Elon Musk: Rücksichtslos gegen Flüchtende und eigene Beschäftigte

Felix Klopotek schreibt in der Augustausgabe 2023 der Konkret über Elon Musk, den reichsten Menschen der Welt:

„Bewundernd, distanziert, zweifelnd und staunend schaut die hiesige Elite auf Musk. Wie soll man ihn einschätzen? Was kann man von ihm erwarten? Man weiß es nicht – und man soll es auch gar nicht wissen. Das ist die Pointe: Diese Fragen sollen unbeantwortet bleiben. Noch für eine Selbsteinschätzung, eine Erklärung in eigener Sache, ein definitives Leitbild ist Musk zu groß. So bleibt offen, wofür er steht. Ultraelitär oder lässig antibürgerlich? Globalistische Tech-Elite oder lieber Trump-Kumpel? Auf seiten der Ukraine oder doch Sympathien für Putin und Xi Jinping, weil die so harte Machertypen sind? Lächerliche Fragen aus der Sicht von Musk. Er ist da, wo er seine Chancen sieht, immer bereit zu zerstören, um Neues zu schaffen. Er verkörpert die Vision einer kapitalistischen Welt, die nach Jahren, Jahrzehnten des Klein-Kleins im Westen sich endlich entkoppeln muss von politischen Restriktionen – Liberalismus, Konservatismus, Demokratie, gar Sozialismus. All diese Begriffe stehen für die Beschränkung der privaten unternehmerischen Initiative. Musk ist noch nicht mal antipolitisch, er ist radikal apolitisch.“ (Seite 16)

Rechte Verschwörungserzählungen

Letztere Behauptung lässt sich angesichts aktueller Äußerungen des Tech-Milliardärs bezweifeln. So teilte Musk Ende September den hetzerischen Post eines offenbar rechtsextremen Nutzers seiner Internetplattform X (vormals Twitter), in dem zur Wahl der AfD aufgerufen wird, und kritisierte scharf die deutsche Migrationspolitik. Der User behauptet in seinem Tweet, dass derzeit acht Schiffe deutscher NGOs auf dem Mittelmeer „illegale Einwanderer“ aufnehmen und in Italien absetzen würden. „Hoffen wir“, so der User, „dass die AfD die Wahlen gewinnt, um diesen europäischen Selbstmord zu stoppen.“ Musk kommentierte mit Blick auf die deutschen Schiffe: „Ist die deutsche Öffentlichkeit sich dessen bewusst? (…) Sicherlich ist es eine Verletzung der Souveränität Italiens, wenn Deutschland große Mengen illegaler Einwanderer auf italienischen Boden transportiert? Das hat etwas von Invasionsstimmung.“ (Handelsblatt vom 30. September 2023)

Musk bezieht sich dabei auf die Kritik der italienischen Regierung am Auswärtigen Amt, das in diesem Jahr Seenotrettungsorganisationen mit bis zu zwei Millionen Euro unterstützt. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatte sich gegenüber Bundeskanzler Olaf Scholz irritiert über die finanziellen Hilfszahlungen gezeigt. Das Handelsblatt kommentiert Musks enorme Meinungsmacht vor dem Hintergrund der politischen Aktivitäten, Flüchtende von Europa fernzuhalten: „Mit dem Tweet von Musk gewinnt die Debatte nun deutlich an Schärfe.“

 Die taz stellt klar, dass die Behauptungen von Musk & Co schlicht falsch sind:

„Tatsächlich sind von den bisher in diesem Jahr rund 133.000 an Italiens Küsten angekommenen Flüchtlingen und Migrant:innen nur rund 8 Prozent von NGO-Schiffen nach Italien gebracht wurden. (…) Zur Zeit des Tweets (…) waren nicht sieben oder acht, sondern fünf von deutschen Vereinen betriebene Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer unterwegs: die ‚Louise Michel‘, ‚Aurora‘, ‚Nadir‘ und ‚Trottamar III‘, dazu die von den Behörden festgesetzte ‚Humanity 1‘. Bisher erhielt kein Schiff deutsche Staatshilfe. Geplant sind Zahlungen an den Verein SOS Humanity, der die ‚Humanity 1‘ betreibt. Ob das Geld tatsächlich fließt, ist aber offen.“

Nach Auffassung der Frankfurter Rundschau  bedient sich der von Musk geteilte Aufruf zur Wahl der AfD eines Vokabulars, das an die von Rechtsextremen verbreitet rassistische und antisemitische Verschwörungserzählung des sogenannten Großen Bevölkerungsaustauschs angelehnt ist. „Unter diesem Narrativ propagieren Rechtsextreme einen angeblichen Versuch einer ‚globalen Elite‘, weiße Bevölkerungen gegen Geflüchtete ‚auszutauschen‘. Insbesondere Anhänger:innen der Identitären Bewegung verbreiten dieses Narrativ – vor allem in den sozialen Netzwerken. Auch in Bekennerschreiben rechtsextremer Terroristen findet es sich seit Jahrzehnten. (…) Elon Musk fiel bereits in der Vergangenheit immer wieder durch das Verbreiten von Verschwörungserzählungen auf: So verbreitete er einen antisemitischen Vergleich zwischen dem Comic-Bösewicht Magneto und dem liberalen Milliardär und Philanthropen George Soros. Soros – ein Überlebender des Holocaust – ist eine Hassfigur der extremen Rechten und wird in der Verschwörungserzählungen des ‚Großen Bevölkerungsaustausches‘ oft als Sinnbild ‚der Elite‘ verunglimpft. Am prominentesten in Orbàns Ungarn.“

„Produktionshölle“

Ein anderer Schauplatz: Ende September veröffentlichte das Magazin Stern die Ergebnisse einer Recherche über das Tesla-Werk im brandenburgischen Grünheide. Danach wurden gravierende Verstöße von Elon Musks Unternehmen gegen Arbeitsschutz- und Umweltauflagen festgestellt – die die Politik offenbar tatenlos hinnimmt. Die Vorwürfe des Stern beruhen teils auf Dokumenten, die Reporter:innen des Magazins offenbar einsehen konnten, teils auf Aussagen von Betroffenen, die über selbst erlittene Unfälle berichteten. Daneben, so der Stern, konnten zwei Reporterinnen in die Gigafabrik eingeschleust werden und deshalb gravierende Mängel selbst beobachten.

Das nd kommentiert die Veröffentlichung des Stern:

„Wie viel unattraktiver kann Elon Musk das Arbeiten in seiner Tesla-Gigafabrik in Grünheide noch gestalten? Keine Tarifbindung trotz Automobilindustrie, Verschwiegenheitserklärung im Arbeitsvertrag, Ellbogenmentalität gemischt mit autoritärer Führung, heiße Sommer und kalte Winter in den Fabrikhallen: Tesla scheint ein richtig mieser Arbeitgeber zu sein. Nun glänzt die Gigafabrik in Grünheide mit hohen Zahlen meldepflichtiger Arbeitsunfälle und Gruselgeschichten von Verunglückten.“ (nd vom 5. Oktober 2023)

Der von Tesla-Gründer und Provokateur Musk selbst stammende Begriff „Produktionshölle“ bezeichnet anschaulich die seit Jahren berüchtigten Arbeitsunfallstatistiken und Produktionsvorgaben des seit März 2022 produzierenden Werks von Tesla (vgl. nd vom 8. Oktober 2023).

Eine Auswahl der Vorwürfe der investigativen Stern-Recherche gegen Tesla in Grünheide:

– Tesla durfte in nicht einmal zwei Jahren die Fabrik in ein Trinkwasserschutzgebiet setzen – Das Landesamt für Umwelt und die untere Wasserbehörde des Landkreises hebelten mit etlichen Sondergenehmigungen dafür große Teile ihrer Wasserschutzverordnung aus. Zum Teil erteilten die Behörden  für illegale Bauarbeiten nachträglich Ausnahmegenehmigungen. 

– Das Werk gefährdet Mitarbeiter:innen, Umwelt und Anwohner gleichermaßen: Fast täglich ereignen sich Unfälle mit schweren und schwersten Verletzungen. Giftstoffe, Öle und Diesel versickern wegen eines zum Teil nachlässigen Umgangs im Erdreich. „Allein zwischen Juni und November 2022 gab Tesla selbst demnach 190 meldepflichtige Unfälle an. (…) Die Daten der Rettungsstellen sprechen eine ähnliche Sprache. Man kann dort nachlesen, dass Musks Fabrik im ersten Jahr nach der Eröffnung 247 Mal einen Rettungswagen oder Hubschrauber anforderte. Auf die Mitarbeiterzahl umgerechnet, sind das in einem ähnlichen Zeitraum gut dreimal so viele Notfälle wie beispielsweise in Audis Werk in Ingolstadt.“ (Seite 32)

Nach Aussage eines Gewerkschafters verletzten sich in keinem anderen Autokonzern in Deutschland so viele Menschen wie bei Tesla. Es handelt sich dabei unter anderem um Verletzungen durch Stromschläge, Verbrühungen, Salzsäure, amputierte Gliedmaßen.

– Der Konzern wurde vom Stern mit dessen Recherchen und den Vorwürfen der Mitarbeiter:innen konfrontiert, reagierte aber nicht darauf. Tesla hat mit Hilfe von Politik und Brandenburgs Behörden ein System des Schweigens geschaffen. Hinweisgeber, die über Sicherheitsmängel informierten, verloren ihren Job. Aufgrund von Verschwiegenheitsklauseln in Arbeitsverträgen können von Unfällen betroffene Beschäftigte nicht offen mit Journalisten sprechen. Mitarbeitende, die über interne Vorgänge reden, müssen mit ihrer Entlassung und Schadensersatzklagen rechnen. Tesla schottet sich gegenüber der Öffentlichkeit nahezu ab „wie ein Gefängnis“. (Seite 26).

– Brandenburgs Behörden nehmen ihre Kontrollfunktion offensichtlich nicht ernst. Aus ihren Akten, so der Stern, gehe hervor, dass seit Januar 2022 mindestens ein Mitarbeiter des Landesamts für Arbeitsschutz  mehrmals im Monat zu Tesla fährt, um die Arbeitssicherheit zu prüfen – zumeist allerdings erst nach vorheriger Ankündigung und Angabe darüber, was genau er sich ansehen will.

Dazu der Kommentar des Stern:

„Es ist das eine, dass die Regierung eines Bundeslandes stolz ist auf die Ansiedlung eines Weltkonzerns, den Regierungen und Regionen in ganz Europa umworben haben. Und gute Beziehungen zu diesem Konzern zu unterhalten, weil es allen Seiten nutzt. Etwas ganz anderes ist es, wenn Politiker und Behörden dabei zusehen, wie ein Unternehmen systematisch Menschen und die Umwelt in Gefahr bringt und gegen Auflagen und Gesetze verstößt. Oder sogar mithelfen, dass diese Missstände möglichst nicht auffallen.“ (Seite 35)

Stephan Kaufmann bilanziert nüchtern für das nd:

„Tesla unterscheidet sich von der deutschen Konkurrenz nur dadurch, dass es die geltenden Regeln des kapitalistischen Geschäfts besonders konsequent umsetzt. Genau deswegen ist der Konzern ja auch besonders erfolgreich: Umsatz in drei Jahren verdreifacht, Gewinn versiebenfacht. ‚Es sind die Leute in diesen Fabriken, die unseren Wohlstand schaffen‘, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Werkseröffnung im März 2022. Seitdem hat sich Teslas Börsenwert um 170 Milliarden Dollar erhöht.“

Eine positive Meldung zum Schluss: Nach Angaben der IG Metall forderten am 9. Oktober mehr als 1.000 Beschäftigte von Tesla „bei einer erstmaligen Aktion in der Fabrik in Grünheide gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen“. (Handelsblatt vom 9. Oktober 2023) Sie hätten sich mit einem Slogan auf IG-Metall-Aufklebern und T-Shirts gezeigt: „Gemeinsam für sichere & gerechte Arbeit bei Tesla“.

Quellen:

Christian Esser/Manka Heise/Tina Kaiser: “Außer Kontrolle”, Stern vom 26. September 2023, Seite 24-37 

Kilian Beck: „Musk teilt AfD-Wahlaufruf und liefert sich Schlagabtausch mit deutschen Außenministerium“,

Frankfurter Rundschau (Online) vom 3. Oktober 2023

https://www.fr.de/politik/gegen-baerbock-ministerium-verschwoerungserzaehlung-musk-schiesst-92552088.html

Christian Jakob: „Elon Musk hetzt gegen Seenotrettung“, taz (Online) vom 2. Oktober 2023

https://taz.de/Elon-Musk-hetzt-gegen-Seenotrettung/!5964281/

Stephan Kaufmann: „Tesla: Weltweit berüchtigte Arbeitsunfallstatistiken“, Neues Deutschland (Online) vom 8. Oktober 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176660.gruenheide-tesla-weltweit-beruechtigte-arbeitsunfallstatistiken.html?

Felix Klopotek: „Logik des Schreckens“, Konkret 8/2023, Seite 16-18

Jule Meier: „Arbeitsunfälle bei Tesla in Grünheide: Arm ab und arm dran“, Neues Deutschland (Online) vom  5. Oktober 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176737.arbeitsschutz-arbeitsunfaelle-bei-tesla-in-gruenheide-arm-ab-und-arm-dran.html?

Dietmar Neuerer: „Elon Musk teilt Beitrag mit Aufruf zur Wahl der AfD – Kritik von den Grünen“, Handelsblatt (Online) vom 30. September 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/international/tesla-chef-elon-musk-teilt-beitrag-mit-aufruf-zur-wahl-der-afd-kritik-von-den-gruenen/29421492.html

„Über 1000 Tesla-Mitarbeiter für bessere Arbeitsbedingungen“, Handelsblatt (Online) vom 9. Oktober 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ig-metall-ueber-1000-tesla-mitarbeiter-fuer-bessere-arbeitsbedingungen/29434870.html

 

Staatsanwältin kaltgestellt?

Deutschlands wichtigste Cum-Ex-Ermittlerin soll entmachtet werden. Das berichtet das Handelsblatt am 20. September 2023. Danach plant Stephan Neuheuser, erst seit wenigen Wochen neuer Chef der Kölner Staatsanwaltschaft, einschneidende personelle Veränderungen. Er will die Hauptabteilung H, „Deutschlands schlagkräftigste Ermittlertruppe im Kampf gegen Steuerhinterziehung nach der Methode Cum-Ex“, umbauen. Diese wurde von Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker geleitet, die als führende Expertin bei der strafrechtlichen Verfolgung des Wirtschaftsverbrechens gilt. Ein zweiter Hauptabteilungsleiter, Ulrich Stein-Visarius, soll ernannt werden, der allerdings bislang in Bezug auf Cum-Ex-Verfahren völlig unerfahren ist.

„Neuheuser und Stein-Visarius kommen beide aus dem Justizministerium Nordrhein-Westfalen. Neuheuser leitete dort zuletzt das Referat für Personalbedarf im Justizvollzug, Stein-Visarius das Referat für Jugendstrafrecht. Nun soll er die Hälfte der rund 30 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte führen, die sich um die hochkomplizierten Cum-Ex-Fälle kümmern.“

Brorhilker muss ihre Ermittlungsarbeit künftig wohl mit dem neuen Co-Chef abstimmen. Bei unterschiedlichen Auffassungen, schreibt das Handelsblatt, müsste ihr Vorgesetzte Neuheuser entscheiden. Umgesetzt sind die Pläne noch nicht. Nach Angaben einer Sprecherin des Justizministeriums dauere „die Prüfung von Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz“ in der zuständigen Fachabteilung noch an.

Die junge Welt kommentiert diesen für viele Beobachter überraschenden Vorgang:

„Die personelle Neuordnung mit Effizienzgewinnen zu begründen, ist dreist. Bei ihrer Jagd auf die Cum-Ex-Diebe und ihre Beute konnte Brorhilker seit 2013 etliche spektakuläre Erfolge erzielen. Zum Beispiel brachte sie den Kanzleipartner von Hanno Berger zum Reden, der in Deutschland schillerndsten Cum-Ex-Figur. Zehn Jahre nach Bergers Flucht in die Schweiz erwirkte die Oberstaatsanwältin seine Auslieferung, woraufhin dieser 2022 vor den Landgerichten Bonn und Wiesbaden zu jeweils rund acht Jahren Haft verurteilt wurde. 2014 ließ Brorhilker im Rahmen einer weltweiten Razzia Büros in Frankfurt am Main, Zürich, Luxemburg, London und New York durchsuchen und massenhaft Beweismittel beschlagnahmen. 2015 spielte ein Insider dem NRW-Finanzministerium eine CD zu, durch deren Auswertung 129 Cum-Ex-Geschäfte aufgedeckt und 100 Millionen Euro an zu Unrecht erstatteten Steuern zurückgeholt werden konnten. Nicht zuletzt verfasste Brorhilker die Anklage im Prozess gegen die Hamburger Warburg-Bank, gegen die schließlich eine Geldstrafe von 176 Millionen Euro verhängt wurde.“

Auch das Handelsblatt unterstreicht die Verdienste Brorhilkers:

„International konnte sich die Chefermittlerin aus Köln höchsten Respekt erarbeiten. Die Nachrichtenagentur Bloomberg nahm Brorhilker im Dezember 201 als einzige Deutsche in ihre ‚Top 50‘ auf – die Liste der ‚Menschen und Ideen, die 2021 das globale Geschäft bestimmen‘. Zu Hause schien ihre Arbeit weniger geschätzt. Längst nicht alle Stellen in der Hauptabteilung waren besetzt. Viele der Ermittler hatten kaum Berufserfahrung. Außerdem sollten sie sich neben den Cum-Ex-Verfahren auch um Corona-Betrugsfälle kümmern.“

Die junge Welt erinnert weiter daran, dass derzeit der ehemalige Chef der Warburg-Bank, Christian Olearius, in Bonn vor Gericht steht und dass sich die Hamburger Bürgerschaft vom Justizapparat behindert fühlt:

„Die Justiz in der Hansestadt interessiert der Fall nicht, obgleich sich in der Bürgerschaft ein Untersuchungsausschuss damit beschäftigt. Allerdings erhob das Parlament den Vorwurf, die Kölner Staatsanwaltschaft habe ein Jahr lang Akten aus Ermittlungsverfahren zurückgehalten, die der Ausschuss wiederholt angefordert hatte. Offenbar sind in Köln seit längerem Bremser am Werk, denen Brorhilkers Eifer missfällt. (…) Reichen die Vorbehalte vielleicht bis hoch an die Behördenspitze oder noch weiter? Jedenfalls wurden den Hamburger Abgeordneten erst nach Intervention durch NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen) Unterlagen zugeleitet. Zudem musste der Chef der Staatsanwaltschaft, Joachim Roth, seinen Hut nehmen, um durch besagten Neuheuser ersetzt zu werden. Dessen erste Amtshandlung wird absehbar darauf hinauslaufen, die Kompetenzen Brorhilkers zu beschneiden. Zugleich gibt es immer noch Klagen aus Hamburg, dass weiterhin wichtige Papiere aus Köln fehlten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.“

Quellen:

René Bender/Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Neuer Behördenleiter will Deutschlands wichtigste Cum-Ex-Ermittlerin entmachten“, Handelsblatt (Online) vom 20. September 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-neuer-behoerdenleiter-will-deutschlands-wichtigste-cum-ex-ermittlerin-entmachten-/29370396.html

Ralf Wurzbacher: „Das Imperium schlägt zurück“, junge Welt (Online) vom 22. September 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/459573.cum-ex-das-imperium-schlägt-zurück.html

 

Hochkriminelle Straftaten: Neues zu Cum-Ex und der HSH Nordbank

BIG berichtete am 19. Dezember 2022, dass die Hamburgische Bürgerschaft im Monat zuvor beschlossen hatte, den Arbeitsauftrag des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Cum-Ex-Affäre zu erweitern. Neben den illegalen Geschäften der Warburg-Bank sollten nun auch die Aktivitäten der früheren landeseigenen HSH Nordbank ab 2008 untersucht werden. Die HSH wurde 2018 an eine Investorengruppe um den US-Hedgefonds Cerberus verkauft und firmiert heute als Hamburg Commercial Bank. Jetzt endlich, fast ein Jahr nach dem Beschluss der Bürgerschaft, soll die Aufklärungsarbeit über die HSH im November dieses Jahres tatsächlich beginnen.

