Wirtschaft bekämpft Lieferkettengesetz

Der UN-Menschenrechtsrat verabschiedete 2011 die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Völkerrechtlich unverbindlich mussten sie erst durch die einzelnen Staaten rechtlich verankert werden, um tatsächlich wirksam werden zu können. Die deutsche Bundesregierung hatte damit keine Eile und setzte lange Zeit auf das freiwillige Engagement von Unternehmen, Menschenrechtsverletzungen (wie Kinder- oder Zwangsarbeit) entlang ihrer weltweiten Produktionsketten einzudämmen – offensichtlich ohne erkennbaren Erfolg. Erst seit Anfang 2023 gibt es daher ein „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ (LkSG).

Vor allem die Initiative Lieferkettengesetz kritisierte das LkSG: Weil es unter anderem die Unternehmen nicht verpflichtet, existenzsichernde Löhne in den Lieferketten zu garantieren; weil Betroffenen verwehrt wurde, Schadenersatzansprüche rechtlich durchzusetzen; weil das Gesetz bis Ende 2023 nur Firmen mit mindestens 3.000 Beschäftigten betraf (ab 2024: mindestens 1.000 Beschäftigten).

Am 20. Dezember 2023 zog die für die Umsetzung zuständige Behörde (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle; BAFA) Bilanz. Die junge Welt schreibt in ihrer Ausgabe vom 28. Dezember, dass es laut BAFA seit Inkrafttreten des Gesetzes 486 Kontrollen bei Unternehmen gegeben habe und 38 Beschwerden eingegangen seien. Die Behörde habe aber nach eigenen Angaben keine Sanktionen wegen Verstößen verhängen müssen. So trage das Gesetz nach Auffassung der BAFA zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes in den globalen Lieferketten bei, ohne die Unternehmen „zu überfordern“.

Dass die deutsche Wirtschaft die gesetzlichen Regelungen nicht zu fürchten haben, unterstreicht folgendes Zitat aus der jungen Welt:

„Wie jW aus BAFA-Kreisen erfuhr, wurde ein beträchtlicher Anteil der Angestellten, die für die Umsetzung des Lieferkettengesetzes eingestellt wurden, für andere Aufgaben abgezogen. Und das von Anfang an. Im Dezember 2022 wurde in Borna bei Leipzig eine Außenstelle der BAFA zur Umsetzung des LkSG eröffnet und 100 Stellen bewilligt. Im November 2023 waren demnach bereits 25 Prozent der Angestellten in Borna mit anderen Aufgaben wie Förderprogrammen oder Strukturentwicklungsprogrammen befasst, im Dezember sollen es bereits 40 Prozent gewesen sein.“ Unter anderem, weil das Bundeswirtschaftsministerium diesen anderen Aufgaben eine höhere Priorität zugeordnet habe.

Schärfere Regelungen als sie das nationale Gesetz vorsehen, wurden auf EU-Ebene Mitte Dezember des vergangenen Jahres beschlossen. Unterhändler des Europäischen Parlaments und des Ministerrats einigten sich auf eine Richtlinie, der noch von den Gremien formal zugestimmt werden muss und die wohl erst ab 2029 gelten wird. Sie betrifft im Vergleich zum deutschen Gesetz mehr Unternehmen, denn sie gilt bereits für Firmen mit über 500 Angestellten und mindestens 150 Millionen Euro Umsatz. Unternehmen sollen zudem für Menschenrechtsverstöße in Lieferketten vor europäischen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden können. Banken, Versicherungen und Investoren sind von den Vorschriften jedoch nicht betroffen.

„Aus Sicht von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie FIAN, Südwind oder dem Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre wird dem Gesetz damit die Kraft genommen. In einer gemeinsamen Pressemitteilung wiesen sie am Mittwoch auf den Stellenwert hin, den gerade Finanzinstitute im Ausbeutungsprozess haben. So seien in Kolumbien für die Cerrejón-Steinkohlemine Tausende Indigene gewaltsam von ihrem angestammten Land vertrieben worden. Die Antapaccay-Kupfermine in Peru setze mehr als 50.000 Menschen hohen Belastungen durch Schwermetalle aus. ‚Finanziell möglich gemacht werden diese Projekte von Banken und Investoren‘.“ (junge Welt vom 15. Dezember 2023)

Dennoch geht die deutsche Wirtschaft auf die Barrikaden. Nach Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), ist die europäische Richtlinie der „nächste Sargnagel für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie“. Bereits bei der Umsetzung des deutschen Lieferkettengesetzes hätten sich viele negative und unbeabsichtigte Auswirkungen und hohe bürokratische Belastungen gezeigt, ergänzte Tanja Gönner, Hauptgeschäftsführerin beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Viele Großunternehmen würden die Bürokratielast einfach an ihre kleineren Zulieferer weiterreichen. Viele kleine und mittelständische Unternehmen klagten so über eine Überforderung, müssten Verwaltungsstellen schaffen und könnten nicht „in Wachstumsfelder investieren“. Auch Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands Die Familienunternehmer, beklagt ein bevorstehendes Bürokratiemonster: „In unseren vernetzten Volkswirtschaften werden nahezu alle Mittelständler von ihren großen Kunden über die Verträge zur Übernahme der Richtlinie gezwungen und so mit unfassbarer Bürokratie überzogen werden.“ Die Ankündigung des Bürokratieabbaus von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sei offensichtlich „völlig wertlos“. (Alle Zitate: Handelsblatt vom 14. Dezember 2023)

Der Ökonom Sebastian Thieme stellt aus wirtschaftsethischer Sicht die grundsätzliche Frage:

„Wie lässt sich sicherstellen, dass Unternehmen sowohl im Inland als auch im Ausland unter den Bedingungen eines unerbittlichen globalen und auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Marktwettbewerbs ethische, menschenrechtliche, soziale und umweltpolitische Standards einhalten? Ist das überhaupt möglich?“

Seine Antwort lautet:

„Wer den Konflikt nicht durch eine wirtschaftsliberale Anpassung zu Gunsten des Primats der Ökonomik und unter Verlust der ethischen Substanz entscheiden will, wird unter den Bedingungen eines auf Profitmaximierung ausgerichteten globalen Marktwettbewerbs die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens verändern müssen. Damit wäre eine Veränderung gemeint, die das mit diesem Marktwettbewerb verbundene System zur Disposition stellt und in ein humanes Gesellschaftskonzept zu transformieren versucht. Die Humanisierung des Wirtschaftens ist dann gleichbedeutend mit der Abkehr vom dominanten System eines globalen und unerbittlichen Marktwettbewerbs.“

Quellen:

Susanne Knütter: „Ein Jahr Lieferkettengesetz“, junge Welt (Online) vom 28. Dezember 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/466084.deutsches-lieferkettengesetz-ein-jahr-lieferkettengesetz.html?

dies.: „Rahmen für Ausbeutung“, junge Welt (Online) vom 15. Dezember 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/465307.lieferketten-rahmen-für-ausbeutung.html?

Björn Finke: „EU-Konzerne sollen für Verbrechen der Zulieferer haften“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 14. Dezember 2023

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/eu-lieferkette-parlament-safe-harbour-haftung-menschenrechte-1.6319678?reduced=true

Moritz Koch/Carsten Volkery/Julian Olk: „EU-Lieferkettengesetz löst Proteststurm der Wirtschaft aus“, Handelsblatt (Online) vom 14. Dezember 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/international/europaeische-union-eu-lieferkettengesetz-loest-proteststurm-der-wirtschaft-aus/100003381.html

Sebastian Thieme: „Ethisches Verhalten im globalen Wettbewerb?“, in: maldekstra #18, März 2023, Seite 10f.

https://www.rosalux.de/publikation/id/50107/lieferketten-und-welt-kapitalismus

 

 

Knast für Krisengewinnerin

Während der Coronapandemie hoben Pharmakonzerne die Preise für ihre Impfstoffe zum Teil drastisch an und strichen enorme Gewinne ein. Hersteller und Labore wiederum profitierten jahrelang davon, dass Ärztevertreter und Krankenkassen viel zu hohe Preise für Coronatests vereinbarten. Milliardensummen wurden so verschwendet. Aber auch Politiker sowie Personen aus deren Umfeld kassierten – letztlich auf Kosten der Steuerzahler – kräftig ab, zum Beispiel durch Maskendeals über CSU-Kanäle. So verdiente auch die Unternehmerin Andrea Tandler, Tochter des früheren CSU-Politikers Gerold Tandler, mit Maskengeschäften unfassbar viel Geld – 48,4 Millionen Euro an Vermittlungsprovisionen. Am 15. Dezember 2023 verurteilte das Landgericht München I sie nun wegen Steuerhinterziehung zu vier Jahren und fünf Monaten Haft.

Die junge Welt schreibt dazu:

„Gleich zu Beginn der Pandemie, im März 2020, hatte Tandler, Geschäftsführerin einer Unternehmensberatung, ihre guten Kontakte zu Politik und Verwaltung genutzt, um einen Deal mit der Schweizer Firma Emix Trading einzufädeln. Als Türöffnerin zur Politik soll ihr dabei die Strauß-Tochter und CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier geholfen haben, die selbst angeblich nicht finanziell profitierte. Emix verkaufte Masken und Schutzkleidung an diverse Ministerien im Wert von mehr als 700 Millionen Euro, teils zu horrenden Preisen, zum Beispiel 8,90 Euro für eine FFP2-Maske. Tandler, ihr Partner Darius N. sowie eine dritte Person kassierten dafür 48 Millionen Euro Provision.
Verurteilt wurden Tandler und Darius N. allerdings nicht wegen dieser Deals, da diese zwar moralisch fragwürdig, aber juristisch nicht angreifbar waren. Vor Gericht landeten die beiden, weil sie den Hals nicht vollkriegen konnten und die Provisionen nicht korrekt versteuerten. Das Duo gründete ein Unternehmen, um die Millionenprovisionen nachträglich als GmbH zu versteuern. Diese meldeten sie in der Steueroase Grünwald an, obwohl sich der Firmensitz faktisch in München befand. Staatsanwaltschaft und Gericht werteten das als Gewerbesteuerhinterziehung. Den insgesamt entstandenen wirtschaftlichen Schaden bezifferte die Staatsanwaltschaft zum Ende des Verfahrens auf insgesamt 7,8 Millionen Euro.“

Das Neue Deutschland meint ergänzend:

„In der Corona-Maskenaffäre haben die Angeklagte und ihr Geschäftspartner zu Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 von der Bundesregierung sowie aus Bayern und Nordrhein-Westfalen Lieferverträge über 200 Millionen Masken mit Provisionszahlungen von mehr als 48 Millionen Euro erhalten und diese dem Finanzamt verschwiegen. Mit 9,90 Euro waren es die teuersten Masken, die in der Coronakrise von den Regierungen gekauft wurden – von einer Schweizer Klitsche, die bis dahin völlig unbekannt war und beim Bund wundersamerweise sämtliche anderen Bieter ausstechen konnte. (…)
Verurteilt ist nun eine, doch hinter Tandler steht ein ganzer Clan von Unionspolitikern und ihren Angehörigen. Die Maskenfrau ist Tochter des früheren CSU-Generalsekretärs Gerold Tandler. Für die Anbahnung ihrer Geschäfte telefonierte sie mit dem damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der bayerischen Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU). Dabei half ihre Freundin Monika Hohlmeier, eine Tochter von Franz Josef Strauß (CSU).
‚We are millionaires‘, soll Tandler in internen Chats gejubelt haben und Bilder von hochwertigem Champagner gepostet haben. Das Geld legten die Angeklagten in Luxusvillen und Goldbarren an. Gereicht hat es Tandler nicht, denn die Politiker-Tochter soll sogar noch Corona-Hilfen vom Bund beantragt haben. Diese hat Tandler zurückgezahlt, auf dem abgezweigten Steuervermögen will die Clankriminelle indes sitzen bleiben.“

Die taz geht diesbezüglich auch auf den Vater der Verurteilten ein:

„Andrea Tandler ist eine Tochter des früheren CSU-Politikers und Strauß-Intimus Gerold Tandler. Innenminister war er, Wirtschafts- und Finanzminister, auch CSU-Generalsekretär. Noch heute ist Tandler ein klingender Name in Bayern. Und das, obwohl seine aktive Zeit schon mehr als 30 Jahre zurückliegt.
Und das wiederum hat mit der unrühmlichen Rolle zu tun, die der Politiker in der Affäre um den ‚Bäderkönig‘ Eduard Zwick spielte. Um Steuerhinterziehung ging es auch da. Ermittlungen gegen Tandler selbst wurden schließlich gegen Zahlung von 150.000 Mark eingestellt. Später bürgerte sich für diesen Typus CSU-Politiker die Bezeichnung Amigo ein.“

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) thematisiert die Bedeutung der Gewerbesteueroasen, für den Fall Tandler und darüber hinaus:

„Einer der Kernvorwürfe lautet: Steuerhinterziehung mit einem Firmensitz in der Gewerbesteueroase Grünwald. Das ist alles gut dokumentiert und führt zu höchst unangenehmen Fragen an den Fiskus und die Justiz: Warum ist in Sachen Gewerbesteuer eigentlich nur Andrea Tandler angeklagt?“ (SZ vom 13. Dezember 2023)

In Grünwald und anderen Steueroasen hätten sich Hunderte, wenn nicht Tausende Firmen in sogenannten virtuellen Büros niedergelassen, um in den Genuss niedriger Gewerbesteuern zu kommen. Würden Finanzämter, Steuerfahndung und Staatsanwaltschaften bei anderen Firmen dieselben Maßstäbe anlegen wie bei Tandler, müsste es zahlreiche Ermittlungsverfahren, Anklagen und Prozesse geben. Doch dafür fehle dem Fiskus manchmal der Wille und oftmals auch das Personal. Hinzu komme eine Gesetzeslage, die den Steueroasen und deren Klienten diene: „Bayerns Regierung und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) tun nichts, um das zu ändern.“ (ebd.)

In einem weiteren Artikel in der SZ führt Autor Klaus Ott aus:

„Andrea Tandler hat zusammen mit einem Partner im Frühjahr 2020, als die Maskendeals in Gang kamen, ein Miniaturbüro in Grünwald gemietet. In dem Münchner Vorort gibt es fast 8000 Firmen, bei gut 11000 Einwohnern. (…) Viele, wenn nicht gar die meisten Firmen kommen von außerhalb, weil die Gewerbesteuer so niedrig ist. Durch solche Oasen gehen den Gemeinden und Städten, in denen die betreffenden Unternehmen eigentlich ansässig sind, nach einer Schätzung des Netzwerks Steuergerechtigkeit jährlich rund eine Milliarde Euro verloren. Die Tandler-Firma Little Penguin (Zwergpinguin) war in einem 15 Quadratmeter großen Büro ansässig, zusammen mit 26 weiteren Firmen. Das macht 0,55 Quadratmeter pro Firma. Würde ein Zwergpinguin unter solchen Umständen gehalten werden, dann würden die Behörden wegen massiver Verstöße gegen den Tierschutz einschreiten.“

(vgl. auch die BIG-„Nachricht“ vom 8. Februar 2023 zum Fall Tandler)

Quellen:

Kristian Stemmler: „Den Hals nicht voll bekommen“, junge Welt (Online) vom 16. Dezember 2023
https://www.jungewelt.de/artikel/465355.maskendeal-den-hals-nicht-voll-bekommen.html 

Matthias Monroy: „Andrea Tandler: Clankriminelle“, Neues Deutschland (Online) vom 15. Dezember 2023
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176728.steuerhinterziehung-andrea-tandler-clankriminelle.html 

Dominik Baur: „Knast für Tochter von CSU-Granden“, taz (Online) vom 15. Dezember 2023
https://taz.de/Geschaeft-mit-Corona-Masken-in-Bayern/!5980467&s/ 

Klaus Ott: „Tandler muss büßen, andere nicht“, SZ vom 13. Dezember 2023

ders.: „Ein blinder Fleck mitten im Wald“, SZ vom 13. Dezember 2023

Ein Jahr Wirecard-Prozess

Seit einem Jahr wird in München einer der größten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik verhandelt. Im Juni 2020 kollabierte der Zahlungsdienstleister Wirecard, als bekannt wurde, dass auf Treuhandkonten in Asien 1,9 Milliarden Euro fehlten. Neben Ex-Vorstandschef Markus Braun sitzen zwei weitere ehemalige Manager wegen Bilanzfälschung und Bandenbetrug auf der Anklagebank. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautet, dass die Milliardensummen schlicht erfunden worden seien. Nach Aussage von Braun dagegen habe das Geld existiert, sei aber ohne sein Wissen beiseitegeschafft worden.

