für die Folgen ihres Handelns verantwortlich sind. Die Berater, die sie instruiert haben, bleiben dagegen weitgehend verborgen und damit aus der Schusslinie der öffentlichen Kritik. Der Anspruch der amerikanischen Journalisten ist es deshalb, die „fragwürdigen Praktiken“ (Untertitel des Buches) McKinseys aus den letzten Jahrzehnten auf Basis umfangreicher Recherchen ans Licht zu zerren (oder auch der Öffentlichkeit bereits bekannte Fälle der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung zu rufen). Die beiden Autoren haben (laut Schutzumschlag des Buches) Hunderte Gespräche mit Insidern geführt und „zehntausende vertrauliche Dokumente“ eingesehen mit dem Ziel, weiter am Lack von McKinsey zu kratzen.

Bogdanich und Forsythe listen in dem Buch detailliert auf, bei welchen strittigen oder kriminell anmutenden Aktivitäten von Unternehmen Mitarbeiter:innen von McKinsey ihre Finger mit im Spiel hatten. Angeführt wird eine Vielzahl von Fällen, hier nur einige Beispiele:
2014 engagierte der Konzern U.S. Steel McKinsey, um den Stahlkonzern wieder auf Gewinnkurs zu bringen. Die Berater implementierten einen „transformativen“ Businessplan, um unter anderem Wartungskosten zu senken. Dutzende Mechaniker wurden entlassen, Hunderte beruflich herabgestuft. Tödliche Arbeitsunfälle waren die voraussehbare Folge.
In den Freizeitparks von Disneyland wurde ebenfalls die „wirtschaftliche Effizienz“ durch einen Umbau der Wartungsarbeiten gesteigert. Ein Jahr lang hatten Consultants von McKinsey die Walt Disney Company analysiert; die wenig überraschenden Empfehlungen folgten 1997: die Instandhaltung von Fahrgeschäften sollte eingeschränkt, Arbeitsplätze gestrichen und Aufgaben an externe Dienstleister outgesourct werden. Auch hier führen die Autoren die nachfolgenden tödlichen Unfälle in einzelnen Vergnügungsparks (z. B. in einer Achterbahn) zurück auf das „eiskalte Kostensenkungskalkül, das die Firma zum Klassenbesten der Unternehmensberatungen gemacht hatte“. (Seite 31)
Seit der globalen Finanzkrise spielte McKinsey eine entscheidende Rolle bei der Umgestaltung des britischen Gesundheitsdienstes „National Health Service“ (NHS). Wegen dem gewaltigen Haushaltsdefizit sollten umfangreiche Kürzungen des NHS-Budgets vorgenommen werden. McKinsey schlug im März 2009 Einsparungen in Höhe von 20 Milliarden Pfund vor; diese sollten durch den Abbau von rund zehn Prozent der NHS-Belegschaft ermöglicht werden. Die beiden Autoren verdeutlichen, wie eng mittlerweile die Bindung der britischen Regierung mit dem privaten Consulting ist. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Regierung den nationalen Gesundheitsdienst noch ganz ohne die Hilfe von Beratern auf die Beine stellen. 313 Millionen Pfund gab der NHS jetzt allein im Jahr 2010 für Consultingfirmen aus.
Als schockierendster Fall des Buches gelten McKinseys Beratungsleistungen für die US-amerikanische Firma Purdue Pharma, einem Hersteller von Schmerzmitteln mit hohem Suchtpotenzial (Opioiden). Von 2004 bis 2019 erhielt McKinsey insgesamt 83,7 Millionen Dollar Beratungshonorar, um „das Verlangen der Nation nach dem Schmerzmittel OxyContin“ (Seite 198) zu schüren. Die Autoren sprechen von 750.000 Menschen, die infolge einer Epidemie starben, die damals durch den Verkauf des Schmerzmittels in Gang gesetzt wurde.

McKinsey, so heißt es in dem Buch weiter, habe auch die amerikanische Aufsichtsbehörde beraten, deren Aufgabe es war, die Auswirkungen des Skandals in den Griff zu bekommen: „Auch hier kam die Doppelrolle von McKinsey als Berater der Regulierten und der Regulierungsbehörde ins Spiel.“ (Seite 220) Gleiches geschah in China, wo McKinsey einen staatlichen Baukonzern beim Aufbau militärischer Infrastruktur beriet, zugleich aber auch für das US-Pentagon arbeitete, die die chinesischen Pläne als Bedrohung auffasste. Zur Geschäftspolitik von McKinsey gehört es offensichtlich, zur gleichen Zeit verschiedene Unternehmen zu beraten, die auf demselben Markt miteinander konkurrieren.
McKinsey arbeitete auch für die deutsche Spitzenpolitik: Insbesondere die Bundesregierung gehört zu ihren Dauerklienten, so auch das Bundesverteidigungsministerium. Zur Erinnerung: Nachdem Ursula von der Leyen im Jahr 2013 das Ministerium übernommen hatte, holte sie selbst Unternehmensberatungen ins Haus, um Probleme im Beschaffungswesen zu lösen. In der 2018 bekanntgewordenen „Berateraffäre“ wurde von einem eingesetzten Untersuchungsausschuss zwar kein strafbares Fehlverhalten der damaligen Verteidigungsministerin festgestellt. Deutlich wurde aber, dass unter ihrer Verantwortung McKinsey „mehrere auf unrechtmäßige Weise freihändig vergebene Aufträge erhalten hatte“ (Seite 386). Vergaberegeln seien schlicht missachtet worden. Süffisant gehen die Autoren in diesem Zusammenhang auf die besonderen Beziehungen von der Leyens – während ihrer Zeit als Bundesministerin und der Auftragsvergaben an McKinsey – zu der Beratungsfirma ein: „Während sie als Verteidigungsministerin fungierte, waren zwei ihrer Sprösslinge für McKinsey tätig“. (Seite 387)

Tatsächlich gilt McKinsey nach wie vor als attraktive Adresse für Neueinsteiger, da die Bewerberzahlen trotz hartem Auswahlverfahren gigantisch zu sein scheinen. Vielleicht wird sich das aber ändern, denn die Kritik an dem Branchenführer wird immer lauter. Die Diskrepanz zwischen Eigendarstellung und tatsächlicher Beratungspraxis sticht einfach zu sehr ins Auge. So hält die Skandalfirma an ihrem Image als „werteorientiert“ fest und stellt sich etwa auf ihrer Webseite als „values-driven organization“ vor, die „high ethical standards“ folgt. Die akribisch vorbereitete und umfangreiche „Anklageschrift“ der beiden Autoren dementiert diese Selbstinszenierung vehement.

Walt Bogdanich/Michael Forsythe: Schwarzbuch McKinsey. Die fragwürdigen Praktiken der weltweit führenden Unternehmensberatung, Econ, Berlin, 2022, 496 Seiten, 24,99 Euro

Im  Krieg verlieren auch die Sieger

Einige Leute werden sich erinnern: Die 1983 erschienene Erzählung „Kassandra“ der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) galt lange Zeit als Kultbuch der friedensbewegten Linken in Ost- und Westeuropa sowie anderer Teile der Welt. Ist doch die aus der Antike überlieferte Geschichte von der Königstochter, die das grausige Ende eines mutwillig vom Zaun gebrochenen Krieges und die Zerstörung ihrer Heimatstadt voraussah, jedoch dazu verdammt war, dass niemand ihr glaubte, ein treffendes Gleichnis für die vermeintliche Ohnmacht kritischer Intellektueller gegenüber der Ignoranz und dem Machthunger der jeweils Mächtigen. Die in den 1980er Jahren wegen der Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen erneut wachsende Gefahr eines Atomkriegs zwischen der Sowjetunion sowie ihren Verbündeten auf der einen und den NATO-Staaten auf der anderen Seite blieb glücklicherweise latent. An dessen Stelle trat allerdings der wirtschaftliche Crash Osteuropas, die siegreiche Offensive westlicher Großunternehmen einschließlich einer kaum überblickbaren Kette sozialer Grausamkeiten.

Dass Daniela Dahn, nachgelassene DDR-Autorin, gleich zu Beginn ihres kürzlich erschienenen Buches auf die Legende von Kassandra verweist, ist ganz gewiss kein Zufall. Mit der militärischen Eskalation des seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung ist die lange Zeit nur theoretisch bestehende Gefahr eines Atomkriegs wieder höchst real geworden. Als Mitunterzeichnerin eines friedenspolitischen Appells gleich zu Beginn des Krieges musste die Autorin – wie auch andere Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner – eine Unzahl medialer Diffamierungen über sich ergehen lassen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist dieses Buch – eine Zusammenstellung von Texten aus den vergangenen drei Jahren: Essays, Artikel und Vorträge. Und das Ergebnis lässt sich nicht besser als mit nachfolgend zitiertem Satz auf den Punkt bringen: „Das einzig Perfekte an diesem Krieg ist die Propaganda.“

Daniela Dahn bestätigt in dem Buch ausdrücklich, dass die russische Regierung und die hinter ihr stehenden Oligarchen bei der militärischen Eskalation des bereits schwelenden Konfliktes den ersten Schritt getan und damit Schuld auf sich geladen haben. Sie verweist aber auch auf den Vormarsch der ukrainischen Nationalisten, auf die von ihnen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen und darauf, dass der russische Angriff „ein Riesengeschenk für die Ultrarechten in der Ukraine war“. Und sie betont dass im Falle eines militärischen Sieges der von ihren westlichen Verbündeten unterstützten ukrainischen Armee die höchst reale „Gefahr einer atomaren Kurzschlussreaktion“ besteht – eine Gefahr, die von westlicher Seite her kleingeredet oder aber ganz bewusst ausgeklammert wird. Ebenso, wie mittlerweile ausgeklammert wird, dass zuerst die sowjetische Volkswirtschaft, später dann der mehrheitlich staatseigene russische Konzern GAZPROM fünfzig Jahre lang ein zuverlässiger und vertragstreuer Handelspartner der meisten ost- und westeuropäischen Volkswirtschaften war.

Auch hinterfragt die Autorin die oft getätigte Behauptung, dass der russische Einmarsch in die Ost-Ukraine ein einmaliges, das europäische Sicherheitssystem erschütterndes Ereignis ist. Sie erinnert an das militärische Eingreifen der NATO in den jugoslawischen Bürgerkrieg inklusive der Bombardierung von Belgrad und anderen Städte. Und die kaum zu zählenden Propagandalügen bei diesem und anderen Kriegen. Und auch an die Verstrickungen vom Sohn des derzeitigen US-Präsidenten in mafiöse Gasgeschäfte, von denen seit Beginn der militärischen Eskalation plötzlich nicht mehr geredet wird. Die Aufzählung der aus der kritischen Öffentlichkeit verbannten Fakten, die man in dem Buch wieder nachlesen und sich ins Gedächtnis zurückrufen kann, ließe sich fortsetzen.
Nein, eine grundlegende Gesellschaftsanalyse findet sich in dem Buch nicht. Es ist ein verzweifelter Schrei nach Frieden. Und genau deshalb sollte er jetzt – in einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher und militärischer Konfrontation – ernstgenommen werden.

Daniela Dahn: „Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin 2022, 221 Seiten, 16,00 Euro

Landesbanken und Cum-Ex: Versagende Kontrolle und untätige Justiz

Im November 2020 wurde in Hamburg der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Komplex eingerichtet. Er soll klären, ob führende SPD-Politiker in den Jahren 2016 und 2017 Einfluss auf Steuerentscheidungen bei der Privatbank Warburg genommen hatten. Zwei Jahre später, am 17. November 2022, wurde beschlossen, dass der Arbeitsauftrag für den Ausschuss ausgeweitet wird. Nun sollen die Abgeordneten auch die Geschäfte der ehemaligen landeseigenen HSH Nordbank untersuchen.

Eine große internationale Wirtschaftskanzlei hatte bei der HSH bereits im Jahr 2013 insgesamt 29 Transaktionen festgestellt, bei denen etwa 112 Millionen Euro an Kapitalertragsteuern zu Unrecht erstattet worden waren. Im Jahr darauf zahlte die Bank das Geld inklusive Zinsen an das Finanzamt zurück – insgesamt 127 Millionen Euro. Der Fall war damit aber noch nicht abgeschlossen. So schaltete sich etwa im Jahr 2021 – im Zuge von Cum-Ex-Ermittlungen – die Kölner Staatsanwaltschaft ein und veranlasste eine Durchsuchung bei der HSH-Nachfolgerin Hamburg Commercial Bank. Durch den Untersuchungsausschuss steht die HSH jetzt erneut im öffentlichen Fokus – nachdem sie in ihrer Geschichte schon häufig für Aufsehen gesorgt hat:

„Zur Erinnerung: Die kleine Landesbank hatte sich zum größten Schiffsfinanzierer der Welt aufgeschwungen und dabei völlig übernommen, sie hatte in windige Immobiliendeals rund um den Globus investiert und Skandal an Skandal gereiht. Am Ende blieben für die beiden Bundesländer trotz des Verkaufs nichts als Ärger und Milliarden-Schulden. Und ausgerechnet diese HSH steigt nun wie ein Zombie aus ihrem Grab.“ [1]

Dass ausgerechnet Landesbanken kriminelle Geschäfte zu Lasten der öffentlichen Hand einfädelten, obwohl sie dem Staat selbst gehören und zugleich während der Finanzkrise staatliche Milliardenhilfen in Anspruch genommen hatten, empörte die kritische Öffentlichkeit in den letzten Jahren allerdings nur begrenzt. Dass die Vorgänge nicht vollends in Vergessenheit geraten – dafür sorgen zurzeit nicht nur die Oppositionsparteien im Hamburger Abgeordnetenhaus. Neben linken Kritiker*innen des Finanzsystems  befassen sich auch marktliberale Zeitungen wie das Düsseldorfer Handelsblatt mit dem „Skandal im Skandal“, wie das Blatt das Geschäftsgebaren der Landesbanken um Cum-Ex nennt. [2] Die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), die Hamburgisch-Schleswig-Holsteinische Nordbank AG (HSH Nordbank), die Landesbank Berlin, die Landesbank Hessen-Thüringen Girozentrale (Helaba), die Westdeutsche Landesbank AG (WestLB) – sie alle waren im Cum-Ex-Steuerskandal verstrickt.