BIG erwähnte auch eine große internationale Wirtschaftskanzlei, die bei der HSH bereits im Jahr 2013 Transaktionen festgestellt hatte, bei denen etwa 112 Millionen Euro an Kapitalertragsteuern zu Unrecht erstattet worden waren. Wie das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom 26. August 2023 berichtet, liegt dem Untersuchungsausschuss dieses Geheimgutachten („Saturn“-Bericht) der Kanzlei Clifford Chance vor, das die Details der gigantischen Steuerhinterziehung aufzeigt. Auch die Redaktion der Düsseldorfer Wirtschaftszeitung konnte die 450 Seiten starke Untersuchung mittlerweile einsehen.

Das Handelsblatt schreibt, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg trotz des immensen Steuerschadens nie ermittelt habe, obwohl sie nach dem Legalitätsprinzip bei Kenntnis einer möglichen Straftat dazu  verpflichtet sei: „Die Staatsanwaltschaft gibt keine Auskunft dazu, warum das nicht geschah und wann sie so entschied.“

Nach dem Bericht von Clifford Chance habe die HSH Nordbank im Jahr 2008 insgesamt 17 Handelsgeschäfte abgewickelt und sich 35,4 Millionen Euro beim Finanzamt erstatten lassen. 2009 seien bei sechs Cum-Ex-Geschäften 19,9 Millionen Euro Steuern rückerstattet worden, 2010 bei zwei Deals weitere 23,2 Millionen Euro, 2011 folgten fünf Geschäfte mit 33,1 Millionen Euro an Erstattungszahlungen.

„Die Verantwortlichen der HSH Nordbank“, so das Handelsblatt, „dürften sich damit im hochkriminellen Bereich bewegt haben. Die Schwelle zur ‚schweren Steuerhinterziehung‘ ist laut Bundesgerichtshof bereits bei einem Schaden von 50.000 Euro überschritten, ab einer Million Euro sind Haftstrafen üblich. Eine Selbstanzeige kann Betroffene nur bei Beträgen unter 25.000 Euro vor einer Strafe schützen.‘“

Es hätte nicht an der Bank gelegen, dass die Fahnder und Staatsanwälte die Steuerhinterziehung nicht verfolgt und geahndet hätten. Die Zeitung zitiert auf Nachfrage eine Sprecherin der Nachfolgerin der HSH-Nordbank (Hamburg Commercial Bank): „Die seinerzeitige HSH hat das Finanzamt und die Staatsanwaltschaft ab 2013 fortlaufend über die Erkenntnisse aus der internen Untersuchung informiert“. Warum keine Ermittlungen folgten, könne die Bank nicht sagen.

Erst lange nachdem das  Bundesfinanzministerium im Mai 2009 alle Banken darüber informiert hatte, dass Cum-Ex-Geschäfte illegal waren, erteilten die HSH-Verantwortlichen im Januar 2013 der Kanzlei Clifford Chance den Auftrag, die Risiken der jahrelang durchgeführten Cum-Ex-Geschäfte einzuschätzen. Nachdem die Anwälte Ende 2013 einen Zwischenbericht vorgelegt hatten, beschloss der Vorstand der HSH, vorsorglich 127 Millionen Euro zurückzustellen und eine Rückzahlung zu veranlassen (112 Millionen Euro illegal kassierte Erstattungen plus 15 Millionen Euro für die aufgelaufenen Zinsen). Nach eigener Auffassung hatte die HSH Nordbank damit einen sauberen Strich gezogen. Zu strafrechtlichen Konsequenzen kam es jedoch nie.

„Der Saturn-Bericht wurde nach Fertigstellung an das Hamburger Finanzamt für Großunternehmen geschickt – und an die Staatsanwaltschaft der Hansestadt. Eine Behördensprecherin wollte nicht sagen, wann genau das geschah. Es seien ‚seinerzeit Beobachtungsvorgänge angelegt‘ worden. Dabei blieb es. Eine strafrechtliche Aufarbeitung der HSH-Affäre begann erst, als Ermittler von der Staatsanwaltschaft Köln 2018 den Saturn-Bericht im Zuge anderer Ermittlungen fanden. Anders als ihre Hamburger Kollegen erkannten sie sofort eine mögliche Straftat. (…) Im Juli 2021 kamen die Kölner zu einer Razzia nach Hamburg. Nach Handelsblatt-Informationen sind etwa 15 Personen beschuldigt – darunter viele Führungskräfte, bis hinauf zum ehemaligen Kapitalmarkt-Vorstand Joachim Friedrich, der die Vorwürfe als unbegründet zurückweist. Es soll zudem Hinweise geben, dass der Clifford Chance-Bericht nicht das ganze Ausmaß der Steuerhinterziehung zeigt.“

Vor dem Hintergrund der Privatisierung der HSH im November 2018 wollte offenbar die Staatsanwaltschaft „die Kreise der Stadtregierung unter ihrem damaligen Finanzsenator Peter Tschentscher und Bürgermeister Olaf Scholz nicht stören“, wie der bekannte Hamburger Strafrechtsanwalt Gerhard Strate vom Handelsblatt zitiert wird. „Die Beachtung von Gesetz und Recht wäre wohl eine solche Störung gewesen.“ Strate meinte weiter: „Die gänzliche Tatenlosigkeit der Staatsanwaltschaft Hamburg in diesem Fall dürfte den Tatbestand der Strafvereitelung im Amt erfüllen.“ Auch deshalb, weil der „Saturn“-Bericht dem Hamburger Untersuchungsausschuss erst kürzlich vorgelegt wurde, die Staatsanwaltschaft aber die finale Version bereits kurz nach Fertigstellung im Dezember 2014 erhalten hatte.

„Die Geschäfte erfüllen ohne jeden Zweifel den objektiven und subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung“, befand damals übrigens auch Wolfgang Kubicki, zu dieser Zeit Abgeordneter der FDP im Landtag von Schleswig-Holstein – und selbst Rechtsanwalt. Schon kurze Zeit später erhielt Kubicki ein Mandat von Cum-Ex-Strippenzieher Hanno Berger und änderte seine rechtliche Einschätzung grundlegend. Im März 2014 sagte er, es handele sich bei den Cum-Ex-Ermittlungen um „Gesinnungsstrafrecht“. Der Staat wolle damit nur sein eigenes Versagen verschleiern, diese Geschäfte zugelassen zu haben (Handelsblatt-Podcast vom 10. September).

Resümee: Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die HSH Nordbank bzw. gegen einzelne Personen, während die Ermittlung der Staatsanwaltschaft Hamburg sich weiter im „Beobachtungsstatus“ befindet, die Behörde also untätig bleibt. Der bereits in der Affäre Warburg-Bank tätige Cum-Ex-Untersuchungsausschuss in Hamburg wird jetzt auch – auf Antrag der Fraktionen von CDU und Die Linke in der Bürgerschaft – die Geschäfte der HSH Nordbank untersuchen. Der Erste Bürgermeister Tschentscher (SPD) hält offensichtlich nur wenig davon.

Quellen:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Hamburg als Paradies für Steuersünder“, Handelsblatt vom 26. August 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-hamburg-als-paradies-fuer-steuersuender/29343810.html

Lena Jesberg/Volker Votsmeier/Sönke Iwersen: „Hamburg: Paradies für Steuerhinterzieher“, Handelsblatt Crime (Podcast), 10. September 2023

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-hamburg-paradies-fuer-steuerhinterzieher/29375644.html

Zum Gedenken an Erich Schöndorf (1947 – 2023)

„Gesellschaften haben offenbar nicht nur die Verbrecher, die
sie verdienen, sondern auch eine ihnen adäquate Justiz. So
wird sich eine Autogesellschaft auch keine Richter erlauben,
die ihr das Liebste nehmen.“ Erich Schöndorf

Erich Schöndorf war nach seinem Studium der Rechtswissenschaft, das er mit einer Promotion bei Spiros Simitis abschloss, von 1977 bis 1996 Staatsanwalt in Frankfurt am Main. Die letzten zehn Jahre war er im Umweltdezernat tätig und vor allem mit dem “Holzschutzmittel-Verfahren” befasst. Dabei ging es um die gesundheitlichen Folgen PCP- und lindanhaltiger Holzschutzmittel, die massenhaft vertrieben worden waren. Die Verurteilung zweier Manager des Herstellers Desowag, einer Tochterfirma des Bayer-Konzerns wegen Körperverletzung wurde im Nachhinein wieder aufgehoben. Das Unternehmen kam mit einer Geldspende für Forschungszwecke davon. Die Geschädigten gingen leer aus.

Nach dieser frustrierenden Erfahrung quittierte Schöndorf den Justizdienst. Unter dem Titel „Zermürbt und müde. Interne Querelen treiben einen Umweltstaatsanwalt aus dem Amt“ beschrieb Herbert Stelz in der ZEIT vom 6. September 1996 die Vorgänge um den Prozess und die Widerstände, mit denen sich Erich Schöndorf auseinandersetzen musste. Immerhin hatte er aber im Zusammenspiel mit Journalisten erreicht, dass der Fall bundesweit bekannt wurde und das Problembewusstsein für Umweltgifte gewachsen war. Desowag und andere Firmen mussten bei der Produktion von Holzschutzmitteln fortan auf gesundheitsschädliche Stoffe verzichten.

Das langwierige und nicht von Erfolg gekrönte Gerichtsverfahren arbeitete Schöndorf in seinem Buch “Von Menschen und Ratten. Über das Scheitern der Justiz im Holzschutzmittel-Skandal” auf. Es folgte „Strafjustiz auf Abwegen. Ein Staatsanwalt zieht Bilanz“. Dann wandte er sich als Autor eher literarischen Formen zu. Dem Thema Umweltverbrechen angemessen entstanden die Öko-Krimis „Feine Würze Dioxin“, „Das Projekt“ und „Terrorziel Wasser“, alle im Nomen-Verlag veröffentlicht. Zuletzt erschien das Hörbuch „Game over?“ im Verlag Libroletto.

1996 wurde Erich Schöndorf als Professor für Umweltrecht und öffentliches Recht an die Fachhochschule Frankfurt am Main berufen. Viele Jahre war er aktiv im Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit dem Schwerpunkt Klimaschutz. Als Mitglied bei Business Crime Control (BCC) war er seit 1998 Mitherausgeber der Zeitschrift BIG Business Crime, seit 2002 Mitglied im Vorstand und von 2011 bis 2021 Vorsitzender des Vereins.

 

„Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“

Unter dem Titel „Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“ hat Schöndorf in BIG Nr. 4/2014 beschrieben, wie er Ende der 1990er Jahre an der Fachhochschule Frankfurt mit Hans See und dem von ihm zusammen mit anderen gegründeten Verein BCC in Kontakt kam und wie das seinen Blick auf Umweltdelikte veränderte: „Als reinrassiger ‚Öko‘ war ich ganz auf eine Verfolgung von Straftaten fixiert, die dem Schutz von Umweltgütern wie Wasser, Boden und Luft dienen sollte. Die wirtschaftliche Dimension dieser Verfahren hatte ich zunächst komplett ausgeblendet. Ich war in Umweltverbänden und Bürgerinitiativen zuhause und hatte mich im Kampf um die Startbahn West (des Frankfurter Flughafens) engagiert.“

Über den von ihm 12 Jahre lang als Staatsanwalt geführten Holzschutzmittel-Prozess schrieb er dementsprechend selbstkritisch: „Zahlreiche Häuslebauer und Heimwerker waren durch die Anwendung giftiger Lasuren krank geworden und ich hatte im Dschungel der Toxikologie mit ihren Grenzwertproblemen und biochemischen Wirkmechanismen den wirtschaftsrechtlichen und insbesondere den wirtschaftskriminellen Hintergrund des Verfahrens schlicht verkannt. Die Firma hatte nämlich ihre Giftchargen betrügerisch an den Mann gebracht, indem sie über die Gefährlichkeit ihrer Produkte nicht aufgeklärt hatte. Neben dem Umweltdelikt der Giftfreisetzung hatte ich es quasi unbemerkt auch noch mit einem Betrug zu tun.“

Dieser Betrug diente der Gewinnerzielung und Gewinnmaximierung, wie auch bei anderen derartigen Delikten. “Wer die Umwelt schädigt“, schrieb Schöndorf in seinem Artikel, „tut das in der Regel nicht aus Lust an der Zerstörung, am Kaputtmachen, sondern weil er damit Geld verdienen will. Der Unternehmer, der seine giftigen Abwässer in einen Fluss leitet, spart die Kosten für Aufbereitung und Reinigung. Der Entsorger, der den ihm anvertrauten Bauschutt in die Landschaft kippt, statt ihn ordnungsgemäß zu recyclen, spart ebenfalls die hohen Gebühren der Wiederverwertungsanlage. Und die Bäume am Amazonas fallen deswegen der Motorsäge zum Opfer, weil das Palisander- und Mahagoniholz in Amerika oder Europa reißenden Absatz findet und die gerodeten Flächen anschließend dem gewinnbringenden Sojaanbau dienstbar gemacht werden können.“

 

„Die Lügen der Experten“

Im Holzschutzmittel-Prozess hatte Erich Schöndorf als Staatsanwalt mit Sachverständigen zu tun, die ganz im Sinne des beklagten Unternehmens einen Zusammenhang zwischen den giftigen Inhaltsstoffen des Produkts und den Krankheitsbildern bei Anwendern nicht bestätigen konnten beziehungsweise leugneten. Diese Erfahrung hat er in seinem Essay „Die Lügen der Experten“ im SPIEGEL Nr. 23/1999 pointiert zur Sprache gebracht.

Auf die Ärzteschaft könnten die Betroffenen kaum hoffen, schrieb Schöndorf. In deren Studienplänen sei Toxikologie oder gar Umweltmedizin nicht vorgekommen. Den „alltäglichen Chemikalienwahnsinn“ und seine Folgen für die Gesundheit hätten sie daher nicht auf dem Schirm. Aber „was bisher als stille Katastrophe von den Verantwortlichen totgeschwiegen und mit allerlei Tricks unter der Decke der marktwirtschaftlichen Normalität gehalten werden konnte“ breche nun auf.

Nach bitteren Erfahrungen mit der Schulmedizin hofften viele Betroffene auf die Justiz. „Bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Kaum ein Kläger gewinnt, selten führt eine Strafanzeige zum Ziel.“ Es stelle sich die Frage, „warum die Justiz Ansprüche der Opfer des technischen Fortschritts meist vom Tisch wischt – und das, obwohl die Betroffenen nicht weniger als das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einklagen.“

Schöndorf referierte eine naheliegende Erklärung: „Obrigkeitsorientiert, wie er nun einmal ist, fühle der Justizapparat sich den Mächtigen verpflichtet, der Politik und der Wirtschaft und deren heiliger Kuh, der Marktwirtschaft. Die garantiere Massengewinn über Massenkonsum, der nur mittels kaufbarer Produkte funktioniere. Kaufbare – also billige – Produkte seien aber nicht unbedingt sichere Produkte. Schäden seien somit programmiert, im übergeordneten Interesse aber auch hinzunehmen. Und sowieso gebe es keinen Fortschritt ohne Risiko.

Ob die Justiz wirklich diese Logik – es ist die Logik der Konzerne, die nur die eigenen Gewinne sehen und die Kehrseite der Medaille ignorieren – übernommen hat? Es wäre grober Unfug, wenngleich die Justiz immer wieder für Überraschungen gut ist. Trotzdem, andere Interpretationen des justiziellen Mißstandes liegen näher.“

Richter und Staatsanwälte dürften und müssten sich fremden Sachverstands bedienen, um die Sache, die verhandelt wird, in allen Einzelheiten zu verstehen, das Für und Wider abwägen zu können und zu einem Urteil zu kommen. Sie könnten also nach Belieben Gutachter aus Wissenschaft und Praxis bestellen. Und da liege das Problem, so Schöndorf.

„Prominente Lehrstuhlinhaber, internationale Kapazitäten, doppelt und dreifach Promovierte bevölkern die Gerichtssäle. Und trotzdem gibt es keine Gerechtigkeit für Chemikalienkranke.

Oder gerade deswegen? Vor wenigen Jahren wurde das Problem noch unter dem Begriff der käuflichen Wissenschaft gehandelt. Mittlerweile ist man deutlicher geworden und spricht von Wissenschaftskriminalität.

Zahlreiche Sachverständige begutachten einfach falsch. Sie irren nicht, sie lügen. Und sie lügen mit Kalkül, immer zugunsten des am Verfahren beteiligten wirtschaftlich Mächtigen, des Unternehmens, des Konzerns, des Herstellers. Nie zum Vorteil der kranken Kläger. Sie bestreiten den Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schaden, setzen zumindest entsprechende Zweifel in die Welt. Und die genügen, um den Prozesserfolg des Opfers zu vereiteln.

Was die Sachverständigen da tun, ist kein Freundschaftsdienst, sondern Teil eines Geschäfts: Unwahrheit gegen Cash. Der Hintergrund dieses schlimmen Tatbestandes ist kein Geheimnis.

Längst können Universitätsinstitute, Forschungsgesellschaften oder andere Wissenschaftseinrichtungen ohne den ständigen Geldstrom aus der Wirtschaft nicht mehr existieren. Der Staat gibt nur noch Peanuts. Und weil auch die immer weniger werden, gewinnen die Drittmittel, wie die Zuwendungen wertneutral heißen, ständig an Bedeutung. Die Heimstätten unserer Sachverständigen hängen am Tropf der Konzerne.

