Ausgebeutete Arbeiter und Fußballmillionäre – über die WM in Katar

Vom 21. November bis zum 18. Dezember 2022 findet die Fußball-WM in Katar statt. Die Kritik an der Vergabe dieses Turniers war nie so laut wie in diesem Fall.

Unter dem Titel „Reclaim the Game“ führte in den letzten Wochen eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte Veranstaltungsreihe mehrere Gäste aus Nepal und Kenia in neun deutsche Städte, um dort von ihren Erfahrungen als migrantische Arbeiter in dem Emirat zu berichten. Die Tour wurde am 29. September in Berlin abgeschlossen. Das Neue Deutschland (ND) gibt die Eindrücke eines Kenianers wieder, der mehrere Jahre als Wachmann in Katar gearbeitet hat:

„‚Als migrantischer Arbeiter in Katar hast du selbst keinen Einfluss darauf, ob du Überstunden machst, ob die überhaupt bezahlt werden, ob du den vertraglich zugesicherten freien Tag in der Woche nehmen kannst oder nicht. Du wohnst in einem Zimmer mit sechs, acht, zehn, manchmal zwölf anderen zusammen. Die Wände sind feucht, in den Betten haust Ungeziefer. Raus kannst du kaum. Und sich zu erholen, ist schwer, wenn der eine gerade Musik aus seinen Boxen hört, der nächste telefoniert und ein anderer Fernsehen guckt‘. (…) Am schlimmsten aber seien die juristischen Auswirkungen des Kafala-Arbeitssystems, das trotz zweier größerer Reformansätze 2015 und 2020 noch immer herrsche. ‚Du hast keine Freiheit, dir einen anderen Job zu suchen, du hast keine Bewegungsfreiheit, denn dein Arbeitgeber schreibt dir vor, wo du wohnst. Es gibt keine Redefreiheit und du hast nicht einmal das Recht, dich zu organisieren‘, kritisiert er.“

Ein nepalesischer Arbeiter, Krishna Shrestha, einer der Gründer der Gewerkschaftsorganisation Migrant Workers Network, bestätigt nach Angaben des ND die Probleme:

„Er erkennt aber auch an, dass sich aufgrund des internationalen Drucks seit Vergabe der WM an Katar einiges geändert hat. ‚Die Reform 2015 führte dazu, dass man keine Ausreisevisa vom Arbeitgeber mehr braucht, um das Land zu verlassen. Die von 2020 führte einen Mindestlohn ein. Das hilft vielen Arbeitern‘, sagte er. Zugleich kritisierte er, dass viele Gesetze nicht umfassend oder sogar überhaupt nicht umgesetzt würden: ‚Wenn sich Arbeiter über ausbleibende Löhne beschweren, haben sie nur selten Erfolg. Zuletzt wurden sogar 60 in ihre Heimatländer Nepal und Bangladesch deportiert, weil sie öffentlich ihre Löhne eingefordert hatten.‘“

Shrestha erwartet, dass die an der WM teilnehmenden Profifußballer und deren Fans weiter Druck ausüben: Auf die Regierungen, die Verbände und auch die Klubs, damit die sich ihrerseits für die Verbesserung der Lage der Arbeitenden in Katar einsetzen. Auch fordert er einen Entschädigungsfonds des Fußballweltverbands Fifa zugunsten der Angehörigen von auf den Baustellen umgekommenen Arbeitern.

Sportredakteur Thomas Kistner schreibt in der Süddeutschen Zeitung:

„Seit dem WM-Zuschlag 2010 wird das Emirat – unter anderem – der Ausbeutung seiner Migranten bezichtigt. Fast 90 Prozent der 2,5 Millionen Einwohner sind Ausländer, meist aus ärmeren Ländern wie Nepal, Indien, Bangladesch. Die Hälfte schuftet auf hitzeflirrenden Baustellen, viele im Kontext der WM, nicht selten unter eher sklavenartigen Bedingungen. Offiziell abgeschafft wurde das Beschäftigungssystem Kafala, das Arbeitgeber entscheiden ließ, ob Bedienstete das Land verlassen durften. Und eingeführt wurde ein monatlicher Mindestlohn, 275 Euro. Dass dieser nicht reibungslos umgesetzt ist, zeigen aber die jüngsten Unruhen.“ (Vgl. die Aussage des Gewerkschafters Krishna Shrestha)

Ungeachtet dessen werben unter anderem ehemalige Fußballstars wie Lothar Matthäus oder der Brite David Beckham für den Austragungsort in der Wüste. Noch einmal Thomas Kistner:

„Beckham besingt Katar in einem aufwändigen Werbefilm sogar als den Ort der ‚Perfektion‘, wo ein Mix ‚aus Moderne und Tradition‘ einfach Großartiges erschaffen habe. Er könne es kaum erwarten, ‚meine Kinder dorthin zu bringen‘ (…) Wie man auf die Idee kommt, ausgerechnet dieser WM als globales Werbegesicht zu dienen, unter Ausblendung fast aller Realitäten? Nun, der oberste Katar-Fan Beckham soll für ein Zehnjahres-Engagement laut Medienberichten in England bis zu 180 Millionen Euro kassieren.“

Quellen:

Tom Mustroph: „Macht weiter Druck!“, Neues Deutschland vom 30. September 2022
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1167341.fussball-wm-in-katar-macht-weiter-druck.html?sstr=katar

Thomas Kistner: „Frohe Botschafter“, Süddeutsche Zeitung vom 21. September 2021
https://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-wm-katar-beckham-matthaeus-werbung-kritik-1.5660766?reduced=true

Tipps:

„Foulspiel mit System. Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können“, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, November 2021
https://www.rosalux.de/publikation/id/45369/foulspiel-mit-system

Webseite der Aktion „Boycott Quatar“:
https://www.boycott-qatar.de/

Totaler Kapitalismus

Bereits im Jahr 2015 erschien in BIG Business Crime ein Artikel, der sich mit damals aktuellen Utopien libertärer Vordenker auseinandersetzte (BIG Nr. 2/2015). Im März 2021 berichtete BIG dann über Pläne des US-Bundesstaats Nevada, auf seinem Territorium sogenannte Innovationszonen einzurichten, in denen ohne demokratische Legitimation ganze Städte neu aufgebaut und investierenden Unternehmen die staatlichen Hoheitsrechte übertragen werden sollen (Justiz, Polizei, Schulen). Schon in den 2000er Jahren kursierte die Idee, in „Entwicklungsländern“ staatenlose Enklaven zu bilden, für deren Rechtssicherheit und Verwaltung westliche Partnerländer zu sorgen hätten („Charter Cities“). Solche von vollständiger unternehmerischer Freiheit geprägte Modellstädte gelten als Weiterentwicklung der seit den 1990er Jahren weltweit bekannten Sonderwirtschaftszonen.

In seinem neuen Buch „Privatstädte“ beschreibt der Soziologe und Publizist Andreas Kemper detailliert, wie sogenannte Libertarians oder Anarchokapitalisten nun den nächsten Schritt gehen und die ideologische Begründung für „freie Privatstädte“ und deren praktische Errichtung vorantreiben. Deren Vorhaben, so der Autor, werde mit dem Argument legitimiert, dass die Beschneidung des Eigentums an Produktionsmitteln durch Demokratie und Gerechtigkeitspostulate die gesellschaftliche Stabilität gefährden würde.

Da es aber letztlich auch hier darum gehe, in abgegrenzten räumlichen Gebieten, die nur der Marktlogik unterworfen sind, dem Schutz von Investoren bzw. Kapitaleignern höchste Priorität einzuräumen und zugleich jegliche sozialstaatlichen Leistungen abzuschaffen, spricht Kemper in Anlehnung an den französischen Ökonomen Thomas Piketty von einem „Enklaven-Proprietarismus“. Gemeint ist eine Ideologie, „die das Recht von Eigentümer*innen, ihre Produktionsmittel zu besitzen und möglichst uneingeschränkt zu nutzen, als wichtiger erachtet als alle anderen Rechte“ (Seite 141f.). Die Strategie, Privatstädte zu errichten, bezeichnet der Autor als „Privarismus“ (von lat. privare: rauben) (Seite 8). Denn das Ziel sei es, den Bewohner dieser Städte ihre Rechte wegzunehmen und so einen von demokratischen Verfahren losgelösten Kapitalismus durchzusetzen (ohne Gewerkschaften, allgemeine Wahlen usw.).

Der Autor gliedert seine Darstellung in zwei Teile: Im ersten erläutert er die Ideologie und die Netzwerke der Privatstadt-Bewegung, im zweiten geht er auf die Entwicklung einzelner konkreter Projekte ein. Dabei liegt der Fokus auf Honduras, einem der ärmsten Länder Lateinamerikas. Nach einem rechten Putsch im Jahr 2009 öffnete sich der Staat für die Einrichtung einer von seinem Rechtssystem abgekoppelten Charter City unter der Schirmherrschaft eines reichen westlichen Landes. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland vom 10. Mai 2022 erläuterte Kemper, die Vorstellung sei gewesen, dass die neue Stadt als eine Art Leuchtturm auf den Rest des Landes abstrahlen sollte. Unter dem Einfluss der globalen proprietaristischen Netzwerke hätte sich das Projekt jedoch radikalisiert, so dass bald die Gründung einer Stadt ohne jegliche staatliche Beteiligung und unter rein privatwirtschaftlicher Verwaltung ins Auge gefasst worden sei.

Diese erste Phase endete jedoch 2012, als der dortige Oberste Gerichtshof das Vorhaben als verfassungswidrig einstufte. Diese Niederlage, so Kemper, leitete jedoch eine erfolgreiche zweite Phase der Entwicklung von Privatstädten ein, die bis heute andauere. Im Jahr 2013 wurde die gesetzliche Grundlage für „Sonderzonen für Beschäftigung und Entwicklung“ (Zona de empleo y desarrollo económico – ZEDE) geschaffen, um die Modellstädte zu ermöglichen. Die honduranische Regierung ernannte im Jahr darauf einen international besetzten Aufsichtsrat für die ZEDEs, der klar von Mitgliedern proprietaristischer Netzwerke dominiert wurde. Im Jahr 2020 erfolgte der Startschuss für die Sonderzone Próspera auf der honduranischen Insel Roatán.

Kemper illustriert an diesem Beispiel die Demokratiefeindlichkeit der Privatstadt-Pläne. So sei in Próspera „eine Form von Ständedemokratie“ vorgesehen (Seite 100). Nur drei von neun Mitgliedern des für die Verwaltung zuständigen Gremiums sollen von den Bewohnern gewählt werden, die Mehrzahl der Stimmen soll den Land- und Grundbesitzern vorbehalten bleiben. In anderen ZEDEs scheint gar kein Wahlrecht geplant zu sein.*

Kemper geht auch auf die Verbindungen des Proprietarismus mit deutschen Akteuren und Institutionen ein. So trat der deutsche Unternehmer Titus Gebel, einer der Vordenker der Bewegung, im April 2019 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des Landes Hessen und des Verlags DIE ZEIT auf. Bei der „5. Jahrestagung Öffentliches Bauen“ durfte er den Eröffnungsvortrag halten und über seine Vorstellung von „Freien Privatstädten“ sprechen. Auch wird er mit den Worten zitiert: „Wenn Sie einen Sicherheitsdienstleister haben und sich sonst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern können – wozu brauchen Sie dann noch Demokratie?“ (Seite 86) Verschiedene Universitäten trugen ebenfalls zur Propagierung des Privatstädte-Konzepts bei. Die TUM international GmbH, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Technischen Universität München, organisierte zum Beispiel im Jahr 2019 eine Investorenkonferenz zur Finanzierung des demokratiefreien Privatstadtprojekts auf der Insel Roatán.

Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass das international renommierte britische Architekturbüro Zaha Hadid Architects für das Próspera-Projekt Wohngebäude entwarf. Nicht ganz zufällig, denn der deutsche Architekt und Hochschullehrer Patrik Schumacher, Teilhaber des Büros in London, setzt sich konsequent für eine Radikalisierung des Neoliberalismus ein und hält Sozialwohnungen und Maßnahmen für billiges Wohnen „für schädliches Teufelszeug“, wie es in einem von Kemper wiedergegebenen Zitat heißt (Seite 95). Selbstredend hält er Datenschutz für völlig übertrieben, spricht sich gegen Arbeitsrechte aus und bezeichnet sich selbst als Sympathisant des Anarcho-Kapitalismus. Da aus dessen Sicht der Ausgleich von sozialen Unterschieden einen unzulässigen Eingriff ins Marktgeschehen darstellt, benötigt der Proprietarismus die Rassen- und Klassenbiologie zu seiner eigenen Rechtfertigung, wie Kemper schon zu Beginn seines Buches auf mehreren Seiten ausführt. Ein wichtiger Hinweis, weil der Autor damit auch die in Deutschland fortwirkende Relevanz der sogenannten Sarrazin-Debatte von vor über zehn Jahren unterstreicht.

Die von den Privatstädte-Propagandisten vorgetragene radikal individualistische Konzeption von Freiheit versteht der Autor letztlich als Ausdruck der Verachtung der Superreichen gegenüber den Armen der Welt. Sie wendet sich gegen jede Idee von Gemeinwohl und sozialen Grundrechten, setzt dagegen auf die langfristige Abschaffung aller bekannten demokratischen Standards. Bislang beziehen sich die Ideen für Privatstädte zwar auf Länder des globalen Südens, die Investitionen mit weitreichenden Konzessionen anlocken wollen. Aber aus diesen Enklaven könnte perspektivisch ein weltweites Netz aus Privatstädten entstehen. „Im Kleinen“ wird quasi unter Laborbedingungen erprobt, was zukünftig auch in Europa Raum greifen soll.

Andreas Kemper hat mit seinen akribisch zusammengetragenen Informationen ein deutliches Signal gesetzt, das eindrücklich vor dem bislang noch zu wenig beachteten „a-sozialen“ Treiben der selbsternannten Anarchokapitalisten warnt.