Vor über sechs Jahren berichtete das Handelsblatt in einer Titelstory, dass 129 nationale und internationale Banken an den Geschäften auf Kosten der Steuerzahler beteiligt gewesen waren. Auf Nachfrage von Investigativjournalisten schlossen damals jedoch fast alle der beteiligten Geldinstitute aus, dass sie jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt hätten. [3]  Allein die ehemalige Landesbank WestLB hinterzog bei den kriminellen Geschäften mutmaßlich 600 Millionen Euro an Steuern, ein Mehrfaches dessen, was der weithin bekannten Hamburger Privatbank Warburg zur Last gelegt wurde. Die von anderen landeseigenen Banken verursachten Steuerschäden belaufen sich ebenfalls auf hohe Millionenbeträge: 166 Millionen bei der LBBW, 112 Millionen bei der HSH Nordbank, 22 Millionen bei der Helaba. „Ausgerechnet bei den Banken in öffentlicher Hand wird sehr nachlässig aufgeklärt“, zitiert das Handelsblatt den Mannheimer Finanzwirtschaftler Christoph Spengel, der sich dem milliardenschweren Steuerraub durch Aktiengeschäfte bestens auskennt. „Offensichtlich geht der Staat gegen Landesbanken weniger entschlossen vor als gegen Privatbanken“. [4] Der Professor formuliert recht zurückhaltend, denn bei der Verfolgung krimineller Landesbanker übt sich die Justiz tatsächlich weitgehend in Arbeitsverweigerung. Und das, obwohl nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) bereits bei Überschreiten der Schwelle von 50.000 Euro eine „Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen“ vorliegt – ab einer Millionen Euro muss mit Gefängnisstrafen gerechnet werden.

In den letzten beiden Jahren wurden vom BGH, vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Cum-Ex als strafbar sowie steuerrechtswidrig einzustufen ist und alle daraus erzielten Gewinne eingezogen werden können. Während aber bislang vier Täter im Warburg-Komplex verurteilt wurden und weitere beschuldigte Manager von Privatbanken aktuell vor Gericht stehen, erging im Fall der Landesbanken keine einzige Anklage.

Justiz ohne Verfolgungsinteresse

So ist spätestens seit 2013 bekannt, dass die gemeinsame Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein, die HSH Nordbank, von Cum-Ex profitierte. Es ging dabei um Aktiendeals in den Jahren von 2008 bis 2011. Obwohl die Bank die Beute zurückzahlte und damit ihre Schuld anerkannte, entschied sich die Staatsanwaltschaft Hamburg seinerzeit gegen die Einleitung eines Strafverfahrens. Es wurde lediglich ein sogenannter Beobachtungsvorgang angelegt. Mit dem Ergebnis, dass die vorliegenden Indizien als offenbar nicht ausreichend bewertet wurden, um den Geschehnissen weiter nachzugehen. Erst 2018 leitete die Staatsanwaltschaft Köln aufgrund von Hinweisen aus einem anderen Cum-Ex-Fall ein Verfahren ein, so dass zurzeit etwa zehn ehemalige und noch aktive Mitarbeitende auf der Beschuldigtenliste stehen. Fazit: Die HSH entging bislang einer Strafzahlung, musste lediglich den selbst verursachten finanziellen Schaden plus Zinsen begleichen. Die Täter wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen.

Im Fall der LBBW ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit neun Jahren, ohne dass jemand angeklagt worden wäre. Ein Ende der Ermittlungen gegen insgesamt sieben Beschuldigte, so das Handelsblatt, sei nach wie vor nicht abzusehen. Obwohl es sich um ein sehr aufwändiges Verfahren handele, gäbe es nur einen Ermittler. Eine erstaunliche Mitteilung, denn bei einem Steuerschaden von 166 Millionen Euro müssen letztlich viele hochkomplexe Aktiengeschäfte in einem Umfang von vielen Milliarden Euro abgewickelt worden sein. Gleiches gilt für die 2012 abgewickelte WestLB, Eigentum des Landes Nordrhein-Westfalen und der Sparkassen, für die ihre Rechtsnachfolgerin, die Portigon AG, Rückstellungen in Höhe von 600 Millionen Euro bilden musste, um die Steuerrückforderungen übernehmen zu können. Portigon hatte jedoch jahrelang vehement bestritten, die WestLB habe jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt. Im Jahr 2016 leitete die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft dann endlich Ermittlungen ein, die aber kaum vorwärtskamen. Auch dies verwundert, denn schon 2014 wurden die Telefone Hanno Bergers, Steueranwalt und Schlüsselfigur im Cum-Ex-Skandal, abgehört. Der hatte mehrmals erwähnt, davon gehört zu haben, dass auch die WestLB in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt gewesen sei. Im Jahr 2020 übernahm dann die Staatsanwaltschaft Köln das Verfahren, ermittelt aktuell gegen 18 Beschuldigte, darunter auch frühere Vorstandsmitglieder. Die Zeit zumindest zeigt sich mittlerweile verhalten optimistisch: „Wann die Ermittlungen abgeschlossen sein werden, sei noch nicht abzusehen, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Da der Raubzug in der Sache aufgeklärt ist, sollte es nicht mehr allzu lange dauern, bis die Ermittler die Verantwortlichkeiten festgestellt haben. Im Landgericht Bonn könnten schon bald erste Anklageschriften eingehen.“ [5] Der politische Auftrag jedenfalls ist mit dem Koalitionsvertrag von Grünen und CDU in NRW gegeben. Dort heißt es: „Bei dem Cum-Ex-Skandal werden wir die Rolle der früheren WestLB aufklären.“ Was aber weiter und in welchem Zeitrahmen konkret unternommen werden soll, bleibt nach wie vor unklar.

Dass auch die Landesbank Berlin an Cum-Ex beteiligt war, ging aus einer Antwort der damaligen Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke im September 2017 hervor. Danach sei die Landesbank Anfang 2016 als Rechtsnachfolgerin der Bankgesellschaft Berlin AG durch die Steuerbehörden „auf wenige mögliche Leerverkaufsgeschäfte aus dem Jahr 2007“ [6] aufmerksam gemacht worden. Eine interessante Bemerkung: Die Bank hat erst durch die Behörden erfahren, welche Deals sie selbst „möglicherweise“ abgeschlossen hat. Gemeinsam mit einem externen Wirtschaftsprüfer und in enger Kooperation mit den zuständigen Behörden würden alle in Frage kommenden Geschäftsvorgänge in dem Zeitraum untersucht. Nach der Ankündigung ist aber offenbar nichts passiert. „Bis heute ist nicht bekannt, um wie viel Geld sich die Landesbank bereichert haben könnte. (…) Die Ermittlungsbehörden in Berlin nahmen trotzdem vorab einen Freispruch an.“ [7] Denn laut Generalstaatsanwaltschaft Berlin wurde das Vorliegen einer Straftat verneint. Das objektive Handeln bei den Cum-Ex-Geschäften sei durchaus als strafrechtlich relevant angesehen worden, ein entsprechender individueller Vorsatz der Beschuldigten aber sei nicht nachzuweisen gewesen.

Vorsitzender des Aufsichtsrats der Landesbank Berlin ist zurzeit Helmut Schleweis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Sein Stellvertreter Frank Wolf, Landesbezirksleiter von ver.di, war als gelernter Bankkaufmann zuvor Leiter des Fachbereichs Finanzdienstleistungen der Gewerkschaft. „Von beiden ist kein Versuch bekannt, auch nur die Schadenshöhe der Cum-Ex-Geschäfte der Landesbank Berlin zu bemessen. Eine Auskunft dazu gab es nicht“. [8]
Ebenfalls seit etwa 2016 ist der Cum-Ex-Handel bei der hessischen Landesbank Helaba öffentlich bekannt. Schon 2013 hatte sie 22 Millionen Euro zuvor illegal kassierte Kapitalertragssteuern an den Fiskus zurückgezahlt. Auffallend ist auch in diesem Fall, dass sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt in der Zwischenzeit trotz der erheblichen Straftaten passiv verhielt. Im Jahr 2016 galten dann zwei Personen, darunter ein Vorstand, als verdächtig. Heute, nach weiteren sechs Jahren, kann die Strafverfolgungsbehörde keinen neuen Sachstand vermelden. Aber auch für die Helaba gilt: Wer 22 Millionen Euro als Gewinn ergaunert, muss mit Milliardenbeträgen gehandelt haben, was mit lediglich zwei Akteuren definitiv nicht möglich ist. Zwar zeigt sich die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt bei Cum-Ex durchaus als umtriebig, schließlich laufen in Hessen mehrere Verfahren (u. a. gegen Hanno Berger). Der Helaba-Fall aber „steht weit hinten auf der Prioritätenliste“, wie es in dem Handelsblatt-Podcast von Ende August 2022 heißt. Die Journalisten der Zeitung kennen schlicht niemanden, der oder die versucht, die Ermittlungen in dem Fall voranzutreiben.

Aufsichtsräte wissen von nichts

Zu den auffallend zurückhaltend agierenden Personen gehören auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Landesbanken: „Vom Aufsichtsrat der Helaba, gespickt mit Landräten, Oberbürgermeistern und Sparkassenvorständen, sind keinerlei Versuche bekannt, die Aufklärung zu beschleunigen“ [9]. So bestritt Helmut Linssen (CDU), von 2005 bis 2010 Finanzminister von NRW und damit Aufsichtsratsmitglied bei der WestLB, noch bei seiner Befragung Anfang 2017 im Untersuchungsausschuss des Bundestages, dass es bei der Landesbank je Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe. [10] Zu dem Zeitpunkt bestanden aber keine Zweifel mehr an den kriminellen Geschäften, die in der Presse bereits detailliert dargestellt worden waren. Auch Linssens Nachfolger als NRW-Finanzminister und späterer Co-Vorsitzende des SPD, Norbert Walter-Borjans, saß im Aufsichtsrat der Landesbank. Er hatte sich zwar als Aufkäufer von Steuer-CDs profiliert, die auch umfassende Informationen über Cum-Ex-Geschäfte von Finanzinstituten enthielten. Im NRW-Landtag antwortete Walter-Borjans Ende 2015 jedoch auf eine diesbezügliche Anfrage, dass ihm als Finanzminister und zugleich Aufsichtsrat der WestLB keine Erkenntnisse über missbräuchliches Verhalten der Landesbank vorliegen würden. [11]
Auf Nachfrage des Handelsblatt vom Juli 2022 reagierte der ehemalige Chef der Deutschen Bahn, Heinz Dürr, ebenfalls recht dürftig: „Während meiner Zeit im Verwaltungsrat der LBBW wurde nicht über das Thema Cum-Ex gesprochen.“ [12] Der frühere Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, bis 2014 Mitglied des obersten Kontroll- und Beratungsgremium der LBBW, antwortete dem Wirtschaftsblatt knapp und trocken: Er habe sich nicht mit dem Thema Cum-Ex beschäftigt und deshalb auch nichts unternommen. Andere angefragte namhafte Politiker oder „Wirtschaftsgrößen“ antworteten den Journalisten erst gar nicht auf eine entsprechende Anfrage.
Das konsequente Bestreiten auf Seiten von Aufsichts- bzw. Verwaltungsräten landeseigener Unternehmen, dass es dort Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe oder die Kontrollorgane davon erfahren hätten, und das schleppende Vorgehen der Staatsanwaltschaften passen zu einer mittlerweile durchgesetzten Erkenntnis allerdings gar nicht: Dass, wie nachfolgendes Zitat eines ehemaligen Mitarbeiters der WestLB belegt, die Abwicklung der kriminellen Geschäfte eine systematisch organisierte Massenveranstaltung war.
„Natürlich haben wir Cum-Ex-Geschäfte gemacht. Haben doch fast alle Banken in Europa gemacht. (…) Die Cum-Ex-Geschäfte waren Top-Down-geplant. Die Anweisungen, wie viele Kapitalertragssteuern am Jahresende unter dem Strich stehen mussten, die kamen von oben. Sie können nicht alleine 15 Milliarden Euro durch die Bilanz ziehen. Das muss genau vorbereitet werden. Auf den Email-Verteilern, die es zu diesen Geschäften gab, waren 300 bis 400 Leute. Das Trade-Controlling, das Risiko-Management, der Vorstand. Der Ablauf der Trades stand doch in den Excel-Sheets im Anhang der Mails klar drin.“ [13]
Aussagen von Insidern wie diese räumen mit naiven Annahmen auf, der Staat würde bei der Aufsicht seiner eigenen Unternehmen eine besondere Sorgfalt walten und wirtschaftskriminelles Vorgehen verhindern. Denn Landesbanken, ob als Aktiengesellschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts (AöR) verfasst, bewegen sich auf den gleichen hart umkämpften Geschäftsfeldern wie die privaten Banken und müssen sich dort behaupten. Gelingt dies, kassieren die Führungskräfte auch in den öffentlichen Unternehmen hohe Gehälter und Boni.

Die bizarre Geschäftspolitik der Landesbanken

Schon mit Beginn der 1970er Jahren hatten sich die Landesbanken, deren ursprünglicher Zweck in der Förderung der regionalen Wirtschaft bestand, zu „normalen“ Geschäftsbanken gewandelt. So bauten sie zunehmend ihr Auslandsgeschäft aus und stießen damit in die angestammten Bereiche der privaten Großbanken vor, mit denen sie konkurrierten – von denen sie sich aber immer weniger unterschieden. [14]
In der Fachliteratur wird betont, dass öffentliche Unternehmen aus verfassungsrechtlichen Gründen per se dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Dieser Grundsatz befreie die Geschäftsführungen jedoch nicht von der Pflicht, sie nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und damit gewinnorientiert zu führen. Ein Widerspruch in sich, der aber klarstellt, dass der öffentliche Auftrag die Landesbanken in ihrer expansiven und international ausgerichteten Geschäftspolitik noch nie einschränken konnte. In den Jahren seit Beginn der Finanzkrise zeigte sich, dass wegen fehlender Regularien und Kontrollen viele hochriskante Geschäfte einzelne der staatlichen Banken an den Abgrund geführt hatten. Es wurden sogar kritische Stimmen laut, die vermuteten, die öffentlichen Landesbanken könnten ganz gezielt kaputtgewirtschaftet worden sein, „auch um zu zeigen, dass öffentlich eben nicht besser sei als privat“ [15].
Eine interessante Deutung, die sich gegen die These eines ungewollten Staatsversagens richtet. Auch die Weigerung der aktuellen und ehemaligen Aufsichts- und Verwaltungsräte, zur Aufklärung über die Verwicklung von Landesbanken im Cum-Ex-Skandal beizutragen, lässt auf ein bewusstes Handeln schließen. Wahrscheinlich sah und sieht man einfach wohlwollend darüber hinweg, dass die Manager der Landesbanken, die zum Teil nicht für das „marktübliche“ internationale Investmentgeschäft taugten, wenigstens auf kriminelle Weise zur Gewinnerzielung (wenn auch auf Kosten der eigenen Träger) fähig waren.