Deren Unterhaltsleistungen erfolgen ganz und gar unspektakulär und unverfänglich in Form von Forschungs- und Gutachtenaufträgen und hin und wieder auch als Spende oder Doktorandenstipendium. Dafür dürfen die Unternehmen sich etwas wünschen: günstige Expertisen. Die bekommen sie auch, ansonsten wäre die geschäftliche Beziehung gefährdet.“

Um diesen Usancen ein Ende zu bereiten machte Erich Schöndorf einen Vorschlag: „Was wir brauchen ist der wenn nicht gläserne, so doch wirtschaftlich transparente Sachverständige. Der seine finanziellen Verflechtungen bekannt macht und seine wirtschaftlichen Abhängigkeiten offenlegt. Der sagt, woher er seine Aufträge und sein Geld bekommt und wer sein Institut finanziert, sein Labor ausrüstet oder seinen Betriebsausflug sponsert. Und der selbstverständlich auch seine Sachkenntnis belegen kann.“

Was die Transparenz bei Sachverständigen angeht, hat sich inzwischen dank des Drucks der Öffentlichkeit einiges getan. Dennoch bleibt der SPIEGEL-Essay Erich Schöndorfs in vielem aktuell.

 

„Die Mühen der Ebene“

Im Dezember 2015 wurde in Paris von 197 Staaten ein Klimavertrag abgeschlossen, um die Erderwärmung auf 1,5 bis maximal 2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen. „Nach dem Gipfel kommen die Mühen der Ebene“, waren die Anmerkungen von Erich Schöndorf zu diesem Vertrag betitelt, die in BIG Nr. 1/2016 erschienen sind. Schöndorf schrieb: „Das Wunder von Paris. Da war vielleicht die Prophezeiung von Friedrich Hölderlin wahrgeworden, der da, wo Gefahr war, auch das Rettende wachsen sah. Oder die Welt hatte tatsächlich begriffen, dass es in Sachen Klimaschutz so um die 12 Uhr war. Schon einmal hatte ja die Weltgesellschaft in einer ähnlich prekären Situation in letzter Sekunde das Ruder herumgerissen, als sie zur Rettung der lebensnotwendigen Ozonschicht im Montreal-Abkommen die FCKW verbot.“

In seinem Artikel stellte Schöndorf die Möglichkeiten zur Nutzung und Weiterentwicklung erneuerbarer Energien dar, um die CO2-Emissionen mittelfristig erheblich zu senken und so einen weiteren Temperaturanstieg zu verhindern. Da sei „vorsichtiger Optimismus“ angebracht. „In jedem Fall bedeutet Paris, dass die Staaten in der Falle ihrer Selbstverpflichtung sitzen. Auch wenn es keine völkerrechtlich verbindlichen Sanktionsregeln gibt: Wer sich jetzt drückt oder zu bluffen versucht, steht zu Recht am Pranger der vertragstreuen Staaten sowie der überall mächtiger werdenden NGOs und Umweltverbände.“

Schöndorf sah „in den Köpfen der Menschen eine Trendwende geschafft“. „Jetzt geht es in eine andere Richtung und dieser Richtungswechsel kann eine neue Zuversicht generieren, kann dem Engagement zur Klimarettung einen neuen Schub verleihen.“ Inzwischen wissen wir, dass die „Mühen der Ebene“ noch viel schwieriger zu bewältigen sind als gedacht.

Am Schluss seines Artikels proklamierte Schöndorf ein Widerstandsrecht, wenn beispielsweise der Ausstieg aus der Kohle torpediert werde: „Dann werden sich hoffentlich viele an Wackersdorf, Whyl und Brokdorf erinnern, wo die Umweltbewegung ihre großen Erfolge gefeiert hat, und werden Kohlekraftwerke besetzen und Tagebaue blockieren. Denn es gibt da ein Ziel, auf das sich alle Staaten der Welt am 12. Dezember 2015 geeinigt haben: Die Erde zu retten. Wenn der Zweck die Mittel heiligen kann, dann jetzt.“

Bei allem Ernst der Lage hat Erich Schöndorf sich immer einen Sinn für den künstlerischen „Gegenentwurf“ und für die Satire bewahrt. In seinem Westerwälder Heimatort Greifenstein, in dem Erwin Piscator geboren wurde, für dessen Denkmal dort er sich einsetzte, hat er mit Laiengruppen Theaterstücke aufgeführt. Und in BIG hat er hier und da satirische Texte veröffentlicht – „wo die Satire doch“, schrieb er, „wie alle Kabarettisten übereinstimmend sagen, die einzig richtige Antwort auf den Unfug der Welt darstellt“.

 

Weitere Infos:

DokZentrum ansTageslicht.de: Ein ehemaliger Staatsanwalt gegen einen großen Chemiekonzern namens BAYER AG. Auf dieser Webseite findet sich u.a. auch die Aufzeichnung eines Interviews mit Erich Schöndorf.

Udo Hörster: Der Staatsanwalt des Holzgifte-Prozesses zieht Bilanz. In: Stichwort BAYER Nr. 1/1999

Herbert Stelz: Zermürbt und müde, DIE ZEIT Nr. 37/1996

https://www.zeit.de/1996/37/Zermuerbt_und_muede

Herbert Stelz: Wie im Mittelalter, DIE ZEIT Nr. 47/1996

https://www.zeit.de/1996/47/Wie_im_Mittelalter

 

Afghanistan – vom Scheitern einer Modernisierung von oben

Seit dem Abzug westlicher Truppen und der Flucht der von ihnen gestützten Regierung gilt Afghanistan nicht zu Unrecht als „gescheiterter Staat“. Doch wie konnte es soweit kommen? Matin Baraki, gewesener afghanischer Lehrer, später in der Bundesrepublik promovierter Politologe, hat kürzlich eine gründlich recherchierte und dokumentierte historische Abhandlung zur jüngeren Geschichte seines Landes vorgelegt. Er schlägt dabei einen Bogen von der Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg bis hin zur Gegenwart – seine Recherchen enden im März 2023.

Baraki schildert die gesellschaftlichen Strukturen Afghanistans noch in der Mitte des 20. Jahrhundert als feudal geprägt. 90 Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Land, 70 Prozent des nutzbaren Bodens und ein Großteil der Wasservorräte befanden sich im Besitz von Großgrundbesitzern. In den 1930er Jahren zaghaft begonnene Ansätze einer Industrialisierung wurden durch den 2. Weltkrieg unterbrochen (an diesem Krieg war Afghanistan zwar nicht direkt beteiligt, wurde durch ihn aber wirtschaftlich geschädigt). Da die königlich-afghanische Regierung in der Nachkriegszeit an dem neutralen Status des Landes festhielt und einen Beitritt zu gegen die Sowjetunion gerichteten Bündnissystemen ablehnte, hielt sich westliche Entwicklungshilfe in engen Grenzen. Die das Land wirtschaftlich dominierende traditionell gesonnene Oberschicht von Großgrundbesitzen und Händlern war hingegen an der Finanzierung eines Industrialisierungsprogramms nicht interessiert.

Erst mit dem Regierungswechsel des Jahres 1963 setzte die anstehende bürgerlich-demokratische Umgestaltung langsam ein, 1973 stürzte dann ein Militärputsch die herrschende Dynastie – Afghanistan wurde Republik. Da die nun herrschende bürgerliche Regierung nichts gegen die in der Bevölkerung grassierende Armut unternahm, wurde auch sie 1978 durch einen Putsch gestürzt – eine sozialistisch orientierte Fraktion der Demokratischen Volkspartei riss die Macht an sich und begann mit dem Aufbau eines dringend erforderlichen und bisher kaum vorhandenen Gesundheits- und Bildungssystems. Die Hauptursache des Scheiterns dieser „Aprilrevolution“ sieht der Autor in der massiv zunehmenden Korruption und Günstlingswirtschaft innerhalb der Regierungspartei.

Eines der Hauptthemen des Buches ist die (unter Bezug auf verschiedene Marx-Zitate) immer wieder gestellte Frage des Autors, ob sein Land unter Umgehung des Kapitalismus den Weg hin zu einer von Ausbeutung freien Gesellschaft hätte einschlagen können. Diese Frage muss allerdings offen bleiben.

Den Großteil des Buches nimmt die Schilderung der Jahrzehnte von Krieg und Bürgerkrieg ein. Die schwere Krise der afghanischen Gesellschaft meinte damals die Führung der Sowjetunion mittels Truppeneinmarsch unter Kontrolle zu bekommen. Was nicht gelang und auch nicht gelingen konnte. Westliche Staaten und arabische Ölmonarchien unterstützen hingegen die vom Norden Pakistans aus operierenden afghanischen Stammesmilizen. Nach Rückzug der sowjetischen Einheiten begann nahtlos ein Bürgerkrieg zwischen den bewaffneten Milizen. Und dieser endete schließlich mit einer Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban. Die dann zwischenzeitlich dank westlicher Militärhilfe installierte sogenannte demokratische Regierung brach nach Jahren des Bürgerkrieges wieder zusammen und machte im Jahre 2021 erneut den Taliban Platz.

Der Autor dokumentiert an nicht wenigen Stellen des Buches die ungeheuerliche Korruption der jahrzehntelang von westlichen Truppen gestützten afghanischen Regierung. Minister veruntreuten Millionenbeträge, die eigentlich für den Aufbau eines modernen Schulsystems vorgesehen waren. Auch gab es einen umfänglichen Schwarzhandel mit gelieferten Waffen. Ein Großteil der regulären afghanischen Armee existierte überhaupt nicht, da die Generäle, Minister und Offiziere den Sold für nicht vorhandene Soldaten in die eigenen Taschen platzierten und das so ergaunerte Geld dann ins Ausland schmuggelten. Ist die Existenz solcher „Geisterarmeen“ in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten üblich? Zumindest nicht unüblich. Man muss nur genau hinsehen.

Matin Baraki: Afghanistan – Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg PapyRossa Verlag, Köln 2023, 287 Seiten, 19,90 Euro

Couragiert gegen Finanzkriminalität. Behördenversagen und staatlichen Blockaden zum Trotz

In einem Essay stimmte jüngst der Publizist Heribert Prantl ein Loblied auf diejenigen an, ohne deren Zivilcourage, Missstände aufzudecken, eine Gesellschaft nicht leben könne: „Und es gibt ja nicht nur die prominenten Whistleblower. Es gibt auch die vielen kleinen Helden des Alltags.“ Es gelte, den „Geist des kleinen großen Widerstands gegen das Unrecht“ zu achten und die betreffenden Aktivisten zu schützen.

Eine am 10. August 2023 auf ARTE ausgestrahlte TV-Doku über einen der größten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik beherzigt diesen Appell und würdigt das langjährige Engagement eines ehemaligen Kriminalhauptkommissars. Der hatte bereits in den frühen 1990er Jahren das betrügerische Handeln von Managern der damals weltweit agierenden Balsam AG mit Stammsitz im ostwestfälischen Steinhagen entlarvt. Die Parallelen zum Fall Wirecard seien frappierend, heißt es in der Reportage: „Hätte man daraus nicht Lehren ziehen können?“

So unterschiedlich auch die Produktpaletten von Wirecard und der Balsam AG waren – digitale Finanzdienstleistungen hier, Bau von Sportböden dort: Gemeinsam ist den beiden Konzernen, dass sie einst für grandiose Erfolgsgeschichten standen, dann aber ökonomisch kollabierten und zu Synonymen für die größten Wirtschaftsverbrechen im Nachkriegsdeutschland wurden. So wie der ehemalige Wirecard-Boss Markus Braun derzeit in Müchen wegen Bilanzfälschung und Bildung einer kriminellen Bande vor Gericht steht, musste sich damals auch Firmengründer Friedel Balsam strafrechtlich verantworten. Beide beteuern bzw. beteuerten ihre Unschuld. Wirecard-Finanzvorstand Jan Marsalek ist seit der Pleite des Konzerns im Jahr 2020 untergetaucht; der seinerzeit angeklagte Finanzchef der Balsam AG, der mit gefälschten Aufträgen 45 Banken um mehrere Milliarden DM betrogen hatte, wurde nach einjähriger Flucht im Jahr 2000 auf den Philippinen gefasst. Beide Konzerne erregten Aufsehen durch eine auffällig aggressive Wachstumsstrategie, die letztlich zwar auf Kosten der Rentabilität ging, zunächst aber Analysten, Investoren, Politik und Öffentlichkeit begeisterten. Das Image beider Unternehmen strahlte noch, als sie längst konkursreif waren. Weder die Aufsichtsräte noch externe Wirtschaftsprüfer hatten jemals unlautere Praktiken beanstandet. Und in beiden Fällen setzten erst einzelne Whistleblower die Aufklärung über kriminelle Machenschaften in Gang, während staatliche Behörden, wie etwa die zuständigen Staatsanwaltschaften, durch ausgeprägte Lethargie auffielen. Der Name Wirecard steht zudem für die aggressive Verfolgung einzelner Hinweisgeber, investigativer Journalisten und sogenannter Leerverkäufer, die auf den Absturz des Konzerns wetteten. Die spektakuläre Aufdeckung des Betrugsfalls Balsam ist vor allem einem hartnäckigen Polizisten zu verdanken, der im Zuge seiner Aufklärungsarbeit ebenfalls auf massive Widerstände stieß.

 

Balsam AG: ein Scheinriese

Ein Blick zurück: Anfang der 1990er Jahren galt die Balsam AG mit rund 1.500 Mitarbeitenden als Weltmarktführer im Sportbodenbau. Im November 1992 erstattete ein ehemaliger Angestellter des Unternehmens anonym eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld, unterlegt mit einem prall gefüllten Aktenordner voller Beweismittel. Die Anschuldigung: Die Balsam AG betrüge im großen Stil, denn sie besorge sich auf kriminelle Weise Kapital in unglaublicher Höhe. Die TV-Dokumentation erklärt die Vorgänge: Erhielt die Balsam AG Aufträge, wurden sie von zahlreichen Banken per Kreditvergabe vorfinanziert – nach Vorlage der Auftragsbestätigungen. Diese wurden aber mit simplen Mitteln gefälscht: So wurden nur Kopien der Originale eingereicht, nachdem diese zuvor manipuliert worden waren (mit Schere und Klebstoff!). Offensichtlich forderten die finanzierenden Banken keine Originalbelege. Den Banken wurden Phantasiebeträge mitgeteilt, die zum Teil ein Mehrfaches der jeweils korrekten Auftragssumme ausmachten, und auf dieser Basis überhöhte Kredite vergeben. Um diese zurückzahlen zu können, mussten dann im Rahmen eines Schneeballsystems immer neue Kredite erschwindelt werden. Mit Teilen des „schmutzigen“ Geldes wurde aber auch auf den Finanzmärkten im Rahmen ganz legaler Geschäfte spekuliert. Offenbar nicht ohne Erfolg, so dass dem Unternehmen kontinuierlich liquide Mittel zugeführt werden konnten. Welche auch bitter nötig waren, denn seit Mitte der 1980er Jahre fuhr es ständig Verluste ein.

Eigentlich ein höchst interessanter Fall für den Bielefelder Oberstaatsanwalt – der jedoch als Reaktion auf die fundierte anonyme Anzeige nichts unternahm. „Die Anzeige war so abenteuerlich, auch von den Summen her, dass sie kaum glaubhaft erschien“, so der Staatsbeamte. Andere Quellen behaupten, der Grund wäre wohl eher darin zu suchen, dass seine Frau im gleichen Tennisclub wie die Gattin des Balsam-Chefs aktiv gewesen war. Die nordrhein-westfälische Landesregierung deckte im Übrigen das passive Verhalten der Bielefelder Staatsanwaltschaft. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Landtagsfraktion der Grünen lautete seinerzeit lapidar, dass die Staatsanwaltschaft sich korrekt verhalten habe.

 

Ein Kriminalhauptkommissar lässt nicht locker

Der ebenfalls über die Vorgänge bei der Balsam AG informierte Gründer von Business Crime Control e.V., Hans See, hielt die Vorwürfe dagegen aufgrund der auch ihm zugespielten Unterlagen für glaubwürdig und reichte sie an ein Nachrichtenmagazin weiter. Nachdem auch die Redaktionen von Stern und Spiegel nicht reagiert hatten, wandte sich der Whistleblower schließlich an die Kriminalpolizei (vgl. Nicole Donath).

Karl-Heinz Wallmeier, als Polizeibeamter in Bielefeld für den Bereich Wirtschaftskriminalität zuständig, arbeitete sich akribisch in den Fall ein und ermittelte in den nächsten Jahren quasi im Alleingang und gegen den unkooperativen Staatsanwalt. Der, so Wallmeier, hätte seine Ermittlungsergebnisse blockiert und ihm mehrfach Akteneinsicht verweigert. Nachdem unerwartet das ZDF-Magazin „Frontal“ im Mai 1994, eineinhalb Jahre nach dem anonymen Hinweis an die Staatsanwaltschaft, einen Beitrag zu dem Wirtschaftsskandal sendete, legte wenige Tage später der Finanzvorstand Klaus Schlienkamp ein Geständnis ab. Er gab zu, knapp zwei Milliarden DM erschlichen zu haben, um die bereits marode Firma am Laufen halten zu können.

Nach der Insolvenz des Unternehmens und fünf Jahre, nachdem der Betrug öffentlich geworden war, erging dann im Jahr 1999 nach fast 200 Gerichtstagen vor dem Bielefelder Landgericht ein Gerichtsurteil  – in Abwesenheit Schlienkamps, der sich zwischenzeitlich auf die Philippinen abgesetzt hatte. Der Finanzchef wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er nach seiner späteren Festnahme, absaß.  Wallmeier hatte jahrelang seine Spur verfolgt und ihn dann in Asien aufgestöbert. Firmengründer Balsam, konsequent seine Verantwortung leugnend, bekam acht Jahre. Polizist Wallmeier erhielt übrigens im Jahr 1997 einen Preis von Business Crime Control – für „besondere Verdienste“ bzw. „vorbildliche Zivicourage“ bei der Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen.

 

Wirecard attackiert kritische Stimmen

Ob gegen den ehemaligen CEO von Wirecard Markus Braun, der im laufenden Münchener Gerichtsverfahren ebenfalls hartnäckig jegliche Verantwortung für das Unternehmensdesaster abstreitet, eine Haftstrafe verhängt wird, bleibt abzuwarten. Genauso, ob sich der Wunsch vieler – auch einfach  sensationsgieriger – Menschen hierzulande erfüllt, den flüchtigen Jan Marsalek als mutmaßlichen Mastermind des Wirecard-Skandal irgendwann in einem deutschen Gerichtssaal vorgeführt zu sehen bekommen.