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) resümiert den bisherigen Verlauf des Prozesses:

„Seit genau einem Jahr läuft dieses gigantische Verfahren schon, 86 Verhandlungstage bislang. Und es könnte sein, dass gerade erst Halbzeit ist. Denn im Gerichtssaal von Stadelheim lichtet sich das Dickicht aus Vorwürfen, Verstrickungen und Vertuschungen nur langsam. Oder wie es der Vorsitzende Richter Markus Födisch vor einigen Tagen formuliert hat: ‚Es werden immer mehr Fragen, statt weniger‘.“

Vier Personen stehen im Zentrum des kriminellen Wirecard-Bankrotts: Neben Markus Braun (fast zwei Jahrzehnte CEO des Konzerns) handelt es sich um Oliver Bellenhaus (von 2013 bis 2020 Wirecards Statthalter in Dubai und wichtigster Zeuge der Anklage), Stephan von Erffa (Chefbuchhalter und stellvertretender Finanzvorstand) und den weiterhin mit internationalem Haftbefehl gesuchten Jan Marsalek (ebenfalls Ex-Vorstandsmitglied von Wirecard).

Bellenhaus betreute vom Golf aus das Geschäft mit den „Drittpartnern“, ohne das der Aufstieg des Konzerns nicht möglich gewesen wäre: „Er sei der ‚Rainmaker’ gewesen, sagt Bellenhaus von sich, der Mann, der das Geld regnen ließ. Oder besser: der das Geld erfand. Denn alles sei ‚von Anfang ein Schwindel‘ gewesen, sagt Bellenhaus, von ihm ausgeführt, aber mit Wissen und Billigung durch Markus Braun und Jan Marsalek.“

Als einziger Ex-Wirecard-Manager räumt er seine Beteiligung an dem milliardenschweren Betrug ein und belastet dabei auch den flüchtigen Marsalek sowie die beiden Mitangeklagten Braun und von Erffa, die alle Vorwürfe zurückweisen.

„Woche für Woche sitzen sich nun also Braun und Bellenhaus in den Anklagebänken buchstäblich im Nacken: einer in der Reihe vorn, der andere direkt dahinter (…). Verbissen will jeder den anderen der Lüge überführen. Stephan E. hat seinen Platz abseits, auf einer weiteren Anklagebank. Der Rest ist Schweigen. Es kann nur eine Geschichte wahr sein vom Untergang der Wirecard AG. Höchstens. Braun oder Bellenhaus – mindestens einer lügt. Aber wer?“

Im Juli schaltete sich überraschend Jan Marsalek mit einem Schreiben seines Anwalts in das Münchner Verfahren ein – sein erstes Lebenszeichen seit mehr als drei Jahren. Mit dem Ziel, Braun auf Kosten von Bellenhaus zu entlasten. Der Brief sollte auf Antrag der Anwälte als Beweismittel zur Entlastung Brauns genutzt werden. Das Gericht hielt ihn jedoch in dem Verfahren für weitgehend wertlos, da Marsalek darin keine Belege für seine Behauptungen vorlegte. Klar aber wurde, dass Marsalek und sein Anwalt immer noch Kontakt halten.
Die SZ geht noch einmal auf wesentliche Stationen der Betrugsgeschichte ein. Spätestens seit 2016 hätte Wirecard öffentlich immer wieder unter Druck gestanden, Vorstand Braun aber Anleger, Analysten, Kreditgeber und sogar die Behörden jahrelang „um den Finger gewickelt“.

„Die Geschichte vom Aufsteiger aus Aschheim, verleumdet und verfolgt von finsteren Spekulanten, sie verfängt immer wieder. So gut, dass die Finanzaufsicht Bafin zwischenzeitlich sogar Leerverkäufe mit Wirecard-Aktien verbietet und die Staatsanwaltschaft München I – also dieselbe Behörde, die nun die Anklage gegen Braun und die anderen führt – anderthalb Jahre lang gegen Journalisten der Financial Times ermittelt. Die hatten bereits früh über Ungereimtheiten berichtet. Das Verfahren aber wird erst im September 2020 eingestellt, da ist Wirecard schon seit elf Wochen implodiert.“

Braun bestreitet weiterhin beharrlich, er trage Schuld an der Insolvenz und verweist auf Bellenhaus und Marsalek. Ein Wirtschaftsprüfer von KPMG, der für eine Sonderuntersuchung verantwortlich war, behauptet jedoch, Braun habe ihm mitgeteilt, er verfüge über „absolutes Herrschaftswissen“ – und ihn dann zum Skifahren auf ein Chalet in Kitzbühel eingeladen. Braun bestreitet diesen Vorgang wie auch eine andere ihm zugeschriebene Aussage. Die ehemaligen Chefjuristin des Konzerns erklärte vor Gericht, Braun sei der Meinung gewesen, „dass man Compliance nicht brauche, dass das ein Scheiß sei“. Gemeint ist damit die Abteilung, die in Unternehmen für die Einhaltung von Gesetzen und Verhaltensrichtlinien zuständig ist.

Braun sieht sich nach wie vor nicht als Täter, sondern als Opfer. Die Richter teilen diesen Standpunkt bislang nicht.

„Sie halten es auch im Spätsommer noch für sehr wahrscheinlich, dass Braun die angeklagten Taten begangen hat. Und die Richter vermuten, der frühere Wirecard- Boss könnte noch immer ein Millionenvermögen verstecken. Er müsse also mit einem Urteil im Sinne der Anklage rechnen: Im Extremfall hieße das: Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren.“

Alle Zitate aus:

Johannes Bauer/Stephan Radomsky: „Shakespeare in Stadelheim“, Süddeutsche Zeitung vom 9./10. Dezember 2023

Zusätzliche Quelle:

„Wirecard-Prozess: Anwalt des Kronzeugen Bellenhaus will Haftentlassung beantragen“, Handelsblatt (Online) vom 6. Dezember 2023
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/strafprozess-wirecard-prozess-anwalt-des-kronzeugen-bellenhaus-will-haftentlassung-beantragen/100002382.html 

Cum-Ex-Ermittlungen: Kehrtwende des Justizministers

Am 12. Oktober 2023 teilte der Bundesgerichtshof mit, dass die Revision des Cum-Ex-Steuerbetrügers Hanno Berger gegen die vom Landgericht Bonn verhängte achtjährige Haftstrafe verworfen worden sei. Das Verfahren ist damit abgeschlossen und der 72-jährige Berger rechtskräftig verurteilt.

Eine zweite positive Nachricht stellt die neue Entwicklung im Machtkampf um Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker (Staatsanwaltschaft Köln) dar. Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen), Justizminister in NRW, hatte kürzlich überraschend angekündigt, Brorhilkers Hauptabteilung in zwei eigenständige Sektionen aufspalten zu lassen – was bedeutet hätte, dass der wichtigsten Cum-Ex-Ermittlerin ein großer Teil ihrer Fälle weggenommen worden wäre, um diese in die Zuständigkeit eines mit dem Thema wenig vertrauten Juristen zu übergeben. In den Medien war von einer geplanten „Entmachtung“ Brorhilkers die Rede. Nach breiter öffentlicher Kritik hat Limbach nun einen – vorläufigen – Rückzieher gemacht. Am 8. Oktober teilte er mit, dass die Hauptabteilung nun doch als Ganzes beibehalten werden soll. Zudem würde sie vier zusätzliche Planstellen erhalten und somit von derzeit 36 auf 40 Staatsanwält:innen anwachsen. Die Auswirkungen der Maßnahmen sollen laut Limbach im Juli 2024 bewertet werden.

Einige Pressestimmen zur aktuellen Situation:

„Die Darstellung Limbachs, Brorhilker entlasten, die Effektivität der Arbeit steigern und Kontinuität bei einem ‚unvorhergesehenen, etwa krankheitsbedingten Ausfall‘ gewährleisten zu wollen, wirkte nicht überzeugend. Dagegen hatte etwa Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung ‚Finanzwende‘, vor einem schweren Rückschlag bei der Aufklärung des größten Steuerdiebstahls in der deutschen Geschichte gewarnt. Damit stehe die bisherige Linie, alle Cum-ex-Verbrecher vor Gericht zu bringen, zur Disposition, hatte Schick beklagt. Dagegen gebe es Akteure im NRW-Justizapparat, die ‚Deals‘ bevorzugten, mit denen sich Kriminelle von einer angemessen Bestrafung freikaufen könnten.

Nachdem Limbach sein Projekt zuletzt noch verteidigt hatte, gibt er sich nun betont konziliant. Er nehme die Einwände, die selbst von der Generalstaatsanwaltschaft kamen, ‚sehr ernst‘, (…), was auch für die Sorge einiger gelte, die Maßnahme könne die Cum-ex-Ermittlungen beeinträchtigen. Ziel aller Überlegungen und Maßnahmen sei es im Gegenteil, das Fahndungsteam ‚zu stärken, um so noch bessere Bedingungen für die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zu schaffen und dadurch umfassende Aufklärung zu ermöglichen‘. Gleichwohl könnte Limbachs Rolle rückwärts auch nur eine auf Zeit sein, bis sich die Wogen geglättet haben. Zunächst wolle er sich mit den Verantwortlichen bei der Generalstaatsanwaltschaft und Staatsanwaltschaft austauschen, bemerkte er. ‚Wenn wir dabei geeignetere Wege finden, bin ich selbstverständlich auch offen dafür, die in Rede stehende Organisationsentscheidung rückgängig zu machen.‘ Und wenn nicht?

Auf alle Fälle erscheint das Verhältnis zwischen Limbach und Brorhilker, die sich den Ruf als unbeugsame Kämpferin gegen die ‚Cum-ex-Bande‘ erworben hat, nachhaltig zerrüttet.“

(junge Welt vom 10. Oktober 2023)

 

„Berufspolitiker können in aller Öffentlichkeit ihren ‚Canossa‘-Moment durchleben: Nach der Kritik von Rechts- und Finanzpolitikern sowie dem Widerstand aus den Reihen der Strafjustiz hat Benjamin Limbach (…) eine bemerkenswerte Kehrtwende vollzogen. Reumütig erteilte Limbach der geplanten Aufspaltung der Kölner Staatsanwaltschaft, die eine Schlüsselrolle in der Aufklärung des milliardenschweren Steuerskandals ‚Cum-ex‘ spielt, eine Absage. (…) Für einen Sinneswandel hat seinen Worten nach ein Treffen im Ministerium am vergangenen Mittwoch gesorgt, an dem unter anderem auch Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, bisher in Köln alleinige Hauptabteilungsleiterin für die Cum-ex-Fälle, teilnahm. (…) Auf Nachfrage erklärte der Justizminister, er habe deswegen lange nicht das Gespräch mit Brorhilker gesucht, weil dies Aufgabe des Leitenden Oberstaatsanwalts sei. Dies entspreche seiner Ansicht von ‚Führungsmanagement‘ in der Justizverwaltung. Brorhilker hatte sich intern mit einem Brief an den Hauptstaatsanwaltsrat gewandt, der die oberste Personalvertretung innerhalb des Justizministeriums ist. Darin warf sie Limbach Fehler und irreführende Darstellungen zu den Cum-ex-Ermittlungen vor.“ 

(FAZ vom 13. Oktober 2023)

 

„Seit zehn Jahren verfolgt Brorhilker mutmaßliche Steuerdiebe rund um den Globus, bis nach Australien, und hat dabei viel erlebt: einen weinenden Privatbankier; erboste Anwälte, die ihr alles Mögliche vorwerfen; oder widerspenstige Drahtzieher, die sich angesichts drohender Haftstrafen plötzlich in redefreudige Kronzeugen verwandeln. Was die schier ruhe- und rastlose Oberstaatsanwältin in diesen zehn Jahren bislang nicht erlebt hat, das ist ein Minister, der sich ihr gewissermaßen in den Weg stellt. Noch dazu ein Politiker der Grünen, die lange Zeit wie kaum eine andere Partei für Aufklärung gesorgt haben. (…) Jetzt hat Minister Limbach zu spüren bekommen, was es heißt, sich mit Brorhilker anzulegen. (…) Mehr als 60.000 Menschen* haben nach Angaben der Organisation Finanzwende eine von diesem Verein initiierte Eingabe unterschrieben. Darin wird die Landesregierung in NRW aufgefordert, die Cum-ex-Hauptabteilung H bei der Kölner Staatsanwaltschaft nicht aufzuspalten, sondern auzubauen.“

(Süddeutsche Zeitung vom 10. Oktober 2023)

 * (Finanzwende selbst spricht in einer Meldung vom 13. Oktober 2023 von mehr als 80.000 Unterschriften)

 

Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Justiz stellen Süddeutsche Zeitung und Focus Online an:

„Es ist ein seltsamer Termin, der an diesem Mittwoch im nordrhein-westfälischen Justizministerium in Düsseldorf stattfindet. Die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker kommt, und zwar auf Wunsch von Minister Benjamin Limbach. Der Grünen-Politiker will mit der Ermittlerin besprechen, wie in einem der größten Steuerskandale in Deutschland weiter verfahren wird. (…) Der ungewöhnliche Termin und seine Vorgeschichte sind ein Lehrstück darüber, was Minister gerade nicht tun sollten. Sie sollten grundsätzlich nicht in Ermittlungsverfahren von Staatsanwaltschaften eingreifen. Und dies erst recht nicht in politisch heiklen Fällen wie Cum-Ex. (…) In einem der vielen Verfahren dazu geht es auch um merkwürdige Vorgänge bei der Hamburger SPD. Und damit um die Rolle des heutigen Kanzlers Olaf Scholz als damaliger Bürgermeister in Hamburg, gegen den aber nicht ermittelt wird. Die Grünen regieren als Juniorpartner mit der SPD in Hamburg und im Bund in Berlin. In beiden Parlamenten ist in Sachen Cum-Ex vom ursprünglichen Anspruch der Bürgerrechtspartei, für Transparenz zu stehen, nicht viel übrig. Aus Rücksicht auf den Partner halten sich die Grünen bei der Aufklärung fragwürdiger Vorgänge um die SPD und den damaligen Bürgermeister Scholz in der Hansestadt auffällig zurück. Brorhilker hingegen will unbedingt wissen, wie es dazu kommen konnte, dass der hanseatische Fiskus die dortige Privatbank Warburg zeitweise sehr geschont hat. (…) Dass Limbach sich in dieser Lage als grüner Minister in die Arbeit der Kölner Staatsanwaltschaft einmischt, zeugt von mangelndem Fingerspitzengefühl und fehlender politischen Weitsicht. (…) Was der grüne Minister da treibt, wirft jedenfalls die Frage auf, warum Deutschland als demokratischer Rechtsstaat überhaupt noch am Weisungsrecht von Justizministerien gegenüber Staatsanwaltschaften festhält. (…) Die Weisungsbefugnis sollte stark eingeschränkt werden. Pläne dafür gibt es seit Jahren. Sie sollten endlich umgesetzt werden.“

(Süddeutsche Zeitung vom 11. Oktober 2023)

 

„Während die Deutschen gebannt auf die Wahlergebnisse schauten, machte der grüne nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach am Sonntag einen spektakulären Rückzieher: Er verzichtet auf den Umbau der Staatsanwaltschaft in Köln, der Steuerbetrugsermittlungen behindert hätte. Einer, der jetzt wieder zittern muss, ist Kanzler Olaf Scholz. (…) Mit seiner politischen Kehrtwende gibt er seinen Kritiker Recht: Sie hatten darauf hingewiesen, dass die Umstrukturierung der Abteilung Deutschlands hartnäckigste Verfolgerin der kriminellen Cum-Ex-Geschäfte, die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, in ihrer Arbeit behindern würde.