 

Anmerkungen

[1] Andreas Dey: „Plötzlich hält ein Zombie die Hamburger Politik in Atem“, Hamburger Abendblatt (Online) vom 27. August 2022
https://www.abendblatt.de/hamburg/article236264249/cum-ex-affaere-hsh-nordbank-ein-zombie-haelt-die-politik-in-hamburg-in-atem-pua.html
[2] vgl. auch: BIG-Nachricht vom 26. Juli 2022,
https://big.businesscrime.de/nachrichten/private-fluchtprogramme-der-superreichen/ 
[3] „Landesbanken im Cum-Ex-Skandal: Chefetagen als justizfreie Zonen, Handelsblatt Crime, Podcast vom 14. August 2022
https://www.youtube.com/watch?v=TngQ05Z6q_E
[4] Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Schäden in Milliardenhöhe: Landesbanken versinken in Cum-Ex-Affäre“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-schaeden-in-milliardenhoehe-landesbanken-versinken-in-cum-ex-affaere/28521106.html
[5] Karsten Polke-Majewski: „Wer zahlt?“, Die Zeit (Online) vom 16. November 2022
https://www.zeit.de/2022/47/westlb-cum-ex-skandal-landesbank-finanzbetrug-ermittlung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.bing.com%2F
[6] Abgeordnetenhaus Berlin: Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Steffen Zillich (Die Linke) vom 13. September 2016, Drucksache 17/19081
https://www.steffen-zillich.de/fileadmin/linksfraktion/ka/2016/S17-19081.pdf
[7] Iwersen/Votsmeier, Handelsblatt vom 20. Juli 2022
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] Deutscher Bundestag: „Beschlussempfehlung und Bericht des 4. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes“, 20. Juni 2017, Drucksache 18/12700, Seite 183
https://dserver.bundestag.de/btd/18/127/1812700.pdf
[11] „Tat ohne Täter – Wie sich Politik und Justiz im Cum-Ex-Skandal blamieren“, Handelsblatt Crime, Podcast vom 29. August 2022
https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-tat-ohne-taeter-wie-sich-politik-und-justiz-im-cum-ex-skandal-blamieren/28630066.html
[12] Handelsblatt-Podcast vom 14. August 2022
[13] Handelsblatt-Podcast vom 29. August 2022
[14] vgl. Benjamin Gubitz: Das Ende des Landesbankensektors. Der Einfluss vom Politik, Management und Sparkassen, Wiesbaden, 2013, Seite 64
[15] Torsten Loeser: „‚Der Abgesang kommt zu früh‘. Antwort auf Joachim Bischoff und Norbert Weber: ‚Landesbanken besser auflösen‘“, 24. November 2012
https://www.axel-troost.de/de/article/6624.der-abgesang-kommt-zu-frueh.html

Das Ende von Demokratie und Staat – Die visionäre Heilsbotschaft des Tech-Milliardärs Peter Thiel

Im Mai 2022 beschrieb Die Zeit ganzseitig den Persönlichkeitskult um Elon Musk, Chef von Tesla, Twitter und dem Raumfahrtunternehmen SpaceX. Für den TV-bekannten Start-up-Investor Frank Thelen ist er „der größte Architekt der Menschheitsgeschichte“. Die Kombination von zur Schau gestelltem Machertum und dem Versprechen einer leuchtenden technologischen Zukunft lässt seine Anhängerschaft offenbar stetig wachsen: „Mit Tesla will er den Klimawandel stoppen, mit Twitter die Meinungsfreiheit retten, seine Lieblings-Kryptowährung Dogecoin soll nicht die Finanzelite reich machen, sondern ‚the people‘s crypto‘ sein“. Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonao bezeichnete ihn nicht weniger euphorisch als „Mythos der Freiheit“. Dies nicht gerade zufällig: Seit Monaten wird berichtet, dass Musk politisch nach rechts driftet, sich für Verschwörungserzählungen anfällig zeigt, für die Republikanische Partei und für den Ex-Präsidenten Trump wirbt. Ob die Übernahme und somit absolute Kontrolle über den Kurznachrichtendienst Twitter, einer wichtigen globalen Informationsplattform, sein Image auch bei vielen seiner bisherigen Fans beschädigen wird, bleibt vorerst abzuwarten.

„Die Erziehung eines Libertären“

Ähnlich einflussreich wie die Kultfigur Musk, aber weitaus weniger im öffentlichen Rampenlicht stehend, ist der aus Frankfurt am Main stammende US-Milliardär Peter Thiel. Auch der Gründer des Online-Bezahldienstleisters PayPal und erste Großinvestor bei Facebook setzt auf die Republikaner: Im Jahr 2016 verhalf er mit gigantischen Summen Donald Trump zur Präsidentschaft. Seine provokanten politischen Überzeugungen legte der libertäre Vordenker der politischen Rechten in den USA in zahlreichen Vorträgen, Essays und Buchpublikationen dar. So zum Beispiel im Frühjahr 2009 in dem vielbeachteten Essay „The Education of a Libertarian“, den er auf Einladung der ultrakonservativen Denkfabrik Cato Institute vorlegte. Persönliche Freiheit sei das höchste Gut überhaupt, heißt es dort zu Beginn. Er stemme sich gegen Steuererhebungen, die „beschlagnahmenden“ Charakter hätten, lehne totalitäre Systeme ebenso ab wie die Ideologie von der Unausweichlichkeit des Todes jeden Einzelnen: „For all these reasons, I still call myself ‚libertarian‘“.

Auch glaube er nicht mehr daran, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar seien. Das seit 1920 zu beobachtende gewaltige Anwachsen des Wohlfahrtsstaates und die Ausweitung des Frauenwahlrechts seien verantwortlich dafür, dass die Idee einer „capitalist democracy“ ein Widerspruch in sich sei. Soll heißen: Selbst eine moderate staatliche Politik des sozialen Ausgleichs und der demokratischen Mitsprache passe nicht zum Konzept der Freiheit, die mit dem Kapitalismus identisch ist. Dieser von ihm geäußerte Gedanke führe seiner Meinung nach zur eigentlichen Aufgabe der Libertären, einen Ausstieg aus der Politik in all ihren Formen zu finden. Er lege seinen Fokus auf die Entwicklung neuer Technologien, die einen „neuen Raum für Freiheit“ schaffen könnten. Noch unentdeckte Gebiete müssten erschlossen werden, um neue Formen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens auszuprobieren. Als „technological frontiers“ nennt Thiel den Cyberspace, den Weltraum und die Besiedelung der Weltmeere.

Wie Thiel weiter meint, habe er als Unternehmer und Investor seine Anstrengungen auf das Internet konzentriert. So wolle er eine von jeder Regierungskontrolle freie Weltwährung schaffen, um die Währungssouveränität der Staaten zu beenden. Konzerne wie Facebook hätten in den 2000er Jahren den Raum für einen neuen Umgang mit konfligierenden Interessen oder abweichenden Meinungen („new modes of dissent“) und neue Wege zur Errichtung von nicht an Nationalstaaten gebundene Gemeinschaften geschaffen. Der Weltraum bietet nach Thiel „eine grenzenlose Möglichkeit zur Flucht vor der Weltpolitik“. Die Raketentechnologie habe aber seit den 1960er Jahren nur wenige Fortschritte gemacht. Notwendig sei eine „Verdoppelung der Anstrengungen für die kommerzielle Raumfahrt“. Eine „libertäre Zukunft“ im All, wie sie bekannte Science-Fiction-Autoren beschrieben hätten, könne in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts möglich werden. Zwischen Cyberspace und Weltall verortet Thiel als Ideologe uneingeschränkter technologischer Machbarkeit die Besiedelung der Ozeane. Diese solle einen dauerhaften Lebensraum ohne jeden Einfluss von Staaten schaffen.

Weltraum und Militär

Thiels Karriere ist eng mit diversen US-Techriesen und mit dem militärisch-industriellen Komplex verknüpft. Sein finanzielles Engagement bei Facebook führte zu einer jahrelangen Freundschaft mit dessen CEO Marc Zuckerberg. Der Bezahldienst Paypal entstand aus einem Zusammenschluss von Firmen Thiels und Elon Musks im Jahr 2000. Die 2004 gegründete Datenanalyse- und Softwarefirma Palantir brachte Thiel schließlich 2020 an die Börse. „Palantir (‚sehender Stein‘)“, schreibt Werner Rügemer, „ist einer der wichtigsten Softwarezulieferer für die US-Geheimdienste FBI, CIA und NSA, aber auch für das Department of Home Security, für (…) Air Force, Marines und die US-Katastrophenschutzbehörde.“ (Rügemer, Seite 145) Trotz seiner behaupteten staatskritischen Attitüde als Libertärer entwickelte Thiel das Unternehmen Palantir mit seinen weltweit knapp 3.000 Mitarbeiter*innen zu einem engen Partner von Regierungen, Behörden, dem Militär und der Großindustrie.

In das von seinem ehemaligen Paypal-Kollegen Elon Musk im Jahr 2002 gegründete Weltraumunternehmen SpaceX investierte Thiel die ersten 20 Millionen Dollar (vgl. Wagner, Seite 95). Selbstredend gilt Thiel als großer Fan von Musks Projekt, den Mars zu besiedeln – er ist an dessen Finanzierung beteiligt (vgl. n-tv). Im Oktober 2022 wurde bekannt, dass er nun auch in ein oberbayerisches Start-up investiert, das unbemannte Flugobjekte an die Ukraine liefert. Zusammen mit dem Berliner Risikokapitalgeber Project A steigt Thiel mit 17,5 Millionen Dollar bei der Drohnenfirma Quantum Systems ein. Bisher ist es bei deutschen Startups eher verpönt, offen im Rüstungssektor tätig zu werden – Investoren aus der Venture Capital-Branche schließen Investments in Rüstungsprojekten in der Regel aus. Quantum aber lieferte im Frühjahr die ersten Überwachungsdrohnen zur Ausspähung russischer Truppen an die Ukraine. Weitere sollen folgen. Da die Grenzen zwischen Aufklärungs- und Waffensystemen in Zeiten der vernetzten Kriegsführung immer mehr verschwimmen, fallen offensichtlich – mit kräftiger Unterstützung des Neuinvestors Peter Thiel – bei deutschen Startups zunehmend bisher vorhandene Hemmungen, sich militärisch zu engagieren (vgl. Handelsblatt vom 21. Oktober 2022 und Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2022).

Weltmeer und Seestädte

Wie stellt sich Thiel aber nun eine Gesellschaft der Zukunft vor, in der Freiheit im Sinne des Libertarismus handlungsleitend sein soll? In jedem Fall in Form „freier Räume“ jenseits staatlicher Regulation. Zum Beispiel auf hoher See, denn das Meer und ferne unbewohnte Inseln gehören scheinbar niemanden, sind also eine Welt, die nach Thiel und Co. nur darauf wartet, angeeignet zu werden.

„In der Geschichte des Kolonialismus“, heißt es in einem FAZ-Artikel von Theresia Enzensberger, „war das unbeschriebene Blatt schon immer eine nützliche Illusion. Das Niemandsland war für die kolonisierenden Seefahrer eine ganz selbstverständliche Erweiterung ihres geschichtslosen, unbeanspruchten Meeresraums.“ Deren Erben im heutigen Silicon Valley sähen sich als Pioniere, als Entdecker von neuen Möglichkeiten und Lebenswelten. „Wenn Elon Musk die indonesische Insel Biak gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung durch eine Startrampe in ein ‚Space Island‘ verwandeln will; wenn Peter Thiel in das Seasteading Institute investiert, das vorhat, künstliche Inseln zu errichten; wenn der Rohstoffhändler Titus Gebel in Honduras freie Privatstädte entwickelt, bei denen die Regierung durch einen ‚Staatsdienstleister‘ ersetzt wird, dann tun sie das alle im Namen der Aufklärung – wie schon die Seefahrer Jahrhunderte vor ihnen.“

Das genannte Seasteading Institute wurde 2008 von Patri Friedman gegründet – dem Enkel Milton Friedmans, des Begründers der Chicagoer Schule, und Sohn des Anarcho-Kapitalisten David Friedman. Sein Projekt, eine „radikal libertäre“ Seestadt zu entwickeln, wurde von Thiel durch eine Spende von einer halben Millionen Dollar ins Rollen gebracht (vgl. Kemper, Seite 62f.). Laut Wikipedia-Eintrag bezeichnet „Seasteading“ (engl. Sea [Meer] und homesteading [Besiedlung, Inbesitznahme]) das Konzept, Stätten dauerhaften Wohn- und Lebensraums auf dem Meer zu schaffen, außerhalb der von nationalen Regierungen beanpruchten Gebiete. Die Washington Post beschrieb im Jahr 2011 Thiels Ideen näher:

„Thiel believes these islands may be important in ‚experimenting with new ideas for government‘, such as no welfare, no minimum wage, fewer weapons restrictions, and looser building codes.“ („Thiel glaubt, dass diese Inseln wichtig sein könnten, um mit ‚neuen Ideen für Regierungen zu experimentieren‘, wie z.B. keine Sozialhilfe, kein Mindestlohn, weniger Waffenbeschränkungen und lockerere Bauvorschriften.“ Vgl. Hinweis und Übersetzung im „ZDF-Magazin Royale“ vom 11. Februar 2022)

Am Ende seines Essays „The Education of a Libertarian“ (2009) wünscht Thiel übrigens Patri Friedman für sein außergewöhnliches Experiment nur das Beste.

Kryptowährung

Thiel ist auch ein langjähriger Fan von Digitalwährungen wie etwa Bitcoin. Er wird nicht müde, gegen alle Barrieren anzukämpfen, die seinem Ziel im Wege stehen, eine von staatlichen Banken unabhängige Währung zu schaffen. Mit seiner Firma PayPal wollte er damit nichts weniger als das Weltfinanzsystem aus den Angeln heben. Zunächst profitierte er aber persönlich davon. Über seinen Founders Fund investierte er 2017 rund 20 Millionen Dollar in die Kryptowährung; schon Anfang 2018 soll sein Investment laut Manager Magazin hunderte Millionen Dollar wert gewesen sein.