Dass überhaupt gegen die beiden und andere Wirecard-Manager ermittelt und gerichtlich verhandelt wird, geschieht trotz des viel zitierten multiplen Versagens verschiedener Institutionen. Denn Aufsichtsbehörden wie die BaFin, die Bundesregierung, private Wirtschaftsprüfer, Börsenanalysten, Investoren und große Teilen der Wirtschaftspresse stützten das Betrugsgebilde. Dabei gab es schon früh Warnungen: Bereits 2008 zweifelten einzelne Analysten und Shortseller die Wirecard-Zahlen an, 2015 wiesen kritische Journalisten auf Unregelmäßigkeiten in der Bilanz, 2019 warnte die renommierte Zeitung Financial Times (FT) in einer Artikelserie: „Doch kaum einer hörte zu. Kritiker bedrohte der Konzern offen durch Klageorgien, Rufmord, Beschattung, Gewalt.“ (Holtermann, Seite 15)

Im Jahr 2008 erhoben Vertreter der Schutzgemeinschaft der Kleinanleger (SdK) gemeinsam mit dem Analysten und Shortseller Tobias Bosler schwere Vorwürfe gegen Wirecard (Ungereimtheiten in der Bilanz, verheimlichte Verbindungen in den Glücksspiel- und Pornosektor, Geldwäsche). Der Aktienkurs brach daraufhin ein, ein Viertel des Börsenwerts ging verloren. 2010 zeigte Bosler Wirecard bei der Staatsanwaltschaft München und der BaFin an. Wieder sackte der Aktienkurs ab. (Weiguny/Meck, Seite 200f.) Die Ermittlungen aber verliefen im Sande. Wirecard reagierte seinerseits mit einer Strafanzeige wegen Insiderhandel und Marktmanipulation – und schickte Bosler, um ihn einzuschüchtern, einige Schlägertypen aus der Halbweltszene ins Haus. Da Leerverkäufer, die auf fallende Aktienkurse wetten und daraus ihre Profite ziehen, nicht als moralisch integre Leitbilder taugen, hatte Wirecard letztlich leichtes Spiel und konnte sich als ehrenwertes Unternehmen inszenieren: „Wieder zieht die Firma in einen Krieg mit den Spekulanten. Das Droh-Szenario: Böse Shortseller greifen braven deutschen Konzern an.“ (Bergermann, Seite 84)

In Fraser Perring, einem britischen Shortseller, der im Februar 2016 einen kritischen Report über Wirecard herausgebracht hatte, erkannte der Konzern einen neuen Feind und zugleich „ein Geschenk des Himmels“ (Bergermann, Seite 141). Denn  durch die Jagd auch auf diesen„Spekulanten“ konnte Wirecard von seinen kriminellen Praktiken ablenken. Perring wurde nach eigenen Angaben permanent verfolgt, auch von der Finanzaufsicht verklagt, und erlitt in der Folge einen Schlaganfall.

Maßgeblich zur Aufdeckung trug vor allem der Whistleblower Pav Gill aus Singapur bei, der dort als Leiter der konzerninternen Rechtsabteilung darauf zu achten hatte, dass bei Wirecard alles mit rechten Dingen zuging. Schon kurz nach seinem Eintritt in das Unternehmen 2017 wurde ihm klar, dass zumindest Teile des Asiengeschäfts von Wirecard nur auf dem Papier existierten. Seine Erkenntnisse offenbarte er dem britischen Journalisten Dan McCrum von der FT. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard bestätigte Gill im Mai 2021, dass er von Wirecard „unerbittlich“ eingeschüchtert worden war: „Ich habe immer noch Screenshots von Telegram-Nachrichten, von Personen aus der Compliance-Abteilung von Wirecard, die mir sagten, ich solle ‚an meine Mutter ‚denken‘ und ‚wachsam sein‘, nachdem die ersten drei Artikel von der ‚Financial Times‘ veröffentlicht wurden.“ Auch ihn traf ein stressbedingter Schlaganfall.

Im November 2020 erklärte Dan McCrum gegenüber dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, Wirecard habe offenbar ab dem Jahr 2010 seine Gewinne gefälscht. Bereits Anfang 2019 hatte der Journalist mit einer Artikelserie für Aufsehen gesorgt, die letztlich entscheidend zum Einsturz des Lügengebäudes Wirecard beitrug. Die Recherchen, die zum Teil auf Informationen des Whistleblowers aus Singapur und Gesprächen mit Shortsellern basierten, führten zu Hackerangriffen auf die Redaktion, Beschattungen seitens Privatdetektiven sowie „aggressiven Briefen“ von Anwaltskanzleien. Der Vorwurf lautete, er habe mit Shortsellern „gemeinsame Sache“ gemacht oder sich von diesen „ausnutzen lassen“. (Deutscher Bundestag, Seite 145ff.) Unterstützt wurde Wirecard dabei einmal mehr durch die BaFin, die im April 2019 bei der Staatsanwaltschaft München wegen des Verdachts der Marktmanipulation Strafanzeige gegen McCrum und eine seiner Kolleginnen erstattete..

Im Wirecard-Untersuchungsausschuss wurde im Februar 2021 auch eine Sachbearbeiterin der Deutschen Bundesbank vernommen, die mit der laufenden Aufsicht über die Wirecard Bank AG befasst war. Fünf Jahre zuvor hatte sie eine schriftliche Zusammenfassung der Artikelserie des FT-Journalisten McCrum erstellt. (Deutscher Bundestag, Seite 873) Die Berliner Zeitung berichtete im Februar 2021 über ihren Auftritt vor den Parlamentariern: „Auf nur sieben Seiten, verfasst im Jahr 2016, hat eine junge Bankerin das gesamte Wirecard-Fiasko erkannt, niedergeschrieben und an ihre Vorgesetzten weitergeleitet. Geschehen ist nichts. Noch am 7. September 2017 zeigte sich Rainer Wexeler, Vorstand bei der Wirecard-Bank, in einer internen Email an die Wirecard-Vorstände Burkhard Ley und Alexander von Knoop selbstsicher: Er habe ein ‚tolles, ehrliches und offenes Gespräch‘ mit dem Bafin-Manager Jochem Damberg geführt, der ‚sehr auskunftsfreudig‘ gewesen sei. Für die Bundesbank dagegen gibt es in der Email nur Spott: ‚Die Deutsche Bundesbank zickt herum wegen der fachlichen Kompetenz im Kreditgeschäft.‘ Und: ‚Die Ausarbeitung hat Frau Folter gemacht, die kleine Maus.‘ Und weiter, offenkundig zufrieden: ‚Herr Damberg teilt das nicht…Herr Damberg sagte auch klar und deutlich, die Entscheidung hat die Bafin, nicht die Deutsche Bundesbank.‘“ [1]

Fazit: Um ein Mindestmaß an Aufklärung über kriminelle Praktiken von Unternehmen sicherstellen zu können, ist offiziellen Institutionen nicht zu trauen. Deshalb ist die Öffentlichkeit auf andere Quellen angewiesen – auch wenn Shortseller in erster Linie eigene monetäre Interessen verfolgen oder über interne Missstände informierte Angestellte betrügerischer Firmen sich vielleicht erst spät zum Widerstand entschließen. Whistleblower und andere kritische Stimmen verdienen Respekt und Schutz. Denn es bleibt gefährlich, Wirtschaftsverbrechen öffentlich zu machen.

Anmerkungen:

[1]  vgl. auch: Herbert Storn: Business Crime: Skandale mit System, Marburg 2021, Seite 53f.

Quellen:

Melanie Bergermann/Volker ter Haseborg: Die Wirecard-Story, München, 2020

„Das Milliarden-Ding – Wirtschaftsverbrechen mit Schere und Klebstoff“, ein Film von Simone Schillinger, im Auftrag des WDR und in Zusammenarbeit mit ARTE, 2022

Deutscher Bundestag: Schlussbericht des Wirecard-Untersuchungsausschusses, Drucksache 19/30900, 22. Juni 2021  

https://dserver.bundestag.de/btd/19/309/1930900.pdf

Nicole Donath: „Akte Balsam nun geschlossen“, NW Nachrichten (Internetseite der Neuen Westfälischen), 7. März 2014

https://www.nw.de/nachrichten/wirtschaft/10646076_Akte-Balsam-nun-geschlossen.html

Felix Holtermann: Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt, Frankfurt am Main, 2021

Michael Maier: „Wirecard: Junge Bankerin zeigt, wie einfach Betrug zu durchschauen gewesen wäre“, Berliner Zeitung (Online) vom 26. Februar 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/wirecard/wirecard-junge-bankerin-zeigt-wie-einfach-betrug-zu-durchschauen-gewesen-waere-li.142712

Bettina Pfluger: „Whistleblower Pav Gill: ‚Ich habe Wirecard zu Fall gebracht‘“, Der Standard (Online) vom 21. März 2021

https://www.derstandard.de/story/2000126818501/whistleblower-pav-gill-ich-habe-wirecard-zu-fall-gebracht

Heribert Prantl, „Der kleine große Widerstand“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 14. August 2023, S. 4-10

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/whistleblowing-2023/524075/der-kleine-grosse-widerstand-essay/

Bettina Weiguny/Georg Meck: Wirecard. Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals, München, 2021

 

 

 

 

 

Neues von Krause

Zum gewesenen ostdeutschen Politiker Günter Krause und seiner Karriere als Wirtschaftskrimineller wurde in der Ausgabe vom Februar 2018 in BIG Business Crime bereits ein längerer Beitrag veröffentlicht.

Zur Erinnerung: Der diplomierte und promovierte Ingenieur hatte zunächst in der späten DDR den Posten eines Kreissekretärs der Blockpartei CDU inne. Wie fast alle diese „Blockflöten“, deren Rolle sich in kritiklosem Abnicken von Vorgaben des „Bündnispartners“ SED erschöpfte, wechselte auch Krause im Herbst 1989 blitzschnell die Stichwortgeber und brachte es so in der allerletzten DDR-Regierung zum Staatssekretär. Zusammen mit dem bundesdeutschen CDU-Politiker Wolfgang Schäuble unterzeichnete er damals den Einigungsvertrag. Beide zählten demzufolge nicht zu Unrecht als Hauptverantwortliche für die ungeheuren sozialen Verwerfungen während der sogenannten „Wiedervereinigung“ – zudem galten sie als Helfershelfer der Horden von Wirtschaftskriminellen, die ab dem 3. Oktober 1990 über die zumeist völlig ahnungslose ostdeutsche Bevölkerung herfielen.

Krause – nunmehriger CDU-Landesvorsitzende des nunmehrigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern – wurde dann wohl als Dankeschön für diese Unterschrift mit dem Posten eines Verkehrsministers der ersten gesamtdeutschen Regierung bedacht. Diesen musste er allerdings schon im Jahr 1993 – nach einer ganzen Reihe von Skandalen – wieder räumen, verlor dann auch sein Abgeordnetenmandat im Bundestag und zog sich dann ganz aus der Politik zurück. In den Folgejahren geriet er dafür regelmäßig wegen seiner Verwicklung in wirtschaftskriminelle Machenschaften in die Schlagzeilen der Presse und landete vor den Schranken diverser Gerichte.

Der neuerliche Skandal um Krauses kriminelle Machenschaften scheint allerdings eher von bescheidenem Umfang zu sein: Es geht um simplen Betrug. Krause hatte während eines Insolvenzverfahrens Einkünfte in Höhe von etwa 370.000 Euro verheimlicht – es waren wohl hauptsächlich Honorare für öffentliche Fernsehauftritte sowie Erlöse für eine Buchveröffentlichung. Die Einkünfte hatte er unter Nutzung der spanischen Firma seiner Frau versteckt, sie so dem Insolvenzverwalter und den Gläubigern vorenthalten.

Krause hat mittlerweile ein vollumfängliches Geständnis abgelegt und wird höchstwahrscheinlich mit einer Verurteilung auf Bewährung davonkommen.

Quellen:

Ex-Bundesverkehrsminister Krause wegen Betruges vor Gericht

https://www.berliner-zeitung.de/news/ex-bundesverkehrsminister-krause-wegen-betruges-vor-gericht-li.384837

Günther Krause legt Geständnis ab

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/guenther-krause-ex-bundesverkehrsminister-legt-in-bankrott-prozess-gestaendnis-ab-a-70cad694-a8ca-47e7-bec3-9fb9ad2be059

Deutsche Industriepolitik – legal, illegal, dubios

Seit geraumer Zeit sei in Wirtschaftspolitik und -wissenschaft vom Comeback des Staates die Rede, heißt es in einem Beitrag in der Septemberausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik. Dahinter verberge sich aber keinesfalls eine linke Agenda, sondern eine auf die Profitinteressen großer Konzerne  ausgerichtete Politik. Insbesondere während der Corona-Pandemie und im Zuge des Ukrainekriegs sei den Rufen nach „mehr Staat“ von der Politik im großen Stile gefolgt worden. Als Beispiel wird die Subventionspolitik der Bundesregierung angeführt, so etwa die Förderung des Baus der Intel-Chipfabrik in Magdeburg. Dabei gehe es um fast zehn Milliarden Euro, ergänzt die Süddeutsche Zeitung (SZ), „eine Summe, die doppelt so groß ist wie der gesamte Bau- und Wohnungsetat des Bundes in diesem Jahr“. Im vergangenen Jahr, so die SZ mit Bezug auf den jüngsten Subventionsbericht der Regierung, seien Finanzhilfen von knapp 21 Milliarden an die gesamte deutsche Wirtschaft geflossen – „also gerade einmal das Doppelte dessen, was nun ein einziges Unternehmen erhalten soll“. Industriepolitik sei wieder ganz klar en vogue.

Diese hilft allerdings nicht der Armutsbevölkerung oder den im Niedriglohnsektor Beschäftigten, sondern ist einseitig auf Unternehmen und ihre Kapitalgeber ausgerichtet. Die Förderung der IT-Branche mittels  Subventionen ist so gigantisch wie legal – die illegale Verstrickung staatlicher Stellen mit der Digitalwirtschaft zeigt jedoch die andere, „schmutzige“ Seite des engen Zusammenspiels von Unternehmen, Märkten und Staat auf. Als Paradebeispiel lässt sich – wenig überraschend – das Verhältnis der Geheimdienste zum ehemaligen Dax-Konzern Wirecard anführen. 

Vor allem der ehemalige Abgeordnete der Partei Die Linke im Bundestag, Fabio De Masi, widmet sich seit Jahren der Aufklärung des Wirecard-Skandals. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Falter betonte er jüngst, dass Finanzkonzerne im digitalen Zeitalter nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine geopolitische Rolle spielen würden. Auf diesem Spielfeld hätte sich auch Wirecard getummelt. Der flüchtige ehemalige Chef für das operative Geschäft bei Wirecard, Jan Marsalek, habe versucht, in allen möglichen Ländern, die sicherheitspolitisch exponiert sind – China, Saudi-Arabien, Naher und Mittlerer Osten – Zahlungsströme abzuwickeln. Nach De Masi würden Experten die These vertreten, dass Marsalek vielleicht ein Strohmann sei, der versucht habe, in die Zahlungsströme dieser Länder hineinzukommen. Es gebe Indizien dafür, dass er das mit Unterstützung der Bundesregierung getan habe. Schließlich habe die Bundesregierung ihr volles diplomatisches Gewicht für Wirecard in die Waagschale geworfen, die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel eingeschlossen.

Gegenüber dem WDR zeigte sich De Masi überzeugt davon, dass Marsalek auch Kontakt mit deutschen Sicherheitsbehörden hatte, die das allerdings abstreiten würden. Zwei ehemalige deutsche Geheimdienstkoordinatoren seien schließlich im Umfeld von Wirecard aufgetaucht. Es sei daher keinesfalls zufällig, dass Deutschland nicht genug tun würde, um Marsalek zu finden. Für Sicherheitsbehörden sei es ein „Jackpot“, so De Masi mit Blick auf den Aspekt der Geldwäsche, „wenn sie einmal im trüben Teich des Online-Glückspiels und der Online-Pornografie fischen können“.

Kein Wunder also, dass die staatlichen Instanzen recht wenig Interesse an einer umfassenden Aufklärung des Falls Wirecard zeigen – und vielleicht nicht allzu freudig auf ein Wiederauftauchen des weltweit gesuchten Jan Marsalek warten. Denn laut De Masi könnte Marsalek „ein paar schmutzige Geheimnisse an die Öffentlichkeit zerren“ und den laufenden Prozess gegen den Ex-CEO Markus Braun beeinflussen. Als „Finanzdetektiv“ ziemlich auf sich allein gestellt wendet sich De Masi direkt an den flüchtigen Marsalek, den er in einem offenen Brief fragt:

„Hat mittelbar oder unmittelbar eine Zusammenarbeit zwischen Ihnen und deutschen, österreichischen oder anderen Sicherheitsbehörden stattgefunden? Haben Sie die Kundendaten damals tatsächlich für den BND oder eine andere Sicherheitsbehörde angefordert, wie aus Ihrer Kommunikation überliefert ist? Waren Sie gar ein Strohmann von Sicherheitsbehörden? Wenn ja, welche Verantwortlichen oder Politiker hatten Kenntnis über eine solche Zusammenarbeit?“

Von Antworten ist bislang nicht bekannt. Über ein anderes industriepolitisches Feld, dem Energiesektor, sprach De Masi mit dem Nachrichtendienst Business Insider. Er kritisiert, dass Bundeskanzler Scholz versuche, „dubiose“ Termine mit zwei Unternehmern aus Potsdam, dem Wahlkreis von Scholz, zu verheimlichen. Scholz behaupte, die Treffen mit den beiden Betreibern von LNG-Terminals in Lubmin (Ostsee) seien in seiner Funktion als Bundestagsabgeordneter erfolgt, weshalb die Termine nicht hätten veröffentlicht werden müssen. „Der Kanzler wäre größenwahnsinnig, wenn er die Zuverlässigkeit zweier Glücksritter auf dem Gas-Markt persönlich überprüfen wollte. Das ist die Aufgabe von Sicherheitsbehörden“, wird De Masi zitiert. Die beiden bislang branchenfremden Unternehmer Stephan Knabe und Ingo Wagner, ein Steuerberater und ein Immobilienmanager, hatten im Frühjahr 2022 die Deutsche Regas gegründet und erhielten mittlerweile auch den Zuschlag für den Bau eines Flüssigerdgas-Terminals im Industriehafen Mukran (Rügen).