* Im April 2022 hat das Parlament von Honduras die Gesetze zur Schaffung von Investorenstädten jedoch rückgängig gemacht. Damit können nun keine neuen ZEDEs mehr errichtet werden. Allerdings scheinen die an den bereits existierenden Projekten beteiligten Investoren ihre Rechte umfassend durch Abkommen mit der honduranischen Regierung abgesichert zu haben. Bereits getätigte Investitionen im Próspera-Projekt beispielsweise sollen von der Entscheidung des Nationalkongresses über die Abschaffung der ZEDEs unberührt bleiben (vgl. Armin Rothemann: „Gegen rechtsfreie Ministaaten“, taz am 22. April 2022).

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus, Unrast-Verlag, Münster 2022, ISBN 978-3-897771-175-4, 184 Seiten, 14 Euro

 

Gute und schlechte Gewinne? Übergewinnsteuer und die Frage der Moral

Laut Bertelsmann-Stiftung empfinden fast drei Viertel der Menschen in Deutschland die sozialen Unterschiede als ungerecht, noch mehr zweifeln an der gerechten Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne im Land (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9. September 2022). Zudem ergab eine im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemachte repräsentative Umfrage, dass ein Energiepreisdeckel und eine Übergewinnsteuer derzeit hohe Zustimmungswerte erzielen – über alle Parteipräferenzen hinweg. Etwa 72 Prozent der Befragten hierzulande befürworten eine stärkere Besteuerung von Unternehmen, die von der Marktentwicklung in der gegenwärtigen Krise stark profitieren und satte Gewinne einfahren.

Die sogenannte Übergewinnsteuer scheint in weiten Teilen der Bevölkerung in gleichem Maße populär zu sein, wie die moralische Empörung über die „Krisen- und Kriegsgewinnler“ spürbar ist. Wohl auch um möglichen „Wutprotesten“ ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, kündigte deshalb die Bundesregierung Anfang September im dritten Entlastungspaket eine Reihe von Maßnahmen an. So will sie hohe Krisengewinne von Energieunternehmen abschöpfen, um mit den Einnahmen eine Begrenzung der Strompreise, das heißt einen günstigen „Basistarif“ für Privathaushalte sowie kleine und mittelständische Unternehmen finanzieren zu können.

Damit liegt die Ampelkoalition auf einer Linie mit der EU-Kommission, die bereits im März den Mitgliedsstaaten eine Leitlinie an die Hand gegeben hatte, wie sie solche „Zufallsgewinne“ abschöpfen und die Erlöse umverteilen könnte. Am 7. September schlug sie erneut vor, die Gewinne von Unternehmen ab einer gewissen Grenze mit einer Abgabe zu belegen. Die Initiativen von EU und Bundesregierung zielen dabei auf die Produzenten von Wind-, Sonnen- , aber auch Atomstrom, denen zurzeit Traumrenditen beschert werden, da der Strompreis am teuersten Energieträger Gas gekoppelt ist, ohne dass für sie die Kosten gestiegen wären. Nicht mehr im Fokus der Diskussion stehen dagegen die großen internationalen Energiekonzerne, die ihre Geschäfte mit fossilen Brennstoffen machen und wegen der drastisch gestiegenen Gas- und Ölpreise ebenfalls hohe Gewinne verzeichnen können. Die Idee, auch von ihnen einen „Solidaritätsbeitrag“ in Form einer Steuer einzufordern, ist bislang am Widerstand von Finanzminister Christian Lindner und der FDP gescheitert.

Politisch kontroverse Initiativen dieser Art erscheinen einem ökonomischen Laien kompliziert und unübersichtlich. Sie werden zusätzlich seit vielen Wochen von einer nicht minder vielseitigen öffentlichen Debatte begleitet – bei der die Frage nach der rechtlichen Machbarkeit der Abschöpfung von „ungerechten“ Gewinnen überprüft, markttheoretische sowie verteilungspolitische Überlegungen angestellt und nicht zuletzt moralische Bewertungen vorgenommen werden. Fundierte Antworten dazu bietet eine im Sommer 2022 veröffentlichte Studie vom „Netzwerk Steuergerechtigkeit“, nach der in Deutschland bei Einführung einer Übergewinnsteuer für Unternehmen der Gas-, Öl- und Strombranche Einnahmen in Höhe von 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr möglich sind. Dem Zweifel, ob die Politik die Mittel dazu hat, die Abschöpfung der Übergewinne rechtssicher umzusetzen, entgegnet die Studie mit Verweis auf Veröffentlichungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestag, der eine solche Maßnahme für juristisch umsetzbar hält.

Auch dem besonders in der wirtschaftsliberalen Presse vorgebrachten Vorwurf, eine Übergewinnsteuer würde die marktwirtschaftliche Ordnung und das Vertrauen in das Steuersystem gefährden, parieren die Autoren der Studie: „Das Argument ist vor allem eine ideologische Verteidigung des Status Quo. In Zeiten eines Wirtschaftskrieges ist die Übergewinnsteuer möglicherweise sogar nötig, um das Vertrauen der Bürger in das Steuersystem und das politische System aufrecht zu erhalten.“ (Seite 18) Der Journalist und Jurist Heribert Prantl hält eine Abschöpfung der Krisengewinne ebenfalls für verfassungskonform, ihre Nichtabschöpfung dagegen für „obszön“ (Süddeutsche Zeitung vom 3./4.September 2022).

Einer seiner Kollegen von der Süddeutschen Zeitung, Nikolaus Pieper, hält dagegen die Absicht der Regierung, zwischen guten und schlechten Gewinnen unterscheiden zu wollen, für „anmaßend“ (Süddeutsche Zeitung vom 6. September 2022). Damit assistiert er Clemens Fuest vom Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo), der den Befürwortern einer Übergewinnsteuer entgegenhält, es sei nicht sinnvoll, Sondersteuern zu erheben, da die Meinungen darüber, welche Geschäfte moralisch mehr oder weniger wertvoll seien, voneinander abwichen. Das aktuelle Gerechtigkeitsempfinden oder die besonderen Interessen einzelner Politiker, Parteien oder öffentliche Stimmungen dürften für die Besteuerung nicht maßgeblich sein. Nur die Gleichbehandlung aller Steuerzahler schütze vor ungerechter Belastung und Willkür (vgl. Handelsblatt vom 9. Juni 2022).

Die gesamte FDP-Riege sperrt sich gegen die Übergewinnsteuer. Im ZDF-Talk „Markus Lanz“ beharrte das Mitglied des Bundesvorstands der Partei, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, darauf, dass es in Krisen immer Unternehmen geben werde, die plötzlich viel verdienten. Es gäbe schlicht keinen Übergewinn, so die Wirtschaftsliberale, sondern nur einen Gewinn. Damit zeigt sie Kante und kontert der allgemeinen Stimmungslage im Lande – und wundert sich nicht ganz zu Unrecht über die kritischen Stimmen, denn sie bekennt sich lediglich zu einer Grundregel des kapitalistischen Marktsystems. Denn wer Marktgewinne von Unternehmen, die zu wirtschaftlichen Nachteilen oder Notsituationen bei anderen Marktteilnehmern führen – ob Firmen oder Einzelpersonen – als unmoralisch oder ungerecht bewertet, muss zwingend das dem Missstand zugrundeliegende ökonomische System abschaffen wollen. Das System beruht schließlich auf Mechanismen, die Ungleichheiten voraussetzen und zugleich permanent erzeugen.

„Das wird ganz besonders deutlich im Zusammenhang mit der so genannten Globalisierung,“ so der Jurist Thomas Fischer im Rechtsmagazin Legal Tribune Online, „weil aufgrund der gravierenden Ungleichzeitigkeiten der Entwicklungen sich Gewinne erzielen lassen, die innerhalb entwickelter nationaler oder beschränkter Märkte nicht möglich wären. Karl Marx würde sagen: Der ‚Surplus-Profit‘ ist das Alpha und das Omega des rational handelnden Kapitalisten.“ Um dessen wirtschaftliches Handeln mit seinen unsozialen Folgen zumindest einzuschränken, sollte vor allem auf Instrumente zurückgegriffen werden, die verfassungsgemäß sind und für die die schwierige Unterscheidung von „schlechten übermäßigen“ und „guten normalen“ Gewinnen überflüssig ist.

Nichts spricht gegen die Einführung von Übergewinnsteuern, wie sie andere Länder bereits eingeführt oder beschlossen haben. Die weitgehend fehlende gesellschaftliche Legitimation von sogenannten Krisengewinnen sollte aber genutzt werden, Forderungen und Überlegungen aufzugreifen, die über die aktuelle Debatte hinausgehen. Dazu gehört es zum Beispiel, die Preissetzungsmacht monopolistisch auftretender Energiekonzerne in den Fokus zu nehmen (Forderung nach Entflechtung und Vergesellschaftung), das Steuersystem mit Blick auf die extremen sozialen Ungleichheiten umfassend zu überprüfen (inklusive der wirtschaftskriminellen Machenschaften) und die historisch immer wieder aufflammende Diskussion über die Demokratisierung der Wirtschaft zu fördern.

Quellen:

Mario Candeias/Eva Völpel/Uwe Witt: „Mehrheit für Energiepreisdeckel und Übergewinnsteuer. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung“. Hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, September 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46961/mehrheit-fuer-energiepreisdeckel-und-uebergewinnsteuer

Thomas Fischer: „Sollte der Staat ‚Über‘- und ‚Zufallsgewinne‘ abschöpfen?“, 5. September 2022, LTO – Legal Tribune Online
https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/fragen-an-fischer-uebergewinn-steuer-zufallsgewinn-abschoepfung-wucher/

Christoph Trautvetter/David Kern-Fehrenbach: „Kriegsgewinne besteuern: Ein Beitrag zur Debatte um Übergewinnsteuern“. Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Sriftung, Berlin, August 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46854/uebergewinnsteuer

Literaturtipp:

Christoph Trautvetter/Yannick Schwarz: Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2021. Hrsg. vom Netzwerk Steuergerechtigkeit, Berlin, August 2021
https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/jahrbuch2021/

Verlorener Krieg

Ein Jahr nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan erschienen in der Presse Artikel, die die Ursachen des Debakels der westlichen Interventionsstreitkräfte nicht mehr beschönigen. So unter dem Titel „Der verlorene Krieg“ ein Beitrag von Peter Carstens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. August 2022. Sein bitteres Fazit: „Nach zwei Jahrzehnten am Hindukusch kannte der Westen weder seine Kriegsgegner noch seine afghanischen Verbündeten“. Wie konnte dies auch anders sein, wenn von vornherein mit dem Geldkoffer gearbeitet wurde, um sich Bündnispartner und Vasallen unter den afghanischen Stammesfürsten und Warlords des seit Jahrzehnten laufenden Bürgerkriegs  einzukaufen.

Der andere, noch gravierendere Irrtum: Dass es gelingen könnte, eine Modernisierung nach westlichem Muster mit gewaltsamen Mitteln in diesem Land zu erzwingen. Als sich 1978 die kommunistische Partei Afghanistans, die vor allem in der städtischen Elite und im Militär verankert war, an die Macht geputscht hatte, führte die ZEIT ein Interview mit dem neuen Ministerpräsidenten Nur Muhammad Taraki. Auf die Frage, was seine Regierung zu unternehmen gedenke, wenn sich die Mullahs auf dem Land dagegen wehren würden, dass für Mädchen eine Schulbildung eingeführt werden soll, antwortete er: „Dann muss eben Blut fließen“. Da war eigentlich schon klar, dass es so kaum etwas werden konnte mit dem sozialen Fortschritt in Afghanistan. 

Das Blutvergießen begann und ging weiter, mit der Assistenz äußerer Mächte. Zunächst scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, ihren Bündnispartnern in Kabul den Machterhalt in der Auseinandersetzung mit widerstrebenden Kräften zu sichern. Der  US-Oberstratege Brzezinski freute sich darüber, dass sie in die Falle gegangen war und nun ihr „Vietnam“ erlebte. Aber die USA und ihre Verbündeten wurden nicht schlauer daraus und handelten nicht klüger. Im „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 war Afghanistan das erste Ziel. Viel Kenntnis über das Land und eine konsistente Strategie, wie mit ihm umgegangen werden sollte, gab es nicht.

Der kolonialistische Blick der westlichen Interventen war quasi auf das Bakschisch als universelles Schmiermittel fixiert. So blühten der Opportunismus und die Korruption in Afghanistan wie die Mohnpflanzen auf den Feldern. Dazu kamen dann Luftangriffe von US-Kampfflugzeugen auf friedliche Hochzeitsgesellschaften, die aus der Höhe mit Ansammlungen von Taliban-Kämpfern verwechselt wurden. Und Kriegsverbrechen anderer Art, wie man von Afghan:innen im bundesrepublikanischen Exil hören kann. Sie werden nie einen Richter finden. Nur die Bundeswehr habe sich da nichts vorzuwerfen – sieht man einmal von Oberst Klein ab.

Zum Schluss kulminierten die Fehleinschätzungen. Auch den westlichen Geheimdiensten entging, dass die afghanische Armee und die Regierung in Kabul keineswegs bereit waren, gegen die Taliban weiterzukämpfen, nachdem feststand, dass die Truppen der USA und ihrer Verbündeten sich zurückziehen würden. Die Generäle und führenden Politiker Afghanistans hatten längst im Ausland ihr Schäfchen ins Trockene gebracht. Peter Carstens resümierte in seinem  Artikel:

„Die Korruption in der Armee war lange bekannt, unternommen wurde dagegen wenig. Das viele Geld, das der Westen in Afghanistan seit 2002 investiert hat, sei ‘nicht immer da angekommen, wo es ankommen sollte’, so der Diplomat Markus Potzel (bisher Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan – R.D.) überaus diplomatisch… Allein Amerika hatte 850 Milliarden Dollar für den Militäreinsatz ausgegeben und weitere 145 Milliarden für den zivilen Aufbau. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in den Jahren 2010/2011 steckte Washington jährlich um die 100 Milliarden Dollar in den Krieg. Und auch Deutschland gab insgesamt etwa 20 Milliarden Euro aus, den Großteil davon für das Militär und seine Helfer, die Ortskräfte. Diplomat Potzel meint: ‘Da hatten sich die afghanischen Eliten sehr gut eingerichtet und wir letzten Endes auch. Das war so eine Art Stillhalteabkommen.’ So blieb Afghanistan eines der korruptesten Länder der Erde und eines der größten Drogenanbaugebiete der Welt.“

Die vorgebrachte Begründung für den militärischen Einsatz in Afghanistan, es gehe darum, den Terror zu bekämpfen, Entwicklung zu ermöglichen, Brunnen zu bohren und Schulen zu bauen, enthüllt sich im Licht dieser Zahlen als schönfärberische Behauptung. Profitiert haben in erster Linie die westliche Rüstungsindustrie und einige Exportunternehmen, in zweiter Linie die korrupten afghanischen Politiker und Warlords, erst in dritter Linie Angehörige einer dünnen Mittelschicht in den afghanischen Städten sowie Frauen und Mädchen, die zur Schule und Universität gehen und Berufe ergreifen konnten, die ihnen vorher verschlossen waren. Besonders Letztgenannte sind nach dem Sieg der Taliban gefährdet und müssen um Leib und Leben fürchten, wenn sie in irgendeiner Form mit den westlichen Interventen zusammengearbeitet haben.