Auf der Konferenz „Bitcoin 2022“ im April 2022 in Miami Beach griff Thiel dann die drei bekannten Größen der US-Finanzindustrie frontal an: Warren Buffett, den JP Morgan-Chef Jamie Dimon und Blackrock-Chef Larry Fink. Er machte sie für die aktuelle Kursschwäche der Kryptowährung verantwortlich und beschimpfte sie als „Finanz-Gerontokraten“, die sich gegen die „revolutionäre Jugendbewegung“ rund um die Digitalwährung Bitcoin verschworen hätten. Er warf ihnen vor, den Trend zu nachhaltigen Investitionsansätzen gegen Bitcoin-Anlagen zu stützen (wegen des hohen Stromverbrauchs beim Mining achten Investoren offensichtlich mittlerweile auf mehr Energieeffizienz). Das Handelsblatt kommentierte dies am 8. April 2022 wie folgt:

„Thiels Verbalattacke einfach als unschöne Stimmungsmache abzutun wäre (…) zu einfach. Denn seine Rhetorik ist gefährlich. Thiel spricht von ‚Feindeslisten‘, Buffett nennt er den ‚Feind Nummer eins‘, Nachhaltigkeitsansätze seien eine ‚Hassfabrik‘, die er mit der Kommunistischen Partei Chinas gleichsetzt. Sinngemäß drückt er damit aus: Bitcoin bedeutet Freiheit, alles andere ist Diktatur. (…) Um diesen Standpunkt zu legitimieren, inszeniert sich der 54-Jährige, ironischerweise je nach Betrachtung selbst schon ein alter weißer Mann, als Interessenvertreter einer Jugendbewegung. Doch erstens besteht gerade in der jungen Generation ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt. Während Thiel den Staat am liebsten abschaffen würde, befürworten gerade viele junge Menschen Einschränkungen zugunsten größerer Nachhaltigkeit.“

Thiels Jugendkult passt übrigens zu einzelnen von ihm geförderten Forschungsprojekten, die das Ziel verfolgen, den biologischen Alterungsprozess aufzuhalten. Beispielsweise steckt er Geld in die Kryonik, einer Technologie, die es ermöglichen soll, Menschen nach ihrem Ableben einzufrieren, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzutauen. Thiel erklärte bereits 2012, der Tod sei ein Problem, das sich lösen ließe. Laut Medienberichten wollte er an umstrittenen klinischen Tests teilnehmen, bei denen sich Erwachsene das Blut jüngerer Menschen spritzen lassen, um selbst wieder jugendlich frisch zu werden – in den USA als „Vampir-Therapie“ bekannt. Ende Oktober 2022 boten Internetportale dazu eine passende Meldung: Elon Musk hatte eine Reihe von Prominenten aus der globalen Tech-Szene und einzelne Hollywood-Stars zu einer Halloween-Party auf ein rumänisches „Dracula-Schloss“ eingeladen. Auch Peter Thiel stand auf der Gästeliste. Ein Sinn für skurrilen Humor ist den Tech-Milliardären kaum abzusprechen.

Königsmacher der neuen Rechten

Thiel hat allerdings bei öffentlichen Auftritten bestritten, ein Vampir zu sein. Das Manager Magazin hält in seiner Oktoberausgabe 2022 eine weitere Metapher für ihn bereit. Nach Auffassung des Blatts schürt Thiel schon lange Umsturzfantasien und greift als „Dark Lord“ nicht weniger als nach der politischen und gesellschaftlichen Macht in den USA. Sein Selbstverständnis zeigt eine mehrtägige Konferenz, zu der seine Capital-Venture-Firma Founders Fund Anfang 2022 in ein luxuriöses Hotel in Miami Beach einlud. Die „wichtigsten Unruhestifter unserer Kultur“ (unter anderem Elon Musk) versammelten sich dort unter dem Motto „A Conference for Thoughtcrime“. Die Teilnehmer*innen verstanden sich offenbar als Ketzer und Nonkonformisten, die „‚von anderen Konferenzen verbannt sind‘, wie es in der Einladung hieß. (…) Die Besucher sollten sich mit Widerspruch und unpopulären Ideen beschäftigen, wesentlich für den Fortschritt der menschlichen Zivilisation.“

Das Manager Magazin ernannte Peter Thiel als „Megaspender“ der Republikanischen Partei zum „Königsmacher der radikalen Rechten“. Denn mit seinen Millionen wolle er den Machtwechsel im US-Senat herbeiführen – und unterstützte bei den US-Zwischenwahlen im November zwei Trump-Anhänger und politische Newcomer, die selbst aus der Venture-Capitalist-Branche kommen: J.D. Vance (Ohio) und Blake Masters (Arizona). „Sie überbieten sich mit kruden Thesen von rassistischen Anspielungen, Verschwörungstheorien und Attacken auf die ‚woke culture‘, die Bewegung gegen Diskriminierung.“ Thiel selbst ist seit 2016 Großspender der Republikaner und gilt seitdem als Vertrauter und Berater von Ex-Präsident Trump. Dies ist ungewöhnlich, weil es auch in den USA offenbar eher selten ist, dass sich das „Wagniskapital“ direkt parteipolitisch einmischt. Anders bei Thiel: „‚Die Politik hat immer mehr Raum bei ihm eingenommen. Peter ist superpolitisch, und das schon seit fünf, sechs Jahren‘“. So zitierte das Handelsblatt jedenfalls am 8. Februar 2022 eine ihm nahestehende Person. Thiel, im gesellschaftspolitisch eher liberal geprägt Silicon Valley als Außenseiter geltend, versucht die Republikaner politisch weiter nach rechts zu verschieben, in dem er systematisch als Netzwerker agiert. Der amerikanische Universitätsprofessor Moira Weigel erklärte Mitte des Jahres gegenüber dem britischen Guardian, dass Thiel selbst aber gar nicht entscheidend sei: „What matters about him is whom he connects.“ Thiel stelle die Kontakte und Verbindungen her zwischen den „most rightwing politicians in recent US-history“.

Thiel möchte aber offensichtlich auch seine Kontakte nach Europa intensivieren. So heuerte Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang 2022 bei der Investmentfirma Thiel Capital als „Global Strategist“ an. Vor allem die guten Kontakte des ehemaligen ÖVP-Politikers zu Autokraten im osteuropäischen Raum und zur EU könnten Thiel bei der Entwicklung seines rechten Netzwerks von Nutzen sein. Kurz war zuvor wegen Korruptionsvorwürfen als Kanzler zurückgetreten und hatte alle politischen Ämter niedergelegt.

Herrschaft der Monopole

Der vorgeblich staats- und politikferne Tech-Milliardär scheut also nicht vor einer engen Kooperation mit einflussreichen und die freie Marktwirtschaft verherrlichenden (Ex-)Politikern zurück. Die suchen umgekehrt seine Nähe – ungeachtet der von Thiel provokant vertretenen Auffassung, Kapitalismus und Wettbewerb seien für ihn unvereinbar. „Für weite Teile der Allgemeinheit“, schreibt sein Biograf Thomas Rappold, „gilt der Grundsatz, dass Kapitalismus und Wettbewerb Synonyme sind. Tatsächlich sind sie für Thiel aber Gegensätze.“ (Rappold, Seite 37) Aufsehen erregte Thiel immer dann, wenn er öffentlich feststellte, dass er das Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs für innovations- und profithemmend halte und deshalb die Herrschaft kapitalistischer Monopolunternehmen befürworte. Gründer sollten einen Monopolstatus anstreben, das heißt eine einzigartige Firma aufbauen und sich stark von Wettbewerbern differenzieren, um nicht in eine Wettbewerbssituation zu geraten. Marktführer der Digitalwirtschaft, wie Apple, Microsoft, Facebook und Amazon, seien als Garanten des technologischen Fortschritts ein Segen für die Entwicklung der Menschheit (vgl. auch Wagner, Seite 68). Zwischen Politik und Technologie bestehe deshalb ein Wettkampf auf Leben und Tod – so schrieb er es in seinem im Jahre 2009 erschienenen Essay.

Steuerparadies

Recht erfolgreich kämpft Thiel gegen den Staat aber auch in eigener Sache. Steuern sind die wichtigste Einnahmequelle für Staatsapparate. Auf große Teile seines Vermögens, das der Bloomberg Billionaires Index am 10. November 2022 auf 7,14 Milliarden US-Dollar taxiert, zahlt Thiel aber seit mehr als zwei Jahrzehnten keine Steuern. Eine Grauzone des US-Steuerrechts ermöglicht es ihm, in einem Rentenfonds Milliarden Dollar steuerfrei zur Seite zu schaffen. „Thiel verteidigt seine persönliche Steueroase inmitten der USA mit allem, was er hat. Dass sie unangetastet bleibt, ist unter republikanischer Regierung deutlich wahrscheinlicher.“ (Manager Magazin, Seite 116) Offenbar wird der großzügige Sponsor der amerikanischen Rechten von privaten Verlustängsten geplagt.

Ängstlicher Visionär

Seine technokratischen Allmachtsfantasien und erfolgreichen Investitionsentscheidungen sowie sein politisches „Networking“ haben den selbsternannten „Contrarian“ (Querdenker, Nonkonformist) für viele zu einer ähnlichen Lichtgestalt wie Elon Musk gemacht. So schreibt der Thiel-Biograf Rappold, selbst Internetunternehmer und Investor: „Die Gabe, Dinge in hellseherische Voraussicht zu sehen und dann unmittelbar und konsequent in konkrete Handlungen umszusetzen, ist nur wenigen gegeben. Thiel ist ohne Zweifel ein großer Denker mit einer starken Vision auf die Sicht der Welt.“ (Rappold, Seite 107)

Aber der Visionär trifft auch auf Gegner. Zum Beispiel in Neuseeland, das sich Thiel als Rückzugsort für apokalyptische Zeiten sozialen, politischen oder ökologischen Zerfalls ausgesucht hat (vgl. The Guardian vom 18. August 2022). Im Jahr 2011 sicherte sich der US-Amerikaner, der auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, einen neuseeländischen Pass, obwohl er sich gerade erst zwölf Tage im Land aufgehalten hatte. Um eine Staatsbürgerschaft zu erhalten, müssen Bewerber*innen üblicherweise mindestens 1.350 Tage in fünf Jahren in dem Staat gelebt haben. Aber für den erfolgreichen Unternehmer drückten die neuseeländischen Behörden offenbar beide Augen zu. Die wohlwollende Entscheidung wurde 2017 bekannt – erwies sich dann aber in der Öffentlichkeit als höchst umstritten.

„Thiel“, schreibt Rappold, „reiht sich damit ein in ein Silicon-Valley-Phänomen: Obschon die Vordenker für eine neue Welt gerne viel Optimismus in der Öffentlichkeit versprühen, wenn sie ihre Innovationen als gesellschaftliche Durchbrüche messiasartig ihrer weltweit treu ergebenen Fangemeinde präsentieren, sorgen sich immer mehr wohlhabende Silicon-Valley-Größen um ihre eigene Zukunft. Während Thiel sich einen Zufluchtsort im malerischen Neuseeland ausgesucht hat, kaufen sich andere in luxuriöse Bunkeranlagen ein, horten Treibstoff und Nahrungsmittel. (…) Vielen gemein ist eine geradezu dystopische Sicht auf die Welt. Wer viel hat, kann eben auch viel verlieren.“ (Rappold, Seite 293)

Quellen

Bücher:

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus, Münster, 2022

Thomas Rappold: Peter Thiel. Facebook, PayPal, Palantir. Wie Peter Thiel die Welt revolutioniert, München, 2017

Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, Köln, 2018

Thomas Wagner: Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell, Köln, 2015

Artikel:

Heike Buchter et al.: „Elon Musk sein“, Die Zeit vom 25. Mai 2022

Diana Dittmer: „Der Mann, der Trump wieder an die Macht bringen will“, n-tv, 12. Mai 2022
https://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Milliardaer-Peter-Thiel-Der-Mann-der-Trumps-Truppen-in-Stellung-bringt-article23116635.html

Theresia Enzenberger: „Die Möglichkeiten einer Insel“, FAZ (Online) vom 19. September 2022
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/privatstaaten-von-techmilliardaeren-die-moeglichkeiten-einer-insel-18385728.html

Elizabeth Flock: „Peter Thiel, founder of Paypal, invests $1.24 million to create floating micro-countries“, The Washington Post vom 17. August 2011
https://www.washingtonpost.com/blogs/blogpost/post/peter-thiel-founder-of-paypal-invests-124-million-to-create-floating-micro-countries/2011/08/17/gIQA88AhLJ_blog.html

Thomas Fromm: „Peter Thiel investiert in Quantum Systems aus Gilching “, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 18. Oktober 2022
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/peter-thiel-drohnen-ukraine-quantum-systems-1.5676733

Edward Helmore, „‚Don’ of a new era: the rise of Peter Thiel as a US rightwing power player“, The Guardian vom 30. Mai 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/may/30/peter-thiel-republican-midterms-trump-paypal-mafia

Felix Holtermann et al.: Peter Thiel im Wahlkampf: Die Wagniskapitalgeber greifen an“, Handelbslatt (Online) vom 8. Februar 2022
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/us-zwischenwahlen-peter-thiel-im-wahlkampf-die-wagniskapitalgeber-greifen-an/28049440.html

Larissa Holzki: „Quantum Systems aus München erhält Thiel-Invest“, Handelsblatt (Online) vom 21. Oktober 2022
https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/drohnen-hersteller-quantum-systems-aus-muenchen-erhaelt-thiel-invest/28748324.html

Christina Kyriasoglou: „Dark Lord“, Manager Magazin, Oktober 2022, Seite 110-116

Tess McClure: „Billionaire Peter Thiel refused consent for sprawling lodge in New Zealand“, The Guardian vom 18. August 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/aug/18/peter-thiel-refused-consent-for-sprawling-lodge-in-new-zealand-local-council

Mareike Müller: „Peter Thiel erzählt Unsinn über den Bitcoin – und rückt immer weiter nach rechts“, Handelsblatt (Online) vom 8. April 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-peter-thiel-erzaehlt-unsinn-ueber-den-bitcoin-und-rueckt-immer-weiter-nach-rechts/28239920.html

Peter Thiel: „The Education of a Libertarian“, Cato Unbound: A Journal of Debate, 13. April 2009
https://www.cato-unbound.org/2009/04/13/peter-thiel/education-libertarian/

 

Knast für Umweltverbrecher in Belgien

Die belgische Regierungskoalition hat einen Beschluss gefasst, der für die ganze Welt Vorbildcharakter haben soll. Danach soll Ökozid (Mord an der Umwelt) als Verbrechen geahndet werden, zu sanktionieren mit Haftstrafen von zehn bis 20 Jahren. Definiert wird er als „vorsätzliche Handlung, die einen schweren, weitreichenden und langfristigen Schaden für die Umwelt verursacht – begangen in dem Wissen, dass diese Handlung einen solchen Schaden verursacht“. (Süddeutsche Zeitung)