Die SZ schrieb im Juli: „Fragen richten sich auch an den Kanzler, der dieses Projekt quasi zur Chefsache gemacht hat. Je tiefer man sich in die Vorgeschichte der Regas, in die immer wieder umbenannten, neu gegründeten Gesellschaften eingräbt, desto größer werden die Fragezeichen. Gerade auch mit Blick auf einen von Wagner geführten Fonds namens Cirsio auf den Cayman Islands. Die Regas betont, daraus seien keine Geldmittel geflossen, um die LNG-Projekte zu finanzieren.“

Es sei, so die SZ, ungewöhnlich, dass sich ein Kanzler so stark in ein privatwirtschaftliches Projekt einschalten würde, aber aus dessen Sicht seien die von der Deutschen Regas geplanten LNG-Terminals auf Rügen wegen der ausbleibenden russischen Gaslieferungen essenziell für die Energieversorgung. Aus Sorge für den Tourismus und die Umwelt, so die Zeitung weiter, habe eine vom Ostseebad Binz beauftragte Anwaltskanzlei im Juli bei der Staatsanwaltshaft Stralsund eine Strafanzeige „wegen des Verdachts der gewerbsmäßigen Geldwäsche“ gegen den Geschäftsführer der Regas gestellt.

Quellen:

Jonas Becker/Rouven Reinke: „Die Rückkehr des Staates – fürs Kapital“, in: „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 9/2023, Seite 41-44

https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/september/die-rueckkehr-des-staates-fuers-kapital

Caspar Busse/Alexander Hagelüken/Claus Hulverscheidt: „Deutschland haut die Milliarden raus“, Süddeutsche Zeitung vom 24./25. Juni 2023

Georg Ismar: „Volldampf im ‚Deutschlandtempo‘“, Süddeutsche Zeitung vom 24. Juli 2023

Fabio de Masi, „Brief an Jan Marsalek, 1. August 2023

https://www.fabio-de-masi.de/de/topic/110.wirecard.html

„Jan Marsalek und Wirecard: Das perfekte Verbrechen?“, Fabio De Masi spricht mit Falter-Politikchefin Eva Konzett, Falter-Radio vom 30. Juli 2023

https://www.falter.at/falter/radio/64c3afad8ad4d40011398f15/jan-marsalek-und-wirecard-das-perfekte-verbrechen-981

„Scholz versucht, dubiose Termine zu verheimlichen“, Gespräch von Fabio De Masi mit Business Insider vom 3. August 2023

https://www.fabio-de-masi.de/de/article/4328.scholz-versucht-dubiose-termine-zu-verheimlichen.html

 

 

Maut-Desaster: Ex-Minister Scheuer (CSU) muss wohl nicht haften

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) steht unter Druck, denn gegen einen seiner Abteilungsleiter werden aktuell Vorwürfe wegen möglicher Vetternwirtschaft erhoben (wegen der Vergabe von Fördermittel für Wasserstoffprojekte). Wahrscheinlich auch, um von dem Filzverdacht in seinem Haus abzulenken, lässt Wissing deshalb derzeit Regressforderungen gegen seinen Amtsvorgänger Andreas Scheuer (CSU) prüfen. Denn der habe, so der Vorwurf, staatliches Geld veruntreut, weil er im Dezember 2018 Aufträge an Unternehmen für ein Pkw-Mautsystem vergeben hatte – trotz damals bereits bekannter europarechtlicher Bedenken. Ein halbes Jahr später, im Juni 2019, erklärte der Europäische Gerichtshof dann auch das deutsche Gesetz für rechtswidrig, weil es Bürger:innen aus anderen EU-Staaten benachteilige. Daraufhin kündigte Scheuer die Verträge mit den Maut-Betreibern. Das beteiligte Konsortium verklagte jedoch die Bundesrepublik auf 560 Millionen Euro Schadensersatz. Verhandelt wurde vor einem privaten Schiedsgericht, das 2022 feststellte, die Vertragskündigung sei rechtswidrig. Im Jahr darauf wurde der Rechtsstreit beigelegt und eine Einigung über einen reduzierten Schadensersatz von 243 Millionen Euro erzielt, den Deutschland an die beiden Maut-Unternehmen zahlen muss.

Die Zeit bezeichnet das Vorgehen des damaligen CSU-Ministers als populistisch:

„Seine Pkw-Maut hätte nämlich nur von Ausländern bezahlt werden müssen, was in Bayern zu jener Zeit sehr populär war. Juristen rieten damals angesichts dieser Diskriminierung zur Vorsicht. Auch die EU-Kommission mahnte, dass das EU-Recht so etwas verbiete, und sie klagte schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof. Scheuer aber interessierte das nicht. Er und seine CSU-Chefs wollten das Projekt unbedingt. Und deshalb verteilte er Aufträge, während das Gerichtsverfahren noch lief und für die nach dem für ihn negativem Urteil der Schadensersatz an die Maut-Betriebe fällig wurde. Aber gehört Scheuer deswegen vor Gericht?“

Die taz erklärt, warum es unwahrscheinlich ist, dass der Bund das Geld von Scheuer tatsächlich eintreiben kann.

„Wenn Amtsträger Bürger:innen schädigen, haben diese einen Schadenersatzanspruch gegenüber dem (leistungsfähigeren) Staat. Das steht in Artikel 34 Grundgesetz. Danach kann sich der Staat das Geld aber von den Amtsträgern zurückholen, wenn diese vorsätzlich oder grob fahrlässig handelten.
Da es um Eingriffe gegenüber den Amtsträgern geht, ist für einen solchen Regress ein Gesetz erforderlich. Eine gesetzliche Rechtsgrundlage besteht aber nur für Regresse gegenüber Beamten (Paragraf 75 Bundesbeamtengesetz). Dagegen gibt es im Bundesministergesetz keine Rechtsgrundlage für Regresse gegenüber Ministern. Diese sollen in ihrer Entschlussfreudigkeit nicht gehemmt werden.“

Die WirtschaftsWoche referiert die Ansicht eines Anwalts für Verwaltungsrecht, der den Fall ähnlich bewertet. Die Rechtslage gibt es danach nicht her, Scheuer in Regress zu nehmen:

„Der damalige Verkehrsminister habe zwar versucht, politisch Profit zu schlagen. Ihm nachweisen, dass er sich bereichern wollte, könne man aber nicht. Anders wäre der Fall gelagert (…) wenn Scheuer nicht Minister gewesen wäre, sondern ein einfacher Beamter, etwa Oberbürgermeister. In solchen Fällen sehe das Bundesbeamtengesetz eine Regresshaftung schon bei grober Fahrlässigkeit vor.“ Der Status von Ministern unterscheide sich aber grundsätzlich von einfachen Beamten, denn es sei ein Unterschied, ob jemand eine ganze Volkswirtschaft steuere oder „nur“ für eine Stadt Verantwortung trage. Das Gesetz, so der Jurist, wolle Minister nicht „in ihrer Entscheidungsfreiheit“ lähmen, um handlungsfähig bleiben zu können.

Für Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, stellt das „Haftungsprivileg für Minister“ ein „Skandal im Skandal“ dar:

„Die Mauterei der CSU war ein Wahlkampfgag – sauteuer, aber politisch erfolgreich: Die CSU gewann damit Wahlen. Der ehemalige CSU-Vorsitzende Horst Seehofer war die treibende Kraft dieses Bierzeltprojekts, er hat es entwickelt und aus rechtswidrigen Ingredienzen zusammengebraut; der Vorgänger von Scheuer im Ministeramt, Alexander Dobrindt, hat es dann angezapft, und Scheuer, der beim Anzapfen noch CSU-Generalsekretär gewesen war, hat es ausgeschenkt. Die drei haben in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken gehandelt. Sie waren Mittäter der Mauterei. Aber aus der politischen Haftung ergibt sich keine juristisch-finanzielle.“

Quellen:

Jan Lutz: „Ein politisches Signal, das in der Sache wenig bringt“, WirtschaftsWoche (Online) vom 31. Juli 2023
https://www.wiwo.de/erfolg/management/maut-affaere-ein-politisches-signal-das-in-der-sache-wenig-bringt/29289094.html

Petra Pinzler: „Scheuer in die Insolvenz“, Die Zeit vom 3. August 2023

Heribert Prantl: „Die Mauterei“, Süddeutsche Zeitung vom 5./6. August 2023

Christian Rath: „Muss Ex-Minister Scheuer zahlen?“, taz (Online) vom 3. August 2023
https://taz.de/Gescheiterte-Pkw-Maut/!5948076/

Erfolgreicher SPD-Lobbyist

Anfang Januar 2022 wurde in Deutschland das Lobbyregister eingeführt. Die Internetplattform abgeordnetenwatch.de erklärt in diesem Zusammenhang:

„Ein Registereintrag ist so etwas wie ein Freifahrtschein, um beim Bundestag oder der Bundesregierung zu lobbyieren. Oder, wie es im Gesetz heißt, um ‚unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss (…) auf den Willensbildungs- oder Entscheidungsprozess‘ nehmen zu dürfen. Mehr als 32.000 Personen sind dazu dank eines Eintrags im Register berechtigt. (…) Ob und wie intensiv sie Lobbyarbeit betreiben, lässt sich im Register nicht sehen: Lobbygespräche mit der Regierung oder Abgeordneten müssen Interessenvertreter:innen hierzulande nicht offenlegen. Das ist nicht der einzige blinde Fleck im deutschen Register. Recherchen von abgeordnetenwatch.de zeigen, dass ehemalige Spitzenpolitiker:innen selbst dann bei der Bundesregierung lobbyieren können, wenn sie nicht im Register stehen. Ein solcher Fall ist Sigmar Gabriel.“

Schuld daran, so abgeordnetenwatch.de, sei eine Gesetzeslücke, die Aufsichtsratsmitglieder von Unternehmen von einer Eintragungspflicht im Lobbyregister befreie. Auch der frühere SPD-Chef und ehemalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel konnte deshalb seine Aktivitäten als Industrielobbyist im Kanzleramt ganz legal geheim halten – im Lobbyregister steht sein Name bis heute jedenfalls nicht.

Im April 2023 wurde Gabriel als Vertreter der Anteilseigner in den Aufsichtsrat von Thyssen-Krupp Steel Europe berufen und zum neuen Vorsitzenden gewählt. „In den kommenden Monaten und Jahren stehen wegweisende Entscheidungen mit wirtschaftlicher, industriepolitischer und umweltbezogener Relevanz an“, sagte Gabriel damals (Handelsblatt vom 7. April 2023). Nirgendwo, zitiert die Zeitung den Lobbyisten Gabriel weiter, könne man exemplarisch so überzeugend zeigen wie beim Stahl, dass wirtschaftlicher Erfolg und Nachhaltigkeit in der Klimapolitik in Deutschland zusammengebracht werden könnten. Laut Handelsblatt steht die Stahlindustrie mit der Umstellung auf eine klimafreundliche Produktion tatsächlich vor dem größten Umbau ihrer Geschichte.

In seiner Funktion als Industrielobbyist soll sich Gabriel laut abgeordnetenwatch.de im vergangenen Jahr mehrfach mit Entscheidungsträgern im Kanzleramt getroffen haben, einmal auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz selbst. Offensichtlich nicht ohne Erfolg. Wirtschaftsminister Habeck eilte im Juli 2023 persönlich ins Ruhrgebiet und überreichte dem Chef der Stahlsparte des Konzerns Thyssen-Krupp die frohe Botschaft: Der Konzern wird bei der klimafreundlichen Umstellung der Stahlproduktion mit insgesamt zwei Milliarden Euro gefördert (Handelsblatt vom 26. Juli 2023).

Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol erklärte, es sei ein langer Weg gewesen. Fast zwei Jahre habe es gebraucht, um den Förderbescheid zu erhalten. Nasikkol appellierte an die Politik, den Konzern bei der weiteren Transformation des Stahlstandortes zu unterstützen.  „Als Dankeschön für den Förderbescheid überreichte Nasikkol dem Bundeswirtschaftsminister ein Herz aus Stahl, gefertigt im Stahlwerk in Duisburg.“ (Handelsblatt, ebd.)

Quellen:

Martin Reyher: „Diese Liste zeigt, für wen über 100 Ex-Politiker:innen heute arbeiten“, abgeordnetenwatch.de, 21. Juli 2023

https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/lobbyismus/diese-liste-zeigt-fuer-wen-ueber-100-ex-politikerinnen-heute-arbeiten

„Sigmar Gabriel neuer Aufsichtsratschef bei Thyssen-Krupp Steel Europe“, Handelsblatt vom 7. April 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ehemaliger-bundeswirtschaftsminister-sigmar-gabriel-neuer-aufsichtsratschef-bei-thyssen-krupp-steel-europe/28236178.html

Isabelle Wermke/Julian Olk: „Thyssen-Krupp erhält Milliardenförderung“, Handelsblatt vom 26. Juli 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/gruene-stahlproduktion-thyssen-krupp-erhaelt-milliardenfoerderung/29278802.html

„Staatliche Sabotage“

Die Wirtschaftszeitschriften Manager Magazin und Capital widmen sich in ihren aktuellen Ausgaben den großen Steuerskandalen um Cum-Ex und den Luxemburg-Leaks. Die versagende staatliche Kontrolle bzw. der fehlende staatliche Wille zur Aufklärung der kriminellen Machenschaften bildet dabei den roten Faden, der die Artikel thematisch durchzieht.

Cum-Ex, die Politik und das Justizsystem

Im Mittelpunkt des Artikels im Manager Magazin steht einmal mehr die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die nach Darstellung der Autorin auch zehn Jahre nach Beginn der Cum-Ex-Affäre die „Hauptrolle in der True-Crime-Story rund um die Cum-ex-Aufklärung“ spielt. Danach ermittelt sie gegen etwa 1.700 der insgesamt mehr als 1.800 Beschuldigten, darunter auch große Namen innerhalb der Finanzbranche. Acht Anklagen hat die Staatsanwältin bisher vorgelegt; fünf Prozesse führten zu fünf Verurteilungen, darunter auch von Hanno Berger, der Cum-Ex-Schlüsselfigur. Im September 2023 werden zwei weitere wichtige Gerichtsverfahren folgen: gegen den ehemaligen Steuerchef der Großkanzlei Freshfields und gegen den einstigen Chef und Miteigentümer der Hamburger Warburg Bank.

Dennoch, so das Manager Magazin, steige die Gefahr, dass etliche Cum-Ex-Betrüger davonkommen könnten. Denn alles dauere länger als gedacht; die deutsche Justiz scheine den Dimensionen des historischen  Steuerverbrechens nicht gewachsen zu sein. Aber noch viel bedenklicher sei es, dass Politik und Behördenapparat die Aufarbeitung des Skandals sogar noch ausbremsen würden (BIG berichtete mehrfach darüber). Die Kölner Ermittlungsbehörde verfüge nicht einmal über das ihnen zugesagte Personal. „Zugleich“, heißt es weiter, „versucht im Auftrag der Beschuldigten eine ganze Armee der besten Wirtschaftsanwälte der Republik, Strafverfolger und Gerichte mit juristischen Winkelzügen und Verfahrenstricks schwindelig zu spielen. Es droht ein zweites Staatsversagen.“

In beschlagnahmten Dokumenten schlüge den Strafverfolgern die ganze Arroganz der Finanzbranche entgegen. „Häme und Hohn auf Hunderten Seiten. Brorhilker persönlich wird darin als ‚dumme Kuh‘ oder ‚graues Mäuschen‘ tituliert, üblere Beschimpfungen werden in Abschriften abgehörter Telefonate teils nur mit ‚auf Wiedergabe wird verzichtet‘ wiedergegeben.“ Zuerst hätten das Bundesfinanzministerium und andere Behörden die Augen vor den „stümperhaft gestrickten Gesetzen“ verschlossen und so den Steuerraub erleichtert. Nun würde sich die juristische Aufarbeitung dahinschleppen. „Teilweise wurden Brorhilker und ihr Team sogar gezielt ausgebremst“, schreibt das Wirtschaftsmagazin. So im Sommer 2020, als ihr Vorgesetzter eine von langer Hand vorbereitete Razzia beim Hamburger Finanzamt für Großunternehmen, das für die Warburg-Bank zuständig war, verhinderte. Angeblich hätte es keinen begründeten Anfangsverdacht gegeben.

Der ehemalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) hatte im März 2023 bei seinem Nachfolger Benjamin Limbach (Die Grünen) eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft eingereicht, um gegen die Verschleppung der Ermittlungen vorzugehen und mehr Tempo bei den Ermittlungen einzufordern (vgl. BIG-Nachricht vom 13. März 2023). Dazu gehörte auch eine Frageliste zur Arbeit und Ausstattung von Brorhilkers Abteilung. „Detaillierte Antworten auf Biesenbachs Fragen ist der Neue im Amt bis heute schuldig. Nur soviel: Ein Bescheid an Biesenbach werde vorbereitet.“

Steuerparadies Luxemburg

In der letzten Folge einer Serie über die größten Whistleblower beschäftigt sich die Zeitschrift Capital in ihrer Ausgabe vom August 2023 mit Antoine Deltour, einem ehemaligen Bilanzprüfer bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC. Er hatte dabei geholfen, die Steuerdeals aufzudecken, „die Luxemburg mit Großkonzernen weltweit augekungelt hatte“. „Mithilfe seines Materials“, so das Magazin, „ließ sich belegen, dass 343 multinationale Unternehmen über Jahre hinweg für Abermilliarden Euro Gewinne so gut wie keine Steuern bezahlten – bei 0,0156 Prozent lag der niedrigste Satz. ‚Lux-Leaks‘ war 2014 die erste Enthüllung systematisch organisierter Steuervermeidung im großen Stil“. Konzerne wie Amazon, Apple, Pepsi, Vodafone oder Deutsche Bank hatten Briefkastenfirmen in Luxemburg angemeldet, um dorthin Profite zu verschieben und so Steuern zu sparen. Unter anderen gerieten hochrangige Politiker wie der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Verdacht, die Geschäfte gekannt oder sogar unterstützt zu haben.

Der TV-Sender France 2 sendete im Mai 2012 eine Reportage, die auf Antoine Deltours weitergereichten Dokumenten basierte. PwC suchte anschließend nach dem internen „Leak“ und kam Deltour auf die Spur. Er wurde angezeigt, unter anderem wegen Diebstahl: „Die Strafprozesse wurden zum Schaukampf zwischen Konzernen, Wirtschaftsprüfern, NGOs, EU-Parlamentariern und Steuerzahlern – und zur Qual für Deltour: Anzeige, Festnahme, Untersuchungshaft, drei Gerichtsprozesse durch alle Instanzen –  sechs Jahre lang.“ Erst im Jahr 2018 wurde er als Whistleblower anerkannt und freigesprochen. Von den Verantwortlichen für die Steuerdeals, so Capital, wurde jedoch keiner zur Rechenschaft gezogen. Whistleblower Deltour sieht aktuell keine Kehrtwende in der Steuerpolitik, „und Luxemburg gilt nach wie vor als Steueroase“.