Der Skandal dahinter ist riesig: Namhafte Adressen aus der deutschen Finanzwelt waren jahrelang an krummen Geschäften zu Lasten des Steuerzahlers beteiligt. Die Politik schaute zu – oder war sogar behilflich. Mancherorts wird deswegen hartnäckig ermittelt, andernorts sieht man keinen besonderen Grund dafür. In Hamburg, wo möglicherweise mit Wissen des ehemaligen Bürgermeisters und heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz der größte Schaden entstanden ist, gehören die Ermittler eher zu der zurückhaltenden Fraktion. In Köln allerdings sitzen die Unbeugsamen. Und ausgerechnet sie wollte der grüne Justizminister ausbremsen. (…)

Mit im Fokus stehen dabei: Der damalige Finanzsenator Peter Tschentscher, heute Hamburger Regierungschef, und sein Vorgänger als Erster Bürgermeister: Olaf Scholz. Gegen sie gab es seit Bekanntwerden des Skandals mehrere Strafanzeigen: Sie hätten Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch das Bankhaus seit 2007 geleistet, und im Falle Scholz auch noch uneidliche Falschaussage geleistet, so formulierte es der Strafrechtler Gerhard Strate in seiner 38-seitigen Strafanzeige zu Jahresbeginn. (…)

Im März 2022 lehnte die Staatsanwaltschaft Hamburg nach nur vier Wochen Prüfung die Eröffnung eines Strafverfahrens ab. Scholz habe glaubhaft gemacht, dass er sich an Gespräche mit dem Warburg-Bankier Christian Olearius 2016 und 2017 nicht erinnern könne. (…)

Staatsanwälte in Deutschland sind weisungsgebunden. Da kommt schnell die Vermutung auf, dass aus der Politik eindeutige Hinweise gegeben wurden, die man nicht ablehnen kann. Jedenfalls in Hamburg. (…)

Ganz anders läuft es in Köln. Hier ermittelt seit Jahren Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker. Zunächst mit einem kleinen Team gegen Verdächtige aus dem Kölner Raum in Zusammenhang mit den Hamburger Vorgängen. Brorhilker ließ sich nicht abwimmeln, und je intensiver in Köln ermittelt wird, umso blamierter steht die Hamburger Justiz da. Und desto gefährlicher wird es für einige prominente Namen. Dann allerdings schien auch die nordrhein-westfälische Politik ihrem Justiz-Star ins Handwerk pfuschen zu wollen.

Justizminister Limbach, heute Grüne, bis 2018 bei der SPD, wollte über den neu ernannten Leiter der Staatsanwaltschaft Köln, Stephan Neuheuser, eine Reorganisation durchsetzen.“

(Focus Online vom 9. Oktober 2023)

 

Das Handelsblatt verweist darauf, wie viel Aufklärungsarbeit bei Cum-Ex noch zu erledigen ist:

„Arbeit gibt es noch reichlich: Die Staatsanwaltschaft verfolgt aktuell rund 120 Ermittlungskomplexe mit etwa 1700 Beschuldigten. Bis heute hat die Behörde zehn Anklagen gegen 13 Angeklagte geschrieben. Es gibt mehrere Verurteilungen, drei davon hat der Bundesgerichtshof bereits bestätigt.

Der Großteil der Ermittlungen ist noch lange nicht abgeschlossen. Erst in jüngerer Zeit hat die Staatsanwaltschaft zahlreiche an Cum-Ex-Geschäften beteiligte Großbanken durchsucht, zuletzt die französischen Institute Natixis und BNP Paribas und die japanische Großbank Nomura. Anfang 2023 gab es auch eine Razzia bei ehemaligen Topmanagern von HSBC Trinkaus in Düsseldorf.

Das Ausmaß des Skandals ist in Deutschland bisher ohne Beispiel. Die Staatsanwaltschaft stößt deshalb an ihre Kapazitätsgrenzen. Kritiker hatten gemutmaßt, dass die strafrechtliche Aufarbeitung des Skandals vernachlässigt wird. Die Aufteilung der Hauptabteilung unter Leitung eines relativ unerfahrenen Oberstaatsanwalts könne zu schnelleren Einstellungen führen, so die Befürchtung. Doch jetzt bleibt zunächst alles bei der bisherigen Struktur.“

(Handelsblatt vom 12. Oktober 2023)

Auch die Bürgerbewegung Finanzwende betont in einer Mitteilung vom 13. Oktober, dass der Kampf gegen Cum-Ex weiterhin defizitär ist:

„Wirklich unglaublich: Der NRW-Justizminister Limbach plante die Aufspaltung der Abteilung, die bei der Kölner Staatsanwaltschaft für die juristische Aufarbeitung des Cum-Ex-Steuerraubes zuständig ist. (…) Doch dazu ist es nicht gekommen! Finanzwende startete umgehend eine Petition (…) für die politische Rückendeckung Brorhilkers und forderte eine personelle Aufstockung ihrer Abteilung statt der geplanten Umstrukturierung. Über 80.000 Bürger*innen haben sich in kürzester Zeit mit ihrer Unterschrift unserer Forderung angeschlossen, Cum-Ex-Täter*innen nicht davonkommen zu lassen. (…) Trotz dieses Erfolges gibt es aber weiter viel zu tun. Die angekündigten Stellen müssen erst noch besetzt werden. Zudem sollten pro Staatsanwalt und Staatsanwältin mindestens acht Ermittler*innen von anderen Behörden wie Steuerfahndung und Polizei zur Verfügung stehen. Wir sind also noch lange nicht da, wo wir bei der Bekämpfung von CumEx eigentlich sein müssten.“

Zum Schluss sei auf den Hintergrundartikel von Herbert Storn (Business Crime Control) vom 11. Oktober 2023 in Makroskop (Das Magazin für Wirtschaftspolitik) verwiesen:

„Die Cum-Ex-Lobby schlägt zurück“,

https://makroskop.eu/33-2023/die-cum-ex-lobby-schlagt-zuruck/

Die Situation bis zur „Kehrtwende“ des Justizministers von NRW in Sachen Organisationsstruktur der Staatsanwaltschaft Köln beleuchtet detailliert der Podcast „Handelsblatt Crime“ (vom 8. Oktober 2023):

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/eklat-in-der-nrw-justiz/29431978.html

Quellen:

„Cum-ex: Justizminister mit Kehrwende“, FAZ vom 13. Oktober 2023

Klaus Ott: „Machtkampf um die Cum-Ex-Aufklärerin“, Süddeutsche Zeitung vom 10. Oktober 2023

ders.: „Einmischen verboten“, Süddeutsche Zeitung vom 11. Oktober 2023

Ralf Wurzbacher: „Limbach macht halbe Rolle rückwärts“, junge Welt vom 10. Oktober 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/460750.korruption-limbach-macht-halbe-rolle-rückwärts.html?

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Chef-Ermittlerin Brorhilker bekommt plötzlich mehr Macht“, Handelsblatt (Online) vom 12. Oktober 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-chef-ermittlerin-brorhilker-bekommt-ploetzlich-mehr-macht/29440496.html

Oliver Stock (Gastautor: Reinhard Schlieker): „Der seltsame Rückzieher des grünen NRW-Ministers – Scholz muss wieder zittern“, Focus Online vom 9. Oktober 2023

https://www.focus.de/finanzen/news/cum-ex-ermittlungen-der-seltsame-rueckzieher-des-gruenen-nrw-ministers-scholz-muss-wieder-zittern_id_221528190.html

„CumEx-Täter*innen nicht davonkommen lassen“, Mitteilung von Finanzwende e.V. vom 13. Oktober 2023

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/cumex-taeterinnen-nicht-davonkommen-lassen/

 

Fehlendes Interesse an Whistleblowing: Strafzahlung für Deutschland

Bereits im Dezember 2021 hätte die EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern vom Oktober 2019 in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Die EU hatte den Mitgliedsstaaten also eine Frist von mehr als zwei Jahren eingeräumt, ihren Auftrag zu erledigen. Der Bundestag verabschiedete das Hinweisgeberschutzgesetz jedoch erst im Dezember 2022. Der Bundesrat, in denen die Union mitregiert, blockierte das Vorhaben dann im Februar 2023.

„Endlich, am 2. Juli 2023, trat das Gesetz in Kraft – nur war beim Europäischen Gerichtshof schon Monate vorher eine Klage der Kommission eingegangen.  Brüssel hatte die Geduld verloren, das politische Versagen bekam eine Zahl: Es war ein Tagessatz, ein bisschen so wie beim Gerichtsvollzieher: 61.600 Euro pro Tag zwischen dem abgelaufenen Stichtag und dem Inkrafttreten verlangte die EU. (…) In Berlin beginnt man sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass dieses politische Versagen echtes Geld kosten wird. Gerechnet wird so: 560 Tage Verspätung mal 61.600 Euro macht 34.496.000 Euro. Vorsichtshalber aufgerundet auf 35 Millionen.“ (Süddeutsche Zeitung)

Offiziell geht Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof juristisch gegen die Strafzahlung vor. Vorsorglich ist die Summe im Haushalt des Justizministeriums aber bereits eingestellt – die Bundesrepublik nimmt den Vorgang also ernst.

Mit 35 Millionen Euro, so die Süddeutsche Zeitung, ließe sich dagegen viel Gutes tun. Ausgerechnet Organisationen, die sich dem Kampf gegen Hass im Netz verschrieben hätten, würden darüber klagen, dass die Förderung ihrer Arbeit im kommenden Haushaltsjahr gekürzt oder gestrichen werden solle.

Die Sache könnte nach Meinung der SZ sogar noch viel teurer werden. Um 240.240 Euro täglich, für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof es ebenso sähe wie die EU: „Dass die deutsche Regelung nämlich bis heute nicht gut genug ist, weil die vorgeschriebenen Meldestellen für Whistleblower in vielen Gemeinden bis heute nicht existieren. (…) Noch mal eine knappe Viertelmillion täglich, was soll‘s. Es wäre dann das ebenso teure wie beschämende Finale einer ohnehin beschämenden Geschichte.“

Quelle:

Georg Mascolo: „Das wird jetzt wehtun“, Süddeutsche Zeitung vom 7./8. Oktober 2023

 

 

Elon Musk: Rücksichtslos gegen Flüchtende und eigene Beschäftigte

Felix Klopotek schreibt in der Augustausgabe 2023 der Konkret über Elon Musk, den reichsten Menschen der Welt:

„Bewundernd, distanziert, zweifelnd und staunend schaut die hiesige Elite auf Musk. Wie soll man ihn einschätzen? Was kann man von ihm erwarten? Man weiß es nicht – und man soll es auch gar nicht wissen. Das ist die Pointe: Diese Fragen sollen unbeantwortet bleiben. Noch für eine Selbsteinschätzung, eine Erklärung in eigener Sache, ein definitives Leitbild ist Musk zu groß. So bleibt offen, wofür er steht. Ultraelitär oder lässig antibürgerlich? Globalistische Tech-Elite oder lieber Trump-Kumpel? Auf seiten der Ukraine oder doch Sympathien für Putin und Xi Jinping, weil die so harte Machertypen sind? Lächerliche Fragen aus der Sicht von Musk. Er ist da, wo er seine Chancen sieht, immer bereit zu zerstören, um Neues zu schaffen. Er verkörpert die Vision einer kapitalistischen Welt, die nach Jahren, Jahrzehnten des Klein-Kleins im Westen sich endlich entkoppeln muss von politischen Restriktionen – Liberalismus, Konservatismus, Demokratie, gar Sozialismus. All diese Begriffe stehen für die Beschränkung der privaten unternehmerischen Initiative. Musk ist noch nicht mal antipolitisch, er ist radikal apolitisch.“ (Seite 16)

Rechte Verschwörungserzählungen

Letztere Behauptung lässt sich angesichts aktueller Äußerungen des Tech-Milliardärs bezweifeln. So teilte Musk Ende September den hetzerischen Post eines offenbar rechtsextremen Nutzers seiner Internetplattform X (vormals Twitter), in dem zur Wahl der AfD aufgerufen wird, und kritisierte scharf die deutsche Migrationspolitik. Der User behauptet in seinem Tweet, dass derzeit acht Schiffe deutscher NGOs auf dem Mittelmeer „illegale Einwanderer“ aufnehmen und in Italien absetzen würden. „Hoffen wir“, so der User, „dass die AfD die Wahlen gewinnt, um diesen europäischen Selbstmord zu stoppen.“ Musk kommentierte mit Blick auf die deutschen Schiffe: „Ist die deutsche Öffentlichkeit sich dessen bewusst? (…) Sicherlich ist es eine Verletzung der Souveränität Italiens, wenn Deutschland große Mengen illegaler Einwanderer auf italienischen Boden transportiert? Das hat etwas von Invasionsstimmung.“ (Handelsblatt vom 30. September 2023)

Musk bezieht sich dabei auf die Kritik der italienischen Regierung am Auswärtigen Amt, das in diesem Jahr Seenotrettungsorganisationen mit bis zu zwei Millionen Euro unterstützt. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatte sich gegenüber Bundeskanzler Olaf Scholz irritiert über die finanziellen Hilfszahlungen gezeigt. Das Handelsblatt kommentiert Musks enorme Meinungsmacht vor dem Hintergrund der politischen Aktivitäten, Flüchtende von Europa fernzuhalten: „Mit dem Tweet von Musk gewinnt die Debatte nun deutlich an Schärfe.“

 Die taz stellt klar, dass die Behauptungen von Musk & Co schlicht falsch sind:

„Tatsächlich sind von den bisher in diesem Jahr rund 133.000 an Italiens Küsten angekommenen Flüchtlingen und Migrant:innen nur rund 8 Prozent von NGO-Schiffen nach Italien gebracht wurden. (…) Zur Zeit des Tweets (…) waren nicht sieben oder acht, sondern fünf von deutschen Vereinen betriebene Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer unterwegs: die ‚Louise Michel‘, ‚Aurora‘, ‚Nadir‘ und ‚Trottamar III‘, dazu die von den Behörden festgesetzte ‚Humanity 1‘. Bisher erhielt kein Schiff deutsche Staatshilfe. Geplant sind Zahlungen an den Verein SOS Humanity, der die ‚Humanity 1‘ betreibt. Ob das Geld tatsächlich fließt, ist aber offen.“

Nach Auffassung der Frankfurter Rundschau  bedient sich der von Musk geteilte Aufruf zur Wahl der AfD eines Vokabulars, das an die von Rechtsextremen verbreitet rassistische und antisemitische Verschwörungserzählung des sogenannten Großen Bevölkerungsaustauschs angelehnt ist. „Unter diesem Narrativ propagieren Rechtsextreme einen angeblichen Versuch einer ‚globalen Elite‘, weiße Bevölkerungen gegen Geflüchtete ‚auszutauschen‘. Insbesondere Anhänger:innen der Identitären Bewegung verbreiten dieses Narrativ – vor allem in den sozialen Netzwerken. Auch in Bekennerschreiben rechtsextremer Terroristen findet es sich seit Jahrzehnten. (…) Elon Musk fiel bereits in der Vergangenheit immer wieder durch das Verbreiten von Verschwörungserzählungen auf: So verbreitete er einen antisemitischen Vergleich zwischen dem Comic-Bösewicht Magneto und dem liberalen Milliardär und Philanthropen George Soros. Soros – ein Überlebender des Holocaust – ist eine Hassfigur der extremen Rechten und wird in der Verschwörungserzählungen des ‚Großen Bevölkerungsaustausches‘ oft als Sinnbild ‚der Elite‘ verunglimpft. Am prominentesten in Orbàns Ungarn.“

„Produktionshölle“

Ein anderer Schauplatz: Ende September veröffentlichte das Magazin Stern die Ergebnisse einer Recherche über das Tesla-Werk im brandenburgischen Grünheide. Danach wurden gravierende Verstöße von Elon Musks Unternehmen gegen Arbeitsschutz- und Umweltauflagen festgestellt – die die Politik offenbar tatenlos hinnimmt. Die Vorwürfe des Stern beruhen teils auf Dokumenten, die Reporter:innen des Magazins offenbar einsehen konnten, teils auf Aussagen von Betroffenen, die über selbst erlittene Unfälle berichteten. Daneben, so der Stern, konnten zwei Reporterinnen in die Gigafabrik eingeschleust werden und deshalb gravierende Mängel selbst beobachten.