Die Armut und Verelendung im Land, die vorher schon endemisch war, wächst nun von Tag zu Tag. Dazu tragen verschärfte Sanktionen und das bisherige Einfrieren des afghanischen Staatsvermögens durch die USA bei.

Es ist ein Skandal, dass es keine grundsätzliche Debatte über den Afghanistaneinsatz gegeben hat und geben wird, in der geklärt werden könnte, welche Alternativen möglich gewesen wären und wieviel Sinnvolleres mit dem vielen aufgewandten Geld für eine nicht bevormundende Förderung der Zivilgesellschaft und für Projekte der Entwicklungshilfe in Afghanistan hätte getan werden können. Auch der Artikel von Peter Carstens enthielt dazu keinerlei Hinweise. Er beschränkte sich darauf, die schlechte Performance der Bundesregierung im Fall Afghanistan und die fehlende Ehrung der Veteranen des Afghanistankrieges zu kritisieren. Aber etwas anderes wäre ja von der FAZ auch nicht zu erwarten.

Neues zum Kampf gegen Geldwäsche

Zwei Jahre hatte die Financial Action Task Force (FATF) die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in Deutschland geprüft. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: In einem umfangreichen Bericht vom August 2022 stellt das wichtigste internationale Gremium gegen Geldwäsche fest, dass es trotz einzelner Fortschritte auch große Defizite beim Aufspüren und der Verfolgung vieler Fälle gibt. Schon vor Veröffentlichung der Studie ging deshalb Bundesfinanzminister Lindner in die Offensive und propagierte einen „Paradigmenwechsel“ beim Kampf gegen Finanzkriminalität. Vor allem soll laut „Eckpunktepapier“ des Ministeriums vom 23. August eine neue zentrale Bundesbehörde aufgebaut werden, um die bislang zersplitterten Kompetenzen zu bündeln – noch sind rund 300 Aufsichtsbehörden, vom Bund bis in die Kommunen, mit der Ermittlungsarbeit gegen die Finanzkriminalität betraut.

Laut FATF hätte es vor allem Erfolge bei den kleinen Fällen gegeben, Vollzugsbedarf dagegen beim Aufspüren der großen, international verzweigten Finanzkriminalität. Einen von mehreren Strängen der neuen Oberbehörde soll deshalb ein neues Bundesfinanzkriminalamt bilden, „das gezielt komplexe Fälle von illegalen Finanzflüssen aufklärt, sich auf den ‚follow-the-money‘-Ansatz fokussiert und bei der Sanktionsdurchsetzung den Hut aufhat“, wie es im Eckpunktepapier heißt.

Der Vorstoß des FDP-Ministers stieß überwiegend auf positive Resonanz. Der rechtspolitische Sprecher der oppositionellen Union, Günter Krings, bezeichnete die Vorschläge als „richtig und überfällig“. Zustimmung kam ebenfalls von den Grünen: Marcel Emmerich, Obmann im Innenausschuss, hält allerdings auch die Einrichtung eines Immobilienregisters für nötig, da viele Kriminelle mit ihrem „schmutzigen Geld“ Häuser, Wohnungen oder auch Grundstücke bar und ohne Nachweis bezahlen würden und deshalb nicht nur eine Bundesbehörde erforderlich sei. Ähnlich argumentierte der Bundestagsabgeordnete der Linken, Pascal Meiser, der eine Pflicht zur Offenlegung der tatsächlichen Eigentümer von Immobilien und Unternehmensanteilen sowie der Herkunft größerer Vermögen fordert (vgl. Stern vom 23. August 2022).

Der SPD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, begrüßte den politischen Vorstoß zwar generell, zeigte sich aber skeptisch gegenüber der Einrichtung einer weiteren zusätzlichen Behörde. Er forderte, die bereits bestehenden polizeilichen Teile des Zolls besser zu organisieren. Entscheidend seien eine gute organisatorische Einbindung der neuen Behörde in die deutsche Sicherheitsarchitektur und zusätzliche Befugnisse, um verdächtiges Vermögen aufzuspüren und zu konfiszieren (vgl. junge Welt vom 26. August 2022 und Handelsblatt Online vom 23. August 2022).

Frank Buckenhofer, bei der Gewerkschaft der Polizei für den Zoll zuständig, fand es zwar gut, dass sich die Regierungskoalition verstärkt für die Bekämpfung der Geldwäsche interessiert. Er zeigte sich aber skeptisch gegenüber der Einrichtung eines Bundesfinanzkriminalamtes, das zunächst „nur eine sperrige Worthülse“ sei. Die Behörde könnte ihren Zweck verfehlen, sollte sie sich nur durch einen zentralen Charakter auszeichnen. „Neben einer koordinierenden Zentralstelle“, so Buckenhofer, „brauchen wir auch Fahnder vor Ort, quasi an der Front, die mit ausreichenden polizeilichen Kompetenzen ausgestattet werden.“ So wie es bei der Guardia di Finanza in Italien der Fall sei. Buckenhofer sprach sich auch für eine Darlegungspflicht aus: Besitzer großer Vermögen sollten im Zweifelsfall erklären können, woher diese stammten. Doch genau davor scheine das FDP-geführte Finanzministerium zurückzuschrecken. Diese Art der Beweislastumkehr sei offensichtlich nicht vorgesehen (vgl. Wirtschaftswoche Online vom 24. August 2022).

Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende begrüßte die Pläne Lindners für eine stärker zentralisierte Geldwäscheaufsicht, hielt sie jedoch auch nicht für weitreichend genug. Schwere Steuerkriminalität à la Cum-Ex würde offensichtlich ausgeklammert. Zudem müssten den Behörden auch die richtigen Werkzeuge in die Hand gegeben werden. Er plädierte für mehr Möglichkeiten bei der Abschöpfung von Vermögenswerten. In Zukunft sollte der Grundsatz gelten, dass diese beschlagnahmt werden, wenn deren wirtschaftlich Berechtigte nicht transparent gemacht werden könnten (rp-online.de vom 23. August 2022).

Für Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit kann eine neue Behörde durchaus ein Beitrag zur Lösung des Problems darstellen. Bislang ermittele das Bundeskriminalamt im Fall einer der Geldwäsche vorausgehenden Straftat und würde so nur „die kleinen Fische“ fangen. Es reiche aber nicht, den Drogendealer zu verfolgen, nicht aber den Anwalt, den Notar oder den Mitarbeiter einer Bank, der das Geld wasche. Das Finanzministerium habe richtig erkannt, dass es einen Paradigmenwechsel geben müsse – es sei vom verdächtigen Geldfluss ausgehend zu ermitteln, damit die professionellen Geldwäscher, die organisiert Kriminalität betrieben, von den Behörden nicht unerkannt bleiben (vgl. junge Welt vom 1. September 2022).

Im Interview mit der jungen Welt antwortete Trautvetter auf die Frage, woher plötzlich der Wille der Bundesregierung komme, Finanzkriminalität zu verfolgen, die sonst Unternehmen willfährig Geld hinterherwerfen würde:

„Der politische Wille, den Schattenfinanzmarkt auszutrocknen, ist erst vorhanden, seit die Financial Action Taskforce droht, Deutschland vom internationalen Finanzmarkt abzukoppeln. Die bisherige Untätigkeit ist auch darauf zurückzuführen, dass das Geld im Fall von Geldwäsche meist nicht dem deutschen Staat direkt entgeht, sondern oft aus Straftaten aus anderen Ländern stammt. Man sagt einfach: Geld stinkt nicht; die dahinterstehende Kriminalität ist nicht unser Problem! Ich bin aber optimistisch, dass der Druck etwas bewirkt.“

 

Krieg und Geschäft

„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ – dies hatte der französische Sozialist Jean Jaurès zur Warnung vor dem Ersten Weltkrieg gesagt. Gemeint war, dass die Mechanismen der Kapitalverwertung – Konkurrenz um Rohstoffe, Arbeitskräfte, Marktanteile, Absatzmärkte und Gewinnmargen – früher oder später zwangsläufig zu Kämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen um Einflusssphären, territoriale Ausdehnung von Staaten und koloniale Landnahme führen. Der Kapitalismus trete dann in sein imperialistisches Stadium ein. In dem befinden wir uns noch.

Vorbereitet und begleitet würden diese Auseinandersetzungen durch nationalistische und rassistische Ideologien und die Produktion entsprechender Selbstidealisierungen und Feindbilder: „Wir“ sind dann die Guten mit den besten Absichten und den höheren Werten. „Die“ sind die Bösen, Kulturlosen, im Zweifel die Unmenschen. Und dies jeweils wechselseitig.

Ohne den völkerrechtlichen Unterschied zwischen Angreifer und Angegriffenem verwischen zu wollen, das Recht auf Selbstverteidigung zu bestreiten, die russischen Kriegsverbrechen zu relativieren oder das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung zu missachten: Auch der Krieg in der Ukraine trägt, besonders wenn man seine Vorgeschichte einbezieht, Züge eines imperialen Ringens um Einflusszonen und Ressourcen – mit all den ideologischen Überhöhungen, die dazugehören. Nicht nur auf Seiten Russlands, sondern ebenso auf Seiten der USA, die 2014 den prowestlichen Umsturz in der Ukraine förderte und sie gegen den Rat ihrer eigenen außenpolitischen „Realisten“ in die Nato zu integrieren beabsichtigte, um Russland zu schwächen.

Auch im Ukrainekrieg haben, wie bei Kriegen unter kapitalistischen Bedingungen immer, die Rüstungsindustrie und ihre Zulieferer etwas zu gewinnen. Der Aktienkurs von Rheinmetall, einer der größten deutschen Rüstungsschmieden, schoss seit Kriegsbeginn so in die Höhe, dass man den Konzern in Rheingold umbenennen könnte. Als Folge der gegen Russland verhängten Sanktionen und der Reaktionen darauf stiegen die Preise für Öl und Benzin so stark an, dass der Profit der Mineralölkonzerne explodierte. Bei den anschließenden Preiserhöhungen für Güter des täglichen Bedarfs ist nicht sicher, ob die Situation nicht für spekulative „Mitnahmeeffekte“ ausgenutzt wurde und wird. Eine geplante „Gasumlage“, um die horrend wachsenden Energiekosten den Verbraucherinnen und Verbraucher in Rechnung zu stellen, entpuppte sich als ausgesprochen unsozial. Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Kompensation der Belastungen für Lohnabhängige und kleine Selbständige sind äußerst unzureichend.

So wächst die Kluft zwischen Armut und Reichtum weiter und schneller – nicht nur in unserem Land, sondern, als Folge des Krieges und des ihn begleitenden Wirtschaftskrieges, auch international.

Das in der von der Regierung proklamierten „Zeitenwende“ abrupt aufgelegte 100 Milliarden Euro teure Programm für die Aufrüstung der Bundeswehr verschiebt die Gewichte staatlicher Investitionen zugunsten des Militärischen. Schon lange notwendige Investitionen in die zum Teil marode zivile Infrastruktur müssen zurückstehen. Zu erwarten und befürchten ist, dass die Kosten für die Hochrüstung in den nächsten Jahren durch Einsparungen im Sozial- und Kulturbereich gedeckt werden sollen. Aufgrund der anhaltenden Blockade der FDP wird die Ampelkoalition wohl weder eine durchgreifende Steuer auf krisenbedingte Extraprofite noch einen Lastenausgleich mit höherer Besteuerung der Besserverdienenden, der Vermögenden und reichen Erben zustande bringen. Obwohl mehr als Dreiviertel der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Verteilung von Einkommen und Vermögen für ungerecht halten.

Krieg ist nichts, was der Kapitalverwertung entgegensteht. Der Nationalökonom Joseph Schumpeter hat als Wesen des Kapitalismus die „schöpferische Zerstörung“ benannt. Altes zerstören und Neues wieder aufbauen, das generiert Gewinne, schafft und sichert Arbeitsplätze – durch alle kriegsbedingten Krisen hindurch. Auch die Hochrüstung wirkt in gewisser Weise wie ein Konjunkturprogramm, selbst wenn die produzierten Güter der Vernichtung dienen. 

Es ist sicherlich kein Zufall, dass man sich jetzt wieder an eine Geschichte aus der europäischen Vergangenheit erinnert, die den Zusammenhang von Krieg und Geschäft in krassester Weise beleuchtet. Unter dem Titel „Gefallen, zermalmt und aufgelöst“ wurde in der F.A.Z. vom 18. August 2022 über sie berichtet.

Bis vor kurzem galt als Rätsel, was aus den sterblichen Überresten der mindestens 20 000 Gefallenen der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 geworden ist. Nur ganze zwei Skelette wurden bei Ausgrabungen gefunden. An Erklärungen dafür mangelte es nicht. „So hieß es, die sterblichen Überreste seien in den 1820er-Jahren ausgegraben, nach England exportiert und dort zu Knochenmehl verarbeitet worden, bevor sie als Düngemittel auf den Feldern gelandet seien.“ Neueste Forschungsergebnisse zeigen nun, dass die Verwertung der Kriegstoten auf noch makabrere Weise geschah.