Quellen:

Katharina Slodczyk: „Der zweite Cum-Ex-Skandal“, Manager Magazin, August 2023, Seite 24-30

Die Online-Ausgabe der Titelstory des Magazins trägt den Titel: „Die sabotierte Cum-ex-Jägerin“ und wird mit den Worten eingeleitet: „Das Nichtstun des Staates grenzt an Sabotage“.

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/cum-ex-skandal-wie-politik-behoerden-und-staranwaelte-die-ermittler-ausbremsen-a-06f2abb1-6932-4dfa-b68a-5b59008e08e7

Monika Dunkel: „Abgeluxt“, Capital, August 2023, Seite 77-81

 

Der Niedergang des Immobilienkonzerns Adler Group

Am 28. Juni 2023 führten die Staatsanwaltschaft Frankfurt und das Bundeskriminalamt eine Großrazzia gegen die Adler Real Estate durch – deutsche Tochtergesellschaft der in Luxemburg ansässigen Adler Group. Zu den schwerwiegenden Vorwürfen gehören Bilanzfälschung, Marktmanipulation und Untreue. Bei den Ermittlungen geht es um Geschäfte der Adler Real Estate bis zum Jahr 2020.[1]

Mit Bezug auf eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Frankfurt schrieb die FAZ:

„Ziel der von 175 Beamten durchgeführten umfangreichen Durchsuchung sind demnach insgesamt 21 Geschäftsräume, Wohnungen und eine Rechtsanwaltskanzlei in Berlin, Düsseldorf, Köln und Erfstadt sowie in Österreich, den Niederlanden, Portugal, Monaco, Luxemburg und Großbritannien. Beschuldigt würden deutsche, österreichische und englische Staatsangehörige im Alter zwischen 38 und 66 Jahren. Ihnen werde vorgeworfen als Vorstände des Immobilienunternehmens mit Sitz in Berlin im Zeitraum 2018 bis 2020 die Bilanzen falsch dargestellt oder dazu Beihilfe geleistet zu haben. Zudem sollen sie zum Nachteil des Unternehmens im Namen der Gesellschaft Beraterverträge abgeschlossen haben, für die es nach derzeitigem Stand der Ermittlungen keine Gegenleistungen gegeben habe.“

Laut Staatsanwaltschaft bestehe daneben der Verdacht, dass die Beschuldigten mit Gefälligkeitsangeboten und Scheingeschäften die Preise für Immobilienprojekte in die Höhe getrieben hätten, um einen günstigen Loan to Value zu erreichen. Diese Kennzahl zeigt den Anteil des Kreditbetrages am Verkehrswert einer Immobilie an. Durch den verzerrten Loan to Value (LTV), so die FAZ, seien laut Staatsanwaltschaft dem Kapitalmarkt falsche Signale für Anlageentscheidungen sowie zur Höhe des Marktpreises gesendet worden. Das Handelsblatt ergänzt in einem Artikel, dass der LTV für Adler zentral sei: Würden Schwellenwerte gerissen, könnten Gläubiger die Rückzahlung ihrer Anleihen fordern.

Der öffentliche Niedergang des Immobilienkonzerns begann im Herbst 2021, als der britische Leerverkäufer Fraser Perring die Adler Group mit schweren Vorwürfen konfrontierte (Bilanzmanipulation, Geschäfte mit nahestehenden Personen zum Schaden der Investoren). Daraufhin brach der Aktienkurs ein. Im April 2023 wurde berichtet, dass Adler versuche, sich zur Abwendung einer Pleite nach britischem Recht und auf Kosten der Gläubiger zu sanieren (Umstrukturierung von Schulden in Milliardenhöhe) – was auf erheblichen Widerstand bei den Aktionären stieß.

Fabio de Masi, ehemaliges Mitglied des Bundestages für die Partei Die Linke und Finanzexperte, bemerkt zur Adler Gruppe:

„Adler hat eine traditionsreiche Vergangenheit. Die Adler-Werke in Frankfurt am Main wurden zunächst mit Fahrrädern und später mit Schreibmaschinen bekannt. Die Tasten einer solchen Adler-Schreibmaschine wurden etwa von dem verzweifelten Jack Nicholson im 1980er-Jahre Horror-Streifen ‚The Shining‘ des US-Regisseurs Stanley Kubrick in einer ikonischen Szene bearbeitet, wie Der Spiegel vor einiger Zeit erinnerte. Mittlerweile hat Adler nur noch Wohnungen statt Schreibmaschinen. Aber es droht ein Wirtschaftshorror aus Schulden und Bauruinen. Einst verfügte Adler über 70.000 Objekte mit Schwerpunkt Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Darunter etwa der Steglitzer Kreisel in Berlin, das Areal der ehemaligen Holsten Brauerei in Hamburg sowie Objekte im Düsseldorfer Glasmacherviertel. Nunmehr sind es laut Adler ‚nur‘ noch rund 27.500 Einheiten. (…)
Es ist nicht das erste Mal, dass der Konzern in den Schlagzeilen ist. Die Adler Group erlitt im Jahr 2022 einen Verlust von knapp 1,7 Milliarden Euro. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG hatte 2021 das Testat für die Bilanzen der Adler Real Estate mit Verweis auf mangelnde Informationen über Geschäfte mit Adler nahestehenden Personen verweigert. Auch eine Bestellung durch das Amtsgericht Charlottenburg für die Bücher des Jahres 2022 lehnte KPMG ab. Sämtliche andere großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften hatten das Mandat ebenfalls abgelehnt, bis sich die Wirtschaftsprüfer Rödl und Partner bereit erklärten wenigstens die Adler Real Estate zu prüfen.“

De Masi erkennt – wie viele Brancheninsider – bei der Adler Group ein Netzwerk, welches an den ehemaligen Dax-Konzern Wirecard erinnert. So soll der österreichische Multimillionär Cevdet Caner in dem Immobilienkonzern die Strippen ziehen, ohne ein formales Amt im Konzern zu bekleiden. Caner ist jedoch Chef der Investmentgesellschaft Aggregate Holding, die lange Zeit größter Adler-Aktionär war. Zudem kontrolliert seine Frau bis heute ein größeres Aktienpaket. De Masi beschreibt die dubiose Gestalt Caner im Detail:

„Caner war ehemals bei den Jusos in Österreich politisch engagiert und nahm neben Hertha-BSC-Investor Lars Windhorst und Kaufhauskönig René Benko am Spendendinner für den einstigen CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet teil. Er brach sein BWL-Studium ab und gründete 1998 die Call und Logistik Center GesmbH (CLC), die es mit Österreichs erster privater Telefonauskunft an die Wiener Börse schaffte. 2002 verkaufte Caner seine Anteile und das Unternehmen schlitterte kurze Zeit später in die Insolvenz.
Im Jahr 2004 gründete Caner dann den Immobiliendienstleister Level One mit Steuersitz der Holding auf der Kanalinsel Jersey. Level One kaufte etwa das Falkenberger Viertel in Berlin-Hohenschönhausen. Level One profitierte auch von der Privatisierung von landeseigenen Wohnungsbeständen in Nordrhein-Westfalen unter Ex-CDU Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. 2008 meldete der Immobilienkonzern für seine deutschen Objektgesellschaften Insolvenz an, nachdem die Banken Level One unter Zwangsverwaltung gestellt hatten. Von der Insolvenz waren rund 20.000 Wohnungen sowie 500 Gewerbeobjekte – mit Schwerpunkt Berlin und Ostdeutschland – betroffen. Level One kollabierte unter 1,2 Milliarden Euro Schulden und galt als größte Immobilienpleite Deutschlands, nach Jürgen Schneiders Konkurs in den 1990er-Jahren. Caner musste sich auch vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien mit weiteren Angeklagten wegen des Vorwurfs des gewerbsmäßigen schweren Betrugs und Geldwäsche verantworten. Er wurde 2020 jedoch von allen Vorwürfen freigesprochen.“

Die Süddeutsche Zeitung ergänzt, dass Verbindungen und Entwicklungen dieser Art das Vertrauen in Adler inzwischen weitgehend zerstört hätten. Auch der Einstieg von Vonovia als Großaktionär und die Bestellung des ehemaligen Vonovia-Finanzvorstands Stefan Kirsten zum Verwaltungsratschef könnten daran nichts ändern. So hätte der Konzern rund ein Jahr lang niemanden gefunden, der seine Bilanzen hätte prüfen und testieren wollen.

Anmerkung: Auch Branchenführer Vonovia hat derzeit erhebliche Probleme – aber das ist nun wieder eine andere Geschichte (vgl. BIG-Nachricht vom 12. April 2023: „Korruptionsvorwürfe gegen den Skandalkonzern Vonovia“).

Quellen:

Fabio De Masi: „Adler im Sinkflug? Ein Blick hinter die Kulissen eines undurchsichtigen Immobiliengeflechts (Teil 1), Berliner Zeitung (Online) vom 8. Juli 2023

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/adler-group-skandal-ein-blick-hinter-die-kulissen-eines-undurchsichtigen-immobiliengeflechts-fabio-de-masi-li.366941

ders.: „Adler im Sinkflug? Über die Hintergründe eines undurchsichtigen Immobiliengeflechts (Teil 2)“, Berliner Zeitung (Online) vom 10. Juli 2023

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/adler-group-skandal-ueber-die-hintergruende-eines-undurchsichtigen-immobiliengeflechts-teil-2-li.367025

Mark Fehr: „Riesen-Razzia bei Tochterfirma von Adler“, FAZ (Online) vom 28. Juni 2023

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/vorwurf-der-bilanzfaelschung-und-untreue-razzia-bei-adler-group-18995831.html

Stephan Radomsky: „Großrazzia beim Immobilienkonzern Adler“, Süddeutsche Zeitung vom 29. Juni 2023

Michael Verfürden/Lars-Martin Nagel/Volker Votsmeier/René Bender: „Großrazzia bei Adler Real Estate wegen Verdachts der Marktmanipulation“, Handelsblatt (Online) vom 28. Juni 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/immobilienkonzern-grossrazzia-bei-adler-real-estate-wegen-verdachts-der-marktmanipulation/29229100.html

[1] vgl. auch den BIG-Artikel vom 4. Juli 2022 („Die Adler Group: aktuell Skandalunternehmen Nummer eins in der deutschen Immobilienbranche“)

Blick aus dem Kosmos

Die Erkundung von Rohstofflagerstätten mittels hochauflösbarer Satellitenfotos ist dem Grunde nach seit Jahrzehnten bekannt. Ungewöhnlich ist, dass neuerdings auch das Anwachsen von Lagerstätten mit nicht vermarktbaren Produkten unseres grandiosen Industriezeitalters aus dem Kosmos beobachtet werden kann.

So wurde am 10. Mai 2023 von der Satellitenfoto-App SkyFi das Bild eines gigantischen Müllberges, gelegen in einer Wüstenregion im Norden Chiles, veröffentlicht.

Wie es in einer diesbezüglichen Netzmeldung erläuternd heißt, bestehe der Berg aus mindestens 39.000 Tonnen Kleidung, „die in Geschäften in den USA, Europa und Asien nicht verkauft werden konnte“.

Da die Kleidungsstücke nicht biologisch abbaubar seien, erklärte der Sprecher eines zuständigen Unternehmens, wollte man versuchen, sie „durch die Herstellung von Isolierplatten wiederzuverwenden“. Die Mülldeponie ziehe „manchmal Migranten und einheimische Frauen an, die dort nach Kleidungsstücken suchen, die sie tragen oder verkaufen können“.

Wie es weiter erläuternd heißt, ziele die Fast-Fashion-Industrie darauf ab, „den Verbrauchern einen erschwinglichen Zugang zu Modetrends zu ermöglichen“.

Fast 85 Prozent der Textilien würden aber jedes Jahr auf der Müllhalde landen; die Modeproduktion verbrauche große Mengen an Wasser und verschmutze Flüsse und Bäche.

Quelle:

https://www.businessinsider.de/leben/international-panorama/chile-riesige-altkleider-muellhalde-ist-vom-weltraum-sichtbar/#:~:text=Mindestens%2039.000%20Tonnen%20dieser%20Kleidungsst%C3%BCcke%20landen%20auf%20M%C3%BClldeponien,SkyFi%2C%20den%20Entwicklern%20einer%20Satellitenfoto-%20und%20Video-App%2C%20ver%C3%B6ffentlicht

Teure geheime Deals

Ab Ende 2020 bestellten die 27 Mitgliedstaaten der EU gemeinsam bei Pfizer und anderen Pharmakonzernen die damals dringend benötigten Impfstoffe gegen das Corona-Virus. Seitdem erhielt Pfizer bei neuen Bestellungen mehrfach den Zuschlag, wohl auch, weil ihr Impfstoff beim deutschen Unternehmen Biontech produziert wird.

Die Verträge wurden mittlerweile überarbeitet, weil ein großer Teil der georderten Impfstoffe nicht mehr gebraucht wird. So muss Deutschland statt der ursprünglich für 2023 bestellten 92 Millionen Impfdosen nur noch etwa die Hälfte abnehmen.

In Nachverhandlungen mit Pfizer und Biontech Ende Mai 2023 einigten sich die Vertragspartner allerdings nur auf eine Verringerung der Zahlungsverpflichtung um weniger als 25 Prozent. Ein Insider spricht von 10 Euro „Stornogebühr“, die vom Steuerzahler pro abbestellter Dosis zu bezahlen sind – umgerechnet fast eine halbe Milliarde Euro.

Besonders interessant: Seit 2021 bereits fordern das Europaparlament und andere politische Akteure die Offenlegung der von der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) mit Pfizer verhandelten Impfstoffverträge, laufen damit aber gegen eine Wand. Denn die milliardenschweren Deals bleiben geheim, selbst das Europaparlament erhält wegen vertraglicher Verschwiegenheitspflichten keinen vollen Einblick.

„Die New York Times biss bei ihren Nachfragen ebenso auf Granit wie die Europäische Staatsanwaltschaft, die EU-Bürgerbeauftragte oder der Rechnungshof. Auch die taz hat nachgefragt: Was die Kommission denn zu der jüngsten strafrechtlichen Klage einer Privatperson aus Belgien und zu den Vorwürfen gegen von der Leyen sage, wollten wir wissen. ‚No comment‘, kein Kommentar, antwortete von der Leyens Chefsprecher Eric Mamer – nicht einmal, sondern mehrfach.“ (taz vom 23. Mai 2023)

Die Süddeutsche Zeitung kommentierte am 30. Mai:

„Deutschland muss offenbar mehrere Hundert Millionen Euro Stornogebühr dafür zahlen, dass mehrere zehn Millionen ehedem bestellte Impfdosen nicht mehr abgenommen werden. (…) Die EU hat neue Verträge mit Biontech und Pfizer ausgehandelt, die weitreichende Schweigeklauseln enthalten sollen. Schweigeklauseln, die zulasten jener gehen, die mit ihren Steuern den Staat finanzieren. Und die keinen Anspruch darauf haben, zu erfahren, was mit ihrem Geld geschieht. Nicht einmal die Volksvertretung, den Bundestag, hat Lauterbach bis ins letzte Detail informieren dürfen. Und nicht einmal in einer ohnehin nicht öffentlichen Sitzung des Haushaltsausschusses. Der Minister will sich und sein Ministerium nicht juristisch haftbar machen. (…) Konzerne lassen sich den Umstand, dass die Pandemie abgeflaut ist und nicht mehr so viele Impfstoffe nötig sind, teuer bezahlen. Konzernjuristen bestimmen, dass dies weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht. Parlamente haben kein Mitspracherecht.“

Martin Sonneborn, Mitglied des Europäischen Parlaments, und seine Co-Autorin Claudia Latour machen in einem Artikel des Online-Magazins Jacobin folgende Rechnung auf – mit Blick auf die europäische Dimension:

„Der Financial Times zufolge sieht der nachverhandelte Vertrag nun vor, die abzunehmende Impfstoffmenge von 500 Millionen Einheiten auf insgesamt 280 Millionen zu reduzieren. Abgenommen werden sollen künftig 70 Millionen Dosen pro Jahr bei gleichzeitiger Streckung des Lieferzeitraums bis 2026. Pfizer sei bereit, die ursprünglich bestellten, nun aber nicht abgenommenen Einheiten gegen eine ‚Stornogebühr‘ von 10 Euro pro Dosis zu streichen – aber nur, wenn die EU im Gegenzug einen höheren Preis für die bis 2026 zu liefernden Dosen akzeptiere. (…)

Wenn wir uns nicht verrechnet haben, dann macht das bei 220 Millionen in Abweichung zum ursprünglichen Vertrag zu streichenden Impfdosen einen Betrag von 2,2 MILLIARDEN Euro. 2,2 MILLIARDEN Stornogebühr für eine nicht zu erbringende Leistung – das klingt nach einem Geschäft, das wir auch gern mal machen würden, zumal es sich hier um den reinsten aller Reingewinne handelt, denn unternehmensseitig dürften noch nicht einmal die Stückkosten von rund 70 Cent anfallen. Es sei denn natürlich, Pfizer stellte die stornierten Impfdosen trotzdem her, nur um den eigenen Schöpfungsakt dann umgehend mit vollständiger Vernichtung zu torpedieren – nur so aus Jux vielleicht.“

Quellen:

Eric Bonse: „Streit über Pfizer-Stornogebühr“, taz vom 6. Juni 2023

https://taz.de/Corona-Impfstoff-in-der-EU/!5936100&s

Eric Bonse: „Impfschaden in Brüssel“, taz vom 23. Mai 2023

https://taz.de/EU-Impfstoffdeal-mit-Pfizer/!5933318&s

Markus Grill/Klaus Ott: „Hohes Storno für Corona-Impfstoffe“, Süddeutsche Zeitung vom 27./28./29. Mai 2023

Klaus Ott: „Unanständiger Deal“, Süddeutsche Zeitung vom 30. Mai 2023

Martin Sonneborn/Claudia Latour: „Der lausigste Deal der EU-Geschichte“, 25 Mai 2023, Jacobin Magazin

https://jacobin.de/artikel/der-lausigste-deal-der-eu-geschichte-pfizer-ursula-von-der-leyen-eu-sms-impfstoff-korruption-martin-sonneborn-claudia-latour/

 

Erdoğans Wahlsieg

Der erneute Wahlsieg Recep Tayyip Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei trotz desolater wirtschaftlicher Lage und wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung lässt sich nur erklären, wenn man den Charakter seines Regimes ins Auge fasst. Der investigative Autor Jürgen Roth, seinerzeit Mitherausgeber von BIG Business Crime, hat in seinem 2017 erschienenen letzten Buch: „Die Neuen Paten – Trump, Putin, Erdoğan, Orbán & Co. Wie die autoritären Herrscher und ihre mafiosen Clans uns bedrohen“ einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis geleistet. Er wandte sich dagegen, bloß von einem „neuen Autoritarismus“ zu reden, wie es heute üblich ist. Es handele sich vielmehr bei den „Neuen Paten“ um eine „gelungene Fusion von politischer und krimineller Macht“, die alle Sphären der Gesellschaft mit Korruption durchdringt, demokratische Kontrollen außer Kraft setzt und Opposition kriminalisiert – auch wenn noch mehr oder weniger „freie“ Wahlen bestehen.