Die belgische Umweltministerin Zakia Khattabi von den Grünen möchte ein Bewusstsein schaffen für die Dimension von Umweltzerstörung und Klimakatastrophe. Dieser Beschluss soll Bewegung in die internationale Debatte bringen. Das Europaparlament hatte sich schon seit geraumer Zeit dafür eingesetzt, den Ökozid im europäischen Recht als kriminellen Tatbestand juristisch zu verankern, fand aber bislang keine Unterstützung bei der Kommission und bei den Mitgliedsländern.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

„Internationale Juristen drängen darauf, den Tatbestand des Ökozids, in einer ganz ähnlichen Formulierung wie in Belgien, in das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag aufzunehmen – neben Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen des Angriffskrieges. (…) Kritische Völkerrechtler warnen andererseits davor, den Ökozid mit dem Genozid gleichzusetzen. Der Völkermord habe zum Ziel, eine bestimmte Gruppe von Menschen zu vernichten, Umweltverbrechen aber würden meist aus Profitgier begangen. Letztlich werde der Begriff des Völkermords dadurch entwertet.
Möglicherweise wird die belgische Justiz vorexerzieren müssen, ob sich der Ökozid trotz der vagen Kriterien tatsächlich strafrechtlich anwenden lässt. Verfolgt werden können laut dem vorliegenden Gesetzestext keine Staaten, sondern nur Einzelpersonen. Oppositionspolitiker ließen schon polemisch anklingen, auch die belgischen Grünen könnten wegen Ökozids verfolgt werden, schließlich würden sie ja in der Regierung umweltfreundliche Kernkraftwerke schließen und stattdessen Gaskraftwerke bauen lassen.“

Quelle:

Josef Kelnberger: „Umweltverbrecher sollen ins Gefängnis“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 10. November 2022
https://www.sueddeutsche.de/politik/belgien-oekozid-straftat-gefaengnis-1.5691603

siehe auch:

„Belgien: Ökozid, ein internationales Verbrechen“, eine Reportage (Arte-Video) von Frank Dürr et al., 2021
https://www.arte.tv/de/videos/106897-000-A/belgien-oekozid-ein-internationales-verbrechen/

 

Tödliche Arbeitsunfälle in Deutschland

Die Online-Plattform Statista, nach eigenen Angaben führender Anbieter für Markt- und Konsumentendaten in Deutschland, berichtet, dass für das Jahr 2021 bundesweit 510 Arbeitsunfälle mit Todesfolge registriert wurden. Gegenüber dem Rekord-Unfalljahr 1993 mit 1.543 tödlichen Unfällen habe sich danach die Zahl um mehr als 66 Prozent reduziert. Die Quote tödlicher Arbeitsunfälle würde sich auf dem historischen Tiefstand von 0,01 je 1.000 Vollarbeiter halten.

Die Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) referiert die Fakten weniger optimistisch. Im Bereich der Unfallversicherung von gewerblicher Wirtschaft und öffentlicher Hand ereigneten sich danach im Jahr 2021 insgesamt 806.217 meldepflichtige Arbeitsunfälle, die eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder den Tod zur Folge hatten, das heißt 6 % mehr als im Vorjahr. „Bei den tödlichen Arbeitsunfällen ist gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 111 Fälle auf 510 Todesfälle zu verzeichnen.“

Renate Dillmann, Dozentin und freie Journalistin, kommentiert auf den Nachdenkseiten:

„Tragische Einzelfälle? Gehört die Gefahr eines eventuell sogar tödlichen Arbeitsunfalls schlicht zum ‚normalen Lebensrisiko‘? Oder ist mehr zu den Ursachen zu sagen? (…)

Arbeitsschutz ist in der kapitalistischen Produktion nichts, worauf ein Unternehmen von sich aus Wert legt. Schutzvorrichtungen bei der Bedienung von Maschinen, Lärmschutz, die Verwendung nicht schädlicher Stoffe, stabil gebaute Arbeitshallen, die nicht einsturzgefährdet sind und in denen der Brandschutz gewährleistet ist – all das verursacht Kosten und wird deshalb, wenn es allein nach dem Willen der Unternehmen geht, nur gemacht, wenn die entsprechenden Schutzmaßnahmen im Verhältnis zu den anfallenden Kosten und den zu erwartenden ‚Betriebsausfällen durch Unfall‘ sich lohnen. (…)

Die rücksichtslose Praxis seiner Unternehmer hat der deutsche Sozialstaat im Interesse an einer nachhaltigen Benutzbarkeit seiner Arbeitsbevölkerung nach und nach durch Arbeitsschutzgesetze eingeschränkt. Heute gehören zum Arbeitsschutz diverse Rechtsverordnungen (…).

Dass dermaßen viele staatliche Verordnungen nötig sind, um den modernen Arbeitsprozess für die Arbeitnehmer wenigstens so aushaltbar zu machen, dass sie – zumindest als statistisches Kollektiv – ein Arbeitsleben durchstehen, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Erstens stellt es dem Zweck, um den es in den gesetzlich regulierten Fabriken, Baustellen und Büros geht, kein gutes Zeugnis aus – so etwas Unschuldiges wie ‚Versorgung der Menschen mit Konsumgütern‘ wird es wohl kaum sein. Denn wenn es um diesen Zweck ginge, würde niemand die dafür fällige Arbeit so gefährlich und schädlich organisieren, dass bei der Produktion Physis und Psyche schon so in Mitleidenschaft gezogen werden, dass der Genuss der produzierten Güter gar nicht mehr sorglos zustande kommt.

Wenn zweitens per Rechtsverordnung einige (bisher erlaubte) Praktiken verboten werden – etwa die Überschreitung eines bestimmten Tageslärmpegels oder einer Hand-Arm-Vibration, dann sind damit alle Schädigungen an Ohren, Bandscheiben und Leber unterhalb der gezogenen Grenze bzw. Durchschnittswerte (!) erlaubt. Ganz im Gegensatz zur üblichen Vorstellung vom ‚Schutz‘, legen die staatlich definierten Grenzwerte (das gilt übrigens auch für Lebensmittel u.a.) mit ihrem Verbot eines Übermaßes also fest, in welchem Maß die Gesundheit der Betroffenen staatlich erlaubtermaßen angegriffen und verschlissen werden darf. (…)

Mit seiner Gesetzgebung zum Arbeitsschutz legt der moderne Sozialstaat die Bedingungen dafür fest, wie Benutzung und Verschleiß der Arbeitskräfte so vonstatten gehen, dass das Ganze gewissermaßen ‚nachhaltig‘ passieren kann. Das schließt offenbar – siehe die Statistik der Gesetzlichen Unfallversicherung – nach wie vor eine erkleckliche Zahl an Arbeitsunfällen mit gesundheitlichen Folgen ein und auch ein paar hundert Tote pro Jahr.

Das ist auch kein Wunder, denn am Zweck der Arbeitsplätze in seiner Wirtschaft ändert ein solches Gesetz ja erklärtermaßen nichts: Mit der Arbeit der Leute soll Gewinn erwirtschaftet werden – und das bedeutet unter den Bedingungen der globalen Standortkonkurrenz nichts Gutes für die Beschäftigten. Die wiederum müssen sich angesichts des brutalen Unterbietungswettbewerbs, in dem sie ‚normal‘ und erst recht als migrantische Wanderarbeiter stehen, auf alle Bedingungen einlassen und schauen, wie sie damit klarkommen.“

Quellen:

Renate Dillmann: „Arbeitsunfälle in Deutschland: Mehr als ein Toter pro Tag“, Nachdenkseiten, 11. November 2022

https://www.nachdenkseiten.de/?p=90247

Rainer Radke: „Tödliche Arbeitsunfälle in Deutschland bis 2021“, Statista, 26. Oktober 2022

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/276002/umfrage/gemeldete-toedliche-arbeitsunfaelle-in-deutschland-seit-1986/

„Arbeits- und Wegeunfallgeschehen“, DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung)

https://www.dguv.de/de/zahlen-fakten/au-wu-geschehen/index.jsp

 

Superreiche sparen Geld in deutschen Gewerbesteueroasen

Recherchen des ARD-Magazins „Plusminus“ und der Süddeutschen Zeitung (SZ) belegen, dass deutsche Großunternehmen und Milliardäre zuhauf in deutsche Gewerbesteueroasen flüchten, um Steuern auf ihre Gewinne zu sparen. Zugleich kämpfen Kommunen mit leeren Kassen, müssen Schwimmbäder schließen und in öffentlichen Gebäuden die Heizungen herunterdrehen. 

Berichte über dieses Thema gab es bereits in den vergangenen Jahren. Die aktuellen Untersuchungen führten die Journalist*innen nun vor allem in die brandenburgische Gemeinde Schönefeld. Die Gemeinde gilt als Gewerbesteueroase, heißt es im TV-Beitrag und dem Artikel der SZ. Sie hat eine der niedrigsten Gewerbesteuersätze in Deutschland. Viele reiche Großunternehmer nutzen das aus und haben hier einen Firmensitz angemeldet, um weniger Gewerbesteuer bezahlen zu müssen. Bundesweit gibt es demnach mindestens neun solcher Steueroasen. In Schönefeld zahlt ein Unternehmen nur rund acht Prozent auf Gewinne, in Wuppertal dagegen etwa 17 Prozent. Wuppertals Stadtkämmerer hält deshalb das, was die Steueroasen treiben, eindeutig für Steuerdumping.

„Wie das vor Ort ausschaut, wenn Superreiche ihre Lager aufschlagen, lässt sich in der Gemeinde Brandenburg bestens erkunden. Dort findet sich beispielsweise ein verlassenes Ladenbüro, in dessen Schaufenster eine Liste mit Firmen hängt, die hier ihren Sitz haben. Gleich zwei Mal taucht dort der Name Burlington auf, eine Marke, die zum Falke-Imperium gehört. Die Firma aus Nordrhein-Westfalen ist für Strümpfe in der oberen Preisklasse bekannt.“ (SZ)

Gegenüber „Panorama“ nimmt die Unternehmensleitung von Falke schriftlich Stellung: „Wie begrüßen als erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen den politisch gewollten Wettbewerb unter Kommunen (…).“

Auch der Unternehmenskomplex von Milliardär Ludwig Merckle hat in Schönefeld Teile des Familienimperiums angemeldet. An die hundert Firmen der Familie Merckle sollen hier ihren Geschäftssitz in einem der Büros haben. Zu einem Interview mit den Journalist*innen war Merckle nicht bereit, auch beantwortete er keine schriftlichen Fragen. Recherchen zeigen, dass  er offenbar Steueroasenhopping betreibt. Sein Firmengeflecht war zuerst in der Steueroase Zossen in Brandenburg angemeldet. Nachdem die Gemeinde die Gewerbesteuer leicht erhöht hatte, zog er mit seinen Firmen knapp 30 Kilometer weiter nach Schönefeld.

„4,5 Milliarden Euro soll Ludwig Merckle besitzen, den das Handelsblatt im Jahr 2011 zum ‚Familienunternehmer des Jahres‘ kürte. In der dazugehörenden Laudatio hob Günther Oettinger unter anderem seine ‚ausgesprochene Bodenhaftung und ungewöhnliche Bescheidenheit‘ hervor.“ (SZ)

Um den unhaltbaren Zustand zu beenden, bedarf es einer bundesweiten Lösung. „Das Bundesfinanzministerium“, schreibt die SZ, „spricht zwar von einer ‚bundesweiten Bedeutung‘ der Thematik und dass es aktuell ‚Erörterungen‘ dazu gebe. Eine Gewerbesteuerreform sei aber nicht geplant, heißt es auf Anfrage.“

Als Politiker, die sich aktiv gegen den Missstand wenden, kommen in den Beiträgen von ARD und SZ der Stadtkämmerer Wuppertals, Johannes Slawik, sowie Berlins Finanzsenator Daniel Wesener (Die Grünen) zu Wort. Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit betont unter anderem die Bedeutung eines kritischen Engagements der lokalen Steuerbehörden vor Ort.

 

Quellen:

„Steueroasen: Wie Superreiche bei der Gewerbesteuer tricksen“, Beitrag des ARTD-Magazins Plusminus vom 2. November 2022

https://www.ardmediathek.de/video/plusminus/steueroasen-wie-superreiche-bei-der-gewerbesteuer-tricksen/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3BsdXNtaW51cy8zNzI5OWNmYi00ODkwLTRmMmItYTg0MC03N2QwYjFjZGYwNjI

Katrin Kampling/Caroline Walter/Nils Wischmeyer: „Das Versteckspiel der Superreichen“, Süddeutsche Zeitung vom 3. November 2022

Weitere Informationen auch hier:

Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2021  (Autoren: Christoph Trautvetter, Yannick Schwarz), Herausgeber Netzwerk Steuergerechtigkeit e.V., Stand: August 2021, Seite 22ff.

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/wp-content/uploads/2021/11/210922_JahrbuchSteuergerechtigkeit2021_credits.pdf

Greenwashing: Deutsche Vermögensverwalter fördern Klimakrise

Die wichtigsten deutschen Fondsgesellschaften, vor allem die Deutsche Bank-Tochter DWS, treiben den Ausbau fossiler Brennstoffe voran – obwohl sie sich öffentlich zum Klimaschutz bekennen. Dies belegt eine von Greenpeace, urgewald und Reclaim Finance vorgelegte gemeinsame Studie vom Oktober 2022. Dort heißt es, dass das Pariser Klimaschutzabkommen die Verantwortung des Finanzsektors für die Bewältigung der Klimakrise herausstelle. Danach sollen die globalen Finanzströme so gestaltet werden, dass sie im Einklang mit den Pariser Klimazielen stehen. Die Studie stellt dagegen den vier größten deutschen Vermögensverwaltern ein verheerendes Zeugnis aus. Folgende Gesellschaften stehen im Mittelpunkt der Analyse:

– DWS Group (Tochter der Deutschen Bank: verwaltetes Vermögen etwa 833 Milliarden Euro)

– Allianz Global Investors (Tochter der Allianz Versicherung: verwaltetes Vermögen etwa 578 Milliarden Euro)

– Union Investment (im Verbund der Volks- und Raiffeisenbanken, Tochter der DZ Bank: verwaltetes Vermögen etwa 415 Milliarden Euro)

– Deka Investments (in der Sparkassen-Finanzgruppe, Tochter der DekaBank: verwaltetes Vermögen etwa 290 Milliarden Euro).