Der Aufstieg der Zuckerindustrie in Belgien nach 1833 erforderte einen ganz besonderen Stoff: Knochenkohle. „Preis und Nachfrage nach Knochen explodierten förmlich, weil die Fabriken die Knochen zu Knochenkohle verarbeiteten. Die wurde für die Filter benötigt, die zum Einsatz kamen, um den Zucker zu entfärben – nicht nur in Belgien, sondern auch in anderen Teilen Europas. Der Aufwand war gigantisch. Ein Politiker jener Tage bezifferte den Knochenbedarf auf ein Drittel des produzierten Zuckers.“ Die Beschaffung von genügend Nachschub war schwierig, weshalb alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. In einem zeitgenössischen Zeitungsartikel heißt es, eine Gruppe von Industriellen habe die Erlaubnis erhalten, das Schlachtfeld von Waterloo auszuheben, um die Gebeine der Gefallenen für die Zuckerproduktion zu nutzen. Wenn es ums Geschäft geht, muss die Pietät eben zurückstehen.

Jean Jaurès sagte zu der vor und in Kriegen angefachten bellizistischen Stimmung und den patriotischen Illusionen auf allen Seiten: „Das Vaterland gehört denen, die nichts anderes haben.“

Eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat, bei aller Empörung über den Aggressor, bei allem Mitgefühl und aller Hilfsbereitschaft für die Opfer, einen eher nüchternen Blick auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Sie spricht sich für einen möglichst baldigen Waffenstillstand aus, mit anschließenden Verhandlungen über eine diplomatische Lösung des Konflikts, so schwierig diese auch immer sein mag. Zu hoffen ist, dass die Bewegung für Frieden an Stärke und Einfluss gewinnt – nicht nur in Deutschland.

Renaissance der Atomkraft?

„Vor dem Atommeiler / Vor dem Reaktor /
Steht ein Geigerzähler / Ein nackter Mann davor“ 
(Wolfgang Neuss)

In der Geschichte der Menschheit gibt es wissenschaftlich-technische Innovationen, die höchst widersprüchlich zu bewerten sind. Ohne die Entdeckung ionisierender Strahlung im Jahr 1896 durch den französischen Physiker Henri Becquerel (1852-1908) wäre es beispielsweise nie zur Röntgendiagnostik in der Medizin gekommen. Auch spielen zerstörungsfreie Untersuchungen mittels elektromagnetischer Wellen mittlerweile eine bedeutende Rolle in nicht wenigen anderen Fachgebieten. Die anfangs bedenkenlose Anwendung dieser Technologie  in der Medizin, bevor dann der volle Umfang schädigender Wirkungen von Strahlen auf den menschlichen Organismus erkannt wurde, kostete allerdings nicht wenigen Medizinern und zahlreichen ihrer Patienten das Leben.

Ungeachtet dieses längst bekannten Wissens rief die Entdeckung der Kernspaltung und der daraus möglichen Energieerzeugung mittels Atomreaktoren in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine kaum gebremste Euphorie hervor. Der Weg in die Atomkraft könne der gesamten Menschheit Glück und Wohlstand bescheren – so wurde es damals auch von nicht wenigen Vertretern der sozialistischen Linken verkündet. Nach der ersten kontrollierten Kernspaltung im Jahr 1942 in den USA unternahmen demzufolge zahlreiche Staaten Anstrengungen zur Realisierung eines Atomprogramms. Die erste Inbetriebnahme eines stromerzeugenden Reaktors samt dauerhafter Einspeisung ins Netz erfolgte Anfang der 1950er Jahre in der damaligen Sowjetunion. Nach Angaben der internationalen Atomenergiekommission sind derzeit 440 Reaktoren im Betrieb; hinzukommen noch 53 Reaktoren, die sich noch im Bau befinden. Die Mehrheit von ihnen befindet sich in stationären Kraftwerken. Es gibt jedoch auch einige Reaktoren auf Schiffen, in U-Booten und in Raumfahrzeugen.

Dass beim Betreiben von Atomreaktoren ionisierende Strahlung freigesetzt wird, die die Gesundheit beteiligter oder auch nur in der Nähe befindlicher Menschen bzw. die ihrer Nachkommenschaft irreparabel schädigt, ist eine längst bekannte Tatsache. Auch, dass durch Schädigung des Erbgutes ihrer Eltern nicht selten noch ungeborene Kinder zu den Strahlenopfern zählen. Seit den ersten Unfällen gelten zwar beim Betreiben von Atomreaktoren strenge Sicherheitsbestimmungen. Ungeachtet dessen fanden zwischen 1940 und 2010 insgesamt 34 als „schwer“ eingestufte Unfälle statt – in den USA, in der Sowjetunion bzw. Russland, in Großbritannien, in Japan, in Kanada, in der Schweiz, in der CSSR, in Frankreich, in Argentinien und in Belgien. Als die schlimmsten dieser Unfälle zählen die Katastrophen von Tschernobyl im Jahr 1986 und die von Fukushima im Jahr 2011.

Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl starben an den Folgen akuter Verstrahlung offiziell etwa 50 Menschen. Etwa 116.000 Einwohner im Bereich von 30 Kilometern um das havarierte Atomkraftwerk herum wurden evakuiert. Die von erhöhter Radioaktivität betroffene Region war jedoch wesentlich größer und erstreckte sich über das Territorium mehrerer Staaten. Die Gesamtzahl der Krebstoten als Folge der Katastrophe ist umstritten und dürfte sich mindestens auf mehrere Tausend belaufen. Bei der Reaktorkatastrophe von Fukushima wurden zwischen 100.-150.000 Einwohner aus dem Bereich um das havarierte Atomkraftwerk herum evakuiert. Die Gesamtzahl der Todesopfer als Folge der Katastrophe ist ebenfalls umstritten, dürfte sich aber in jedem Fall auf mehrere Hundert belaufen. Große Teile Japans und des umliegenden Meeresgebietes wiesen damals vorübergehend eine stark erhöhte Radioaktivität auf.

Von Befürwortern der Atomkraft wird nach jedem Reaktorunfall gebetsmühlenartig erklärt, man habe daraus gelernt und werde alle möglichen Anstrengungen unternehmen, dass sich so etwas nicht wiederholen könne. Ausgeblendet wird dabei, dass es eine hundertprozentig sichere Technik nicht gibt und auch theoretisch nicht geben kann. Man kann zwar ein Gefahrenpotential minimieren, aber nie vollständig ausschalten.

Außer der permanenten Gefahr weiterer Reaktorkatastrophen ist in diesem Zusammenhang das ungelöste und theoretisch auch nicht befriedigend lösbare Problem radioaktiver Abfälle (Atommüll) zu erwähnen. Diese entstehen zum Teil bei der bergbaumäßigen Gewinnung von Uran, zum Teil  beim Abriss stillgelegter Atomkraftwerke, in geringerem Umfang auch beim laufenden Betrieb atomarer Anlagen. Diese Abfälle müssen bis zum vollständigen Abklingen auf das Maß natürlicher Radioaktivität sicher gelagert werden. Die voraussichtliche Dauer dieser Lagerung ist sehr unterschiedlich und hängt von der Höhe der anfänglich gemessenen Radioaktivität ab. Derzeit dürfte nach Schätzungen weltweit eine Menge von über einer Million Tonnen radioaktiven Abfalls in diversen Zwischenlagern vor sich hin strahlen. Es gibt derzeit weltweit nur ein zugelassenes Endlager für hochradioaktiven Abfall. Dieses liegt in Finnland und ist für eine eher geringe Menge von strahlendem Müll ausgelegt.

Auch kann nicht oft genug daran erinnert werden: Die erstmalige Anwendung des Energieträgers Atomkraft geschah in Gestalt eines Massenvernichtungsmittels. Zur von den deutschen Nazis angestrebten Entwicklung einer Atombombe kam es zwar glücklicherweise nicht. Die von US-amerikanischen Militärs getätigten Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki töteten aber geschätzt 100.000 Menschen sofort – eine wesentlich größere Anzahl Menschen erlag in den Folgemonaten und -jahren ihren Verbrennungen und Verletzungen infolge radioaktiver Strahlung. Fast alle Toten und Verletzten waren japanische Zivilisten oder aber koreanische Zwangsarbeiter.

Bei diesen beiden Atombombenabwürfen blieb es dann zwar angesichts des weltweiten Entsetzens bis heute. Die Menschheit schrammte aber mehrmals haarscharf an einem Atomkrieg vorbei. Die von wirtschaftlich und politisch führenden Mächten angelegten Atombombenarsenale erwiesen sich dann auch noch als tickende Zeitbomben. Russische Generäle setzten in den 1990er Jahren mehrfach Hilferufe ab: Infolge neoliberaler Sparorgien stünden ihnen nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung, die aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Arsenale zu warten. Wenig bekannt ist auch, dass im Februar 1992 in unmittelbarer Nähe der russischen Hoheitsgewässer ein US-amerikanisches Atom-U-Boot mit einem russischen Atom-U-Boot kollidierte – beide Kriegsschiffe überstanden zum Glück den Zusammenstoß. Erinnert werden sollte in diesem Zusammenhang auch an die Beinahe-Katastrophe beim Untergang des russischen Atom-U-Bootes K-141 „Kursk“. Das raketenbestückte Kriegsschiff havarierte im August 2000 bei einem Manöver im Nordpolarmeer und sank. Da Russland sich mit den anderen Anrainerstaaten nicht zeitnah auf effektive Rettungsmaßnahmen einigen konnte, kamen alle 118 Seeleute ums Leben. Das Wrack mit den Reaktoren wurde dann zwar im Oktober 2001 geborgen. Bei anderen gesunkenen Atom-U-Booten gelang dies allerdings nicht; ihre Wacks liegen noch immer auf dem Grund verschiedener Ozeane und strahlen bis in alle Ewigkeit weiter. Und dass sich in der kriegsgeschüttelten Ukraine jetzt russische und ukrainische Truppen auf dem Gelände des russisch besetzten Atomkraftwerks Saporischschja gegenseitig beschießen, lässt für unser aller Zukunft Schlimmes vermuten.

Von Befürwortern der Atomkraft wird häufig auf das Beispiel Frankreich verwiesen. Unser Nachbarland betreibt derzeit 56 Atomreaktoren, bezieht aus diesen 72 Prozent der produzierten Energie und versorgt zudem mehrere Nachbarländer mit vergleichsweise billigem Strom. Wenig thematisiert wird in diesem Zusammenhang, dass diese vergleichsweise niedrigen Preise auf versteckter oder auch ganz offener staatlicher Subventionierung beruhen, die angebliche Effizienz der Atomkraft also eine Mogelpackung ist. Beispielsweise wurden die nicht unbeträchtlichen Entwicklungskosten, welche den Bau von Reaktoren überhaupt erst ermöglichten, in der Zeit des Kalten Krieges vom Militär, also letztlich vom damaligen Steuerzahler getragen.

Ebenso verhält es sich bei den derzeit überhaupt noch nicht abschätzbaren Entsorgungskosten für strahlenden Müll – diese werden langfristig gesehen entweder in Gestalt staatlicher Subventionierung oder in Gestalt irreparabler Umweltschäden bei der Bevölkerung hängen bleiben. Frankreichs Atomprogramm funktioniert zudem auf Grundlage von Uran-Importen aus repressiv regierten Billiglohnländern, welche zum Teil nur aufgrund der permanenten Anwesenheit französischer Truppen funktionieren. Als Beispiel sei hier der nordafrikanische Wüstenstaat Niger genannt – dieser zählt zu den weltweit zehn ärmsten Ländern, ist aber der fünftgrößte Exporteur von Uranerz. Über die Umweltstandards in solchen Ländern muss hier nichts geschrieben werden – sie sind bekanntermaßen äußerst niedrig. Beim Bergbaugebiet im Norden von Niger liegt die Belastung durch ionisierende Strahlung nachweislich wesentlich über dem Normalwert, die Sterblichkeitsrate deutlich über dem Landesdurchschnitt.

In den letzten Jahren musste ein großer Teil der französischen Atomkraftwerke aufgrund technischer Schäden und Wartungsmängel abgeschaltet werden – dies dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass der französische Staatpräsident Macron von einer „Renaissance der Atomkraft“ schwadronierte. Die Kosten der plötzlich erforderlichen Investitionen in einen hochgradig gefährlichen Industriezweig werden dann wieder einmal vom Steuerzahler zu tragen sein. Ähnliches wird sich dann wohl auch in Deutschland abspielen – falls die Befürworter der Energiegewinnung aus Atomkraft sich angesichts des Wirtschaftskrieges mit Russland tatsächlich durchsetzen. Künftige Generationen dürften eine solche „Energiewende“ mit Sicherheit als verbrecherisch einschätzen.

 

Literatur:

 .ausgestrahlt, gemeinsam gegen Atomenergie

www.ausgestrahlt.de

 

Cum-Ex: Neue Ausführungen des Kronzeugen

Im November 2019 berichtete BIG Business Crime schon einmal anhand eines Artikels des Handelsblatts über die Aussage des Kronzeugen Benjamin Frey (Name geändert) vor dem Landgericht Bonn – in einem Prozess zum größten Steuerbetrug der deutschen Geschichte. Frey war einer der ersten Insider, die über Cum-Ex-Geschäfte umfassend auspackten. Er trat damals vor dem Bonner Landgericht als Kronzeuge gegen zwei britische Aktienhändler auf.

Mitte September 2022 wurde Frey erneut vor dem Landgericht in Bonn vernommen. Diesmal als Zeuge im Prozess gegen Hanno Berger, Ex-Star-Anwalt, Unternehmensberater und Strippenzieher in Sachen Cum-Ex. Diesem drohen bis zu 15 Jahren Haft wegen Betrug und Steuerhinterziehung in Höhe von 278 Millionen Euro. Seit Anfang April sitzt Berger in Bonn auf der Anklagebank. Auch an den Cum-Ex-Geschäften der Hamburger Privatbank M.M. Warburg war er beteiligt. Der Kronzeuge Frey ist ebenfalls ein Beschuldigter und soll nach eigener Aussage genauso viel Geld wie Berger durch Cum-Ex-Geschäfte ergaunert haben: insgesamt rund 50 Millionen Euro.