Jürgen Roths Thesen dazu: „Die Neuen Paten haben den Staatsapparat nicht nur übernommen, vielmehr sind sie die Capo dei Capi des Staatsapparates geworden. Damit ihre Politik von der Gesellschaft akzeptiert wird, bedienen sie sich einer rassistischen, nationalistischen und autoritären Ideologie. Daher sind auch die Neuen Paten, wie die italienischen Mafien, eng mit rechtsextremen Bewegungen und Parteien verbunden… Beide Systeme, das der klassischen Mafien und das der Neuen Paten, regieren mit der Angst ihrer Untertanen und sind zutiefst undemokratisch. Beide zeichnen sich durch ein ihrem Wesen nach elitäres, antidemokratisches und dem Gleichheitsgrundsatz widersprechendes Grundmuster aus.“

Erdoğan spielte meisterhaft auf dem Klavier der Ängste und der gesellschaftlichen Spaltungen: Angst vor dem „Terror“ der kurdischen Minderheit – selbst wenn diese nur Mit- und Selbstbestimmung in einem föderal aufgebauten Staat fordert. Angst vor „globalistischen“ Drahtziehern, die die Türkei mit Modernismen wie LBGTI überfremden wollen. Das Muster ist bekannt.

Dass sein Gegenkandidat Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP dann in der Stichwahl darauf auch mit ähnlichen Mittel zu antworten versuchte – er versprach, die unliebsamen syrischen Flüchtlinge schnell aus dem Land zu werfen und nahm eine weitere rechte Partei mit ins Boot – hat ihm nichts genützt.

Dennoch: Erdoğan erhielt nur wenig mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Das zeigt, dass Widerstand gegen sein Regime nach wie vor vorhanden ist.

Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen bekam das linksgrüne „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ immerhin 10 Prozent der Stimmen – vor allem von Kurdinnen und Kurden, weil deren unter einer Verbotsdrohung stehende Partei HDP dazu aufrief.

In seiner Wahlanalyse auf der Homepage der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt Murat Çakır auf, welche schweren Aufgaben vor der Opposition in der Türkei liegen: „Selbst wenn man die kemalistische CHP, die durchaus in ihren Reihen nationalistische Kreise beherbergt, herausrechnet, beweisen die Wahlergebnisse, dass über zweidrittel der türkischen Gesellschaft konservativ, reaktionär und nationalistisch eingestellt ist. Besonders traurig war es zu verfolgen, dass sogar in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten mehrheitlich die AKP (Erdoğans Partei) und die neofaschistische MHP gewählt wurden. In den 11 Städten, die vom Erdbeben betroffen waren, konnte die AKP, während Erdoğan die Mehrheit der Stimmen bekam, rund 47 Abgeordnete gewinnen – nur im völlig zerstörten Hatay konnte Kılıçdaroğlu die Mehrheit auf sich vereinen. Weder die desolate ökonomische Lage und die hohen Inflationsraten noch die öffentlich gewordenen Korruptionen des AKP-Palast-Regimes konnten einen großen Teil der konservativen Wähler*innen davon abhalten, die AKP und MHP zu wählen.“ („Die Türkei hat gewählt“, 15. Mai 2023)

Quelle:

https://www.rosalux.de/news/id/50409/die-tuerkei-hat-gewaehlt

Die Mafia und der Krieg

In einem Artikel auf der Homepage des Österreichischen Rundfunks wird berichtet, welche Auswirkungen der Krieg in der Ukraine auf die bisher „eingespielte Zusammenarbeit zwischen russischer und ukrainischer Mafia“ hat: „Sie funktioniert nicht mehr – mit Folgen für das organisierte Verbrechen auf der ganzen Welt.“

Laut der NGO GI-TOC (Global Initiative Against Transnational Organized Crime – Globale Initiative gegen grenzüberschreitendes organisiertes Verbrechen) bildeten die Ukraine und Russland zusammen bis zum Beginn des Krieges das „größte kriminelle Ökosystem Europas“:

„Die russischen und ukrainischen Mafia-Gruppen kontrollierten die einträglichen Schmuggelrouten zwischen Russland und Westeuropa, auf denen von Gold über Zigaretten, Holz, Kohle und Drogen bis hin zu Menschen alles geschmuggelt wurde. Die Schwarzmeer-Metropole Odessa war zudem ein wichtiger Umschlaghafen für Schmuggelware. Entsprechend groß war der politische und wirtschaftliche Einfluss proukrainischer wie prorussischer Oligarchen.

Neben dem Balkan und dem Kaukasus war die Ukraine die wichtigste Route für Heroin aus Afghanistan nach Europa. Kokain aus Lateinamerika wurde vielfach via Schwarzmeer-Häfen angeliefert. Umgekehrt wurden Waffen von dort in Richtung Afrika und Asien verladen. In der Ukraine selbst boomte die Produktion von Amphetaminen und illegaler Tabakprodukte.“

Nach 2014 habe es in der Ukraine zwar vermehrte Anstrengungen im Kampf gegen die Mafia und die Korruption gegeben. „Vor allem bei der Justizreform gab es aber vergleichsweise wenig Fortschritt.“ Der russische Angriffskrieg im Februar 2022 habe nun aber beim organisierten Verbrechen einen „schweren Schock“ ausgelöst, wie die NGO GI-TOC feststellt. Zwischen russischen und ukrainischen Mafia-Gruppen war plötzlich keine Kooperation mehr möglich. „Verbrecher zu sein ist das eine. Aber als Verräter zu gelten ist etwas ganz anderes“, wird der Experte Mark Galeotti dazu aus dem britischen Wochenmagazin „Economist“ zitiert.

„Die Schwarzmeer-Häfen wurden geschlossen und sind es großteils heute noch. Die Fronten machen das Schmuggeln fast unmöglich. Dazu kommen nächtliche Ausgangssperren. Und die Mafia hat laut GI-TOC auch ein Personalproblem, da viele Männer zur Armee rekrutiert wurden. Viele Oligarchen verließen zudem bereits zu Kriegsbeginn das Land.“

Allerdings hätten die Verbrechenssyndikate, so die NGO, längst begonnen, alternative Routen aufzubauen. Und auch innerhalb der Ukraine gebe es Anzeichen für ein Wiedererstarken organisierter Kriminalität. „Die Schmugglertätigkeit habe sich stark in den Westen an die Grenze etwa zu Polen, der Slowakei und Moldawien verlagert. Und nicht zuletzt würden Soldaten an der Front mit synthetischen Drogen versorgt.“

Neue Geschäftsfelder seien „der Transport kommerzieller Waren unter Vortäuschung humanitärer Hilfe und der Schmuggel von Mangelwaren wie Treibstoff aus Nachbarstaaten in die Ukraine. Geplünderte Ware wie Getreide würde ebenso gehandelt. Auch der Menschenhandel hat zugenommen – laut GI-TOC aber bisher weniger stark als befürchtet. Auch das Außerlandesbringen von Männern, die der Einberufung zur Armee entgehen wollen, ist ein neu entstandener Geschäftszweig.“

Die NGO fordert daher durchgreifende Veränderungen in der Justiz und im Sicherheitsapparat der Ukraine. „Der noch in sowjetischen Strukturen verharrende Geheimdienst SBU versuche gegenwärtige Erfolge in der Spionageabwehr bereits politisch dazu zu nutzen, um künftige Reformen und eine eventuelle Aufspaltung von vornherein zu verhindern. Entscheidend für den Erfolg von Reformen könnte hier der Druck der westlichen Alliierten werden.“ 

In Russland wiederum seien im Verlauf des Krieges „die Verbindungen zwischen der Unterwelt und dem Staat enger geworden… Kriminelle würden teils für den Staat Geheimdiensttätigkeiten ausüben und etwa beim Umgehen von Sanktionen helfen, insbesondere den Import von Halbleitern organisieren.“

Für die Ukraine sieht die NGO im günstigsten Fall die Chance, dass durch „die erzwungene Abnabelung des Landes von Russland“ oligarchische Strukturen aufzubrechen und ihre kriminellen Begleiterscheinungen besser zu bekämpfen seien.

Quelle: https://orf.at/stories, 20. Mai 2023

 

„Recht des Stärkeren“

Vor fast acht Jahren wurde der „Dieselskandal“ aufgedeckt, seit zweieinhalb Jahren müssen sich der frühere Audi-Chef Rupert Stadler sowie weitere Ex-Manager des Autokonzerns vor Gericht verantworten. „Der Vorwurf: Die Manager hätten betrogen. Sie hätten entweder Diesel-Autos entwickeln lassen, deren Abgasreinigung sich nur ordentlich einschaltete, wenn die Wagen auf dem Prüfstand waren. Oder sie hätten – im Falle Stadler – zumindest seit dem Herbst 2015 davon gewusst und den Verkauf solcher Wagen dennoch nicht unterbunden. Gewerbsmäßiger Betrug durch Unterlassen heißt das auf Juristendeutsch.“ (Die Zeit vom 17. Mai 2023)

Mitte Mai 2023 legte Stadler nun im Rahmen einer Absprache mit dem Landgericht München II ein Geständnis ab – nachdem er über die gesamte Prozessdauer alle Vorwürfe bestritten hatte. Vor allem, dass er trotz Kenntnis der Manipulationen nichts dagegen unternommen habe, dass weiter schmutzige Diesel als sauber verkauft wurden.

Auszüge aus Zeitungskommentaren:

Henning Peitsmeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

„Rupert Stadler kommt glimpflich davon. Der frühere Audi-Chef, der sich im Dieselskandal des Betrugs schuldig bekannt hat, erhält eine Bewährungsstrafe. Immerhin, muss man nach 168 Verhandlungstagen konstatieren. Denn lange hatte es so ausgesehen, als könne dem prominentesten der vier Angeklagten vor dem Landgericht München nichts nachgewiesen werden. Zu komplex waren die Ermittlungen, zu schleppend verlief die Beweisaufnahme (…). Dass Stadlers Geständnis nur durch einen Deal zustande kam, mag bedauerlich sein. Aber es ist das erste Mal, dass ein früherer Vorstand zugibt, von den Dieselmanipulationen im Volkswagen-Konzern gewusst zu haben. Das kann bedeutend sein für alle laufenden und künftigen Strafverfahren.“

Thomas Fromm, Klaus Ott und Stephan Radomsky in der Süddeutschen Zeitung:

„Und jetzt? Räumt er eben doch alles ein und will auch 1,1 Millionen Euro bezahlen. Im Gegenzug darf er mit einer Bewährungsstrafe rechnen. Das ist der Deal, den das Gericht ausgehandelt hat mit Stadlers Anwälten und dem auch die Staatsanwaltschaft zugestimmt hat. Ein gigantischer Wirtschaftsskandal, Millionen getäuschter Kunden in aller Welt, Milliarden Euro an Strafzahlungen für den Konzern – und der einzige Top-Manager, der dafür bisher vor Gericht stand, kommt mit so einem milden Urteil davon? Mit dem Segen der Ankläger? (…)
Für VW war die Rechnung klar: Je weniger Schuld ganz oben lag, desto besser war es für die Abwehr von Schadensersatzansprüchen. Das gilt bis heute vor allem für den Prozess von zahlreichen Aktionären beim Oberlandesgericht Braunschweig, die einen Ausgleich dafür fordern, dass sie vom VW-Vorstand zu spät über die Abgasprobleme informiert worden seien. Streitwert: mehr als vier Milliarden Euro. Der Prozess läuft ziemlich zäh. Und Stadlers Geständnis hilft den klagenden Investoren auch nicht. Zwar saß er als Audi-Chef auch mit im VW-Vorstand. Sein Geständnis aber gilt nur für die Zeit ab 2016, als Audi schmutzige Diesel-Autos weiter als vermeintlich saubere Fahrzeuge verkaufte. Bei den Aktionärsklagen geht es dagegen um die Zeit vor September 2015, als US-Behörden die Abgasmanipulationen öffentlich machten.“

René Bender im Handelsblatt:

„Am Ende schickte Rupert Stadler seine Verteidigerin vor. Die Anwältin verlas für den wegen Betrugs angeklagten früheren Audi-CEO dessen Geständnis. Fünf Wochen lang hatte Stadler überlegt, ob er im ersten deutschen Strafprozess um den Dieselskandal den Vorschlag des Gerichts annehmen würde: eine noch zur Bewährung ausgesetzte Strafe gegen ein umfängliches Geständnis und eine Geldauflage. (…) Nun folgten lediglich ein paar dürre Sätze dazu, dass Stadler von den Manipulationen an den Motoren zwar nichts gewusst, sie aber zumindest billigend in Kauf genommen habe. Und dass er dies sehr bedauere.
Die Hürde des Gerichts hat er damit zwar übersprungen, wirklich glaubwürdig ist seine Haltung aber nicht.
Die späte Kehrtwende ist das eine. Die Art und Weise, wie zwei Führungskräfte in einem der größten deutschen Wirtschaftsskandale am Ende des ersten Strafprozesses Verantwortung übernehmen, ist das andere. Insbesondere Stadler, der unter anderem elf Wohnungen und zwei Häuser besitzt, feilschte bis zum Schluss um die Höhe der Geldauflage.
Dann schaffte es der Mann, der einst gar als möglicher Nachfolger an der VW-Spitze galt, nicht einmal, sein Geständnis selbst zu erklären (…). Das lässt nicht nur Glaubwürdigkeit vermissen. Es ist auch kein gutes Signal für die weitere Aufarbeitung im Dieselskandal. Im nächsten Diesel-Strafprozess sollten die Richter einen Verständigungsvorschlag weit früher machen oder ihn sich ganz sparen.“

Kai Schöneberg in der taz:

„Der Deal zeigt, dass die deutsche Justiz wieder gescheitert ist. Zwei Jahre Haft auf Bewährung und 1 Million Euro Strafe: Dazu wurde vor 14 Jahren der einstige Postchef Klaus Zumwinkel wegen Steuerhinterziehung verurteilt, ein ähnliches Strafmaß winkt nun Rupert Stadler, bis 2018 Audi-Boss. Beide haben gestanden. Zumwinkel damals seine Steuerhinterziehung, Stadler am Dienstag, dass er auch noch nach dem Auffliegen des ‚Dieselgates‘ im September 2015 weiter Autos verkaufte, die so manipuliert waren, dass sie auf dem Prüfstand weniger Stickoxide ausstießen als auf der Straße.
Betrug durch Unterlassung wird es im wohl vergleichsweise läppischen Urteil gegen Stadler heißen, das bald erwartet wird. Der ‚Deal‘ mit dem Gericht – Geständnis gegen milde Strafe – wird einen weiteren Beweis dafür erbringen, wie die deutsche Justiz bei der Aufarbeitung eines der größten Wirtschaftsskandale gescheitert ist.
Das zeigten schon die Strafverfahren gegen die VW-Vorstände Herbert Diess und Hans Dieter Pötsch, die gegen Geldauflagen eingestellt wurden. Auch der zusammen mit Stadler angeklagte Motorenentwickler Wolfgang Hatz kann nach seinem Geständnis mit Bewährung rechnen. Gegen viele Chefs von Mercedes, Porsche oder Bosch wurde ermittelt, dann aber wurden sie nicht angeklagt. (…)
Millionenfacher systematischer Betrug und Kuschelstrafen – das passt aber nicht zusammen. Die deutsche Justiz setzt mit dem Stadler-Deal einen weiteren Haken in der unendlich zähen, für Umwelt und betroffene Kunden völlig unbefriedigenden Aufarbeitung einer der größten Wirtschaftsaffären der Nachkriegsgeschichte. (…)
Nicht mal die Staatsanwaltschaft warf Stadler nach 30 Monaten Verhandlung noch vor, von allem gewusst zu haben. Dabei gilt Audi als Keimzelle des Skandals. Ein weiterer Skandal liegt darin, dass das deutsche Rechtssystem solche evident kriminellen Handlungen nicht adäquat ahndet.“

Thomas Magenheim-Hörmann in der Frankfurter Rundschau:

„Betrug durch Unterlassung: Der Ex-Audi-Chef räumt die Vorwürfe im Dieselskandal ein.
Rupert Stadler brachte die Worte nicht selbst über die Lippen. Der Ex-Chef von Audi hat gestehen lassen. Wenige Minuten lang trug Anwältin Ulrike Thole-Groll am 168. Tag des Münchner Audi-Betrugsprozesses eine Erklärung vor, die ein Gerichtssprecher später ein voll umfängliches Geständnis nennen sollte. Auch Richter Stefan Weickert und die Staatsanwaltschaft sahen es so. Für nicht juristisch Geschulte war dabei nicht leicht zu erkennen, dass der 60-jährige gerade Betrug durch Unterlassung zugegeben hatte. ‚Ich habe die Vorwürfe insgesamt einzuräumen‘, erklärte Thole-Groll im Namen ihres ohne erkennbare Regung neben ihr sitzenden Mandanten. Der ließ auch mitteilen, dass er alles sehr bedauere, wobei Reue nicht gerade in sein Gesicht geschrieben stand.
‚Es war ein bemerkenswertes Geständnis‘, meinte Gerichtssprecher Laurent Lafleur. Erstmals habe ein Angeklagter in der hohen Position eines ehemaligen Vorstandschefs eingeräumt, im Dieselskandal Unrecht getan und vorsätzlich gehandelt zu haben. Man musste allerdings viel juristisches Feingespür mitbringen, um das aus den Worten herauszuhören, die Stadler von seiner Strafverteidigerin verlesen ließ. (…)
Auch zum Vorwurf der Unterlassung äußerte sich Stadler sehr verklausuliert. Er habe feststellen müssen, unterlassen zu haben, dafür Sorge zu tragen, dass Käufer der Fahrzeuge über eine möglicherweise in ihnen verbaute Fehlfunktion informiert wurden, ließ er mitteilen. Jurist:innen haben indessen eine Erklärung für diese Art von Geständnis. Denn im jetzt zu Ende gehenden Strafprozess ist es für Stadler zwar Garant dafür, nicht ins Gefängnis zu müssen. Diese Zusage hatte er vorab von Richter Weickert erhalten. Bei einem allzu freimütigen Geständnis bestünde aber die Gefahr, dass dadurch Schadenersatzklagen begünstigt werden, merkt ein Verbraucheranwalt an. Die relativierenden Einschränkungen, die jetzt ins Geständnis eingeflochten wurden, erschweren das.“

Martin Seiwert in der WirtschaftsWoche:

„Ex-Audi-Chef Rupert Stadler will in seinem Prozess wegen manipulierter Audis einer Haftstrafe entgehen und hat deshalb am Dienstagmorgen etwas verlesen lassen, das ein Geständnis sein soll. Bei genauerem Hinsehen aber ist es – eine Manipulation. (…)
Ich habe kürzlich über die ‚Kehrtwende‘ des Ex-Audi-Chefs in seinem Strafverfahren geschrieben. Ich gestehe, das war falsch. Was sich am Dienstag am Landgericht München II abspielte, war keine Kehrtwende. Höchstens ein Kehrtwenderl. Eigentlich ist Stadler bloß abgebogen, nicht gewendet. Ich gestehe, ich hätte das zumindest ahnen können und nicht vollmundig eine Kehrtwende ankündigen dürfen.
Was das Gericht zu hören bekam, war schon von der Form her bestenfalls ein Kehrtwenderl – Stadler sprach die Worte nicht selbst, sondern ließ sie von seiner Anwältin vortragen – und inhaltlich sowieso: ‚Ich sehe für mich ein, dass es ein Mehr an erforderlicher Sorgfalt bedurft hätte‘, sprach die Anwältin.