Alle vier Investmentgesellschaften unterstützen offiziell das Pariser 1,5-Grad-Ziel, unterlaufen nach ihren Anlagerichtlinien jedoch aktiv das Klimaversprechen. Insgesamt pumpen sie 13 Milliarden Euro in fossile Energieunternehmen, die DWS Group mit etwa 7,8 Milliarden Euro mit Abstand am meisten (Stand September 2022).

Ein Auszug aus der Studie:

„Während sich AGI, Deka Investments und Union Investment moderate generelle Beschränkungen für Investitionen in Kohleunternehmen gegeben haben, finden sich bei der DWS keine allgemeingültigen Auflagen. Keiner der vier Asset Manager besitzt eine Strategie zur Beschränkung der Investitionen in expandierendes Öl- und Gasgeschäft. (…) Die vier größten deutschen Asset Manager AGI, Deka, DWS und Union verwalten gemeinsam ein Wertpapiervermögen von rund 2,3 Billionen Euro [Stand September 2022]. Aufgrund der unzureichenden Klimastrategien sind klimaschädliche Investitionen weit über die nötige Begrenzung für ein 1,5-Grad-Ziel hinaus an der Tagesordnung: Alle vier Asset Manager investieren in Kohle-, Öl- und Gasunternehmen, die weiterhin die Ausweitung ihrer fossilen Geschäftstätigkeiten planen.“

Eine glaubwürdige Umsetzung der 1,5-Grad-Versprechen, so die Studie, würde jedoch bedeuten, diese Investments auf Null zu senken.

Greenpeace, Reclaim Finance und urgewald stellen abschließend zwei Forderungen auf:

„1. Die Vermögensverwalter brauchen einen verbindlichen Plan für den sofortigen Stopp aller neuen Investitionen in Unternehmen, die an der Expansion von Kohle-, Öl- und Gasprojekten beteiligt sind. Der Plan muss den sofortigen Verkauf der aktuell gehaltenen Aktien und Anleihen von Unternehmen beinhalten, die eine Expansion ihres Kohlegeschäfts planen, und eine zeitnahe Frist für Papiere von Unternehmen, die eine Expansion von Öl- und Gasprojekten vorantreiben.

2. Für das Engagement mit den verbleibenden Energieunternehmen mit schrumpfenden fossilen Geschäften müssen die Vermögensverwalter eine klare und glaubwürdige Strategie zur Emissionsreduktion entwickeln, die bei Verfehlung durch die Unternehmen auch deren Veräußerung als Option beinhaltet.“

Quelle:

„Die deutschen Vermögensverwalter und ihr Umgang mit Unternehmen mit expandierendem Kohle-, Öl- und Gasgeschäft“, Deutsche Zusammenfassung eines Reports von Greenpeace, urgewald und Reclaim Finance, 18.Oktober 2022
https://www.greenpeace.de/publikationen/Zusammenfassung_Report_deutsche_Asset_Manager.pdf

vgl. auch:

Yasmin Osman: „Greenpeace stellt DWS besonders schlechtes Zeugnis aus“, Handelsblatt (Online) vom 18. Oktober 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/nachhaltigkeit-greenpeace-stellt-dws-besonders-schlechtes-zeugnis-aus/28751126.html

David Maiwald: „Wieder nur Maskerade“, junge Welt (Online) vom 19. Oktober 2022
https://www.jungewelt.de/artikel/436959.grüner-kapitalismus-wieder-nur-maskerade.html

Auszüge aus Rezensionen zu einem aktuellen Buch über fünf deutsche Unternehmerdynastien mit Nazi-Vergangenheit

David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 496 Seiten, 28 Euro.

Ela Maartens/Verena Nees auf der World Socialist Web Site:

 „Dieses Buch kommt zur richtigen Zeit. Landauf landab wird die Kriegstrommel gerührt und behauptet, die herrschenden Eliten Deutschlands setzten sich für Demokratie und Freiheit des ukrainischen Volkes ein. Wer die verlangten Opfer für die Rüstungsausgaben ablehnt – Inflation, Mietschulden, Armut und Arbeitslosigkeit –, wird als Unterstützer von russischer Tyrannei, wer Angst vor einem Atomschlag äußert, als Feigling bezeichnet.

In Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien, das Ende Mai 2022 erschienen ist, zeigt der niederländische Finanzjournalist David De Jong, was die wirkliche Haltung der deutschen herrschenden Klasse zur Demokratie war und heute noch ist. (…) Detailliert und gut recherchiert schildert er die engen Verstrickungen einiger der größten deutschen Unternehmerdynastien mit den Nationalsozialisten und zeigt auf, wie sie nach dem Krieg erneut ihren Reichtum vermehren und den Ton in Wirtschaft und Finanzwelt angeben, ja sogar erneut faschistische Gruppierungen finanzieren konnten.

Ins Zentrum seines Buchs rückt er fünf Oligarchenfamilien, deren Vergangenheit – anders als bei Krupp, Thyssen, Siemens, Deutsche oder Dresdner Bank – lange im Dunkeln geblieben war: Die Firmenimperien von Quandt, August Baron von Finck, Friedrich Flick, Dr. Oetker, der Porsche-Piëch-Clan. Am Ende geht De Jong auf die Albert Reimann Familie und deren im Kaffee- und Snack-Segment agierenden JAB Holding ein, deren Nazi-Vergangenheit erst in neuerer Zeit publik wurde.“

 

Hans-Jürgen Jakobs im Handelsblatt:

„Dramaturgisch konsequent konzentriert sich de Jong auf fünf Familienfälle, die er akribisch aufbereitet, stets um äußerste Faktengenauigkeit bemüht. Der nüchtern rapportierende Stil kontrastiert mit der Emotionalität des Themas, mit der deutschen Schuld, sechs Millionen Juden ermordet zu haben.

Vorgeführt werden Textilunternehmer Günther Quandt und Stahlbaron Friedrich Flick, die sich wie Raider der kapitalistischen Neuzeit immer mehr Firmen sicherten, ein Innovator wie Ferdinand Porsche, der Adolf Hitlers Wunsch nach einem ‚Volkswagen‘ aus ingenieurtechnischem Ehrgeiz und aus Erwerbsinteresse gerne nachkam, der knauserige Münchener Baron August von Finck, der Hitlers Lieblingsprojekt ‚Haus der Kunst‘ in München aufhalf, oder die Bielefelder Oetker-Familie mit dem eingeheirateten Stramm-Nazi Richard Kaselowsky als Oberhaupt. Das Mitglied im ‚Freundeskreis Reichsführer SS‘ breitete ganz in Führers Sinne den Stiefsohn Rudolf-August Oetker auf seine Chefrolle vor. Der ‚Puddingprinz‘ wurde früh in die Reiter-SA integriert, war SS-Offizier und half nach dem Krieg alten SS-Kameraden.

All diesen Wirtschaftslegenden war gemein, dass sie in kühler Kosten-Nutzen-Abrechnung vom NS-Zwangssystem opportunistisch profitierten, teilweise schon recht früh zur Finanzierung von Wahlkämpfen der NSDAP oder von SS und SA bereitstanden und selbst Teil der Kriegs- und Eroberungsmaschinerie wurden. Allesamt waren sie in der NSDAP, der SS oder in beiden Organisationen.“

 

Julia Hubernagel in der taz:

„‚Zukunft braucht Herkunft.‘ Diesen Satz ließ 2019 die Ferry-Porsche-Stiftung verlauten, als sie ihren Willen bekundete, Deutschlands erste Professur für Unternehmensgeschichte zu finanzieren. Dabei klingt aber noch eine andere Botschaft mit: Ohne Herkunft besteht in Deutschland nur bedingt Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg.

Dass diese Herkunft meist in der dicken braunen Erde der NS-Zeit wurzelt, lässt sich noch heute an der Rangliste der reichsten Deutschen ablesen. Jenen Unternehmerdynastien, die besonders von der nationalsozialistischen Herrschaft profitiert haben, hat David de Jong in seinem Buch ‚Braunes Erbe‘ nachgespürt. Nur einige der Industriemagnaten waren dabei glühende Nationalsozialisten, befindet der niederländische Journalist. Die meisten waren einfach kühl kalkulierende, skrupellose Opportunisten.

Während Anton Piëch so etwa aus Überzeugung gleich zweimal in die NSDAP, zuerst in die österreichische Schwesterpartei, und die SS eintrat, hatten er und sein Schwiegervater Ferdinand Porsche kein Problem damit, ihr Automobilkonstruktionsbüro 1931 zusammen mit dem jüdischen Kaufmann Adolf Rosenberger zu gründen. Sieben Jahre später konnten sie ihn als ‚Nichtarier‘ allerdings günstig loswerden, um mit der Produktion des ‚Volkswagens‘ ihren Milliardenreichtum zu begründen.“

 

Ursula Weidenfeld im Deutschlandfunk Kultur:

„Der Finanzjournalist De Jong erzählt am Beispiel von fünf Unternehmerfamilien – Quandt, Porsche, Flick, von Finck und Oetker –, wie sich deren Chefs Hitler an den Hals geworfen haben. Und er berichtet, wie sich Unternehmenserben bis heute um die Geschichte ihres Erbes herumdrücken, dessen Dividenden sie doch zu gern genießen. Er schildert, wie atemberaubend naiv diese Erben gelegentlich sind, wie zögerlich oder intrigant andere ihre Verantwortung leugnen. (…)

De Jong zieht von den Großvätern, die die barbarischen Möglichkeiten der Nazi-Zeit – Zwangsarbeit, Arisierung, Kriegswirtschaft – nutzten, so etwas wie eine Charakter-Linie zu ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln, die bis heute von diesen Vermögen profitieren. Für die Quandts, die Flicks, die Porsches, die Oetkers und die von Fincks hat De Jong recherchiert, wie sie zu Nationalsozialisten wurden, was sie davon hatten, und wie sie diesen Teil ihrer Biografie nach 1945 abwuschen.

Das taten sie so erfolgreich, dass der Quandt-Enkel Stefan in einem Interview sagen konnte, sein Großvater sei kein überzeugter Nationalsozialist gewesen. Den Erben bescheinigt De Jong eine ähnliche Mentalität: Der Geschichte ihrer Unternehmen stellten sie sich nur, wenn sie von der Öffentlichkeit dazu gezwungen würden.

Nicht alle Unternehmer waren von Anfang an glühende Nationalsozialisten, doch die fünf haben den Aufstieg Hitlers unterstützt und finanziert, und mehr als die meisten anderen haben die fünf Familien bis weit in die Nachkriegszeit davon profitiert. (…)

Es sind dieselben Charaktereigenschaften – Geschäftssinn, Opportunismus, Anpassungsfähigkeit – die ihnen den Neuanfang nach 1945 erleichtern. Die Unternehmer werden kurzzeitig interniert, sie werden entnazifiziert, nur einer von ihnen muss wegen Kriegsverbrechen ins Gefängnis.

Die anderen bekommen ihr Vermögen schnell zurück. Für den Kalten Krieg und das Wirtschaftswunder werden Unternehmer gebraucht, da wollen weder die Westalliierten noch die Politiker der jungen Bundesrepublik genau hinschauen – zumal sich einige der Unternehmensführer auch den neuen Parteien im neuen Land gegenüber wieder ausgesprochen großzügig zeigen.

1970 sind die Herren Flick, von Finck, Quandt und Oetker die reichsten Geschäftsleute Deutschlands. So, als wäre nie etwas gewesen.“

 

Marcus Jung in der FAZ:

„Der Autor, dessen jüdische Familie von den Nazis verfolgt und teilweise ermordet wurde, klagt nicht die Deutschen allgemein an, im Mittelpunkt seiner Recherchen stehen die reichsten Unternehmerfamilien des Landes: die Quandts, die Flicks, die Oetkers, die Reimanns, die von Fincks sowie die Familien Porsche und Piëch. Das Buch beruht dabei auf zahlreichen Artikeln de Jongs für den Wirtschaftsdienst Bloomberg. Er will mehr Transparenz in bislang aus seiner Sicht nur unzureichend beleuchtete Kapitel ihrer Unternehmensgeschichte bringen. Tatsächlich haben sich noch nicht alle großen deutschen Unternehmen ihrer Geschichte im Dritten Reich gestellt, doch de Jongs Vorwurf ist zu pauschal. Viele deutsche Konzerne und Banken haben in den vergangenen Jahren ihre Archive geöffnet, um sich der Verantwortung zu stellen. Die Industriellenfamilie Quandt beauftragte etwa den namhaften Historiker Joachim Scholtyseck. Sein Gutachten gilt als wegweisend für die wissenschaftliche Aufarbeitung von Unternehmenshistorien während der NS-Zeit. Auch andere Unternehmen wie Adidas, Porsche, Oetker, Sartorius, Continental und Freudenberg gewährten namhaften Forschern Zugang, um sich der unbequemen Wahrheit zu stellen. Auch Bahlsen hat nach dem Fauxpas einen Wirtschaftshistoriker damit beauftragt, zu untersuchen, welche Rolle die Zwangsarbeit im Unternehmen gespielt hat. Dass es sich dabei nur um beschönigende Auftragsarbeiten handelt, wie de Jong suggeriert, kann nicht behauptet werden. Er aber setzt sich mit ihnen auf lediglich 40 Seiten auseinander. (…)

Lesenswert ist sein Buch dennoch: Die Protagonisten von ‚Braunes Erbe‘ sind bis auf wenige Ausnahmen schon während des Deutschen Kaiserreichs wohlhabend gewesen. Ihr kaufmännisches Gespür, gepaart mit ihrem extremen Opportunismus, traf auf die aufstrebende, anfangs chronisch vor der Pleite stehende Organisation der Nationalsozialisten. Erst dieses Zusammentreffen legte für die Industrie- und Finanzbarone die Basis für den Aufstieg in noch höhere Sphären. Ihre Familiengeschichte kann der Leser im Anhang durch Stammbäume bis zum heutigen Tag verfolgen.“

Quellen:

Ela Maartens/Verena Nees: „‚Braunes Erbe‘ von David de Jong: Wie Hitlers Geldgeber noch heute im Geschäft sind“, World Socialist Web Site, 15. Oktober 2022

https://www.wsws.org/de/articles/2022/10/14/brau-o14.html

Hans-Jürgen Jakobs: „Wie deutsche Unternehmen mit ihrer Nazi-Vergangenheit umgehen“, Handelsblatt (Online) vom 8.5.2022

https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/rezension-wie-deutsche-unternehmen-mit-ihrer-nazi-vergangenheit-umgehen/28307660.html

Julia Hubernagel: „Braun bis ins Mark“, taz (Online) vom 10. August 2022

https://taz.de/Sachbuch-von-David-de-Jong/!5868518&

Ursula Weidenfeld: „Reich durch Puddingpulver und Zwangsarbeit“, Deutschlandfunk Kultur am 21. Mai 2022 (Sendung „Lesart“)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/david-de-jong-braunes-erbe-kritik-100.html

Marcus Jung: „Opportunisten und Mitläufer“, FAZ (Online) vom 10. Juli 2022

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftsbuecher-rezension-david-de-jong-braunes-erbe-18160145.html

Pandemie-Profiteure: Steuergeld-Verschwendung als Systemzwang?

Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) ermittelt zurzeit die Staatsanwaltschaft Berlin gegen einen hohen Beamten im Gesundheitsministerium wegen überzogen teurer Maskenbestellungen bei der Schweizer Handelsfirma Emix. Der Beamte wird verdächtigt, im April 2020 mit dem Kauf von 100 Millionen Corona-Schutzmasken zum Preis von 540 Millionen Euro Steuergeld veruntreut zu haben. Es handelt sich um eine Führungskraft, die offensichtlich zu den Vertrauten von Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zählte „und dem auch der neue Minister Karl Lauterbach (SPD) vertraut“, so die SZ. 

Bereits drei Wochen zuvor, im März 2020, hatte der Beamte laut tagesschau.de unter anderem 32 Millionen Masken zum Stückpreis von 5,95 Euro bei Emix gekauft. Emix selbst soll nach Schätzungen der ebenfalls ermittelnden Staatsanwaltschaft München mit den Lieferungen nach Deutschland insgesamt 300 Millionen Euro Gewinn gemacht haben. Vermittelt wurden die Geschäfte von Andrea Tandler, Tochter des ehemaligen CSU-Generalsekretärs Georg Tandler sowie Monika Hohlmeier, Tochter des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU). Tandler und einer ihrer Partner sollen dafür von Emix 48 Millionen Euro Provision erhalten haben: „Die Provision war wegen der hohen Maskenpreise und großen Liefermengen so üppig ausgefallen.“ (SZ) Nach Auffassung des Beamten im Gesundheitsministerium waren die Deals in Ordnung. Das Ministerium habe in der damaligen Notlage, beim Kampf gegen das Virus in Altenheimen und Kliniken, gar nicht anders handeln können.

Die SZ misst dem Verfahren grundsätzliche Bedeutung bei mit weitreichende Folgen:

„Erstmals untersucht eine Staatsanwaltschaft in einem großen Corona-Fall, wie weit der Staat in einer großen Krise seine Kasse öffnen darf. Wo endet die staatliche Notwehr? Und wo beginnt eine gesetzeswidrige Steuergeldverschwendung, weil Behörden und Ministerien das Geld der Bürgerinnen und Bürger Geschäftemachern gleichsam hinterherwerfen oder anderweitig mehr als leichtfertig ausgeben?“

Zur Zeit des Vertragsabschlusses im April 2020, glaubt die Staatsanwaltschaft Berlin, war jedenfalls die Notlage bei den Masken längst nicht mehr so groß gewesen wie in den Wochen zuvor, kurz nach Beginn der Pandemie. So stellt ein Corona-Lagebericht des bayerischen Gesundheitsministeriums vom 9. April 2020 fest, dass die Preise für persönliche Schutzausrüstung wieder fallen würden, da das Marktgeschehen wieder in Gang komme. Deshalb müsse wieder mehr auf Qualität und Preis geachtet werden. Nichtdestotrotz, so SZ und tagesschau.de, habe das Gesundheitsministerium zwei Wochen später bei Emix 100 Millionen Masken für 540 Millionen Euro geordert. Mittels eines Vertrages, den der damalige Minister Spahn selbst genehmigte.

Die aktuelle juristische Aufarbeitung von Makendeals verdient auch Aufmerksamkeit, da rechtliche Bewertungen in der jüngsten Vergangenheit negativ überraschten. So sah der Bundesgerichtshof (BGH) im Juli 2022 in einer Maskenaffäre den Vorwurf der Bestechlichkeit gegen zwei ehemalige CSU-Abgeordnete als nicht erfüllt an. Der langjährige Landtagsabgeordnete Alfred Sauter und Georg Nüßlein, der für die CSU im Bundestag saß, hatten üppige Provisionen für die Vermittlung von Masken erhalten. Dass sich Mandatsträger bei außerparlamentarischen Betätigungen auf ihren Status berufen, um im Interesse eines Privatunternehmers Behördenentscheidungen zu beeinflussen, erfülle den Tatbestand der Bestechlichkeit nicht, hatte der BGH entschieden (vgl. Handelsblatt).

Quellen:

Markus Grill (WDR/NDR): „Ermittlungen im Gesundheitsministerium“, 14. Oktober 2022

tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/corona-masken-emix-101.html

Markus Grill/Klaus Ott: „Tatverdacht Verschwendung“, Süddeutsche Zeitung vom 15./16. Oktober 2022

„Maskendeals der CSU-Politiker – laut BGH nicht illegal“ , Handelsblatt (Online) vom 12. Juli 2022

Ausgebeutete Arbeiter und Fußballmillionäre – über die WM in Katar

Vom 21. November bis zum 18. Dezember 2022 findet die Fußball-WM in Katar statt. Die Kritik an der Vergabe dieses Turniers war nie so laut wie in diesem Fall.

Unter dem Titel „Reclaim the Game“ führte in den letzten Wochen eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte Veranstaltungsreihe mehrere Gäste aus Nepal und Kenia in neun deutsche Städte, um dort von ihren Erfahrungen als migrantische Arbeiter in dem Emirat zu berichten. Die Tour wurde am 29. September in Berlin abgeschlossen. Das Neue Deutschland (ND) gibt die Eindrücke eines Kenianers wieder, der mehrere Jahre als Wachmann in Katar gearbeitet hat:

„‚Als migrantischer Arbeiter in Katar hast du selbst keinen Einfluss darauf, ob du Überstunden machst, ob die überhaupt bezahlt werden, ob du den vertraglich zugesicherten freien Tag in der Woche nehmen kannst oder nicht. Du wohnst in einem Zimmer mit sechs, acht, zehn, manchmal zwölf anderen zusammen. Die Wände sind feucht, in den Betten haust Ungeziefer. Raus kannst du kaum. Und sich zu erholen, ist schwer, wenn der eine gerade Musik aus seinen Boxen hört, der nächste telefoniert und ein anderer Fernsehen guckt‘. (…) Am schlimmsten aber seien die juristischen Auswirkungen des Kafala-Arbeitssystems, das trotz zweier größerer Reformansätze 2015 und 2020 noch immer herrsche. ‚Du hast keine Freiheit, dir einen anderen Job zu suchen, du hast keine Bewegungsfreiheit, denn dein Arbeitgeber schreibt dir vor, wo du wohnst. Es gibt keine Redefreiheit und du hast nicht einmal das Recht, dich zu organisieren‘, kritisiert er.“

Ein nepalesischer Arbeiter, Krishna Shrestha, einer der Gründer der Gewerkschaftsorganisation Migrant Workers Network, bestätigt nach Angaben des ND die Probleme:

„Er erkennt aber auch an, dass sich aufgrund des internationalen Drucks seit Vergabe der WM an Katar einiges geändert hat. ‚Die Reform 2015 führte dazu, dass man keine Ausreisevisa vom Arbeitgeber mehr braucht, um das Land zu verlassen. Die von 2020 führte einen Mindestlohn ein. Das hilft vielen Arbeitern‘, sagte er. Zugleich kritisierte er, dass viele Gesetze nicht umfassend oder sogar überhaupt nicht umgesetzt würden: ‚Wenn sich Arbeiter über ausbleibende Löhne beschweren, haben sie nur selten Erfolg. Zuletzt wurden sogar 60 in ihre Heimatländer Nepal und Bangladesch deportiert, weil sie öffentlich ihre Löhne eingefordert hatten.‘“

Shrestha erwartet, dass die an der WM teilnehmenden Profifußballer und deren Fans weiter Druck ausüben: Auf die Regierungen, die Verbände und auch die Klubs, damit die sich ihrerseits für die Verbesserung der Lage der Arbeitenden in Katar einsetzen. Auch fordert er einen Entschädigungsfonds des Fußballweltverbands Fifa zugunsten der Angehörigen von auf den Baustellen umgekommenen Arbeitern.

Sportredakteur Thomas Kistner schreibt in der Süddeutschen Zeitung:

„Seit dem WM-Zuschlag 2010 wird das Emirat – unter anderem – der Ausbeutung seiner Migranten bezichtigt. Fast 90 Prozent der 2,5 Millionen Einwohner sind Ausländer, meist aus ärmeren Ländern wie Nepal, Indien, Bangladesch. Die Hälfte schuftet auf hitzeflirrenden Baustellen, viele im Kontext der WM, nicht selten unter eher sklavenartigen Bedingungen. Offiziell abgeschafft wurde das Beschäftigungssystem Kafala, das Arbeitgeber entscheiden ließ, ob Bedienstete das Land verlassen durften. Und eingeführt wurde ein monatlicher Mindestlohn, 275 Euro. Dass dieser nicht reibungslos umgesetzt ist, zeigen aber die jüngsten Unruhen.“ (Vgl. die Aussage des Gewerkschafters Krishna Shrestha)

Ungeachtet dessen werben unter anderem ehemalige Fußballstars wie Lothar Matthäus oder der Brite David Beckham für den Austragungsort in der Wüste. Noch einmal Thomas Kistner:

„Beckham besingt Katar in einem aufwändigen Werbefilm sogar als den Ort der ‚Perfektion‘, wo ein Mix ‚aus Moderne und Tradition‘ einfach Großartiges erschaffen habe. Er könne es kaum erwarten, ‚meine Kinder dorthin zu bringen‘ (…) Wie man auf die Idee kommt, ausgerechnet dieser WM als globales Werbegesicht zu dienen, unter Ausblendung fast aller Realitäten? Nun, der oberste Katar-Fan Beckham soll für ein Zehnjahres-Engagement laut Medienberichten in England bis zu 180 Millionen Euro kassieren.“

Quellen:

Tom Mustroph: „Macht weiter Druck!“, Neues Deutschland vom 30. September 2022
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1167341.fussball-wm-in-katar-macht-weiter-druck.html?sstr=katar

Thomas Kistner: „Frohe Botschafter“, Süddeutsche Zeitung vom 21. September 2021
https://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-wm-katar-beckham-matthaeus-werbung-kritik-1.5660766?reduced=true

Tipps:

„Foulspiel mit System. Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können“, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, November 2021
https://www.rosalux.de/publikation/id/45369/foulspiel-mit-system

Webseite der Aktion „Boycott Quatar“:
https://www.boycott-qatar.de/

Totaler Kapitalismus

Bereits im Jahr 2015 erschien in BIG Business Crime ein Artikel, der sich mit damals aktuellen Utopien libertärer Vordenker auseinandersetzte (BIG Nr. 2/2015). Im März 2021 berichtete BIG dann über Pläne des US-Bundesstaats Nevada, auf seinem Territorium sogenannte Innovationszonen einzurichten, in denen ohne demokratische Legitimation ganze Städte neu aufgebaut und investierenden Unternehmen die staatlichen Hoheitsrechte übertragen werden sollen (Justiz, Polizei, Schulen). Schon in den 2000er Jahren kursierte die Idee, in „Entwicklungsländern“ staatenlose Enklaven zu bilden, für deren Rechtssicherheit und Verwaltung westliche Partnerländer zu sorgen hätten („Charter Cities“). Solche von vollständiger unternehmerischer Freiheit geprägte Modellstädte gelten als Weiterentwicklung der seit den 1990er Jahren weltweit bekannten Sonderwirtschaftszonen.

In seinem neuen Buch „Privatstädte“ beschreibt der Soziologe und Publizist Andreas Kemper detailliert, wie sogenannte Libertarians oder Anarchokapitalisten nun den nächsten Schritt gehen und die ideologische Begründung für „freie Privatstädte“ und deren praktische Errichtung vorantreiben. Deren Vorhaben, so der Autor, werde mit dem Argument legitimiert, dass die Beschneidung des Eigentums an Produktionsmitteln durch Demokratie und Gerechtigkeitspostulate die gesellschaftliche Stabilität gefährden würde.

Da es aber letztlich auch hier darum gehe, in abgegrenzten räumlichen Gebieten, die nur der Marktlogik unterworfen sind, dem Schutz von Investoren bzw. Kapitaleignern höchste Priorität einzuräumen und zugleich jegliche sozialstaatlichen Leistungen abzuschaffen, spricht Kemper in Anlehnung an den französischen Ökonomen Thomas Piketty von einem „Enklaven-Proprietarismus“. Gemeint ist eine Ideologie, „die das Recht von Eigentümer*innen, ihre Produktionsmittel zu besitzen und möglichst uneingeschränkt zu nutzen, als wichtiger erachtet als alle anderen Rechte“ (Seite 141f.). Die Strategie, Privatstädte zu errichten, bezeichnet der Autor als „Privarismus“ (von lat. privare: rauben) (Seite 8). Denn das Ziel sei es, den Bewohner dieser Städte ihre Rechte wegzunehmen und so einen von demokratischen Verfahren losgelösten Kapitalismus durchzusetzen (ohne Gewerkschaften, allgemeine Wahlen usw.).

Der Autor gliedert seine Darstellung in zwei Teile: Im ersten erläutert er die Ideologie und die Netzwerke der Privatstadt-Bewegung, im zweiten geht er auf die Entwicklung einzelner konkreter Projekte ein. Dabei liegt der Fokus auf Honduras, einem der ärmsten Länder Lateinamerikas. Nach einem rechten Putsch im Jahr 2009 öffnete sich der Staat für die Einrichtung einer von seinem Rechtssystem abgekoppelten Charter City unter der Schirmherrschaft eines reichen westlichen Landes. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland vom 10. Mai 2022 erläuterte Kemper, die Vorstellung sei gewesen, dass die neue Stadt als eine Art Leuchtturm auf den Rest des Landes abstrahlen sollte. Unter dem Einfluss der globalen proprietaristischen Netzwerke hätte sich das Projekt jedoch radikalisiert, so dass bald die Gründung einer Stadt ohne jegliche staatliche Beteiligung und unter rein privatwirtschaftlicher Verwaltung ins Auge gefasst worden sei.