„Nun fordert der Staat das Geld zurück“, schreibt das Handelsblatt am 12. September in einem Bericht über das aktuelle Verfahren am Landgericht Bonn. „Berger windet sich. Sein Anwalt erklärte kürzlich vor Gericht, Berger habe kaum mehr Aktivvermögen. Seine Tochter sei zwar bereit, ihren Vater zu unterstützen, doch ihre Mittel seien begrenzt. Berger habe sein Geld unglücklich ausgegeben. Als Beispiel nannte er ein Grundstück in Schlüchtern-Elm in Osthessen. ‚Sicherlich gut über 20 Millionen Euro‘ habe Berger in seinen dortigen Holzhof investiert, ohne dass dies zu einer gleichrangigen objektiven Wertsteigerung‘ geführt habe. In den ersten beiden Verhandlungsstunden kommt noch nicht zur Sprache, was Frey mit seinen Cum-Ex-Millionen anstellte.“

Am Tag darauf berichtet die Zeitung, dass das erbeutete Geld gut versteckt worden sei. In der Strafakte gegen Berger befände sich ein Organigramm, das die vielen Verschachtelungen zeige, mit denen Berger und Frey glaubten, ihre „Tatbeute“ (Staatsanwaltschaft) in Sicherheit zu bringen. Eine der dazu gegründeten Gesellschaften sei „Stonewall Securities“ genannt worden. „Berger und Frey wollten eine Steinmauer zwischen ihr Geld und die Finanzbehörden bauen. Außerdem fanden sie es laut Frey witzig, damit auch auf den früheren Finanzminister Steinbrück hinzudeuten.“

Auch der Kronzeuge Frey befindet sich in einem Dilemma. Vom ihm fordert das Landgericht Bonn rund 13 Millionen Euro. Aber das ist nicht alles.

„Vom Finanzgericht Frankfurt habe er schon 2019 einen Haftungsbescheid über 22 Millionen Euro erhalten. Außerdem hat das Bundeszentralamt für Steuern vor wenigen Wochen einen Bescheid über 60 Millionen Euro verschickt. Glaubt man der Aussage des Kronzeugen sind das nur kleine Bruchteile. (…) Es liegt in der Natur von Cum-Ex-Geschäften, dass viele verschiedene Parteien daran beteiligt sind. Banken, Depotbanken, Investoren, Anwälte, Steuerexperten und diverse Berater. Oft wurden extra Gesellschaften gegründet, teils in Luxemburg und der Karibik, um die ‚Beute‘ zu verteilen, wie Frey das Geld aus der Steuerkasse bezeichnet. Frey ist einer von ganz wenigen Beteiligten, die nicht nur eine Schuld zugegeben haben, sondern auch Zahlen nennen. Das macht ihn zum Adressaten von Forderungen. Juristisch ist es möglich, jeden einzelnen Beteiligten einer Straftat zur Wiedergutmachung des Gesamtschadens heranzuziehen. Diese ‚gesamtschuldnerische Haftung‘ führt in Freys Fall dazu, dass er viele Millionen Euro mehr zurückzahlen soll, als er mit Cum-Ex-Geschäften verdiente.“ (Handelsblatt vom 13. September 2022)

So hat etwa die Warburg Bank Frey auf 300 Millionen Euro Schadenersatz verklagt. Denn Frey, so die Bank, habe sie bei ihren Cum-Ex-Deals anwaltlich beraten und sei deshalb verantwortlich für den entstandenen Schaden. In München wiederum läuft ein Verfahren, das die Caceis Bank wegen eines schiefgelaufenen Cum-Ex-Fonds gegen Frey angestrengt hat. Auch diese Bank hat Frey und andere Akteure auf 300 Millionen Euro verklagt. Frey wiederum behauptet, so das Handelsblatt, die Klage enthalte unwahre Tatsachenbehauptungen, weshalb er die Verantwortlichen der Bank wegen Prozessbetrug angezeigt habe.

Ergo: Staatsanwaltschaften klagen mutmaßliche Cum-Ex-Betrüger an. Die Täter verklagen sich gegenseitig. Es wird auch in Zukunft weiter über Cum-Ex zu berichten sein.

Quellen:

René Bender/Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Wir waren gierig, wir wollten immer mehr Geld“ – Kronzeuge packt gegen Hanno Berger aus“, Handelsblatt vom 12. September 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-wir-waren-gierig-wir-wollten-immer-mehr-geld-kronzeuge-packt-gegen-hanno-berger-aus/28675072.html 

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Kronzeuge vor Gericht den Tränen nahe: Brisantes Wiedersehen mit „Cum-Ex-Mastermind“ Berger“, Handelsblatt vom 13. September 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-prozess-kronzeuge-vor-gericht-den-traenen-nahe-brisantes-wiedersehen-mit-cum-ex-mastermind-berger/28677730.html 

Strengere Regulierung der Wirtschaftsprüfer

Die EU-Kommission möchte im nächsten Jahr einen Gesetzesvorschlag zur strengeren Regulierung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften vorlegen. Das berichtet die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 16. September 2022. Der politische Vorstoß reagiert damit auf ein Problem, dass die SZ wie folgt beschreibt:

„Die Experten der vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften EY, KPMG, PwC und Deloitte (Big Four) nehmen nicht nur die Bücher der Konzerne unter die Lupe, sie beraten auch. Und die Beratung ist sehr lukrativ, was folgende Frage aufwirft: Möchte man profitable Beratungsmandate bei einem Konzern gefährden, indem man die Bilanzen dieses Kunden sehr streng prüft? Dieser Interessenkonflikt ist seit Jahrzehnten ein politisches Streitthema, bereits nach der Finanzkrise 2008 war geplant, die Bereiche Beratung und Prüfung abzutrennen. Doch die Lobby der anderen Seite war zu stark.“

Das Jacques Delors Centre in Berlin schlägt deshalb in einem „Policy Paper“ (Strategiepapier) vor:

„Der europäische Markt für Abschlussprüfungen ist schon viel zu lange kaputt. Nach mehreren massiven Bilanzskandalen stehen die Rechtsvorschriften erneut auf dem Prüfstand. Um die anhaltenden Mängel zu beheben, sind tiefgreifende Reformen in drei Bereichen erforderlich. Um den Wettbewerb zu stärken und die beherrschende Stellung der Big Four Wirtschaftsprüfungsgesellschaften einzudämmen, sollten Joint Audits mit mindestens einer kleineren Prüfungsgesellschaft verpflichtend werden. Um Interessenkonflikte zu vermeiden, sollte es Abschlussprüfern untersagt werden, für ihre Prüfungsmandanten zugleich auch Beratungsleistungen zu erbringen. Und die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) sollte die größten Prüfungsgesellschaften direkt überwachen, um eine wirksame Aufsicht zu gewährleisten.“

Die Forderung – Wirtschaftsprüfer sollten zukünftig bei ihren großen Prüfungsmandanten keine Beratungsdienstleistungen mehr anbieten dürfen – erfolgt just zu dem Zeitpunkt, an dem die Prüfungsgesellschaft EY anstrebt, ihr Beratungsgeschäft vom Prüfgeschäft abzuspalten. Diesen strategischen Plan will EY insbesondere deshalb umsetzen, weil die Abschlussprüferaufsichtsstelle (Apas) seit mehr als zwei Jahre gegen EY wegen Verletzung von Berufspflichten bei ihrer Arbeit für den ehemaligen Dax-Konzern Wirecard ermittelt – und mögliche Strafen auf das Unternehmen warten (vgl. Handelsblatt vom 26. August 2022).

„Auch wenn es jenseits der Ankündigung noch wenig Konkretes gibt, allein der Wille, eine Trennung von Prüfung und Beratung zu vollziehen, wird die Zukunft der Wirtschaftsprüferbranche neu definieren“, kommentiert das Handelsblatt am 9. September. „Stimmen die Partner dem Vorhaben zu, hat EY die Chance, die Spielregeln in der Branche neu zu bestimmen und sich als modern zu präsentieren. Denn letztlich setzt die Gesellschaft das um, was nach den zahlreichen Bilanzskandalen der vergangenen Jahre vielen in Öffentlichkeit, Politik und Regulierungsbehörden notwendig erscheint: In ihrer Wahrnehmung passt es nicht zusammen, dass Wirtschaftsprüfer im großen Stil zugleich Berater sind.“

Die drei anderen Konzerne der „Big Four“ ziehen jedoch nicht mit und halten an der Mischstruktur fest. „Diese ermöglicht Ihnen“, so das Handelsblatt weiter, „hohe Kapazitäten an Mitarbeitenden und Kompetenzen vorzuhalten und dort einzusetzen, wo sie gerade gebraucht werden. Motto: Wer das ausgeklügelte Steuersparmodell eines Prüfungsmandanten versteht und prüft, der kann seine Kompetenz bei anderen Kunden in der Beratung einbringen. Mit der Verzahnung bietet das Mischmodell jungen Wirtschaftsprüfern Karriereoptionen in der quirligen Beratung, wenn denen das Testat von Bilanzen zu öde wird. EY als ‚Pure Play‘ wird dies nicht anbieten können. Die Gefahr ist groß, dass die auf Prüfung gestutzte EY auf junge wie ältere Talente wenig attraktiv wirkt und somit der benötigte Strom an neuen Mitarbeitenden abreißt.“

Verlöre EY aber stark an Bedeutung, resümiert das Handelsblatt, wenn also aus den vier nur noch drei global tätige Firmen würden, dann hätten große internationale Kunden noch weniger Auswahl bei der Suche nach einem Abschlussprüfer: „Prüfung und Beratung ziehen sich magisch an.“ (Handelsblatt vom 9. September 2022)

Quellen:

René Bender/Bert Fröndhoff/Volker Votsmeier: „Aufsicht findet Pflichtverletzungen bei EY-Mitarbeitern – harte Strafen drohen“, Handelsblatt (Online) vom 26. August 2022
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/wirecard-skandal-aufsicht-findet-pflichtverletzungen-bei-ey-mitarbeitern-harte-strafen-drohen/28618976.html 

Bert Fröndhoff: „EY wagt die Revolution – und das ist trotz aller Risiken richtig“, Handelsblatt (Online) vom 9. September 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-ey-wagt-die-revolution-und-das-ist-trotz-aller-risiken-richtig/28670558.html 

Sebastian Mack: „Den Auftrag zu Ende bringen: Wie Europa den kaputten Markt für Abschlussprüfungen reparieren kann“, Jacques Delors Centre, 16. September 2022
https://www.delorscentre.eu/de/publikationen/eu-audit-market 

Markus Zydra: „Mehr Aufsicht, weniger Skandale?“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 16. September 2022
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirtschaftspruefer-wirecard-kontrolle-1.5657862 

Deutlicher Anstieg bei Korruptionsstraftaten

Laut Bundeskriminalamt (BKA) definiert die kriminologische Forschung den Begriff „Korruption“ als „Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirtschaft oder eines politischen Mandats zugunsten eines anderen, auf dessen Veranlassung oder Eigeninitiative, zur Erlangung eines Vorteils für sich oder einen Dritten, mit Eintritt oder in Erwartung des Eintritts eines Schadens oder Nachteils für die Allgemeinheit (in amtlicher oder politischer Funktion) oder für ein Unternehmen (betreffend Täter als Funktionsträger in der Wirtschaft)“. (Bundeslagebild, Seite 6)

Nach Angaben des BKA sind derartige „Missbrauchsfälle“, also Korruptionsstraftaten, in Deutschland im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr deutlich angestiegen. Die Polizei registrierte eine Zunahme der Delikte von fast 35 Prozent auf insgesamt 7.433. Auch die Anzahl der damit unmittelbar zusammenhängenden Begleitdelikte wie Betrug, Urkundenfälschungen, wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Ausschreibungen und Verletzungen des Dienstgeheimnisses nahm um über 10 Prozent zu.

Die Gesamtzahl der ermittelten Tatverdächtigen lag 2021 bei 2.457 und stieg damit im Vergleich zum Jahr 2020 (2.171 Tatverdächtige) um rund 13 Prozent. Die Summe des durch Korruption entstandenen Schadens ist dagegen um fast 25 Prozent gesunken und lag 2021 bei 61 Millionen Euro (2020: 81 Millionen Euro).

Daneben, so das BKA, seien auch kaum quantifizierbare immaterielle Schäden aus korruptiven Handlungen nicht zu vernachlässigen: „So kann Korruption das Grundvertrauen der Bevölkerung in die Unabhängigkeit,
Unbestechlichkeit und Handlungsfähigkeit des Staates bzw. die Integrität der Wirtschaft erheblich beeinträchtigen.“ (Bundeslagebild, Seite 19)

Wie es weiter heißt, könne das tatsächliche Ausmaß der Korruption jedoch nur eingeschränkt wiedergeben werden. Denn bei Korruptionstaten handele es sich in der Regel um so genannte Täter-Täter-Delikte, bei denen keine Seite Interesse an einer Anzeige habe, so dass in diesem Bereich von einem großen Dunkelfeld auszugehen sei.

Quellen:

„Zahl der in Deutschland registrierten Korruptionsstraftaten erneut gestiegen“, Pressemitteilung des Bundeskriminalamts vom 15. September 2022
https://www.bka.de/DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2022/Presse2022/220915_PM_BLB_Korruption.html;jsessionid=7C3947D6A0851A4E69DC3D779574D788.live612 

„Korruption: Bundeslagebild 2021“, hrsg. vom Bundeskriminalamt (Stand: August 2022)

„Frühgeburten bringen Geld!“ – Krankenhausökonomie versus medizinische Vernunft

Deutschland hat eine der höchsten Raten an zu früh Geborenen in Europa. Fast neun Prozent aller Neugeborenen (rund 70.000) kommen hier jedes Jahr zu früh auf die Welt. Neben medizinischen, psychischen und sozialen Faktoren gibt es einen Grund dafür, der nichts mit Medizin zu tun hat – das Abrechnungssystem der Krankenhäuser. Denn für Kliniken lohnt es sich nicht, Frühgeburten zu verhindern. „Frühchen sind äußerst lukrative Patienten“, heißt es denn auch in einem Film, der am 5. September 2022 in der ARD lief.