Herr Stadler war also nicht immer und überall optimal sorgfältig? Das ist kein Geständnis. Das ist ein Allgemeinplatz. Können wir streichen.
Weiter im Text: Dass Fahrzeuge manipuliert worden seien und dadurch Käufer geschädigt worden seien, ‚habe ich zwar nicht gewusst, aber als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen‘. Der Mann, der zweieinhalb Jahre lang mit Verve behauptet hat, dass er nicht wusste, dass die Fahrzeuge illegal manipuliert waren, macht im Geständnis trotzig weiter: ‚Ich habe es nicht gewusst‘.

Aber weil Stadler ja unbedingt einer Haftstrafe entgehen will, musste doch noch etwas angefügt werden, das sich zumindest nach Geständnis anhört: Stadler hat die Manipulation ‚als möglich erkannt‘. (…)
So bleibt als wirklich einzige neue Erkenntnis nach dem Kehrtwenderl von München: Stadler gibt zu, er hätte etwas genauer hinschauen müssen, bevor er die Autos verkaufen ließ. Oder lassen Sie es mich so ausdrücken: Sogar ein so gründlicher, erfahrener und erfolgreicher Automanager wie Herr Stadler ist nicht ganz perfekt.
Das ist kein Geständnis. Aber es sieht ein wenig danach aus. So wie die Diesel von Audi im Verkaufsprospekt mal wie ein Beitrag zu Klimaschutz und Luftreinhaltung aussahen.“

Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung:

„Noch bis vor wenigen Jahren galt dies als schmutziges Geheimnis der Justiz. Nur unter Pseudonym brach ein Anwalt (…) in einem Fachaufsatz das Schweigen. In Wirtschaftsprozessen, so schrieb er, sei die unterfinanzierte Justiz oft schlicht überfordert mit jahrelanger Beweisführung. Also werde gefeilscht. Ein schnelles Geständnis gegen großzügigen Strafverzicht. (…)
Wenn jetzt der frühere Audi-Chef Rupert Stadler in seinem Betrugsprozess gesteht, nachdem er vorher haarklein eine mildere Bewährungsstrafe für sich aushandeln konnte, dann ist das ein kleiner Fortschritt für den Rechtsstaat, der mit seinen Aufklärungsbemühungen sonst vielleicht noch jahrelang festgesteckt hätte. (…) Um einen Beschuldigten zu bewegen, gegen andere auszupacken, musste der Staat ihm schon immer etwas anbieten. (…)
Aber es sollte einem klar sein: Ein Rupert Stadler weiß, dass das, was er an Informationen hat, wertvoll ist. Und er lässt sich das vom Gericht vergüten. Der Strafprozess ist dann eine weitere Transaktion. Wohl dem, der dabei mit so einer starken Verhandlungsposition gesegnet ist. Es ist ein Recht des Stärkeren.“

Quellen:

Max Hägler: „Es bleibt schmutzig“, Die Zeit (Print) vom 17. Mai 2023

Henning Peitsmeier: „Ende in Sicht“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Print) vom 17. Mai 2023

Thomas Fromm/Klaus Ott/Stephan Radomsky: „Das Geständnis“, Süddeutsche Zeitung (Print) vom 17./18. Mai 2023

René Bender: „Stadlers unglaubwürdiges Geständnis“, Handelsblatt (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-stadlers-unglaubwuerdiges-gestaendnis-/29155016.html

Kai Schöneberg: „Ein Deal, aber keine Gerechtigkeit“, taz (Online) vom 16. Mai 2023
https://taz.de/Diesel-Gestaendnis-des-Ex-Audi-Chefs/!5931938/ 

Thomas Magenheim-Hörmann: „Rupert Stadler lässt gestehen“, Frankfurter Rundschau (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.fr.de/hintergrund/rupert-stadler-laesst-gestehen-92282258.html 

Martin Seiwert: „Sogar Stadlers Geständnis ist manipuliert“, WirtschaftsWoche (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.wiwo.de/unternehmen/auto/dieselgate-sogar-stadlers-gestaendnis-ist-manipuliert/29154442.html 

Ronen Steinke: „Der Handel“, Süddeutsche Zeitung (Print) vom 17./18. Mai 2023

 

Hessens ehemaliger oberster Korruptionsbekämpfer kommt in Haft

Am 12. Mai 2023 verurteilte das Landgericht Frankfurt den ehemaligen Oberstaatsanwalt Alexander Badle wegen Steuerhinterziehung, Untreue und Bestechlichkeit in 86 besonders schweren Fällen zu sechs Jahren Haft. Als Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt genoss er bis zu seiner Festnahme im Juli 2020 höchstes Ansehen. So veröffentlichte er in Fachzeitschriften Artikel zur Korruption im Gesundheitswesen und hielt Vorträge auf Tagungen (vgl. auch BIG-„Nachricht“ vom 3. November 2020: https://big.businesscrime.de/nachrichten/bestechungsaffaere-um-frankfurter-staatsanwalt/).

Das Handelsblatt schreibt in seiner Onlineausgabe vom 12. Mai:

„Badle, der als oberster Korruptionsbekämpfer Hessens als Koryphäe auf dem Feld galt, hatte im Prozess gestanden, mehr als ein Jahrzehnt lang selbst Schmiergelder kassiert zu haben. Angeklagt waren aber nur die Taten aus dem nicht verjährten Zeitraum zwischen 2015 und 2020. Der Anklage zufolge kassierte Badle in dieser Zeit Bestechungsgelder von rund 350.000 Euro. Die Gelder in Höhe von insgesamt mehreren Hunderttausenden Euro flossen für die Vergabe von Gutachteraufträgen an externe Dienstleister – vor allem an die Firma eines ehemaligen Schulfreundes. Diese existierte fast ausschließlich von Aufträgen der Staatsanwaltschaft: 90 Prozent ihres Umsatzes erwirtschaftete sie laut Anklage mit staatlichen Aufträgen.“

Die Staatsanwaltschaft attestierte Badle ein „hohes Maß an krimineller Energie“. In seiner Position als Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen habe er seine Position „vorsätzlich missbraucht“ und „dem Land Hessen erheblichen Schaden zugefügt“.

Badle hatte in der Generalstaatsanwaltschaft die „Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten im Gesundheitswesen“ offensichtlich unter unprofessionellen Bedingungen geleitet. „Vor Gericht“, schreibt die Süddeutsche Zeitung, „sagte der Angeklagte B., wie wenig Hilfe er bei den Ermittlungsverfahren gehabt habe. Als er 2002 als Korruptionsbekämpfer anfing, hätten ihn noch die Beamtinnen und Beamte des LKA unterstützt, aber die seien bald abgezogen worden. Ihm blieben die Sachverständigen, meist ehemalige Arzthelferinnen. Die prüften die Rezeptabrechungen, Patientenakten, Stundenprotokolle, die schrieben die Gutachten – aber sie arbeiteten auf Honorarbasis“.

Der ehemalige Leiter der Generalstaatsanwaltschaft und damit damalige Vorgesetzte von Badle sollte vor Gericht erläutern, warum niemandem aufgefallen sei, dass Badle an den Aufträgen mitverdiente, „und was er sagt, ist dann doch beschämend: Es habe in all den Jahren keine Kontrolle gegeben, nur 2013 eine ‚kleine Innenrevision‘. Und nein, es habe auch kein Vier-Augen-Prinzip gegeben, deswegen konnte B. die Rechnungen allein abzeichnen, auch er, der Behördenleiter, habe deren Höhe nie geprüft. Die Kosten trug meistens das Land Hessen, Kontrollen seien unüblich“. (Süddeutsche Zeitung)

Der Hessische Landesrechnungshof stellte in einem Prüfbericht 2022 ebenfalls fest, dass damals Kontrollmechanismen fehlten. In einer Pressemitteilung der Behörde vom 16. Dezember 2021 heißt es anlässlich der Korruptionsvorwürfe:

„Die Ergebnisse der Prüfung zeigen, wie einfach Korruption entstehen kann: Das Justizministerium und die Generalstaatsanwaltschaft nahmen ihre Fach- und Dienstaufsicht nicht ausreichend wahr. Zudem führte die Generalstaatsanwaltschaft trotz verbindlicher Vorgaben seit 2013 keine Innenrevisionen durch. Dies trug dazu bei, dass über die Jahre hinweg unbeaufsichtigte Vergaben und Abrechnungen von Gutachten im Medizinstrafrecht möglich waren.

Auch in den Staatsanwaltschaften zeigte sich vor Bekanntwerden der Verdachtsfälle eine bedenkliche Situation: Bei der Beauftragung von Sachverständigen war ein Vier-Augen-Prinzip nicht verpflichtend vorgegeben und auch weitgehend nicht vorhanden. Zudem gab es keine nachträglichen Kontrollen durch die Innenrevision. In der Folge konnten Staatsanwälte ohne interne Kontrolle und ungestört von Aufsicht und Revision des Ministeriums Aufträge allein vergeben und abrechnen.“

Mittlerweile, stellt der Rechnungshof fest, seien die Prozesse nach den Vorfällen vom Sommer 2020 „deutlich optimiert“ worden. Die Generalstaatsanwaltschaft habe im Juni 2021 die Einhaltung und Dokumentation des Vier-Augen-Prinzips bei der Sachverständigenbeauftragung verbindlich vorgegeben und lasse dessen Einhaltung seither flächendeckend kontrollieren. Damit sei bei der Vergabe das Vier-Augen-Prinzip gesichert und eine wesentliche Grundlage für die Revision geschaffen worden.

 

Quellen:

Gianna Niewel: „War ja sein Spezialgebiet“, Süddeutsche Zeitung vom 12. Mai 2023 (Printausgabe)

René Bender: „Sechs Jahre Haft für korrupten Oberstaatsanwalt aus Hessen“, Handelsblatt (Online) vom 12. Mai 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/steuern-recht/recht/justizskandal-sechs-jahre-haft-fuer-korrupten-oberstaatsanwalt-aus-hessen/29149748.html

Hessischer Rechnungshof: „Fehlende Kontrollen führen zu Korruption und Vermögensschäden“, Pressemitteilung vom 16. Dezember 2021

https://rechnungshof.hessen.de/presse/fehlende-kontrollen-fuehren-zu-korruption-und-vermoegensschaeden

 

Klimaverbrechen und Gesetzesbrüche

Mitte März 2023 stellte der im Regierungsauftrag tätige Expertenrat für Klimafragen in einem Bericht zur Emissionsbilanz des Bundes fest, Deutschland werde – bleibe es beim bisherigen Tempo im Klimaschutz – seine Klimaziele bis 2030 um etwa 40 Prozent verfehlen. Diese Feststellung sei eine „schallende Ohrfeige“ für die Klimapolitik der Bundesregierung, ließ der Chef von Greenpeace daraufhin wissen (Süddeutsche Zeitung vom 14. April 2023). Um die politisch Verantwortlichen endlich zu mehr Klimaschutz zu bewegen, kündigten Aktivisten der „Letzten Generation“ an, ab dem 19. April die Bundeshauptstadt mittels Protestveranstaltungen, Klebeaktionen und weiteren Blockaden teilweise lahmzulegen.

Vertreter:innen der politischen Klasse zeigen sich über den „zivilen Ungehorsam“ von  Akteuren, wie denen der „Letzten Generation“, regelmäßig empört und lassen durchblicken, dass sie für Rechtsbrüche jeglicher Art kein Verständnis aufbringen würden. „Gar nicht zum Lachen ist dem Justizminister. Marco Buschmann sieht einmal mehr das Abendland untergehen, denn die Kleber erinnern ihn an die Weimarer Zeit, als sich ‚Menschen am linken und rechten politischen Rand selbst ermächtigt fühlten, sich über die Rechtsordnung zu stellen‘.“ (junge Welt vom 22. April 2023)

Starke Worte angesichts der sehr gemäßigten Forderungen und des alles andere als militante Auftretens der Aktivisten. Von einer angeblichen Demokratiefeindlichkeit findet sich bei ihnen keine Spur. So heißt es auch auf der Webseite der „Letzten Generation“: „Rasend eskaliert die Klimakrise und an so vielen Tagen bleibt nichts als dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man die Zerstörung sieht und dazu das Nichtstun unserer Regierung. (…) Sie schützt Wirtschaftsprofite statt unserer Lebensgrundlagen, bricht ihre eigenen Versprechen und unsere demokratische Verfassung.“ Und in einem „Brief an die Bundesregierung“ vom April 2023 unterstreichen die Aktivisten, dass es „beim Abwenden einer Klimakatastrophe auch um den Erhalt unserer Demokratie, unseres Rechtsstaats und den Erhalt der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gehe.

Darüber, wie der Rechtsstaat mit „zivilem Ungehorsam“ umzugehen hat, wird derzeit auch einmal mehr im juristischen Fachdiskurs verhandelt. So pocht Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg, auf den Rechts- und Gesetzesgehorsam der Staatsbürger:innen. Die „Letzte Generation“ stellt für ihn eine Protestbewegung dar, „die letzten Ende keine Rücksicht auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen bereit ist, die auch Ausdruck einer Negation des Rechtsstaats zur Durchsetzung partikularer Interessen unter dem Mantel vorgeblich grundrechtlich geschützter Freiheit ist“. (Schwarz, Seite 275) Beim „zivilen Ungehorsam“ gehe es in Wahrheit gerade nicht um die Beseitigung etwaiger Mängel, sondern um die „undemokratische, weil nicht im Parlament beschlossene Durchsetzung individueller Vorstellungen“. (Schwarz, Seite 279f.) Er warnt gar vor der „Kapitulation des Rechtsstaats vor der Macht der Straße“. (Seite 276)

In Erwiderung dazu stellt dagegen Lorenz Leitmeier, Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, fest:

„Tatsächlich wird die existenzielle Dimension der Klimakrise verschleiert oder gar geleugnet, wenn man plump die Mehrheit-ist-Mehrheit-Regel bemüht, um die Spannung zwischen Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam einseitig aufzulösen. Die ‚bestimmten Ziele‘, von denen Schwarz spricht, sind nämlich keine Privatinteressen einer Minderheit mit ‚Verhinderungsstrategie‘ – es sind rechtlich verbindliche Ziele: Bekanntlich wurde in Paris am 12.12.2015 im Rahmen der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) ein Abkommen geschlossen (Pariser Abkommen), das die EU am 5.10.2016 mit dem Beschluss (EU) 2016/18414 umsetzte, woraufhin es am 4.11.2016 in Kraft trat.“ (Leitmeier, Seite 71)

Auch die Bundesrepublik habe das Pariser Abkommen unterzeichnet und ratifiziert, so dass eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zu einem gewissen Verhalten vorliege. Der Jurist und Journalist Ronen Steinke betont in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung ebenfalls, dass die Bundesregierung selbst gegen verbindliches Recht verstoße – was nicht wegzudiskutieren sei. Das Klima-Abkommen von Paris, wonach die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, sei nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag unmittelbar geltendes Bundesrecht. „Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgericht“, konstatiert Steinke bissig, „haben der Regierung, die dies nicht ganz ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss vom März 2021 die Lage noch einmal deutlich auseinandergesetzt – Verfassungsrecht für Dummies, quasi: Das Abkommen ist verbindlich, dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht Recht.“

In dieser Situation würden die Klima-Aktivisten sich entscheiden, ihrerseits Recht zu brechen. „Sie tun das mit einer, rechtlich betrachtet, eigentlich ungewöhnlich bescheidenen Forderung. Sie wollen nur, dass sich die mächtigsten Menschen im Staatsapparat an die rechtlichen Pflichten halten, die für diese gelten.“ Die Täter verlangten nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. „Rein rechtlich ist es hier so, als zwänge jemand den Bundeskanzler bloß dazu, an eine Fußgängerampel nicht mehr über Rot zu gehen.“

Steinke verweist zum Schluss seines Artikels auf den dynamischen Charakter der Rechtsentwicklung. Wenn die Bürger keine Hoffnung mehr haben könnten, dass der Staat ein Unrecht stoppe, habe das rechtliche Folgen. Bei einer Aussichtslosigkeit behördlichen Einschreitens könne ausnahmsweise doch einmal ein rechtfertigender Notstand nach Paragraf 34 StGB denkbar sein, so habe es zum Beispiel das Oberlandesgericht Naumburg vor einer Weile festgestellt. „Mit dieser Begründung hat es Tierschützer freigesprochen, die mit ‚zivilem Ungehorsam‘ auf illegale Zustände in der Massentierhaltung hingewiesen hatten, die den Behörden seit Jahren egal waren. Und das heißt: Je länger die Klima-Aktivisten mit ihrer Verzweiflung tatsächlich recht behalten, desto eher erwächst für ihren ‚zivilen Ungehorsam‘ irgendwann doch eine auch rechtliche Legitimation.“

Quellen:

Felix Bartels: „Döpfner des Tages: Marco Buschmann“, junge Welt (Online) vom 22. April 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/449346.döpfner-des-tages-marco-buschmann.html?sstr=letzte%7Cgeneration

Michael Bauchmüller: „Klima-Experten warnen Regierung“, Süddeutsche Zeitung vom 18. April 2023 (Printausgabe)

„Brief an die Bundesregierung, April 2023“, verfasst von „Die Bürger:innen der Letzten Generation“

https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/

Dr. Lorenz Leitmeier: „Ziviler Ungehorsam und autoritärer Legalismus?“, in: HRRS – Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, März 2023, Seite 70-73 (PDF-Ausgabe)

https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/23-03/index.php?sz=6

Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz: „Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam“, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 5/2023, Seite 275-280

https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160031/2023/NJW_2023_05_Forum_Schwarz.pdf

Ronen Steinke: „Alles, was Recht ist“, Süddeutsche Zeitung vom 21. April 2023 (Printausgabe)