Das nd kommentiert die Veröffentlichung des Stern:

„Wie viel unattraktiver kann Elon Musk das Arbeiten in seiner Tesla-Gigafabrik in Grünheide noch gestalten? Keine Tarifbindung trotz Automobilindustrie, Verschwiegenheitserklärung im Arbeitsvertrag, Ellbogenmentalität gemischt mit autoritärer Führung, heiße Sommer und kalte Winter in den Fabrikhallen: Tesla scheint ein richtig mieser Arbeitgeber zu sein. Nun glänzt die Gigafabrik in Grünheide mit hohen Zahlen meldepflichtiger Arbeitsunfälle und Gruselgeschichten von Verunglückten.“ (nd vom 5. Oktober 2023)

Der von Tesla-Gründer und Provokateur Musk selbst stammende Begriff „Produktionshölle“ bezeichnet anschaulich die seit Jahren berüchtigten Arbeitsunfallstatistiken und Produktionsvorgaben des seit März 2022 produzierenden Werks von Tesla (vgl. nd vom 8. Oktober 2023).

Eine Auswahl der Vorwürfe der investigativen Stern-Recherche gegen Tesla in Grünheide:

– Tesla durfte in nicht einmal zwei Jahren die Fabrik in ein Trinkwasserschutzgebiet setzen – Das Landesamt für Umwelt und die untere Wasserbehörde des Landkreises hebelten mit etlichen Sondergenehmigungen dafür große Teile ihrer Wasserschutzverordnung aus. Zum Teil erteilten die Behörden  für illegale Bauarbeiten nachträglich Ausnahmegenehmigungen. 

– Das Werk gefährdet Mitarbeiter:innen, Umwelt und Anwohner gleichermaßen: Fast täglich ereignen sich Unfälle mit schweren und schwersten Verletzungen. Giftstoffe, Öle und Diesel versickern wegen eines zum Teil nachlässigen Umgangs im Erdreich. „Allein zwischen Juni und November 2022 gab Tesla selbst demnach 190 meldepflichtige Unfälle an. (…) Die Daten der Rettungsstellen sprechen eine ähnliche Sprache. Man kann dort nachlesen, dass Musks Fabrik im ersten Jahr nach der Eröffnung 247 Mal einen Rettungswagen oder Hubschrauber anforderte. Auf die Mitarbeiterzahl umgerechnet, sind das in einem ähnlichen Zeitraum gut dreimal so viele Notfälle wie beispielsweise in Audis Werk in Ingolstadt.“ (Seite 32)

Nach Aussage eines Gewerkschafters verletzten sich in keinem anderen Autokonzern in Deutschland so viele Menschen wie bei Tesla. Es handelt sich dabei unter anderem um Verletzungen durch Stromschläge, Verbrühungen, Salzsäure, amputierte Gliedmaßen.

– Der Konzern wurde vom Stern mit dessen Recherchen und den Vorwürfen der Mitarbeiter:innen konfrontiert, reagierte aber nicht darauf. Tesla hat mit Hilfe von Politik und Brandenburgs Behörden ein System des Schweigens geschaffen. Hinweisgeber, die über Sicherheitsmängel informierten, verloren ihren Job. Aufgrund von Verschwiegenheitsklauseln in Arbeitsverträgen können von Unfällen betroffene Beschäftigte nicht offen mit Journalisten sprechen. Mitarbeitende, die über interne Vorgänge reden, müssen mit ihrer Entlassung und Schadensersatzklagen rechnen. Tesla schottet sich gegenüber der Öffentlichkeit nahezu ab „wie ein Gefängnis“. (Seite 26).

– Brandenburgs Behörden nehmen ihre Kontrollfunktion offensichtlich nicht ernst. Aus ihren Akten, so der Stern, gehe hervor, dass seit Januar 2022 mindestens ein Mitarbeiter des Landesamts für Arbeitsschutz  mehrmals im Monat zu Tesla fährt, um die Arbeitssicherheit zu prüfen – zumeist allerdings erst nach vorheriger Ankündigung und Angabe darüber, was genau er sich ansehen will.

Dazu der Kommentar des Stern:

„Es ist das eine, dass die Regierung eines Bundeslandes stolz ist auf die Ansiedlung eines Weltkonzerns, den Regierungen und Regionen in ganz Europa umworben haben. Und gute Beziehungen zu diesem Konzern zu unterhalten, weil es allen Seiten nutzt. Etwas ganz anderes ist es, wenn Politiker und Behörden dabei zusehen, wie ein Unternehmen systematisch Menschen und die Umwelt in Gefahr bringt und gegen Auflagen und Gesetze verstößt. Oder sogar mithelfen, dass diese Missstände möglichst nicht auffallen.“ (Seite 35)

Stephan Kaufmann bilanziert nüchtern für das nd:

„Tesla unterscheidet sich von der deutschen Konkurrenz nur dadurch, dass es die geltenden Regeln des kapitalistischen Geschäfts besonders konsequent umsetzt. Genau deswegen ist der Konzern ja auch besonders erfolgreich: Umsatz in drei Jahren verdreifacht, Gewinn versiebenfacht. ‚Es sind die Leute in diesen Fabriken, die unseren Wohlstand schaffen‘, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Werkseröffnung im März 2022. Seitdem hat sich Teslas Börsenwert um 170 Milliarden Dollar erhöht.“

Eine positive Meldung zum Schluss: Nach Angaben der IG Metall forderten am 9. Oktober mehr als 1.000 Beschäftigte von Tesla „bei einer erstmaligen Aktion in der Fabrik in Grünheide gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen“. (Handelsblatt vom 9. Oktober 2023) Sie hätten sich mit einem Slogan auf IG-Metall-Aufklebern und T-Shirts gezeigt: „Gemeinsam für sichere & gerechte Arbeit bei Tesla“.

Quellen:

Christian Esser/Manka Heise/Tina Kaiser: „Außer Kontrolle“, Stern vom 26. September 2023, Seite 24-37 

Kilian Beck: „Musk teilt AfD-Wahlaufruf und liefert sich Schlagabtausch mit deutschen Außenministerium“,

Frankfurter Rundschau (Online) vom 3. Oktober 2023

https://www.fr.de/politik/gegen-baerbock-ministerium-verschwoerungserzaehlung-musk-schiesst-92552088.html

Christian Jakob: „Elon Musk hetzt gegen Seenotrettung“, taz (Online) vom 2. Oktober 2023

https://taz.de/Elon-Musk-hetzt-gegen-Seenotrettung/!5964281/

Stephan Kaufmann: „Tesla: Weltweit berüchtigte Arbeitsunfallstatistiken“, Neues Deutschland (Online) vom 8. Oktober 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176660.gruenheide-tesla-weltweit-beruechtigte-arbeitsunfallstatistiken.html?

Felix Klopotek: „Logik des Schreckens“, Konkret 8/2023, Seite 16-18

Jule Meier: „Arbeitsunfälle bei Tesla in Grünheide: Arm ab und arm dran“, Neues Deutschland (Online) vom  5. Oktober 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176737.arbeitsschutz-arbeitsunfaelle-bei-tesla-in-gruenheide-arm-ab-und-arm-dran.html?

Dietmar Neuerer: „Elon Musk teilt Beitrag mit Aufruf zur Wahl der AfD – Kritik von den Grünen“, Handelsblatt (Online) vom 30. September 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/international/tesla-chef-elon-musk-teilt-beitrag-mit-aufruf-zur-wahl-der-afd-kritik-von-den-gruenen/29421492.html

„Über 1000 Tesla-Mitarbeiter für bessere Arbeitsbedingungen“, Handelsblatt (Online) vom 9. Oktober 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ig-metall-ueber-1000-tesla-mitarbeiter-fuer-bessere-arbeitsbedingungen/29434870.html

 

Staatsanwältin kaltgestellt?

Deutschlands wichtigste Cum-Ex-Ermittlerin soll entmachtet werden. Das berichtet das Handelsblatt am 20. September 2023. Danach plant Stephan Neuheuser, erst seit wenigen Wochen neuer Chef der Kölner Staatsanwaltschaft, einschneidende personelle Veränderungen. Er will die Hauptabteilung H, „Deutschlands schlagkräftigste Ermittlertruppe im Kampf gegen Steuerhinterziehung nach der Methode Cum-Ex“, umbauen. Diese wurde von Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker geleitet, die als führende Expertin bei der strafrechtlichen Verfolgung des Wirtschaftsverbrechens gilt. Ein zweiter Hauptabteilungsleiter, Ulrich Stein-Visarius, soll ernannt werden, der allerdings bislang in Bezug auf Cum-Ex-Verfahren völlig unerfahren ist.

„Neuheuser und Stein-Visarius kommen beide aus dem Justizministerium Nordrhein-Westfalen. Neuheuser leitete dort zuletzt das Referat für Personalbedarf im Justizvollzug, Stein-Visarius das Referat für Jugendstrafrecht. Nun soll er die Hälfte der rund 30 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte führen, die sich um die hochkomplizierten Cum-Ex-Fälle kümmern.“

Brorhilker muss ihre Ermittlungsarbeit künftig wohl mit dem neuen Co-Chef abstimmen. Bei unterschiedlichen Auffassungen, schreibt das Handelsblatt, müsste ihr Vorgesetzte Neuheuser entscheiden. Umgesetzt sind die Pläne noch nicht. Nach Angaben einer Sprecherin des Justizministeriums dauere „die Prüfung von Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz“ in der zuständigen Fachabteilung noch an.

Die junge Welt kommentiert diesen für viele Beobachter überraschenden Vorgang:

„Die personelle Neuordnung mit Effizienzgewinnen zu begründen, ist dreist. Bei ihrer Jagd auf die Cum-Ex-Diebe und ihre Beute konnte Brorhilker seit 2013 etliche spektakuläre Erfolge erzielen. Zum Beispiel brachte sie den Kanzleipartner von Hanno Berger zum Reden, der in Deutschland schillerndsten Cum-Ex-Figur. Zehn Jahre nach Bergers Flucht in die Schweiz erwirkte die Oberstaatsanwältin seine Auslieferung, woraufhin dieser 2022 vor den Landgerichten Bonn und Wiesbaden zu jeweils rund acht Jahren Haft verurteilt wurde. 2014 ließ Brorhilker im Rahmen einer weltweiten Razzia Büros in Frankfurt am Main, Zürich, Luxemburg, London und New York durchsuchen und massenhaft Beweismittel beschlagnahmen. 2015 spielte ein Insider dem NRW-Finanzministerium eine CD zu, durch deren Auswertung 129 Cum-Ex-Geschäfte aufgedeckt und 100 Millionen Euro an zu Unrecht erstatteten Steuern zurückgeholt werden konnten. Nicht zuletzt verfasste Brorhilker die Anklage im Prozess gegen die Hamburger Warburg-Bank, gegen die schließlich eine Geldstrafe von 176 Millionen Euro verhängt wurde.“

Auch das Handelsblatt unterstreicht die Verdienste Brorhilkers:

„International konnte sich die Chefermittlerin aus Köln höchsten Respekt erarbeiten. Die Nachrichtenagentur Bloomberg nahm Brorhilker im Dezember 201 als einzige Deutsche in ihre ‚Top 50‘ auf – die Liste der ‚Menschen und Ideen, die 2021 das globale Geschäft bestimmen‘. Zu Hause schien ihre Arbeit weniger geschätzt. Längst nicht alle Stellen in der Hauptabteilung waren besetzt. Viele der Ermittler hatten kaum Berufserfahrung. Außerdem sollten sie sich neben den Cum-Ex-Verfahren auch um Corona-Betrugsfälle kümmern.“

Die junge Welt erinnert weiter daran, dass derzeit der ehemalige Chef der Warburg-Bank, Christian Olearius, in Bonn vor Gericht steht und dass sich die Hamburger Bürgerschaft vom Justizapparat behindert fühlt:

„Die Justiz in der Hansestadt interessiert der Fall nicht, obgleich sich in der Bürgerschaft ein Untersuchungsausschuss damit beschäftigt. Allerdings erhob das Parlament den Vorwurf, die Kölner Staatsanwaltschaft habe ein Jahr lang Akten aus Ermittlungsverfahren zurückgehalten, die der Ausschuss wiederholt angefordert hatte. Offenbar sind in Köln seit längerem Bremser am Werk, denen Brorhilkers Eifer missfällt. (…) Reichen die Vorbehalte vielleicht bis hoch an die Behördenspitze oder noch weiter? Jedenfalls wurden den Hamburger Abgeordneten erst nach Intervention durch NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen) Unterlagen zugeleitet. Zudem musste der Chef der Staatsanwaltschaft, Joachim Roth, seinen Hut nehmen, um durch besagten Neuheuser ersetzt zu werden. Dessen erste Amtshandlung wird absehbar darauf hinauslaufen, die Kompetenzen Brorhilkers zu beschneiden. Zugleich gibt es immer noch Klagen aus Hamburg, dass weiterhin wichtige Papiere aus Köln fehlten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.“

Quellen:

René Bender/Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Neuer Behördenleiter will Deutschlands wichtigste Cum-Ex-Ermittlerin entmachten“, Handelsblatt (Online) vom 20. September 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-neuer-behoerdenleiter-will-deutschlands-wichtigste-cum-ex-ermittlerin-entmachten-/29370396.html

Ralf Wurzbacher: „Das Imperium schlägt zurück“, junge Welt (Online) vom 22. September 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/459573.cum-ex-das-imperium-schlägt-zurück.html

 

Hochkriminelle Straftaten: Neues zu Cum-Ex und der HSH Nordbank

BIG berichtete am 19. Dezember 2022, dass die Hamburgische Bürgerschaft im Monat zuvor beschlossen hatte, den Arbeitsauftrag des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Cum-Ex-Affäre zu erweitern. Neben den illegalen Geschäften der Warburg-Bank sollten nun auch die Aktivitäten der früheren landeseigenen HSH Nordbank ab 2008 untersucht werden. Die HSH wurde 2018 an eine Investorengruppe um den US-Hedgefonds Cerberus verkauft und firmiert heute als Hamburg Commercial Bank. Jetzt endlich, fast ein Jahr nach dem Beschluss der Bürgerschaft, soll die Aufklärungsarbeit über die HSH im November dieses Jahres tatsächlich beginnen.

BIG erwähnte auch eine große internationale Wirtschaftskanzlei, die bei der HSH bereits im Jahr 2013 Transaktionen festgestellt hatte, bei denen etwa 112 Millionen Euro an Kapitalertragsteuern zu Unrecht erstattet worden waren. Wie das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom 26. August 2023 berichtet, liegt dem Untersuchungsausschuss dieses Geheimgutachten („Saturn“-Bericht) der Kanzlei Clifford Chance vor, das die Details der gigantischen Steuerhinterziehung aufzeigt. Auch die Redaktion der Düsseldorfer Wirtschaftszeitung konnte die 450 Seiten starke Untersuchung mittlerweile einsehen.

Das Handelsblatt schreibt, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg trotz des immensen Steuerschadens nie ermittelt habe, obwohl sie nach dem Legalitätsprinzip bei Kenntnis einer möglichen Straftat dazu  verpflichtet sei: „Die Staatsanwaltschaft gibt keine Auskunft dazu, warum das nicht geschah und wann sie so entschied.“

Nach dem Bericht von Clifford Chance habe die HSH Nordbank im Jahr 2008 insgesamt 17 Handelsgeschäfte abgewickelt und sich 35,4 Millionen Euro beim Finanzamt erstatten lassen. 2009 seien bei sechs Cum-Ex-Geschäften 19,9 Millionen Euro Steuern rückerstattet worden, 2010 bei zwei Deals weitere 23,2 Millionen Euro, 2011 folgten fünf Geschäfte mit 33,1 Millionen Euro an Erstattungszahlungen.

„Die Verantwortlichen der HSH Nordbank“, so das Handelsblatt, „dürften sich damit im hochkriminellen Bereich bewegt haben. Die Schwelle zur ‚schweren Steuerhinterziehung‘ ist laut Bundesgerichtshof bereits bei einem Schaden von 50.000 Euro überschritten, ab einer Million Euro sind Haftstrafen üblich. Eine Selbstanzeige kann Betroffene nur bei Beträgen unter 25.000 Euro vor einer Strafe schützen.‘“

Es hätte nicht an der Bank gelegen, dass die Fahnder und Staatsanwälte die Steuerhinterziehung nicht verfolgt und geahndet hätten. Die Zeitung zitiert auf Nachfrage eine Sprecherin der Nachfolgerin der HSH-Nordbank (Hamburg Commercial Bank): „Die seinerzeitige HSH hat das Finanzamt und die Staatsanwaltschaft ab 2013 fortlaufend über die Erkenntnisse aus der internen Untersuchung informiert“. Warum keine Ermittlungen folgten, könne die Bank nicht sagen.