Diese erste Phase endete jedoch 2012, als der dortige Oberste Gerichtshof das Vorhaben als verfassungswidrig einstufte. Diese Niederlage, so Kemper, leitete jedoch eine erfolgreiche zweite Phase der Entwicklung von Privatstädten ein, die bis heute andauere. Im Jahr 2013 wurde die gesetzliche Grundlage für „Sonderzonen für Beschäftigung und Entwicklung“ (Zona de empleo y desarrollo económico – ZEDE) geschaffen, um die Modellstädte zu ermöglichen. Die honduranische Regierung ernannte im Jahr darauf einen international besetzten Aufsichtsrat für die ZEDEs, der klar von Mitgliedern proprietaristischer Netzwerke dominiert wurde. Im Jahr 2020 erfolgte der Startschuss für die Sonderzone Próspera auf der honduranischen Insel Roatán.

Kemper illustriert an diesem Beispiel die Demokratiefeindlichkeit der Privatstadt-Pläne. So sei in Próspera „eine Form von Ständedemokratie“ vorgesehen (Seite 100). Nur drei von neun Mitgliedern des für die Verwaltung zuständigen Gremiums sollen von den Bewohnern gewählt werden, die Mehrzahl der Stimmen soll den Land- und Grundbesitzern vorbehalten bleiben. In anderen ZEDEs scheint gar kein Wahlrecht geplant zu sein.*

Kemper geht auch auf die Verbindungen des Proprietarismus mit deutschen Akteuren und Institutionen ein. So trat der deutsche Unternehmer Titus Gebel, einer der Vordenker der Bewegung, im April 2019 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des Landes Hessen und des Verlags DIE ZEIT auf. Bei der „5. Jahrestagung Öffentliches Bauen“ durfte er den Eröffnungsvortrag halten und über seine Vorstellung von „Freien Privatstädten“ sprechen. Auch wird er mit den Worten zitiert: „Wenn Sie einen Sicherheitsdienstleister haben und sich sonst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern können – wozu brauchen Sie dann noch Demokratie?“ (Seite 86) Verschiedene Universitäten trugen ebenfalls zur Propagierung des Privatstädte-Konzepts bei. Die TUM international GmbH, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Technischen Universität München, organisierte zum Beispiel im Jahr 2019 eine Investorenkonferenz zur Finanzierung des demokratiefreien Privatstadtprojekts auf der Insel Roatán.

Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass das international renommierte britische Architekturbüro Zaha Hadid Architects für das Próspera-Projekt Wohngebäude entwarf. Nicht ganz zufällig, denn der deutsche Architekt und Hochschullehrer Patrik Schumacher, Teilhaber des Büros in London, setzt sich konsequent für eine Radikalisierung des Neoliberalismus ein und hält Sozialwohnungen und Maßnahmen für billiges Wohnen „für schädliches Teufelszeug“, wie es in einem von Kemper wiedergegebenen Zitat heißt (Seite 95). Selbstredend hält er Datenschutz für völlig übertrieben, spricht sich gegen Arbeitsrechte aus und bezeichnet sich selbst als Sympathisant des Anarcho-Kapitalismus. Da aus dessen Sicht der Ausgleich von sozialen Unterschieden einen unzulässigen Eingriff ins Marktgeschehen darstellt, benötigt der Proprietarismus die Rassen- und Klassenbiologie zu seiner eigenen Rechtfertigung, wie Kemper schon zu Beginn seines Buches auf mehreren Seiten ausführt. Ein wichtiger Hinweis, weil der Autor damit auch die in Deutschland fortwirkende Relevanz der sogenannten Sarrazin-Debatte von vor über zehn Jahren unterstreicht.

Die von den Privatstädte-Propagandisten vorgetragene radikal individualistische Konzeption von Freiheit versteht der Autor letztlich als Ausdruck der Verachtung der Superreichen gegenüber den Armen der Welt. Sie wendet sich gegen jede Idee von Gemeinwohl und sozialen Grundrechten, setzt dagegen auf die langfristige Abschaffung aller bekannten demokratischen Standards. Bislang beziehen sich die Ideen für Privatstädte zwar auf Länder des globalen Südens, die Investitionen mit weitreichenden Konzessionen anlocken wollen. Aber aus diesen Enklaven könnte perspektivisch ein weltweites Netz aus Privatstädten entstehen. „Im Kleinen“ wird quasi unter Laborbedingungen erprobt, was zukünftig auch in Europa Raum greifen soll.

Andreas Kemper hat mit seinen akribisch zusammengetragenen Informationen ein deutliches Signal gesetzt, das eindrücklich vor dem bislang noch zu wenig beachteten „a-sozialen“ Treiben der selbsternannten Anarchokapitalisten warnt.

* Im April 2022 hat das Parlament von Honduras die Gesetze zur Schaffung von Investorenstädten jedoch rückgängig gemacht. Damit können nun keine neuen ZEDEs mehr errichtet werden. Allerdings scheinen die an den bereits existierenden Projekten beteiligten Investoren ihre Rechte umfassend durch Abkommen mit der honduranischen Regierung abgesichert zu haben. Bereits getätigte Investitionen im Próspera-Projekt beispielsweise sollen von der Entscheidung des Nationalkongresses über die Abschaffung der ZEDEs unberührt bleiben (vgl. Armin Rothemann: „Gegen rechtsfreie Ministaaten“, taz am 22. April 2022).

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus, Unrast-Verlag, Münster 2022, ISBN 978-3-897771-175-4, 184 Seiten, 14 Euro

 

Gute und schlechte Gewinne? Übergewinnsteuer und die Frage der Moral

Laut Bertelsmann-Stiftung empfinden fast drei Viertel der Menschen in Deutschland die sozialen Unterschiede als ungerecht, noch mehr zweifeln an der gerechten Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne im Land (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9. September 2022). Zudem ergab eine im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemachte repräsentative Umfrage, dass ein Energiepreisdeckel und eine Übergewinnsteuer derzeit hohe Zustimmungswerte erzielen – über alle Parteipräferenzen hinweg. Etwa 72 Prozent der Befragten hierzulande befürworten eine stärkere Besteuerung von Unternehmen, die von der Marktentwicklung in der gegenwärtigen Krise stark profitieren und satte Gewinne einfahren.

Die sogenannte Übergewinnsteuer scheint in weiten Teilen der Bevölkerung in gleichem Maße populär zu sein, wie die moralische Empörung über die „Krisen- und Kriegsgewinnler“ spürbar ist. Wohl auch um möglichen „Wutprotesten“ ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, kündigte deshalb die Bundesregierung Anfang September im dritten Entlastungspaket eine Reihe von Maßnahmen an. So will sie hohe Krisengewinne von Energieunternehmen abschöpfen, um mit den Einnahmen eine Begrenzung der Strompreise, das heißt einen günstigen „Basistarif“ für Privathaushalte sowie kleine und mittelständische Unternehmen finanzieren zu können.

Damit liegt die Ampelkoalition auf einer Linie mit der EU-Kommission, die bereits im März den Mitgliedsstaaten eine Leitlinie an die Hand gegeben hatte, wie sie solche „Zufallsgewinne“ abschöpfen und die Erlöse umverteilen könnte. Am 7. September schlug sie erneut vor, die Gewinne von Unternehmen ab einer gewissen Grenze mit einer Abgabe zu belegen. Die Initiativen von EU und Bundesregierung zielen dabei auf die Produzenten von Wind-, Sonnen- , aber auch Atomstrom, denen zurzeit Traumrenditen beschert werden, da der Strompreis am teuersten Energieträger Gas gekoppelt ist, ohne dass für sie die Kosten gestiegen wären. Nicht mehr im Fokus der Diskussion stehen dagegen die großen internationalen Energiekonzerne, die ihre Geschäfte mit fossilen Brennstoffen machen und wegen der drastisch gestiegenen Gas- und Ölpreise ebenfalls hohe Gewinne verzeichnen können. Die Idee, auch von ihnen einen „Solidaritätsbeitrag“ in Form einer Steuer einzufordern, ist bislang am Widerstand von Finanzminister Christian Lindner und der FDP gescheitert.

Politisch kontroverse Initiativen dieser Art erscheinen einem ökonomischen Laien kompliziert und unübersichtlich. Sie werden zusätzlich seit vielen Wochen von einer nicht minder vielseitigen öffentlichen Debatte begleitet – bei der die Frage nach der rechtlichen Machbarkeit der Abschöpfung von „ungerechten“ Gewinnen überprüft, markttheoretische sowie verteilungspolitische Überlegungen angestellt und nicht zuletzt moralische Bewertungen vorgenommen werden. Fundierte Antworten dazu bietet eine im Sommer 2022 veröffentlichte Studie vom „Netzwerk Steuergerechtigkeit“, nach der in Deutschland bei Einführung einer Übergewinnsteuer für Unternehmen der Gas-, Öl- und Strombranche Einnahmen in Höhe von 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr möglich sind. Dem Zweifel, ob die Politik die Mittel dazu hat, die Abschöpfung der Übergewinne rechtssicher umzusetzen, entgegnet die Studie mit Verweis auf Veröffentlichungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestag, der eine solche Maßnahme für juristisch umsetzbar hält.

Auch dem besonders in der wirtschaftsliberalen Presse vorgebrachten Vorwurf, eine Übergewinnsteuer würde die marktwirtschaftliche Ordnung und das Vertrauen in das Steuersystem gefährden, parieren die Autoren der Studie: „Das Argument ist vor allem eine ideologische Verteidigung des Status Quo. In Zeiten eines Wirtschaftskrieges ist die Übergewinnsteuer möglicherweise sogar nötig, um das Vertrauen der Bürger in das Steuersystem und das politische System aufrecht zu erhalten.“ (Seite 18) Der Journalist und Jurist Heribert Prantl hält eine Abschöpfung der Krisengewinne ebenfalls für verfassungskonform, ihre Nichtabschöpfung dagegen für „obszön“ (Süddeutsche Zeitung vom 3./4.September 2022).

Einer seiner Kollegen von der Süddeutschen Zeitung, Nikolaus Pieper, hält dagegen die Absicht der Regierung, zwischen guten und schlechten Gewinnen unterscheiden zu wollen, für „anmaßend“ (Süddeutsche Zeitung vom 6. September 2022). Damit assistiert er Clemens Fuest vom Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo), der den Befürwortern einer Übergewinnsteuer entgegenhält, es sei nicht sinnvoll, Sondersteuern zu erheben, da die Meinungen darüber, welche Geschäfte moralisch mehr oder weniger wertvoll seien, voneinander abwichen. Das aktuelle Gerechtigkeitsempfinden oder die besonderen Interessen einzelner Politiker, Parteien oder öffentliche Stimmungen dürften für die Besteuerung nicht maßgeblich sein. Nur die Gleichbehandlung aller Steuerzahler schütze vor ungerechter Belastung und Willkür (vgl. Handelsblatt vom 9. Juni 2022).

Die gesamte FDP-Riege sperrt sich gegen die Übergewinnsteuer. Im ZDF-Talk „Markus Lanz“ beharrte das Mitglied des Bundesvorstands der Partei, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, darauf, dass es in Krisen immer Unternehmen geben werde, die plötzlich viel verdienten. Es gäbe schlicht keinen Übergewinn, so die Wirtschaftsliberale, sondern nur einen Gewinn. Damit zeigt sie Kante und kontert der allgemeinen Stimmungslage im Lande – und wundert sich nicht ganz zu Unrecht über die kritischen Stimmen, denn sie bekennt sich lediglich zu einer Grundregel des kapitalistischen Marktsystems. Denn wer Marktgewinne von Unternehmen, die zu wirtschaftlichen Nachteilen oder Notsituationen bei anderen Marktteilnehmern führen – ob Firmen oder Einzelpersonen – als unmoralisch oder ungerecht bewertet, muss zwingend das dem Missstand zugrundeliegende ökonomische System abschaffen wollen. Das System beruht schließlich auf Mechanismen, die Ungleichheiten voraussetzen und zugleich permanent erzeugen.

„Das wird ganz besonders deutlich im Zusammenhang mit der so genannten Globalisierung,“ so der Jurist Thomas Fischer im Rechtsmagazin Legal Tribune Online, „weil aufgrund der gravierenden Ungleichzeitigkeiten der Entwicklungen sich Gewinne erzielen lassen, die innerhalb entwickelter nationaler oder beschränkter Märkte nicht möglich wären. Karl Marx würde sagen: Der ‚Surplus-Profit‘ ist das Alpha und das Omega des rational handelnden Kapitalisten.“ Um dessen wirtschaftliches Handeln mit seinen unsozialen Folgen zumindest einzuschränken, sollte vor allem auf Instrumente zurückgegriffen werden, die verfassungsgemäß sind und für die die schwierige Unterscheidung von „schlechten übermäßigen“ und „guten normalen“ Gewinnen überflüssig ist.

Nichts spricht gegen die Einführung von Übergewinnsteuern, wie sie andere Länder bereits eingeführt oder beschlossen haben. Die weitgehend fehlende gesellschaftliche Legitimation von sogenannten Krisengewinnen sollte aber genutzt werden, Forderungen und Überlegungen aufzugreifen, die über die aktuelle Debatte hinausgehen. Dazu gehört es zum Beispiel, die Preissetzungsmacht monopolistisch auftretender Energiekonzerne in den Fokus zu nehmen (Forderung nach Entflechtung und Vergesellschaftung), das Steuersystem mit Blick auf die extremen sozialen Ungleichheiten umfassend zu überprüfen (inklusive der wirtschaftskriminellen Machenschaften) und die historisch immer wieder aufflammende Diskussion über die Demokratisierung der Wirtschaft zu fördern.

Quellen:

Mario Candeias/Eva Völpel/Uwe Witt: „Mehrheit für Energiepreisdeckel und Übergewinnsteuer. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung“. Hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, September 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46961/mehrheit-fuer-energiepreisdeckel-und-uebergewinnsteuer

Thomas Fischer: „Sollte der Staat ‚Über‘- und ‚Zufallsgewinne‘ abschöpfen?“, 5. September 2022, LTO – Legal Tribune Online
https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/fragen-an-fischer-uebergewinn-steuer-zufallsgewinn-abschoepfung-wucher/

Christoph Trautvetter/David Kern-Fehrenbach: „Kriegsgewinne besteuern: Ein Beitrag zur Debatte um Übergewinnsteuern“. Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Sriftung, Berlin, August 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46854/uebergewinnsteuer

Literaturtipp:

Christoph Trautvetter/Yannick Schwarz: Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2021. Hrsg. vom Netzwerk Steuergerechtigkeit, Berlin, August 2021
https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/jahrbuch2021/