„Je kleiner und leichter ein Frühchen zur Welt kommt, umso mehr Geld überweist die Krankenkasse. Für die Behandlung eines Frühgeborenen, das (…) mit rund 2.400 Gramm geboren wird, erhält die Klinik pauschal rund 11.000 Euro. Viel mehr wäre es, wenn die Ärzte die Geburt früher eingeleitet hätten. Bei einem Frühchen unter 1.000 Gramm sind es rund 150.000 Euro und für die ganz Kleinen unter 600 Gramm fast 200.000. Komplikationen und Eingriffe können den Betrag deutlich erhöhen.“ (Süddeutsche Zeitung vom 5. September 2022)

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Anton Scharl stellt klar: „Wenn Sie das medizinisch Richtige tun und eine Frühgeburt verhindern, werden Sie ökonomisch bestraft.“ (ebd.) Der Grund dafür liegt im Finanzierungssystem der Krankenhäuser, dem System von Fallpauschalen. Dieses wurde im Jahr 2004 eingeführt und führt dazu, dass Kliniken in Deutschland nur dann Umsatz machen, wenn sie Patienten behandeln. Sie werden also nicht einfach dafür bezahlt, dass sie Leistungen vorhalten, einfach da sind. Letztlich zwingen die Fallpauschalen Kliniken dazu, mehr als nötig zu behandeln. Klaus-Peter Zimmer, ehemaliger Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Gießen (der einzigen privatisierten Uniklinik Deutschlands), geht davon aus, dass die Erlöse der jeweiligen Frühchenstation oft andere Bereiche der Kliniken mitfinanzieren müssen.   

Doch offensichtlich ist nicht feststellbar, wie viele Frühchen aus rein ökonomischen Gründen auf die Welt geholt werden, denn fast immer mischen sich medizinische und wirtschaftliche Erwägungen. Die Fehlanreize bei der Versorgung von Frühgeborenen, so das Fazit der TV-Reportage, würden auf besonders drastische Weise zeigen, dass das Fallpauschalensystem dringend reformiert werden müsse.

Quellen:

„Wieviel Geld bringt ein Frühchen?  Warum Kliniken in Deutschland Gewinne machen (müssen)“. Ein Film von Claudia Ruby, ARD am 5. September 2022

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/die-story-im-ersten-wie-viel-geld-bringt-ein-fruehchen/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzAxNDAxYWU4LTQ1NWMtNDRjNC1iMzZhLWJiMTg4MzNhODc1OA

Claudia Ruby: „Profite an der Grenze des Lebens“, Süddeutsche Zeitung vom 5. September 2022

(der Text des Artikels basiert auf Recherchen für den ARD-Film der Autorin vom 5. September) https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/fruehgeburten-fallpauschalen-deutschland-1.5650092?reduced=true

 

Der Finanzmarkt muss schrumpfen

In einem Artikel in der Septemberausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik betont Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende mit Nachdruck die Notwendigkeit einer „sozialökologischen Transformation“, um der Klimakrise begegnen zu können.

Er stützt sich auf zwei Thesen: Zum einen sei das Geld für die notwendigen Investitionen da, zum anderen fehle bisher ein radikales Schrumpfungs- und Umbauprogramm für den Finanzsektor. Statt die erforderlichen klimafreundlichen Investitionen vorzunehmen, lenke der Finanzsektor das Kapital zu häufig in klimaschädliche Bereiche oder in die Taschen reicher Vermögender. Dabei wären die meisten großen Unternehmen in der Lage, die im Kampf gegen den Klimawandel erforderlichen Investitionen aus ihren Gewinnen zu decken. Das aber geschehe nicht, weil Sinn und Zweck von Unternehmen in den vergangenen Jahren zunehmend auf die Befriedigung von kurzfristigen Aktionärsinteressen reduziert worden sei.

Mit dem heutigen Finanzsektor könne die sozialökologische Transformation nicht gelingen. Der Finanzsektor sei zu groß und beschäftige sich zu sehr mit sich selbst. Über 70 Prozent ihrer Aktivitäten gingen nicht auf die Kreditvergabe an die Haushalte und die Realwirtschaft zurück. Viele Finanzgeschäfte fänden ausschließlich innerhalb des Finanzsektors statt. Dessen Wachstum habe sich in großen Teilen von der realen Wirtschaft abgekoppelt. Zugleich orientierten sich Unternehmen der Realwirtschaft immer stärker an kurzfristigen Finanzkennzahlen statt an langfristigen Geschäftsmodellen. Dringend benötigte Investitionen in neue klimaneutrale Technologien stellten deshalb oftmals ein wirtschaftlich hohes Risiko dar, da sie kurzfristig keinen Profit abwerfen würden.

„Sie sind daher in der finanzialisierten Logik noch schwieriger zu rechtfertigen – mehr noch: Etliche große Banken haben ihre Investitionen in fossile Energien seit dem Pariser Klimaabkommen sogar noch ausgeweitet. Finanzakteure befeuern derzeit also die Klimakrise, zumal die Investitionen von heute die Wirtschaft der nächsten Jahre prägen.“ (Seite 31)

Aber auch die Rolle der Finanzakteure bei der „Umgehung von Regeln“ stehe einer Transformation entgegen:

„Die ist alles andere als eine Petitesse: Große Teile der Finanzmarktaktivitäten dienen der legalen Steuervermeidung sowie der kriminellen Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Das Geschäftsmodell heutiger Großbanken ist ohne den Bezug zur organisierten Kriminalität kaum denkbar, sind sie doch in den Schattenfinanzzentren dieser Welt präsent, in denen Kriminelle ihr Geld über Briefkastenfirmen legalisieren können. (…) Stattdessen muss der Finanzsektor geschrumpft und wieder auf die Realwirtschaft ausgerichtet werden. Das würde auch dazu beitragen, die schädliche Umverteilung von unten nach oben zu bremsen und kriminelle Machenschaften zu bändigen. Nur so kann der Finanzsektor zur überfälligen Transformation beitragen, statt selbst ständiger Krisenherd zu sein.“ (Seite 32)

Quelle:

Gerhard Schick: „Finanzmarkt schrumpfen, Klima retten“, Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2022, Seite 29-32 https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/september/finanzmarkt-schrumpfen-klima-retten

Übergewinnsteuern gegen missbrauchte Marktmacht

Am 8. Juli 2022 stimmte der Bundesrat gegen den Antrag von Bremen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen auf die befristete Einführung einer Übergewinnsteuer. Dabei handelt es sich um eine Sondersteuer auf hohe Zusatzgewinne von Unternehmen durch den Ukraine-Krieg (Kriegsprofiteure, vor allem im Energiesektor). Diese sollte zur Finanzierung staatlicher Entlastungsmaßnahmen dienen. Die Bundesländer, in denen die CDU/CSU-Union oder die FDP an der Regierung beteiligt sind, stimmten gegen den Entschließungsantrag. Damit muss die Bundesregierung keinen Vorschlag für die Erhebung der Steuer für das laufende Jahr vorlegen. In der Frage zeigt sich auch die Bundesregierung gespalten: SPD und Grüne unterstützen die Idee, die FDP und Finanzminister Christian Lindner positionierten sich klar gegen eine derartige Steuer.

„Der Bürgermeister der Hansestadt, Andreas Bovenschulte, sieht vor allem im Energiesektor Handlungsbedarf: ‚Allein im ersten Quartal dieses Jahres konnten die vier Ölriesen Shell, BP, Exxon und Total ihren Nettogewinn gegenüber dem Vorjahr von etwa 15 Milliarden auf rund 34 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppeln‘, sagte der SPD-Politiker. ‚Nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur dürften die gestiegenen Energiepreise den Konzernen in diesem Jahr 200 Milliarden Euro zusätzlich in die Kassen spülen.‘“ (tagesschau.de vom 10. Juni 2022)

Auch die EU-Kommission prüft mehrere Optionen zur Einführung einer Übergewinnsteuer. Die sogenannte „Windfall Profits Tax“, schreibt die taz am 7. Juli 2022, werde von der EU-Kommission auf ihre Machbarkeit geprüft. Es gehe um eine koordinierte Herangehensweise in den 27 EU-Staaten. Denn für die Steuerpolitik seien die Mitgliedsländer zuständig. Brüssel wolle laut EU-Kommissarin Věra Jourová verhindern, dass es zu nationalen Alleingängen und damit zu Marktverzerrungen komme. Italien und Rumänien hätten die Übergewinnsteuer bereits eingeführt, bald werde Spanien folgen.

Nach Berechnungen der Entwicklungsorganisation Oxfam würde eine einmalige Sondersteuer von 90 Prozent auf Extraprofite allein bei den größten Unternehmen der G7-Länder über 430 Milliarden US-Dollar einbringen. „Das ist genug Geld,“ so Oxfam, „um die Finanzierungslücken aller humanitären Hilfsaufrufe der Vereinten Nationen zu schließen, einen 10-Jahres-Plan zur Beendigung des Hungers zu finanzieren und den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerungen der G7-Staaten einen einmaligen Zuschuss von über 3.000 US-Dollar zu zahlen, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken.“ Laut einer aktuellen von Oxfam beauftragten Umfrage sind drei Viertel der Bundesbürger:innen dafür, Extraprofite von Unternehmen stärker zu besteuern.

Auch der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel hält eine Übergewinnsteuer für machbar:

„Die EU empfiehlt sie. Etliche Länder in Europa trauen sie sich zu. In den USA ist sie von Renommierten der Wirtschaftswissenschaft durchdekliniert worden. Historische Erfahrungen mit ihr liegen in den USA und Großbritannien vor. Sie, das ist die zeitlich befristete Sondersteuer auf Übergewinne, zielgenauer auf Extraprofite vor allem in den Kassen der Mineralölkonzerne. Diese Steuer richtet sich gegen die missbrauchte Marktmacht von der Ölquelle über die Raffinerien und Transporte bis zur Tankstelle. (…) Die am Markt monopolistisch auftretenden Big Five-Mineralölkonzerne haben jüngst selbst gezeigt, wie sie ihre Übergewinne staatlich subventioniert steigern. Es handelt sich um die Tankrabatte, die großteils mit preispolitischen Tricks in die Konzernkassen gelenkt wurden. Auch das Ifo-Institut irrt mit seiner zweifelhaften Vergleichsstudie, die die nahezu komplette Weitergabe der Rabatte auf Kraftstoffe behauptet. (…) Deshalb ist klar: Da die CDU zusammen mit der FDP die Sondersteuer auf Extraprofite abgelehnt hat, sollten diese staatlichen Subventionen per missbrauchter Tankrabatte unverzüglich abgeschafft werden. Natürlich wäre es am besten, statt die Übergewinne zusätzlich zu besteuern, deren Ursachen zu beseitigen. Sie sind das Ergebnis monopolistisch eingesetzter Marktmacht durch die Konzerne.“ (taz vom 10. Juli 2022)

Das Handelsblatt versucht, der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen:

„In Berlin“, kommentiert Redakteurin Kathrin Witsch, „diskutiert man jetzt öffentlich über die Zerschlagung der Ölmultis und die Besteuerung von Übergewinnen. Doch das scheint schon juristisch schwer durchsetzbar, schnelle Preissenkungen durch diese Initiativen gegen die international agierenden Milliardenkonzerne sind darum nicht zu erwarten. Vielmehr sollte sich die Politik darum darauf konzentrieren, weitere steuerliche Erleichterungen für diejenigen zu schaffen, die sie bei den hohen Spritpreisen wirklich brauchen – wie Pendler und Gewerbetreibende“.

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema bietet das Magazin für Wirtschaftspolitik Makroskop:

Gerd Grötzinger: „Übergewinnsteuer? Ja, bitte!“ vom 6. Juli 2022
https://makroskop.eu/spotlight/versailles-durch-die-hintertur/ubergewinnsteuer-ja-bitte/ 

Quellen:

Eric Bonse: Brüssel für Steuer auf Extragewinne , taz vom 7. Juli 2022
https://taz.de/Hohe-Profite-hohe-Energiepreise/!5862682/ 

„Bundesrat befasst sich mit Übergewinnsteuer“, Tagesschau vom 10. Juni 2022
https://www.tagesschau.de/inland/bundesrat-uebergewinnsteuer-101.html 

Rudolf Hickel: „Subventionierte Extraprofite“, taz vom 10. Juli 2022
https://taz.de/Sondersteuer-auf-Uebergewinne/!5866498/ 

„Oxfam fordert Übergewinnsteuer, um Hunger- und Klimakrise zu bekämpfen“, Pressemitteilung von Oxfam vom 24. Juni 2022
https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2022-06-24-oxfam-fordert-uebergewinnsteuer-um-hunger-klimakrise-bekaempfen 

Kathrin Witsch: „Aktionismus zwecklos: Benzin und Diesel bleiben teurer“, Handelsblatt vom 14. Juni 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-aktionismus-zwecklos-benzin-und-diesel-bleiben-teurer/28423526.html 

 

Deutschland: Weiterhin ein sicherer Hafen für schmutziges Geld

Kriminologen können lediglich vermuten, wieviel Geld jährlich in Deutschland gewaschen wird. Nach seriösen Schätzungen handelt es sich dabei in Deutschland jedes Jahr um bis zu 100 Milliarden Euro. Am 25. August 2022 veröffentlichte die bei der OECD angesiedelte Financial Action Task Force (FATF) einen 320-seitigen Prüfbericht, der Deutschland weiterhin einen großen Nachholbedarf beim Kampf gegen die Finanzkriminalität bescheinigt. Die FATF gilt als das wichtigste internationale Gremium zur Bekämpfung und Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.