Erst lange nachdem das  Bundesfinanzministerium im Mai 2009 alle Banken darüber informiert hatte, dass Cum-Ex-Geschäfte illegal waren, erteilten die HSH-Verantwortlichen im Januar 2013 der Kanzlei Clifford Chance den Auftrag, die Risiken der jahrelang durchgeführten Cum-Ex-Geschäfte einzuschätzen. Nachdem die Anwälte Ende 2013 einen Zwischenbericht vorgelegt hatten, beschloss der Vorstand der HSH, vorsorglich 127 Millionen Euro zurückzustellen und eine Rückzahlung zu veranlassen (112 Millionen Euro illegal kassierte Erstattungen plus 15 Millionen Euro für die aufgelaufenen Zinsen). Nach eigener Auffassung hatte die HSH Nordbank damit einen sauberen Strich gezogen. Zu strafrechtlichen Konsequenzen kam es jedoch nie.

„Der Saturn-Bericht wurde nach Fertigstellung an das Hamburger Finanzamt für Großunternehmen geschickt – und an die Staatsanwaltschaft der Hansestadt. Eine Behördensprecherin wollte nicht sagen, wann genau das geschah. Es seien ‚seinerzeit Beobachtungsvorgänge angelegt‘ worden. Dabei blieb es. Eine strafrechtliche Aufarbeitung der HSH-Affäre begann erst, als Ermittler von der Staatsanwaltschaft Köln 2018 den Saturn-Bericht im Zuge anderer Ermittlungen fanden. Anders als ihre Hamburger Kollegen erkannten sie sofort eine mögliche Straftat. (…) Im Juli 2021 kamen die Kölner zu einer Razzia nach Hamburg. Nach Handelsblatt-Informationen sind etwa 15 Personen beschuldigt – darunter viele Führungskräfte, bis hinauf zum ehemaligen Kapitalmarkt-Vorstand Joachim Friedrich, der die Vorwürfe als unbegründet zurückweist. Es soll zudem Hinweise geben, dass der Clifford Chance-Bericht nicht das ganze Ausmaß der Steuerhinterziehung zeigt.“

Vor dem Hintergrund der Privatisierung der HSH im November 2018 wollte offenbar die Staatsanwaltschaft „die Kreise der Stadtregierung unter ihrem damaligen Finanzsenator Peter Tschentscher und Bürgermeister Olaf Scholz nicht stören“, wie der bekannte Hamburger Strafrechtsanwalt Gerhard Strate vom Handelsblatt zitiert wird. „Die Beachtung von Gesetz und Recht wäre wohl eine solche Störung gewesen.“ Strate meinte weiter: „Die gänzliche Tatenlosigkeit der Staatsanwaltschaft Hamburg in diesem Fall dürfte den Tatbestand der Strafvereitelung im Amt erfüllen.“ Auch deshalb, weil der „Saturn“-Bericht dem Hamburger Untersuchungsausschuss erst kürzlich vorgelegt wurde, die Staatsanwaltschaft aber die finale Version bereits kurz nach Fertigstellung im Dezember 2014 erhalten hatte.

„Die Geschäfte erfüllen ohne jeden Zweifel den objektiven und subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung“, befand damals übrigens auch Wolfgang Kubicki, zu dieser Zeit Abgeordneter der FDP im Landtag von Schleswig-Holstein – und selbst Rechtsanwalt. Schon kurze Zeit später erhielt Kubicki ein Mandat von Cum-Ex-Strippenzieher Hanno Berger und änderte seine rechtliche Einschätzung grundlegend. Im März 2014 sagte er, es handele sich bei den Cum-Ex-Ermittlungen um „Gesinnungsstrafrecht“. Der Staat wolle damit nur sein eigenes Versagen verschleiern, diese Geschäfte zugelassen zu haben (Handelsblatt-Podcast vom 10. September).

Resümee: Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die HSH Nordbank bzw. gegen einzelne Personen, während die Ermittlung der Staatsanwaltschaft Hamburg sich weiter im „Beobachtungsstatus“ befindet, die Behörde also untätig bleibt. Der bereits in der Affäre Warburg-Bank tätige Cum-Ex-Untersuchungsausschuss in Hamburg wird jetzt auch – auf Antrag der Fraktionen von CDU und Die Linke in der Bürgerschaft – die Geschäfte der HSH Nordbank untersuchen. Der Erste Bürgermeister Tschentscher (SPD) hält offensichtlich nur wenig davon.

Quellen:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Hamburg als Paradies für Steuersünder“, Handelsblatt vom 26. August 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-hamburg-als-paradies-fuer-steuersuender/29343810.html

Lena Jesberg/Volker Votsmeier/Sönke Iwersen: „Hamburg: Paradies für Steuerhinterzieher“, Handelsblatt Crime (Podcast), 10. September 2023

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-hamburg-paradies-fuer-steuerhinterzieher/29375644.html

Deutsche Industriepolitik – legal, illegal, dubios

Seit geraumer Zeit sei in Wirtschaftspolitik und -wissenschaft vom Comeback des Staates die Rede, heißt es in einem Beitrag in der Septemberausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik. Dahinter verberge sich aber keinesfalls eine linke Agenda, sondern eine auf die Profitinteressen großer Konzerne  ausgerichtete Politik. Insbesondere während der Corona-Pandemie und im Zuge des Ukrainekriegs sei den Rufen nach „mehr Staat“ von der Politik im großen Stile gefolgt worden. Als Beispiel wird die Subventionspolitik der Bundesregierung angeführt, so etwa die Förderung des Baus der Intel-Chipfabrik in Magdeburg. Dabei gehe es um fast zehn Milliarden Euro, ergänzt die Süddeutsche Zeitung (SZ), „eine Summe, die doppelt so groß ist wie der gesamte Bau- und Wohnungsetat des Bundes in diesem Jahr“. Im vergangenen Jahr, so die SZ mit Bezug auf den jüngsten Subventionsbericht der Regierung, seien Finanzhilfen von knapp 21 Milliarden an die gesamte deutsche Wirtschaft geflossen – „also gerade einmal das Doppelte dessen, was nun ein einziges Unternehmen erhalten soll“. Industriepolitik sei wieder ganz klar en vogue.

Diese hilft allerdings nicht der Armutsbevölkerung oder den im Niedriglohnsektor Beschäftigten, sondern ist einseitig auf Unternehmen und ihre Kapitalgeber ausgerichtet. Die Förderung der IT-Branche mittels  Subventionen ist so gigantisch wie legal – die illegale Verstrickung staatlicher Stellen mit der Digitalwirtschaft zeigt jedoch die andere, „schmutzige“ Seite des engen Zusammenspiels von Unternehmen, Märkten und Staat auf. Als Paradebeispiel lässt sich – wenig überraschend – das Verhältnis der Geheimdienste zum ehemaligen Dax-Konzern Wirecard anführen. 

Vor allem der ehemalige Abgeordnete der Partei Die Linke im Bundestag, Fabio De Masi, widmet sich seit Jahren der Aufklärung des Wirecard-Skandals. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Falter betonte er jüngst, dass Finanzkonzerne im digitalen Zeitalter nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine geopolitische Rolle spielen würden. Auf diesem Spielfeld hätte sich auch Wirecard getummelt. Der flüchtige ehemalige Chef für das operative Geschäft bei Wirecard, Jan Marsalek, habe versucht, in allen möglichen Ländern, die sicherheitspolitisch exponiert sind – China, Saudi-Arabien, Naher und Mittlerer Osten – Zahlungsströme abzuwickeln. Nach De Masi würden Experten die These vertreten, dass Marsalek vielleicht ein Strohmann sei, der versucht habe, in die Zahlungsströme dieser Länder hineinzukommen. Es gebe Indizien dafür, dass er das mit Unterstützung der Bundesregierung getan habe. Schließlich habe die Bundesregierung ihr volles diplomatisches Gewicht für Wirecard in die Waagschale geworfen, die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel eingeschlossen.

Gegenüber dem WDR zeigte sich De Masi überzeugt davon, dass Marsalek auch Kontakt mit deutschen Sicherheitsbehörden hatte, die das allerdings abstreiten würden. Zwei ehemalige deutsche Geheimdienstkoordinatoren seien schließlich im Umfeld von Wirecard aufgetaucht. Es sei daher keinesfalls zufällig, dass Deutschland nicht genug tun würde, um Marsalek zu finden. Für Sicherheitsbehörden sei es ein „Jackpot“, so De Masi mit Blick auf den Aspekt der Geldwäsche, „wenn sie einmal im trüben Teich des Online-Glückspiels und der Online-Pornografie fischen können“.

Kein Wunder also, dass die staatlichen Instanzen recht wenig Interesse an einer umfassenden Aufklärung des Falls Wirecard zeigen – und vielleicht nicht allzu freudig auf ein Wiederauftauchen des weltweit gesuchten Jan Marsalek warten. Denn laut De Masi könnte Marsalek „ein paar schmutzige Geheimnisse an die Öffentlichkeit zerren“ und den laufenden Prozess gegen den Ex-CEO Markus Braun beeinflussen. Als „Finanzdetektiv“ ziemlich auf sich allein gestellt wendet sich De Masi direkt an den flüchtigen Marsalek, den er in einem offenen Brief fragt:

„Hat mittelbar oder unmittelbar eine Zusammenarbeit zwischen Ihnen und deutschen, österreichischen oder anderen Sicherheitsbehörden stattgefunden? Haben Sie die Kundendaten damals tatsächlich für den BND oder eine andere Sicherheitsbehörde angefordert, wie aus Ihrer Kommunikation überliefert ist? Waren Sie gar ein Strohmann von Sicherheitsbehörden? Wenn ja, welche Verantwortlichen oder Politiker hatten Kenntnis über eine solche Zusammenarbeit?“

Von Antworten ist bislang nicht bekannt. Über ein anderes industriepolitisches Feld, dem Energiesektor, sprach De Masi mit dem Nachrichtendienst Business Insider. Er kritisiert, dass Bundeskanzler Scholz versuche, „dubiose“ Termine mit zwei Unternehmern aus Potsdam, dem Wahlkreis von Scholz, zu verheimlichen. Scholz behaupte, die Treffen mit den beiden Betreibern von LNG-Terminals in Lubmin (Ostsee) seien in seiner Funktion als Bundestagsabgeordneter erfolgt, weshalb die Termine nicht hätten veröffentlicht werden müssen. „Der Kanzler wäre größenwahnsinnig, wenn er die Zuverlässigkeit zweier Glücksritter auf dem Gas-Markt persönlich überprüfen wollte. Das ist die Aufgabe von Sicherheitsbehörden“, wird De Masi zitiert. Die beiden bislang branchenfremden Unternehmer Stephan Knabe und Ingo Wagner, ein Steuerberater und ein Immobilienmanager, hatten im Frühjahr 2022 die Deutsche Regas gegründet und erhielten mittlerweile auch den Zuschlag für den Bau eines Flüssigerdgas-Terminals im Industriehafen Mukran (Rügen).

Die SZ schrieb im Juli: „Fragen richten sich auch an den Kanzler, der dieses Projekt quasi zur Chefsache gemacht hat. Je tiefer man sich in die Vorgeschichte der Regas, in die immer wieder umbenannten, neu gegründeten Gesellschaften eingräbt, desto größer werden die Fragezeichen. Gerade auch mit Blick auf einen von Wagner geführten Fonds namens Cirsio auf den Cayman Islands. Die Regas betont, daraus seien keine Geldmittel geflossen, um die LNG-Projekte zu finanzieren.“

Es sei, so die SZ, ungewöhnlich, dass sich ein Kanzler so stark in ein privatwirtschaftliches Projekt einschalten würde, aber aus dessen Sicht seien die von der Deutschen Regas geplanten LNG-Terminals auf Rügen wegen der ausbleibenden russischen Gaslieferungen essenziell für die Energieversorgung. Aus Sorge für den Tourismus und die Umwelt, so die Zeitung weiter, habe eine vom Ostseebad Binz beauftragte Anwaltskanzlei im Juli bei der Staatsanwaltshaft Stralsund eine Strafanzeige „wegen des Verdachts der gewerbsmäßigen Geldwäsche“ gegen den Geschäftsführer der Regas gestellt.

Quellen:

Jonas Becker/Rouven Reinke: „Die Rückkehr des Staates – fürs Kapital“, in: „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 9/2023, Seite 41-44

https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/september/die-rueckkehr-des-staates-fuers-kapital

Caspar Busse/Alexander Hagelüken/Claus Hulverscheidt: „Deutschland haut die Milliarden raus“, Süddeutsche Zeitung vom 24./25. Juni 2023

Georg Ismar: „Volldampf im ‚Deutschlandtempo‘“, Süddeutsche Zeitung vom 24. Juli 2023

Fabio de Masi, „Brief an Jan Marsalek, 1. August 2023

https://www.fabio-de-masi.de/de/topic/110.wirecard.html

„Jan Marsalek und Wirecard: Das perfekte Verbrechen?“, Fabio De Masi spricht mit Falter-Politikchefin Eva Konzett, Falter-Radio vom 30. Juli 2023

https://www.falter.at/falter/radio/64c3afad8ad4d40011398f15/jan-marsalek-und-wirecard-das-perfekte-verbrechen-981

„Scholz versucht, dubiose Termine zu verheimlichen“, Gespräch von Fabio De Masi mit Business Insider vom 3. August 2023

https://www.fabio-de-masi.de/de/article/4328.scholz-versucht-dubiose-termine-zu-verheimlichen.html

 

 

Maut-Desaster: Ex-Minister Scheuer (CSU) muss wohl nicht haften

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) steht unter Druck, denn gegen einen seiner Abteilungsleiter werden aktuell Vorwürfe wegen möglicher Vetternwirtschaft erhoben (wegen der Vergabe von Fördermittel für Wasserstoffprojekte). Wahrscheinlich auch, um von dem Filzverdacht in seinem Haus abzulenken, lässt Wissing deshalb derzeit Regressforderungen gegen seinen Amtsvorgänger Andreas Scheuer (CSU) prüfen. Denn der habe, so der Vorwurf, staatliches Geld veruntreut, weil er im Dezember 2018 Aufträge an Unternehmen für ein Pkw-Mautsystem vergeben hatte – trotz damals bereits bekannter europarechtlicher Bedenken. Ein halbes Jahr später, im Juni 2019, erklärte der Europäische Gerichtshof dann auch das deutsche Gesetz für rechtswidrig, weil es Bürger:innen aus anderen EU-Staaten benachteilige. Daraufhin kündigte Scheuer die Verträge mit den Maut-Betreibern. Das beteiligte Konsortium verklagte jedoch die Bundesrepublik auf 560 Millionen Euro Schadensersatz. Verhandelt wurde vor einem privaten Schiedsgericht, das 2022 feststellte, die Vertragskündigung sei rechtswidrig. Im Jahr darauf wurde der Rechtsstreit beigelegt und eine Einigung über einen reduzierten Schadensersatz von 243 Millionen Euro erzielt, den Deutschland an die beiden Maut-Unternehmen zahlen muss.

Die Zeit bezeichnet das Vorgehen des damaligen CSU-Ministers als populistisch:

„Seine Pkw-Maut hätte nämlich nur von Ausländern bezahlt werden müssen, was in Bayern zu jener Zeit sehr populär war. Juristen rieten damals angesichts dieser Diskriminierung zur Vorsicht. Auch die EU-Kommission mahnte, dass das EU-Recht so etwas verbiete, und sie klagte schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof. Scheuer aber interessierte das nicht. Er und seine CSU-Chefs wollten das Projekt unbedingt. Und deshalb verteilte er Aufträge, während das Gerichtsverfahren noch lief und für die nach dem für ihn negativem Urteil der Schadensersatz an die Maut-Betriebe fällig wurde. Aber gehört Scheuer deswegen vor Gericht?“

Die taz erklärt, warum es unwahrscheinlich ist, dass der Bund das Geld von Scheuer tatsächlich eintreiben kann.

„Wenn Amtsträger Bürger:innen schädigen, haben diese einen Schadenersatzanspruch gegenüber dem (leistungsfähigeren) Staat. Das steht in Artikel 34 Grundgesetz. Danach kann sich der Staat das Geld aber von den Amtsträgern zurückholen, wenn diese vorsätzlich oder grob fahrlässig handelten.
Da es um Eingriffe gegenüber den Amtsträgern geht, ist für einen solchen Regress ein Gesetz erforderlich. Eine gesetzliche Rechtsgrundlage besteht aber nur für Regresse gegenüber Beamten (Paragraf 75 Bundesbeamtengesetz). Dagegen gibt es im Bundesministergesetz keine Rechtsgrundlage für Regresse gegenüber Ministern. Diese sollen in ihrer Entschlussfreudigkeit nicht gehemmt werden.“

Die WirtschaftsWoche referiert die Ansicht eines Anwalts für Verwaltungsrecht, der den Fall ähnlich bewertet. Die Rechtslage gibt es danach nicht her, Scheuer in Regress zu nehmen:

„Der damalige Verkehrsminister habe zwar versucht, politisch Profit zu schlagen. Ihm nachweisen, dass er sich bereichern wollte, könne man aber nicht. Anders wäre der Fall gelagert (…) wenn Scheuer nicht Minister gewesen wäre, sondern ein einfacher Beamter, etwa Oberbürgermeister. In solchen Fällen sehe das Bundesbeamtengesetz eine Regresshaftung schon bei grober Fahrlässigkeit vor.“ Der Status von Ministern unterscheide sich aber grundsätzlich von einfachen Beamten, denn es sei ein Unterschied, ob jemand eine ganze Volkswirtschaft steuere oder „nur“ für eine Stadt Verantwortung trage. Das Gesetz, so der Jurist, wolle Minister nicht „in ihrer Entscheidungsfreiheit“ lähmen, um handlungsfähig bleiben zu können.

Für Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, stellt das „Haftungsprivileg für Minister“ ein „Skandal im Skandal“ dar:

„Die Mauterei der CSU war ein Wahlkampfgag – sauteuer, aber politisch erfolgreich: Die CSU gewann damit Wahlen. Der ehemalige CSU-Vorsitzende Horst Seehofer war die treibende Kraft dieses Bierzeltprojekts, er hat es entwickelt und aus rechtswidrigen Ingredienzen zusammengebraut; der Vorgänger von Scheuer im Ministeramt, Alexander Dobrindt, hat es dann angezapft, und Scheuer, der beim Anzapfen noch CSU-Generalsekretär gewesen war, hat es ausgeschenkt. Die drei haben in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken gehandelt. Sie waren Mittäter der Mauterei. Aber aus der politischen Haftung ergibt sich keine juristisch-finanzielle.“

Quellen:

Jan Lutz: „Ein politisches Signal, das in der Sache wenig bringt“, WirtschaftsWoche (Online) vom 31. Juli 2023
https://www.wiwo.de/erfolg/management/maut-affaere-ein-politisches-signal-das-in-der-sache-wenig-bringt/29289094.html

Petra Pinzler: „Scheuer in die Insolvenz“, Die Zeit vom 3. August 2023

Heribert Prantl: „Die Mauterei“, Süddeutsche Zeitung vom 5./6. August 2023

Christian Rath: „Muss Ex-Minister Scheuer zahlen?“, taz (Online) vom 3. August 2023
https://taz.de/Gescheiterte-Pkw-Maut/!5948076/

Erfolgreicher SPD-Lobbyist

Anfang Januar 2022 wurde in Deutschland das Lobbyregister eingeführt. Die Internetplattform abgeordnetenwatch.de erklärt in diesem Zusammenhang:

„Ein Registereintrag ist so etwas wie ein Freifahrtschein, um beim Bundestag oder der Bundesregierung zu lobbyieren. Oder, wie es im Gesetz heißt, um ‚unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss (…) auf den Willensbildungs- oder Entscheidungsprozess‘ nehmen zu dürfen. Mehr als 32.000 Personen sind dazu dank eines Eintrags im Register berechtigt. (…) Ob und wie intensiv sie Lobbyarbeit betreiben, lässt sich im Register nicht sehen: Lobbygespräche mit der Regierung oder Abgeordneten müssen Interessenvertreter:innen hierzulande nicht offenlegen. Das ist nicht der einzige blinde Fleck im deutschen Register. Recherchen von abgeordnetenwatch.de zeigen, dass ehemalige Spitzenpolitiker:innen selbst dann bei der Bundesregierung lobbyieren können, wenn sie nicht im Register stehen. Ein solcher Fall ist Sigmar Gabriel.“

Schuld daran, so abgeordnetenwatch.de, sei eine Gesetzeslücke, die Aufsichtsratsmitglieder von Unternehmen von einer Eintragungspflicht im Lobbyregister befreie. Auch der frühere SPD-Chef und ehemalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel konnte deshalb seine Aktivitäten als Industrielobbyist im Kanzleramt ganz legal geheim halten – im Lobbyregister steht sein Name bis heute jedenfalls nicht.

Im April 2023 wurde Gabriel als Vertreter der Anteilseigner in den Aufsichtsrat von Thyssen-Krupp Steel Europe berufen und zum neuen Vorsitzenden gewählt. „In den kommenden Monaten und Jahren stehen wegweisende Entscheidungen mit wirtschaftlicher, industriepolitischer und umweltbezogener Relevanz an“, sagte Gabriel damals (Handelsblatt vom 7. April 2023). Nirgendwo, zitiert die Zeitung den Lobbyisten Gabriel weiter, könne man exemplarisch so überzeugend zeigen wie beim Stahl, dass wirtschaftlicher Erfolg und Nachhaltigkeit in der Klimapolitik in Deutschland zusammengebracht werden könnten. Laut Handelsblatt steht die Stahlindustrie mit der Umstellung auf eine klimafreundliche Produktion tatsächlich vor dem größten Umbau ihrer Geschichte.

In seiner Funktion als Industrielobbyist soll sich Gabriel laut abgeordnetenwatch.de im vergangenen Jahr mehrfach mit Entscheidungsträgern im Kanzleramt getroffen haben, einmal auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz selbst. Offensichtlich nicht ohne Erfolg. Wirtschaftsminister Habeck eilte im Juli 2023 persönlich ins Ruhrgebiet und überreichte dem Chef der Stahlsparte des Konzerns Thyssen-Krupp die frohe Botschaft: Der Konzern wird bei der klimafreundlichen Umstellung der Stahlproduktion mit insgesamt zwei Milliarden Euro gefördert (Handelsblatt vom 26. Juli 2023).

Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol erklärte, es sei ein langer Weg gewesen. Fast zwei Jahre habe es gebraucht, um den Förderbescheid zu erhalten. Nasikkol appellierte an die Politik, den Konzern bei der weiteren Transformation des Stahlstandortes zu unterstützen.  „Als Dankeschön für den Förderbescheid überreichte Nasikkol dem Bundeswirtschaftsminister ein Herz aus Stahl, gefertigt im Stahlwerk in Duisburg.“ (Handelsblatt, ebd.)

Quellen:

Martin Reyher: „Diese Liste zeigt, für wen über 100 Ex-Politiker:innen heute arbeiten“, abgeordnetenwatch.de, 21. Juli 2023

https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/lobbyismus/diese-liste-zeigt-fuer-wen-ueber-100-ex-politikerinnen-heute-arbeiten

„Sigmar Gabriel neuer Aufsichtsratschef bei Thyssen-Krupp Steel Europe“, Handelsblatt vom 7. April 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ehemaliger-bundeswirtschaftsminister-sigmar-gabriel-neuer-aufsichtsratschef-bei-thyssen-krupp-steel-europe/28236178.html

Isabelle Wermke/Julian Olk: „Thyssen-Krupp erhält Milliardenförderung“, Handelsblatt vom 26. Juli 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/gruene-stahlproduktion-thyssen-krupp-erhaelt-milliardenfoerderung/29278802.html

„Staatliche Sabotage“

Die Wirtschaftszeitschriften Manager Magazin und Capital widmen sich in ihren aktuellen Ausgaben den großen Steuerskandalen um Cum-Ex und den Luxemburg-Leaks. Die versagende staatliche Kontrolle bzw. der fehlende staatliche Wille zur Aufklärung der kriminellen Machenschaften bildet dabei den roten Faden, der die Artikel thematisch durchzieht.

Cum-Ex, die Politik und das Justizsystem

Im Mittelpunkt des Artikels im Manager Magazin steht einmal mehr die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die nach Darstellung der Autorin auch zehn Jahre nach Beginn der Cum-Ex-Affäre die „Hauptrolle in der True-Crime-Story rund um die Cum-ex-Aufklärung“ spielt. Danach ermittelt sie gegen etwa 1.700 der insgesamt mehr als 1.800 Beschuldigten, darunter auch große Namen innerhalb der Finanzbranche. Acht Anklagen hat die Staatsanwältin bisher vorgelegt; fünf Prozesse führten zu fünf Verurteilungen, darunter auch von Hanno Berger, der Cum-Ex-Schlüsselfigur. Im September 2023 werden zwei weitere wichtige Gerichtsverfahren folgen: gegen den ehemaligen Steuerchef der Großkanzlei Freshfields und gegen den einstigen Chef und Miteigentümer der Hamburger Warburg Bank.

Dennoch, so das Manager Magazin, steige die Gefahr, dass etliche Cum-Ex-Betrüger davonkommen könnten. Denn alles dauere länger als gedacht; die deutsche Justiz scheine den Dimensionen des historischen  Steuerverbrechens nicht gewachsen zu sein. Aber noch viel bedenklicher sei es, dass Politik und Behördenapparat die Aufarbeitung des Skandals sogar noch ausbremsen würden (BIG berichtete mehrfach darüber). Die Kölner Ermittlungsbehörde verfüge nicht einmal über das ihnen zugesagte Personal. „Zugleich“, heißt es weiter, „versucht im Auftrag der Beschuldigten eine ganze Armee der besten Wirtschaftsanwälte der Republik, Strafverfolger und Gerichte mit juristischen Winkelzügen und Verfahrenstricks schwindelig zu spielen. Es droht ein zweites Staatsversagen.“

In beschlagnahmten Dokumenten schlüge den Strafverfolgern die ganze Arroganz der Finanzbranche entgegen. „Häme und Hohn auf Hunderten Seiten. Brorhilker persönlich wird darin als ‚dumme Kuh‘ oder ‚graues Mäuschen‘ tituliert, üblere Beschimpfungen werden in Abschriften abgehörter Telefonate teils nur mit ‚auf Wiedergabe wird verzichtet‘ wiedergegeben.“ Zuerst hätten das Bundesfinanzministerium und andere Behörden die Augen vor den „stümperhaft gestrickten Gesetzen“ verschlossen und so den Steuerraub erleichtert. Nun würde sich die juristische Aufarbeitung dahinschleppen. „Teilweise wurden Brorhilker und ihr Team sogar gezielt ausgebremst“, schreibt das Wirtschaftsmagazin. So im Sommer 2020, als ihr Vorgesetzter eine von langer Hand vorbereitete Razzia beim Hamburger Finanzamt für Großunternehmen, das für die Warburg-Bank zuständig war, verhinderte. Angeblich hätte es keinen begründeten Anfangsverdacht gegeben.

Der ehemalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) hatte im März 2023 bei seinem Nachfolger Benjamin Limbach (Die Grünen) eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft eingereicht, um gegen die Verschleppung der Ermittlungen vorzugehen und mehr Tempo bei den Ermittlungen einzufordern (vgl. BIG-Nachricht vom 13. März 2023). Dazu gehörte auch eine Frageliste zur Arbeit und Ausstattung von Brorhilkers Abteilung. „Detaillierte Antworten auf Biesenbachs Fragen ist der Neue im Amt bis heute schuldig. Nur soviel: Ein Bescheid an Biesenbach werde vorbereitet.“

Steuerparadies Luxemburg

In der letzten Folge einer Serie über die größten Whistleblower beschäftigt sich die Zeitschrift Capital in ihrer Ausgabe vom August 2023 mit Antoine Deltour, einem ehemaligen Bilanzprüfer bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC. Er hatte dabei geholfen, die Steuerdeals aufzudecken, „die Luxemburg mit Großkonzernen weltweit augekungelt hatte“. „Mithilfe seines Materials“, so das Magazin, „ließ sich belegen, dass 343 multinationale Unternehmen über Jahre hinweg für Abermilliarden Euro Gewinne so gut wie keine Steuern bezahlten – bei 0,0156 Prozent lag der niedrigste Satz. ‚Lux-Leaks‘ war 2014 die erste Enthüllung systematisch organisierter Steuervermeidung im großen Stil“. Konzerne wie Amazon, Apple, Pepsi, Vodafone oder Deutsche Bank hatten Briefkastenfirmen in Luxemburg angemeldet, um dorthin Profite zu verschieben und so Steuern zu sparen. Unter anderen gerieten hochrangige Politiker wie der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Verdacht, die Geschäfte gekannt oder sogar unterstützt zu haben.

Der TV-Sender France 2 sendete im Mai 2012 eine Reportage, die auf Antoine Deltours weitergereichten Dokumenten basierte. PwC suchte anschließend nach dem internen „Leak“ und kam Deltour auf die Spur. Er wurde angezeigt, unter anderem wegen Diebstahl: „Die Strafprozesse wurden zum Schaukampf zwischen Konzernen, Wirtschaftsprüfern, NGOs, EU-Parlamentariern und Steuerzahlern – und zur Qual für Deltour: Anzeige, Festnahme, Untersuchungshaft, drei Gerichtsprozesse durch alle Instanzen –  sechs Jahre lang.“ Erst im Jahr 2018 wurde er als Whistleblower anerkannt und freigesprochen. Von den Verantwortlichen für die Steuerdeals, so Capital, wurde jedoch keiner zur Rechenschaft gezogen. Whistleblower Deltour sieht aktuell keine Kehrtwende in der Steuerpolitik, „und Luxemburg gilt nach wie vor als Steueroase“.

Quellen:

Katharina Slodczyk: „Der zweite Cum-Ex-Skandal“, Manager Magazin, August 2023, Seite 24-30

Die Online-Ausgabe der Titelstory des Magazins trägt den Titel: „Die sabotierte Cum-ex-Jägerin“ und wird mit den Worten eingeleitet: „Das Nichtstun des Staates grenzt an Sabotage“.

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/cum-ex-skandal-wie-politik-behoerden-und-staranwaelte-die-ermittler-ausbremsen-a-06f2abb1-6932-4dfa-b68a-5b59008e08e7

Monika Dunkel: „Abgeluxt“, Capital, August 2023, Seite 77-81

 

Der Niedergang des Immobilienkonzerns Adler Group

Am 28. Juni 2023 führten die Staatsanwaltschaft Frankfurt und das Bundeskriminalamt eine Großrazzia gegen die Adler Real Estate durch – deutsche Tochtergesellschaft der in Luxemburg ansässigen Adler Group. Zu den schwerwiegenden Vorwürfen gehören Bilanzfälschung, Marktmanipulation und Untreue. Bei den Ermittlungen geht es um Geschäfte der Adler Real Estate bis zum Jahr 2020.[1]

Mit Bezug auf eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Frankfurt schrieb die FAZ:

„Ziel der von 175 Beamten durchgeführten umfangreichen Durchsuchung sind demnach insgesamt 21 Geschäftsräume, Wohnungen und eine Rechtsanwaltskanzlei in Berlin, Düsseldorf, Köln und Erfstadt sowie in Österreich, den Niederlanden, Portugal, Monaco, Luxemburg und Großbritannien. Beschuldigt würden deutsche, österreichische und englische Staatsangehörige im Alter zwischen 38 und 66 Jahren. Ihnen werde vorgeworfen als Vorstände des Immobilienunternehmens mit Sitz in Berlin im Zeitraum 2018 bis 2020 die Bilanzen falsch dargestellt oder dazu Beihilfe geleistet zu haben. Zudem sollen sie zum Nachteil des Unternehmens im Namen der Gesellschaft Beraterverträge abgeschlossen haben, für die es nach derzeitigem Stand der Ermittlungen keine Gegenleistungen gegeben habe.“

Laut Staatsanwaltschaft bestehe daneben der Verdacht, dass die Beschuldigten mit Gefälligkeitsangeboten und Scheingeschäften die Preise für Immobilienprojekte in die Höhe getrieben hätten, um einen günstigen Loan to Value zu erreichen. Diese Kennzahl zeigt den Anteil des Kreditbetrages am Verkehrswert einer Immobilie an. Durch den verzerrten Loan to Value (LTV), so die FAZ, seien laut Staatsanwaltschaft dem Kapitalmarkt falsche Signale für Anlageentscheidungen sowie zur Höhe des Marktpreises gesendet worden. Das Handelsblatt ergänzt in einem Artikel, dass der LTV für Adler zentral sei: Würden Schwellenwerte gerissen, könnten Gläubiger die Rückzahlung ihrer Anleihen fordern.