„Die Experten“, schreibt die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 26. August, „bemängeln das Kompetenzwirrwarr von über 300 Behörden, sehen Defizite bei der Überwachung des Bargeldschmuggels und beklagen insgesamt, dass Deutschlands zuständige Behörden viel zu wenig tun, um die Finanztransaktionen großer Verbrechersyndikate zu ermitteln und gerichtlich zu verurteilen.“

Der Bericht kritisiert vor allem die personelle Ausstattung sowie den fehlenden effizienten Austausch zwischen den Behörden. Das Ergebnis seien zu wenige Ermittlungen und Verurteilungen. Die SZ schlussfolgert: „Geldwäscher müssen bislang kaum Angst vor dem Rechtsstaat haben: Die wenigsten der vielen tausend Verdachtsmeldungen, die die Sammelstelle Financial Intelligence Unit (FIU) jedes Jahr an die Behörden weiterleitet, führen zu knallharten Ermittlungsverfahren, Von den rund 36.000 Geldwäscheverfahren des Jahres 2020 mündeten nur 629 in eine Anklage und 773 in einen Strafbefehl.“

Das Strafmaß für Geldwäsche in Deutschland, berichtet die Zeitung weiter, reiche von einer Geldstrafe bis hin zu Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und 15 Jahren. Im Falle von Verurteilungen erhielten 78 Prozent eine Geldstrafe und 13 Prozent eine Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr. Lediglich drei Personen wurden zu Freiheitsstrafen zwischen fünf und zehn Jahren verurteilt.

Am Tag vor Veröffentlichung des Berichts legte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) seine Ideen für eine große Reform der Geldwäsche-Bekämpfung vor. Zum einen soll ein mit echten Ermittlungsbefugnissen ausgestattetes Bundesfinanzkriminalamt geschaffen werden. Die zweite Säule bildet weiterhin die Anti-Geldwäsche-Einheit FIU, die künftig in die neue Bundesbehörde integriert werden könnte. Als drittes Standbein soll eine koordinierende Zentralstelle für Geldwäscheaufsicht arbeiten, die den Nichtfinanzsektor, wie etwa die Immobilien- und Glücksspielbranche, zu beaufsichtigen hätte (vgl. Handelsblatt vom 23. August 2022).

Sebastian Fiedler, SPD-Innenpolitiker und ehemaliger Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter, sprach sich im Deutschlandfunk jedoch gegen die Einrichtung einer weiteren zusätzlichen Behörde aus. Er forderte, den Zoll und die polizeilichen Teile des Zolls, die ja schon existieren würden, besser zu organisieren (vgl. junge Welt vom 26. August 2022). Die SZ dringt in ihrer Ausgabe vom 25. August auf die Einführung einer sogenannten Beweislastumkehr. „Diese bedeutet: Bei Verdacht auf kriminelle Herkunft konfiszieren die Behörden das infrage stehende Geld oder andere Vermögensgegenstände wie eine Immobilie. Sollte das beschlagnahmte Vermögen einem rechtschaffenen Bürger gehören, wird er leicht belegen können, wie er es verdient und wo er es versteuert hat. Ansonsten geht das Geld an den Staat.“ Italien habe mit dieser Methode seit den 1980er-Jahren Milliarden Euro an Mafiavermögen konfisziert.

Quellen:

Martin Greive/Jan Hildebrand: „Wie Lindner mit einer neuen Behörde große Geldwäscher fassen will“, Handelblatt (Online) vom 23. August 2022

Susanne Knütter: „Sicherer Hafen für Geldwäscher“, junge Welt vom 26. August 2022

Meike Schreiber/Markus Zydra: „Deutschland, Paradies für Geldwäscher“, Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2022

Markus Zydra: „Das reicht nicht, Herr Lindner!“, Süddeutsche Zeitung vom 25. August 2022

Wie die Mafia

Dass Donald Trump beim Aufbau seines Immobilien-Imperiums auch Deals mit Mafiakreisen gemacht hat, ist derzeit wohl nicht zu beweisen. Dass er sich aber vor der Justiz so verhält, wie sich nach seiner eigenen Einschätzung nur Mafiosi verhalten, hat er nun selbst belegt.

Seit Jahren laufen Untersuchungen zu betrügerischen Geschäftspraktiken seiner Firmen. Die Frankfurter Rundschau schreibt dazu: „Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft sollen der Milliardär und seine Helfer:innen über Jahre den Wert seiner Golfclubs, Hotels und sonstigen Besitztümer je nach Bedarf fälschlich klein- oder großgerechnet haben. Gegenüber dem Finanzamt wurden vor allem Verluste präsentiert. Bei Versicherungen und Banken aber sollen mit überzogenen Angaben günstige Kredite und Konditionen erschlichen worden sein.“ („Der Selbstdarsteller schweigt“, FR vom 12. August 2022)

Während einer vierstündigen Vernehmung unter Eid im Büro der New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James wegen dieser Vorwürfe nannte er nur seinen Namen und berief sich im übrigen mehr als 400-mal auf den fünften Verfassungszusatz. Dieser erlaubt es Beschuldigten, die Aussage zu verweigern, wenn sie sich ansonsten selbst belasten könnten. Trump hatte gute Gründe dafür. Allzu leicht hätte er sich in Widersprüche verwickeln können.

Als Hillary Clinton, seine Konkurrentin um den Präsidentenposten, vor ein paar Jahren das Gleiche tat, meinte er nur: „Warum beruft man sich auf den fünften Zusatzartikel, wenn man unschuldig ist?

Es versteht sich, dass Trump die Generalstaatsanwältin, eine Afroamerikanerin, nun vorab als Rassistin beschimpfte und die Untersuchung seiner Geschäfte als „die größte Hexenjagd der Geschichte“ bezeichnete.

Die FR kommentierte den Vorgang wie folgt: „Politisch und rechtlich könnte die Aussageverweigerung für den Mann jedoch zum Problem werden. Immerhin hatte er noch 2016 erklärt: ‘Nur die Mafia beruft sich auf den fünften Zusatz.’“

Eine neue Studie befeuert die Debatte um Übergewinnsteuern

Die aktuell massiven Preissteigerungen für Gas, Strom, Öl und Nahrungsmittel, ausgelöst vor allem durch den Krieg gegen die Ukraine, stürzen viele Menschen in finanzielle Not. Andererseits erzielen vor allem Mineralölkonzerne und Stromproduzenten (und Rüstungskonzerne) extrem hohe Extraprofite, ohne dass sich ihre Produktionskosten verteuert hätten. Europäische Nachbarländer aber zeigen, dass etwas gegen diesen Prozess der sozialen Polarisierung unternommen werden kann – beispielsweise durch die Einführung einer temporären Übergewinnsteuer auf Extraprofite. In Deutschland aber, so heißt es im Vorwort einer jüngst vorgelegten Studie des Netzwerks Steuergerechtigkeit, würde die Ampelkoalition vor allem auf Betreiben der FDP und durch das Stillhalten von Grünen und SPD diesen Weg blockieren. Als wenig stichhaltige Argumente werde etwa angeführt, dass eine Übergewinnsteuer rechtlich nicht möglich oder technisch nicht realisierbar sei oder zu wenig einbringe.

Zwei Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags würden dagegen das Gegenteil belegen: Eine Übergewinnsteuer in Deutschland ist juristisch machbar. Auch der Einwand von Bundesfinanzminister Lindner (FDP), Übergewinne ließen sich „amtlicherseits“ nicht feststellen, sei widerlegt. Ökonomisch und politisch gäbe es eine Reihe von Ansätzen, Übergewinne zu ermitteln und die Übergewinne der Mineralölkonzerne in Deutschland zu besteuern. Die Gegenargumente seien vor allem „eine ideologisch und verteilungspolitisch motivierte Verteidigung des Status Quo“. (Seite 6)

Die vorliegende Studie analysiert deshalb die Preisentwicklung und die Gewinne ausgewählter Mineralölkonzerne, belegt die Höhe der Kriegsgewinne in Deutschland und weltweit und zeigt, wo sie bisher versteuert werden.

Auf Seite 5 heißt es:

„Die sechs analysierten Mineralölkonzerne (Saudi Aramco, BP, Total, Shell, ExxonMobile und Wintershall Dea) haben ihre Gewinne im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum trotz hoher Abschreibungen auf Nord Stream 2 und das russische Geschäft um rund 60 Milliarden US-Dollar erhöht. Auf den gesamten Mineralölmarkt hochgerechnet ergibt sich ein Übergewinn von rund 430 Milliarden US-Dollar; für das ganze Jahr wären es sogar rund 1.160 Milliarden US-Dollar. Aus dem Preisanstieg seit Kriegsbeginn (…) ergeben sich aus den deutschen Verbrauchswerten rechnerisch Übergewinne von 38 Milliarden Euro (Öl) beziehungsweise 25 Milliarden Euro (Gas) für ein Jahr. Bei den Produzenten von Strom aus Kernkraft und erneuerbaren Energien entstehen aus dem Preisanstieg um 140 Euro pro MWh zusätzliche Übergewinne von etwa 50 Milliarden Euro – ein großer Teil davon bei den vier großen Stromkonzernen. Weil aber BP und die anderen Mineralölkonzerne einen beträchtlichen Teil ihrer Gewinne in Steueroasen wie Singapur oder die Schweiz verschieben, und ein anderer großer Teil der Gewinne in den Produktionsländern verbucht wird, würde die nach traditioneller Methode berechnete Unternehmenssteuer nur einen kleinen Teil der Gewinne erfassen. Je nach Ausgestaltung und Steuersatz (25, 50 oder 90 Prozent) könnte eine Übergewinnsteuer trotzdem Einnahmen von rund 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr generieren.“

Die EU-Kommission, so die Studie, erwäge eine europäische Übergewinnsteuer, einige europäische Länder, darunter Großbritannien, Italien, Spanien, Griechenland, Rumänien und Ungarn, hätten solche Steuern eingeführt, entwickelten sie gerade oder weiteten sie aus (etwa Spanien mit Blick auf die Banken). Auch Deutschland sollte deshalb kurzfristig eine Übergewinnsteuer für Mineralölkonzerne und Stromproduzenten einführen. Diese sollte nach dem Vorbild nationaler Digitalsteuern anderer Länder gestaltet werden, also die in Deutschland zu versteuernden Gewinne anhand des Umsatzes, der in Deutschland anfällt, ermittelt werden. Mittelfristig sollte die Bundesregierung auf eine allgemeingültige, international abgestimmte Steuer hinwirken.

Die linke Tageszeitung junge Welt kommentiert die Studie wie folgt:

„Fünf Monate sind vergangen, seit die EU-Kommission Leitlinien für Übergewinnsteuern veröffentlicht hat. In Italien gibt es sie inzwischen für Mineralöl- und Stromunternehmen, in Griechenland, Rumänien und Spanien für Stromerzeuger. Spanien hat zudem gerade die Sonderbesteuerung des Bankensektors angekündigt, Ungarn besteuert eine Vielzahl von Branchen, das aus der EU ausgetretene Großbritannien wenigstens die lokale Öl- und Gasförderung. EU-weit scheint wenig und in der BRD nichts zu machen.
Dafür steht Finanzminister Christian Lindner (FDP), der mit fadenscheinigen Argumenten nicht nur die Existenz von Übergewinnen in Abrede stellt, sondern auch die von Konzernen.“

Kathrin Witsch, Redakteurin des wirtschaftsliberalen Handelsblatt, zeigte sich Mitte Juni noch ablehnend gegenüber einer Besteuerung von Übergewinnen
(http://big.businesscrime.de/nachrichten/uebergewinnsteuern-gegen-missbrauchte-marktmacht/) Die vorliegende Studie scheint sie nun davon überzeugt zu haben:
„Länder wie Italien, Griechenland oder Großbrtitannien haben eine Form der Steuer auf Übergewinne längst eingeführt, die EU-Kommission hat dafür schon im Frühjahr grünes Licht gegeben. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnen das Instrument bislang hartnäckig ab. Schließlich sei eine solche Steuer ‚technisch sehr herausfordernd‘. Dabei behauptet niemand, dass eine solche Übergewinnsteuer einfach umsetzbar wäre. Das ist die Gasumlage allerdings auch nicht. Aber siehe da – es geht. Darum sollte wenigstens eine Diskussion über eine solche Steuer geführt werden.
Vielleicht hilft ja etwas Motivation. Eine neue Studie des Netzwerks Steuergerechtigkeit für die Linken-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung kommt jetzt zu einem interessanten Ergebnis: Je nach Ausgestaltung und Steuersatz könnte eine Besteuerung der Öl-, Gas- und Stromkonzerne dem Staat ‚Einnahmen von rund 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr generieren‘.“

Quellen:

Christoph Trautvetter/David Kern-Fehrenbach: „Kriegsgewinne besteuern: Ein Beitrag zur Debatte um Übergewinnsteuern“. Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, August 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46854/uebergewinnsteuer 

Alexander Reich: „Es wäre das mindeste“, junge Welt vom 17. August 2022
https://www.jungewelt.de/artikel/432727.energiekrise-es-w%C3%A4re-das-mindeste.html 

Kathrin Witsch: „RWE und Shell: Der Verzicht auf die Gas-Umlage ist alles andere als selbstlos“, Handelsblatt vom 16. August 2022

Das Versagen der Analysten

Im Juni 2020 kollabierte der börsennotierte deutsche Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister Wirecard. Schon Jahre zuvor, 2015, hatte ein Journalist der Financial Times Hinweise über Unstimmigkeiten in den Bilanzen des Konzerns erhalten und in der Folge darüber berichtet. Auch der britische Shortseller Fraser Perring warf im Jahr 2016 Wirecard betrügerische Machenschaften und Bilanzfälschung vor. Dass viele Analystinnen und Analysten bis zuletzt auf Wirecard gesetzt hatten und damit kolossal versagten, ohne aber mit Konsequenzen rechnen zu müssen, beschreibt ein Artikel der WirtschaftsWoche vom 22. Juli 2022. Dort heißt es: „Die Worte und Reports von Analysten können Millionen und Milliarden bewegen, Kleinsparer wie Großinvestoren legen ihr Geld entsprechend den Empfehlungen an – solange die Börsenbeobachter glaubwürdig erscheinen.“ 

Der Wirecard-Skandal aber habe dem Ruf der Aktienanalysten einmal mehr schwer geschadet, denn schon nach dem Zusammenbruch des Neuen Markts um die Jahrtausendwende habe er schwer gelitten. So erhielt eine Analystin der Commerzbank Ende 2019 den „Schmäh-Preis“ einer Investmentfirma: Sie wurde „zur besten Analystin für die schlechteste Wertpapieranalyse“ ausgezeichnet. Selbst danach, noch einen Monat vor dem Kollaps von Wirecard, erwartete sie, deren Aktie könne auf 230 Euro steigen, damit einen Aufschlag von 173 Prozent auf den damaligen Aktienkurs erreichen. Die „Expertin“ war jedoch mit ihrer (Fehl-)Einschätzung nicht allein.