Der öffentliche Niedergang des Immobilienkonzerns begann im Herbst 2021, als der britische Leerverkäufer Fraser Perring die Adler Group mit schweren Vorwürfen konfrontierte (Bilanzmanipulation, Geschäfte mit nahestehenden Personen zum Schaden der Investoren). Daraufhin brach der Aktienkurs ein. Im April 2023 wurde berichtet, dass Adler versuche, sich zur Abwendung einer Pleite nach britischem Recht und auf Kosten der Gläubiger zu sanieren (Umstrukturierung von Schulden in Milliardenhöhe) – was auf erheblichen Widerstand bei den Aktionären stieß.

Fabio de Masi, ehemaliges Mitglied des Bundestages für die Partei Die Linke und Finanzexperte, bemerkt zur Adler Gruppe:

„Adler hat eine traditionsreiche Vergangenheit. Die Adler-Werke in Frankfurt am Main wurden zunächst mit Fahrrädern und später mit Schreibmaschinen bekannt. Die Tasten einer solchen Adler-Schreibmaschine wurden etwa von dem verzweifelten Jack Nicholson im 1980er-Jahre Horror-Streifen ‚The Shining‘ des US-Regisseurs Stanley Kubrick in einer ikonischen Szene bearbeitet, wie Der Spiegel vor einiger Zeit erinnerte. Mittlerweile hat Adler nur noch Wohnungen statt Schreibmaschinen. Aber es droht ein Wirtschaftshorror aus Schulden und Bauruinen. Einst verfügte Adler über 70.000 Objekte mit Schwerpunkt Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Darunter etwa der Steglitzer Kreisel in Berlin, das Areal der ehemaligen Holsten Brauerei in Hamburg sowie Objekte im Düsseldorfer Glasmacherviertel. Nunmehr sind es laut Adler ‚nur‘ noch rund 27.500 Einheiten. (…)
Es ist nicht das erste Mal, dass der Konzern in den Schlagzeilen ist. Die Adler Group erlitt im Jahr 2022 einen Verlust von knapp 1,7 Milliarden Euro. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG hatte 2021 das Testat für die Bilanzen der Adler Real Estate mit Verweis auf mangelnde Informationen über Geschäfte mit Adler nahestehenden Personen verweigert. Auch eine Bestellung durch das Amtsgericht Charlottenburg für die Bücher des Jahres 2022 lehnte KPMG ab. Sämtliche andere großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften hatten das Mandat ebenfalls abgelehnt, bis sich die Wirtschaftsprüfer Rödl und Partner bereit erklärten wenigstens die Adler Real Estate zu prüfen.“

De Masi erkennt – wie viele Brancheninsider – bei der Adler Group ein Netzwerk, welches an den ehemaligen Dax-Konzern Wirecard erinnert. So soll der österreichische Multimillionär Cevdet Caner in dem Immobilienkonzern die Strippen ziehen, ohne ein formales Amt im Konzern zu bekleiden. Caner ist jedoch Chef der Investmentgesellschaft Aggregate Holding, die lange Zeit größter Adler-Aktionär war. Zudem kontrolliert seine Frau bis heute ein größeres Aktienpaket. De Masi beschreibt die dubiose Gestalt Caner im Detail:

„Caner war ehemals bei den Jusos in Österreich politisch engagiert und nahm neben Hertha-BSC-Investor Lars Windhorst und Kaufhauskönig René Benko am Spendendinner für den einstigen CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet teil. Er brach sein BWL-Studium ab und gründete 1998 die Call und Logistik Center GesmbH (CLC), die es mit Österreichs erster privater Telefonauskunft an die Wiener Börse schaffte. 2002 verkaufte Caner seine Anteile und das Unternehmen schlitterte kurze Zeit später in die Insolvenz.
Im Jahr 2004 gründete Caner dann den Immobiliendienstleister Level One mit Steuersitz der Holding auf der Kanalinsel Jersey. Level One kaufte etwa das Falkenberger Viertel in Berlin-Hohenschönhausen. Level One profitierte auch von der Privatisierung von landeseigenen Wohnungsbeständen in Nordrhein-Westfalen unter Ex-CDU Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. 2008 meldete der Immobilienkonzern für seine deutschen Objektgesellschaften Insolvenz an, nachdem die Banken Level One unter Zwangsverwaltung gestellt hatten. Von der Insolvenz waren rund 20.000 Wohnungen sowie 500 Gewerbeobjekte – mit Schwerpunkt Berlin und Ostdeutschland – betroffen. Level One kollabierte unter 1,2 Milliarden Euro Schulden und galt als größte Immobilienpleite Deutschlands, nach Jürgen Schneiders Konkurs in den 1990er-Jahren. Caner musste sich auch vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien mit weiteren Angeklagten wegen des Vorwurfs des gewerbsmäßigen schweren Betrugs und Geldwäsche verantworten. Er wurde 2020 jedoch von allen Vorwürfen freigesprochen.“

Die Süddeutsche Zeitung ergänzt, dass Verbindungen und Entwicklungen dieser Art das Vertrauen in Adler inzwischen weitgehend zerstört hätten. Auch der Einstieg von Vonovia als Großaktionär und die Bestellung des ehemaligen Vonovia-Finanzvorstands Stefan Kirsten zum Verwaltungsratschef könnten daran nichts ändern. So hätte der Konzern rund ein Jahr lang niemanden gefunden, der seine Bilanzen hätte prüfen und testieren wollen.

Anmerkung: Auch Branchenführer Vonovia hat derzeit erhebliche Probleme – aber das ist nun wieder eine andere Geschichte (vgl. BIG-Nachricht vom 12. April 2023: „Korruptionsvorwürfe gegen den Skandalkonzern Vonovia“).

Quellen:

Fabio De Masi: „Adler im Sinkflug? Ein Blick hinter die Kulissen eines undurchsichtigen Immobiliengeflechts (Teil 1), Berliner Zeitung (Online) vom 8. Juli 2023

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/adler-group-skandal-ein-blick-hinter-die-kulissen-eines-undurchsichtigen-immobiliengeflechts-fabio-de-masi-li.366941

ders.: „Adler im Sinkflug? Über die Hintergründe eines undurchsichtigen Immobiliengeflechts (Teil 2)“, Berliner Zeitung (Online) vom 10. Juli 2023

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/adler-group-skandal-ueber-die-hintergruende-eines-undurchsichtigen-immobiliengeflechts-teil-2-li.367025

Mark Fehr: „Riesen-Razzia bei Tochterfirma von Adler“, FAZ (Online) vom 28. Juni 2023

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/vorwurf-der-bilanzfaelschung-und-untreue-razzia-bei-adler-group-18995831.html

Stephan Radomsky: „Großrazzia beim Immobilienkonzern Adler“, Süddeutsche Zeitung vom 29. Juni 2023

Michael Verfürden/Lars-Martin Nagel/Volker Votsmeier/René Bender: „Großrazzia bei Adler Real Estate wegen Verdachts der Marktmanipulation“, Handelsblatt (Online) vom 28. Juni 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/immobilienkonzern-grossrazzia-bei-adler-real-estate-wegen-verdachts-der-marktmanipulation/29229100.html

[1] vgl. auch den BIG-Artikel vom 4. Juli 2022 („Die Adler Group: aktuell Skandalunternehmen Nummer eins in der deutschen Immobilienbranche“)

Blick aus dem Kosmos

Die Erkundung von Rohstofflagerstätten mittels hochauflösbarer Satellitenfotos ist dem Grunde nach seit Jahrzehnten bekannt. Ungewöhnlich ist, dass neuerdings auch das Anwachsen von Lagerstätten mit nicht vermarktbaren Produkten unseres grandiosen Industriezeitalters aus dem Kosmos beobachtet werden kann.

So wurde am 10. Mai 2023 von der Satellitenfoto-App SkyFi das Bild eines gigantischen Müllberges, gelegen in einer Wüstenregion im Norden Chiles, veröffentlicht.

Wie es in einer diesbezüglichen Netzmeldung erläuternd heißt, bestehe der Berg aus mindestens 39.000 Tonnen Kleidung, „die in Geschäften in den USA, Europa und Asien nicht verkauft werden konnte“.

Da die Kleidungsstücke nicht biologisch abbaubar seien, erklärte der Sprecher eines zuständigen Unternehmens, wollte man versuchen, sie „durch die Herstellung von Isolierplatten wiederzuverwenden“. Die Mülldeponie ziehe „manchmal Migranten und einheimische Frauen an, die dort nach Kleidungsstücken suchen, die sie tragen oder verkaufen können“.

Wie es weiter erläuternd heißt, ziele die Fast-Fashion-Industrie darauf ab, „den Verbrauchern einen erschwinglichen Zugang zu Modetrends zu ermöglichen“.

Fast 85 Prozent der Textilien würden aber jedes Jahr auf der Müllhalde landen; die Modeproduktion verbrauche große Mengen an Wasser und verschmutze Flüsse und Bäche.

Quelle:

https://www.businessinsider.de/leben/international-panorama/chile-riesige-altkleider-muellhalde-ist-vom-weltraum-sichtbar/#:~:text=Mindestens%2039.000%20Tonnen%20dieser%20Kleidungsst%C3%BCcke%20landen%20auf%20M%C3%BClldeponien,SkyFi%2C%20den%20Entwicklern%20einer%20Satellitenfoto-%20und%20Video-App%2C%20ver%C3%B6ffentlicht

Teure geheime Deals

Ab Ende 2020 bestellten die 27 Mitgliedstaaten der EU gemeinsam bei Pfizer und anderen Pharmakonzernen die damals dringend benötigten Impfstoffe gegen das Corona-Virus. Seitdem erhielt Pfizer bei neuen Bestellungen mehrfach den Zuschlag, wohl auch, weil ihr Impfstoff beim deutschen Unternehmen Biontech produziert wird.

Die Verträge wurden mittlerweile überarbeitet, weil ein großer Teil der georderten Impfstoffe nicht mehr gebraucht wird. So muss Deutschland statt der ursprünglich für 2023 bestellten 92 Millionen Impfdosen nur noch etwa die Hälfte abnehmen.

In Nachverhandlungen mit Pfizer und Biontech Ende Mai 2023 einigten sich die Vertragspartner allerdings nur auf eine Verringerung der Zahlungsverpflichtung um weniger als 25 Prozent. Ein Insider spricht von 10 Euro „Stornogebühr“, die vom Steuerzahler pro abbestellter Dosis zu bezahlen sind – umgerechnet fast eine halbe Milliarde Euro.

Besonders interessant: Seit 2021 bereits fordern das Europaparlament und andere politische Akteure die Offenlegung der von der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) mit Pfizer verhandelten Impfstoffverträge, laufen damit aber gegen eine Wand. Denn die milliardenschweren Deals bleiben geheim, selbst das Europaparlament erhält wegen vertraglicher Verschwiegenheitspflichten keinen vollen Einblick.

„Die New York Times biss bei ihren Nachfragen ebenso auf Granit wie die Europäische Staatsanwaltschaft, die EU-Bürgerbeauftragte oder der Rechnungshof. Auch die taz hat nachgefragt: Was die Kommission denn zu der jüngsten strafrechtlichen Klage einer Privatperson aus Belgien und zu den Vorwürfen gegen von der Leyen sage, wollten wir wissen. ‚No comment‘, kein Kommentar, antwortete von der Leyens Chefsprecher Eric Mamer – nicht einmal, sondern mehrfach.“ (taz vom 23. Mai 2023)

Die Süddeutsche Zeitung kommentierte am 30. Mai:

„Deutschland muss offenbar mehrere Hundert Millionen Euro Stornogebühr dafür zahlen, dass mehrere zehn Millionen ehedem bestellte Impfdosen nicht mehr abgenommen werden. (…) Die EU hat neue Verträge mit Biontech und Pfizer ausgehandelt, die weitreichende Schweigeklauseln enthalten sollen. Schweigeklauseln, die zulasten jener gehen, die mit ihren Steuern den Staat finanzieren. Und die keinen Anspruch darauf haben, zu erfahren, was mit ihrem Geld geschieht. Nicht einmal die Volksvertretung, den Bundestag, hat Lauterbach bis ins letzte Detail informieren dürfen. Und nicht einmal in einer ohnehin nicht öffentlichen Sitzung des Haushaltsausschusses. Der Minister will sich und sein Ministerium nicht juristisch haftbar machen. (…) Konzerne lassen sich den Umstand, dass die Pandemie abgeflaut ist und nicht mehr so viele Impfstoffe nötig sind, teuer bezahlen. Konzernjuristen bestimmen, dass dies weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht. Parlamente haben kein Mitspracherecht.“

Martin Sonneborn, Mitglied des Europäischen Parlaments, und seine Co-Autorin Claudia Latour machen in einem Artikel des Online-Magazins Jacobin folgende Rechnung auf – mit Blick auf die europäische Dimension:

„Der Financial Times zufolge sieht der nachverhandelte Vertrag nun vor, die abzunehmende Impfstoffmenge von 500 Millionen Einheiten auf insgesamt 280 Millionen zu reduzieren. Abgenommen werden sollen künftig 70 Millionen Dosen pro Jahr bei gleichzeitiger Streckung des Lieferzeitraums bis 2026. Pfizer sei bereit, die ursprünglich bestellten, nun aber nicht abgenommenen Einheiten gegen eine ‚Stornogebühr‘ von 10 Euro pro Dosis zu streichen – aber nur, wenn die EU im Gegenzug einen höheren Preis für die bis 2026 zu liefernden Dosen akzeptiere. (…)

Wenn wir uns nicht verrechnet haben, dann macht das bei 220 Millionen in Abweichung zum ursprünglichen Vertrag zu streichenden Impfdosen einen Betrag von 2,2 MILLIARDEN Euro. 2,2 MILLIARDEN Stornogebühr für eine nicht zu erbringende Leistung – das klingt nach einem Geschäft, das wir auch gern mal machen würden, zumal es sich hier um den reinsten aller Reingewinne handelt, denn unternehmensseitig dürften noch nicht einmal die Stückkosten von rund 70 Cent anfallen. Es sei denn natürlich, Pfizer stellte die stornierten Impfdosen trotzdem her, nur um den eigenen Schöpfungsakt dann umgehend mit vollständiger Vernichtung zu torpedieren – nur so aus Jux vielleicht.“

Quellen:

Eric Bonse: „Streit über Pfizer-Stornogebühr“, taz vom 6. Juni 2023

https://taz.de/Corona-Impfstoff-in-der-EU/!5936100&s

Eric Bonse: „Impfschaden in Brüssel“, taz vom 23. Mai 2023

https://taz.de/EU-Impfstoffdeal-mit-Pfizer/!5933318&s

Markus Grill/Klaus Ott: „Hohes Storno für Corona-Impfstoffe“, Süddeutsche Zeitung vom 27./28./29. Mai 2023

Klaus Ott: „Unanständiger Deal“, Süddeutsche Zeitung vom 30. Mai 2023

Martin Sonneborn/Claudia Latour: „Der lausigste Deal der EU-Geschichte“, 25 Mai 2023, Jacobin Magazin

https://jacobin.de/artikel/der-lausigste-deal-der-eu-geschichte-pfizer-ursula-von-der-leyen-eu-sms-impfstoff-korruption-martin-sonneborn-claudia-latour/

 

Die Mafia und der Krieg

In einem Artikel auf der Homepage des Österreichischen Rundfunks wird berichtet, welche Auswirkungen der Krieg in der Ukraine auf die bisher „eingespielte Zusammenarbeit zwischen russischer und ukrainischer Mafia“ hat: „Sie funktioniert nicht mehr – mit Folgen für das organisierte Verbrechen auf der ganzen Welt.“

Laut der NGO GI-TOC (Global Initiative Against Transnational Organized Crime – Globale Initiative gegen grenzüberschreitendes organisiertes Verbrechen) bildeten die Ukraine und Russland zusammen bis zum Beginn des Krieges das „größte kriminelle Ökosystem Europas“:

„Die russischen und ukrainischen Mafia-Gruppen kontrollierten die einträglichen Schmuggelrouten zwischen Russland und Westeuropa, auf denen von Gold über Zigaretten, Holz, Kohle und Drogen bis hin zu Menschen alles geschmuggelt wurde. Die Schwarzmeer-Metropole Odessa war zudem ein wichtiger Umschlaghafen für Schmuggelware. Entsprechend groß war der politische und wirtschaftliche Einfluss proukrainischer wie prorussischer Oligarchen.