„Besonders kurios wirken etwa die Empfehlungen der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Noch 2017 riet deren Analyst zum Verkauf der Aktie, 2018 wechselte er zu einem ‚Halten‘-Votum. Erst nachdem in der ‚Financial Times‘ zwei Berichte zu Bilanzfälschungsvorwürfen erschienen waren und der Kurs eingebrochen war, empfahl er die Aktie zum Kauf. Dieses ‚Kaufen-Rating‘ behielt der Analyst der LBBW sogar noch bei, als im April 2020 der KPMG-Bericht zu Wirecard erschien. Der Bericht offenbarte schwere Mängel: Die KPMG-Leute konnten eine Milliarde Euro Bankguthaben und entsprechende Umsätze nicht aufspüren.“

Auch andere Banken (wie die Warburg-Bank) präsentierten Wirecard-freundliche Analysen. Zum Beispiel die Münchner Baader-Bank, die die Aktie zwischen dem „erschreckenden KPMG-Bericht“ im April 2020 bis zur Pleite Mitte des Jahres sieben Mal empfahl. Offensichtlich arbeitet der Analyst weiterhin bei Baader. Auch ein Analyst der Privatbank Hauck Aufhäuser, der dem Betrug Wirecards ebenfalls auf den Leim ging, arbeitet weiter für die Bank, „beobachtet derzeit etwa die SDax-Titel 1&1 und Hypoport. Zu seinen vier ‚Kaufen‘-Empfehlungen zählt unter anderem die Wallstreet Online AG, die durch Verbindungen zu einem verurteilten Anlagebetrüger auffiel“.

Quelle:

Georg Buschmann/Lukas Zdrzalek: „Gezielte Desinformation“, WirtschaftsWoche vom 22. Juli 2022, Seite 78-80 (Printausgabe)

Kontrolleure mit (etwas mehr) Biss

Als weithin skandalös gilt, dass Unstimmigkeiten in den Bilanzen großer Konzerne in der Vergangenheit eher von Shortsellern als von der Finanzaufsicht BaFin entdeckt und veröffentlicht wurden.

In einem Report aus dem Herbst 2019 schrieb die Bürgerbewegung Finanzwende:

„Die BaFin bleibt in vielen Aufgabenbereichen deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück. Häufig fehlt es ihr an Tatkraft oder dem Willen einzugreifen. Oder wie es ein genervter Rechtsanwalt kürzlich ausdrückte: Die Finanzaufsicht sei zu oft ‚schuldig durch Nichtstun‘. Als harte Truppe sind die Aufseher der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unter Verbraucherschützern und Anlegeranwälten nicht gerade bekannt. Im Gegenteil: Ihnen agiert die Aufsicht oft nicht energisch genug, vielen gilt sie als ‚zahnloser Tiger‘.“

Nach dem Versagen der Behörde im Wirecard-Skandal des Jahres 2020, welcher gravierende Mängel bei den Kontrollmechanismen offenlegte, kündigte der Bundesfinanzminister deshalb eine Reform der BaFin an. Mitte des letzten Jahres beschloss der Bundestag ein entsprechendes Gesetz. Unter anderem wurde die Zahl der Mitarbeiter um etwa 150 aufgestockt, so dass die BaFin aktuell rund 2.800 Personen beschäftigt.

„Die reformierte Finanzaufsicht will härter, schneller und risikobereiter werden“, heißt es auf tagesschau.de. Die BaFin wirke entschlossener als bisher, so eine Expertin von Finanzwende gegenüber dem ARD-Nachrichtenportal; eine härtere Gangart sei schon sichtbar.

Das Wirtschaftsmagazin Finance weist in seiner aktuellen Ausgabe darauf hin, dass die Bilanzen deutscher Unternehmen 17 Jahre lang von der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) unter die Lupe genommen worden seien. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit Wirecard habe die Institution aber wegen einer zu schlechten Ausstattung ihre Unfähigkeit gezeigt, Bilanzmanipulationen großen Ausmaßes zu erkennen. Seit Januar 2022 ist nun die BaFin für die Bilanzkontrolle zuständig. Finance beschreibt das bisherige, unbefriedigende Prozedere:

„An die Kontrolle durch die DPR hatten sich Konzerne, ihre CFOs und Abschlussprüfer über die Jahre hinweg gewöhnt. Das Vorgehen: Die Prüfstelle wurde per Stichprobe oder auf einen Anlass hin aktiv, der Prüfung musste das Unternehmen dann erst einmal zustimmen, danach lief eine ausreichend lange Frist, um die angeforderten Dokumente vorzulegen. (…) Waren die Geprüften mit dem Urteil der DPR nicht einverstanden, folgte noch ein langes Ringen, und erst in einem finalen Schritt wurde die Bafin eingeschaltet. Fand die DPR einen Fehler, wurde dieser im Bundesanzeiger veröffentlicht – für die Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar und in einer derart kryptischen Formulierung, dass die meisten Anleger damit ohnehin nichts anfangen konnten. Vor allem aber dauerten die Untersuchungen meist so lange, dass der Fehler am Ende eine Bilanz betraf, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon mehrere Jahre alt war. Die Folge: Kaum ein Investor interessierte sich noch dafür, den Unternehmen drohte nur in den seltensten Fällen wirkliches Ungemach.“

Die BaFin forciert jetzt offensichtlich den Druck. So sollen Bilanzmanipulationen möglichst früh identifiziert und strafrechtlich relevante Sachverhalte gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden. Auch kann die BaFin bereits mit Beginn der Prüfung sowohl den Namen des Unternehmens als auch den Grund für die Untersuchung bekannt geben. Prüfungen sollen in drei bis sechs Monaten abgeschlossen sein und sich nicht mehr über Jahre hinziehen. Außerdem hat die BaFin nun ein Vorlade- und Vernehmungsrecht gegenüber Organmitgliedern, Mitarbeitern und Abschlussprüfern, so das Magazin Finance.

Die „neue Kampfeslust der Bafin-Beamten“ (Süddeutsche Zeitung vom 3. August 2022) zeigt sich offenbar in der Konfrontation mit einem Immobilienriesen, der Adler Group. Der Konzern, so der Vorwurf, habe sich ein großes Entwicklungsprojekt in Düsseldorfer Stadtteil Gerresheim schöngerechnet, das heißt, es sei um eine Viertelmilliarde Euro zu hoch bewertet worden (vgl. Artikel zur Adler Group vom 4. Juli 2022;  http://big.businesscrime.de/category/artikel/). Nach Angaben der BaFin, so berichtet die Süddeutsche Zeitung, veröffentliche die Behörde zum ersten Mal „eine solche Teil-Fehlerfeststellung“. Die Behörde untersuche also nicht mehr im Stillen so lange vor sich hin, bis es zu spät sei und Anleger alles verloren hätten. Allerdings – so die Einschränkung – stammten die Vorwürfe rund um Adler aus dem vergangenen Herbst und die Aktie hätte seitdem mehr als drei Viertel an Wert verloren.

Die Süddeutsche Zeitung kommentiert:

„Für ein Lob der neuen Bafin ist es noch zu früh; die Adler-Bilanzkontrolle ist ein erster Test, den die Behörde noch nicht bestanden hat. (…) Es waren stets andere, die zuerst auf Missstände hinwiesen. Die Finanzaufsicht deckt selten etwas auf. Immerhin verspricht sie jetzt, allen Hinweisen konsequent nachzugehen. (…) Bis die Bafin gefürchtet sein wird wie die US-Börsenaufsicht SEC mit ihren Megabußgeldern, ist es aber noch ein weiter Weg.“ (Süddeutsche Zeitung vom 4. August)

Quellen:

Bürgerbewegung Finanzwende e. V (Hg.):  „Die Akte BaFin. Zu mutlos, zu langsam, zu formal – wie die deutsche Finanzaufsicht besser werden kann“, Oktober 2019.

https://www.finanzwende.de/themen/finanzaufsicht-bafin/finanzwende-report-die-akte-bafin/

Ursula Mayer (HR): „Finanzaufsicht nach Reform: Der Riese BaFin erwacht allmählich“, tagesschau.de vom 3.Mai 2022

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/bafin-119.html

Julia Schmitt: „Das Ende des zahnlosen Tigers“, Finance vom Juli/August 2022, Seite 64-65 (Printausgabe)

Jan Diesteldorf/Stephan Radomsky: „Die Kontrolleure beißen zu“, Süddeutsche Zeitung vom 3. August 2022 (Online)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/adler-immobilien-bafin-1.5633156

Jan Diesteldorf: „Jetzt wir kontrolliert“, Süddeutsche Zeitung vom 4. August 2022 (Online)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bafin-kommentar-adler-wirecard-1.5633893

 

 

Private Fluchtprogramme der Superreichen

„Galoppierende Preise. Der Zusammenbruch des Finanzsystems. Das nächste Virus. Vielleicht sogar ein Atomkrieg. Alles möglich. Und jeder reagiert auf die Unsicherheit, auf seine Weise (…) Und die Superreichen?“

Das Wochenmagazin Wirtschaftswoche (WiWo) beschreibt in seiner Ausgabe vom 15. Juli 2022 die Vorsorgestrategie Superreicher gegen „die Bedrohungen unserer Zeit: Kriege, Killerviren und Klimakatastrophen“. Nach einer Erhebung der Beratungsfirma Capgemini, so die WiWo, gab es 2021 weltweit 22,5 Millionen Dollar-Millionäre, acht Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten davon leben in den USA (7,46 Millionen), 1,63 Millionen in Deutschland.

Offensichtlich strebt die Geldelite danach, sich verschiedene Aufenthaltsrechte zu sichern. So vermittelt ein Züricher Geschäftsmann Staatsbürgerschaften und Aufenthaltstitel – mit 300 Mitarbeitern und in 35 Büros weltweit. Seine Firma ließ die Fluchtbewegungen der Reichen untersuchen. Danach werden in diesem Jahr rund 88.000 Millionäre in andere Staaten auswandern – darunter mehr als 15.000 Superreiche aus Russland,  10.000 aus China und etwa 8.000 aus Indien.

„Amazon-Gründer Jeff Bezos, laut ‚Forbes‘ 135 Milliarden Dollar schwer, hat ein Refugium auf Hawaii. PayPal-Gründer Peter Thiel (4,8 Milliarden) ist Staatsbürger Neuseelands, Google-Gründer Larry Page (98 Milliarden) hat dort einen ständigen Wohnsitz. Für Thiel ist Neuseeland ‚die Zukunft‘, also der Ort, an den er wohl fliehen wird, wenn es soweit ist.“ (WiWo vom 15. Juli 2022)

Ein weiteres Beispiel für einen „Flüchtling de Luxe“ ist der Multimilliardär Roman Abramovich. Neben der russischen Staatsbürgerschaft verfügt er auch über einen Aufenthaltstitel in Großbritannien, eine israelische und eine portugiesische Staatsbürgerschaft, die ihm Freizügigkeit im gesamten Schengen-Raum ermöglicht (WiWo Online vom 18. Juli 2022).

„Die Zahlen spiegeln auch die zunehmende Ungleichheit wider: Wenn’s ums Geld der Menschen geht, ist Mobilität über Grenzen hinweg willkommen. Wenn’s ums Überleben der Menschen geht, dann werden Grenzen immer strikter geschlossen“, stellt der Soziolge Steffen Mau im Interview mit der WiWo fest (ebd.).

Von den weltweit reichsten Menschen haben nach Angaben von Mau rund 30 bis 40 Prozent mindestens einen zweiten Pass. „Seit Jahren hat sich über diese goldenen Pässe ein globaler Mobilitätsadel entwickelt, für den Grenzen keine Bedeutung mehr haben. Diese Personen schweben quasi im Privatjet über Grenzen hinweg, sie bilden damit eine eigenständige, sehr privilegierte Kaste, zugleich gibt es auch Personen aus der gehobenen Mittelschicht, die so versuchen, politische und wirtschaftliche Risiken zu minimieren. (…) Wer verschiedene Aufenthaltsrechte hat, kann damit sein gesamtes Portfolio optimieren, also gewissermaßen Ortsrenditen so generieren, wie sie gebraucht werden. Etwa, indem dort Steuern gezahlt werden, wo es günstiger ist. Oder jemand lässt sich dort nieder, wo er mehr Rechte und Freiheiten bekommt und sich nicht der Willkür ausgesetzt sieht. Im Idealfall gibt es beides auf einmal.“ (ebd.)

Durch die „goldenen Pässe“ werde, so Mau, die Staatsbürgerschaft kommerzialisiert und tendenziell entwertet. Dass, was eigentlich eine Loyalitätsbeziehung sei, werde jetzt zu einem handelbaren Gut – das sich allerdings sich nur einige wenige Menschen leisten können. So werde eine extreme Ungleichheit produziert zwischen denjenigen, die sich eine Staatsbürgerschaft kaufen können, und den Menschen, die mühsam an einer Einbürgerung arbeiten müssen (Nachweis festes Einkommen, Sprach- und Integrationstests).

Quellen:

Volker Ter Haseborg u. a.: „Flüchtlinge De Luxe: Geldwerter Vorsprung“, Wirtschaftswoche vom 15. Juli 2022 (Print), Seite 16-21

„Der Mobilitätsadel schwebt im Privatjet über Grenzen hinweg“, Interview von Sonja Álvarez mit Steffen Mau, Wirtschaftswoche (Online) vom 18. Juli 2022

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/millionaere-kaufen-goldene-paesse-der-mobilitaetsadel-schwebt-im-privatjet-ueber-grenzen-hinweg/28507518.html