Neben dem Balkan und dem Kaukasus war die Ukraine die wichtigste Route für Heroin aus Afghanistan nach Europa. Kokain aus Lateinamerika wurde vielfach via Schwarzmeer-Häfen angeliefert. Umgekehrt wurden Waffen von dort in Richtung Afrika und Asien verladen. In der Ukraine selbst boomte die Produktion von Amphetaminen und illegaler Tabakprodukte.“

Nach 2014 habe es in der Ukraine zwar vermehrte Anstrengungen im Kampf gegen die Mafia und die Korruption gegeben. „Vor allem bei der Justizreform gab es aber vergleichsweise wenig Fortschritt.“ Der russische Angriffskrieg im Februar 2022 habe nun aber beim organisierten Verbrechen einen „schweren Schock“ ausgelöst, wie die NGO GI-TOC feststellt. Zwischen russischen und ukrainischen Mafia-Gruppen war plötzlich keine Kooperation mehr möglich. „Verbrecher zu sein ist das eine. Aber als Verräter zu gelten ist etwas ganz anderes“, wird der Experte Mark Galeotti dazu aus dem britischen Wochenmagazin „Economist“ zitiert.

„Die Schwarzmeer-Häfen wurden geschlossen und sind es großteils heute noch. Die Fronten machen das Schmuggeln fast unmöglich. Dazu kommen nächtliche Ausgangssperren. Und die Mafia hat laut GI-TOC auch ein Personalproblem, da viele Männer zur Armee rekrutiert wurden. Viele Oligarchen verließen zudem bereits zu Kriegsbeginn das Land.“

Allerdings hätten die Verbrechenssyndikate, so die NGO, längst begonnen, alternative Routen aufzubauen. Und auch innerhalb der Ukraine gebe es Anzeichen für ein Wiedererstarken organisierter Kriminalität. „Die Schmugglertätigkeit habe sich stark in den Westen an die Grenze etwa zu Polen, der Slowakei und Moldawien verlagert. Und nicht zuletzt würden Soldaten an der Front mit synthetischen Drogen versorgt.“

Neue Geschäftsfelder seien „der Transport kommerzieller Waren unter Vortäuschung humanitärer Hilfe und der Schmuggel von Mangelwaren wie Treibstoff aus Nachbarstaaten in die Ukraine. Geplünderte Ware wie Getreide würde ebenso gehandelt. Auch der Menschenhandel hat zugenommen – laut GI-TOC aber bisher weniger stark als befürchtet. Auch das Außerlandesbringen von Männern, die der Einberufung zur Armee entgehen wollen, ist ein neu entstandener Geschäftszweig.“

Die NGO fordert daher durchgreifende Veränderungen in der Justiz und im Sicherheitsapparat der Ukraine. „Der noch in sowjetischen Strukturen verharrende Geheimdienst SBU versuche gegenwärtige Erfolge in der Spionageabwehr bereits politisch dazu zu nutzen, um künftige Reformen und eine eventuelle Aufspaltung von vornherein zu verhindern. Entscheidend für den Erfolg von Reformen könnte hier der Druck der westlichen Alliierten werden.“ 

In Russland wiederum seien im Verlauf des Krieges „die Verbindungen zwischen der Unterwelt und dem Staat enger geworden… Kriminelle würden teils für den Staat Geheimdiensttätigkeiten ausüben und etwa beim Umgehen von Sanktionen helfen, insbesondere den Import von Halbleitern organisieren.“

Für die Ukraine sieht die NGO im günstigsten Fall die Chance, dass durch „die erzwungene Abnabelung des Landes von Russland“ oligarchische Strukturen aufzubrechen und ihre kriminellen Begleiterscheinungen besser zu bekämpfen seien.

Quelle: https://orf.at/stories, 20. Mai 2023

 

„Recht des Stärkeren“

Vor fast acht Jahren wurde der „Dieselskandal“ aufgedeckt, seit zweieinhalb Jahren müssen sich der frühere Audi-Chef Rupert Stadler sowie weitere Ex-Manager des Autokonzerns vor Gericht verantworten. „Der Vorwurf: Die Manager hätten betrogen. Sie hätten entweder Diesel-Autos entwickeln lassen, deren Abgasreinigung sich nur ordentlich einschaltete, wenn die Wagen auf dem Prüfstand waren. Oder sie hätten – im Falle Stadler – zumindest seit dem Herbst 2015 davon gewusst und den Verkauf solcher Wagen dennoch nicht unterbunden. Gewerbsmäßiger Betrug durch Unterlassen heißt das auf Juristendeutsch.“ (Die Zeit vom 17. Mai 2023)

Mitte Mai 2023 legte Stadler nun im Rahmen einer Absprache mit dem Landgericht München II ein Geständnis ab – nachdem er über die gesamte Prozessdauer alle Vorwürfe bestritten hatte. Vor allem, dass er trotz Kenntnis der Manipulationen nichts dagegen unternommen habe, dass weiter schmutzige Diesel als sauber verkauft wurden.

Auszüge aus Zeitungskommentaren:

Henning Peitsmeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

„Rupert Stadler kommt glimpflich davon. Der frühere Audi-Chef, der sich im Dieselskandal des Betrugs schuldig bekannt hat, erhält eine Bewährungsstrafe. Immerhin, muss man nach 168 Verhandlungstagen konstatieren. Denn lange hatte es so ausgesehen, als könne dem prominentesten der vier Angeklagten vor dem Landgericht München nichts nachgewiesen werden. Zu komplex waren die Ermittlungen, zu schleppend verlief die Beweisaufnahme (…). Dass Stadlers Geständnis nur durch einen Deal zustande kam, mag bedauerlich sein. Aber es ist das erste Mal, dass ein früherer Vorstand zugibt, von den Dieselmanipulationen im Volkswagen-Konzern gewusst zu haben. Das kann bedeutend sein für alle laufenden und künftigen Strafverfahren.“

Thomas Fromm, Klaus Ott und Stephan Radomsky in der Süddeutschen Zeitung:

„Und jetzt? Räumt er eben doch alles ein und will auch 1,1 Millionen Euro bezahlen. Im Gegenzug darf er mit einer Bewährungsstrafe rechnen. Das ist der Deal, den das Gericht ausgehandelt hat mit Stadlers Anwälten und dem auch die Staatsanwaltschaft zugestimmt hat. Ein gigantischer Wirtschaftsskandal, Millionen getäuschter Kunden in aller Welt, Milliarden Euro an Strafzahlungen für den Konzern – und der einzige Top-Manager, der dafür bisher vor Gericht stand, kommt mit so einem milden Urteil davon? Mit dem Segen der Ankläger? (…)
Für VW war die Rechnung klar: Je weniger Schuld ganz oben lag, desto besser war es für die Abwehr von Schadensersatzansprüchen. Das gilt bis heute vor allem für den Prozess von zahlreichen Aktionären beim Oberlandesgericht Braunschweig, die einen Ausgleich dafür fordern, dass sie vom VW-Vorstand zu spät über die Abgasprobleme informiert worden seien. Streitwert: mehr als vier Milliarden Euro. Der Prozess läuft ziemlich zäh. Und Stadlers Geständnis hilft den klagenden Investoren auch nicht. Zwar saß er als Audi-Chef auch mit im VW-Vorstand. Sein Geständnis aber gilt nur für die Zeit ab 2016, als Audi schmutzige Diesel-Autos weiter als vermeintlich saubere Fahrzeuge verkaufte. Bei den Aktionärsklagen geht es dagegen um die Zeit vor September 2015, als US-Behörden die Abgasmanipulationen öffentlich machten.“

René Bender im Handelsblatt:

„Am Ende schickte Rupert Stadler seine Verteidigerin vor. Die Anwältin verlas für den wegen Betrugs angeklagten früheren Audi-CEO dessen Geständnis. Fünf Wochen lang hatte Stadler überlegt, ob er im ersten deutschen Strafprozess um den Dieselskandal den Vorschlag des Gerichts annehmen würde: eine noch zur Bewährung ausgesetzte Strafe gegen ein umfängliches Geständnis und eine Geldauflage. (…) Nun folgten lediglich ein paar dürre Sätze dazu, dass Stadler von den Manipulationen an den Motoren zwar nichts gewusst, sie aber zumindest billigend in Kauf genommen habe. Und dass er dies sehr bedauere.
Die Hürde des Gerichts hat er damit zwar übersprungen, wirklich glaubwürdig ist seine Haltung aber nicht.
Die späte Kehrtwende ist das eine. Die Art und Weise, wie zwei Führungskräfte in einem der größten deutschen Wirtschaftsskandale am Ende des ersten Strafprozesses Verantwortung übernehmen, ist das andere. Insbesondere Stadler, der unter anderem elf Wohnungen und zwei Häuser besitzt, feilschte bis zum Schluss um die Höhe der Geldauflage.
Dann schaffte es der Mann, der einst gar als möglicher Nachfolger an der VW-Spitze galt, nicht einmal, sein Geständnis selbst zu erklären (…). Das lässt nicht nur Glaubwürdigkeit vermissen. Es ist auch kein gutes Signal für die weitere Aufarbeitung im Dieselskandal. Im nächsten Diesel-Strafprozess sollten die Richter einen Verständigungsvorschlag weit früher machen oder ihn sich ganz sparen.“

Kai Schöneberg in der taz:

„Der Deal zeigt, dass die deutsche Justiz wieder gescheitert ist. Zwei Jahre Haft auf Bewährung und 1 Million Euro Strafe: Dazu wurde vor 14 Jahren der einstige Postchef Klaus Zumwinkel wegen Steuerhinterziehung verurteilt, ein ähnliches Strafmaß winkt nun Rupert Stadler, bis 2018 Audi-Boss. Beide haben gestanden. Zumwinkel damals seine Steuerhinterziehung, Stadler am Dienstag, dass er auch noch nach dem Auffliegen des ‚Dieselgates‘ im September 2015 weiter Autos verkaufte, die so manipuliert waren, dass sie auf dem Prüfstand weniger Stickoxide ausstießen als auf der Straße.
Betrug durch Unterlassung wird es im wohl vergleichsweise läppischen Urteil gegen Stadler heißen, das bald erwartet wird. Der ‚Deal‘ mit dem Gericht – Geständnis gegen milde Strafe – wird einen weiteren Beweis dafür erbringen, wie die deutsche Justiz bei der Aufarbeitung eines der größten Wirtschaftsskandale gescheitert ist.
Das zeigten schon die Strafverfahren gegen die VW-Vorstände Herbert Diess und Hans Dieter Pötsch, die gegen Geldauflagen eingestellt wurden. Auch der zusammen mit Stadler angeklagte Motorenentwickler Wolfgang Hatz kann nach seinem Geständnis mit Bewährung rechnen. Gegen viele Chefs von Mercedes, Porsche oder Bosch wurde ermittelt, dann aber wurden sie nicht angeklagt. (…)
Millionenfacher systematischer Betrug und Kuschelstrafen – das passt aber nicht zusammen. Die deutsche Justiz setzt mit dem Stadler-Deal einen weiteren Haken in der unendlich zähen, für Umwelt und betroffene Kunden völlig unbefriedigenden Aufarbeitung einer der größten Wirtschaftsaffären der Nachkriegsgeschichte. (…)
Nicht mal die Staatsanwaltschaft warf Stadler nach 30 Monaten Verhandlung noch vor, von allem gewusst zu haben. Dabei gilt Audi als Keimzelle des Skandals. Ein weiterer Skandal liegt darin, dass das deutsche Rechtssystem solche evident kriminellen Handlungen nicht adäquat ahndet.“

Thomas Magenheim-Hörmann in der Frankfurter Rundschau:

„Betrug durch Unterlassung: Der Ex-Audi-Chef räumt die Vorwürfe im Dieselskandal ein.
Rupert Stadler brachte die Worte nicht selbst über die Lippen. Der Ex-Chef von Audi hat gestehen lassen. Wenige Minuten lang trug Anwältin Ulrike Thole-Groll am 168. Tag des Münchner Audi-Betrugsprozesses eine Erklärung vor, die ein Gerichtssprecher später ein voll umfängliches Geständnis nennen sollte. Auch Richter Stefan Weickert und die Staatsanwaltschaft sahen es so. Für nicht juristisch Geschulte war dabei nicht leicht zu erkennen, dass der 60-jährige gerade Betrug durch Unterlassung zugegeben hatte. ‚Ich habe die Vorwürfe insgesamt einzuräumen‘, erklärte Thole-Groll im Namen ihres ohne erkennbare Regung neben ihr sitzenden Mandanten. Der ließ auch mitteilen, dass er alles sehr bedauere, wobei Reue nicht gerade in sein Gesicht geschrieben stand.
‚Es war ein bemerkenswertes Geständnis‘, meinte Gerichtssprecher Laurent Lafleur. Erstmals habe ein Angeklagter in der hohen Position eines ehemaligen Vorstandschefs eingeräumt, im Dieselskandal Unrecht getan und vorsätzlich gehandelt zu haben. Man musste allerdings viel juristisches Feingespür mitbringen, um das aus den Worten herauszuhören, die Stadler von seiner Strafverteidigerin verlesen ließ. (…)
Auch zum Vorwurf der Unterlassung äußerte sich Stadler sehr verklausuliert. Er habe feststellen müssen, unterlassen zu haben, dafür Sorge zu tragen, dass Käufer der Fahrzeuge über eine möglicherweise in ihnen verbaute Fehlfunktion informiert wurden, ließ er mitteilen. Jurist:innen haben indessen eine Erklärung für diese Art von Geständnis. Denn im jetzt zu Ende gehenden Strafprozess ist es für Stadler zwar Garant dafür, nicht ins Gefängnis zu müssen. Diese Zusage hatte er vorab von Richter Weickert erhalten. Bei einem allzu freimütigen Geständnis bestünde aber die Gefahr, dass dadurch Schadenersatzklagen begünstigt werden, merkt ein Verbraucheranwalt an. Die relativierenden Einschränkungen, die jetzt ins Geständnis eingeflochten wurden, erschweren das.“

Martin Seiwert in der WirtschaftsWoche:

„Ex-Audi-Chef Rupert Stadler will in seinem Prozess wegen manipulierter Audis einer Haftstrafe entgehen und hat deshalb am Dienstagmorgen etwas verlesen lassen, das ein Geständnis sein soll. Bei genauerem Hinsehen aber ist es – eine Manipulation. (…)
Ich habe kürzlich über die ‚Kehrtwende‘ des Ex-Audi-Chefs in seinem Strafverfahren geschrieben. Ich gestehe, das war falsch. Was sich am Dienstag am Landgericht München II abspielte, war keine Kehrtwende. Höchstens ein Kehrtwenderl. Eigentlich ist Stadler bloß abgebogen, nicht gewendet. Ich gestehe, ich hätte das zumindest ahnen können und nicht vollmundig eine Kehrtwende ankündigen dürfen.
Was das Gericht zu hören bekam, war schon von der Form her bestenfalls ein Kehrtwenderl – Stadler sprach die Worte nicht selbst, sondern ließ sie von seiner Anwältin vortragen – und inhaltlich sowieso: ‚Ich sehe für mich ein, dass es ein Mehr an erforderlicher Sorgfalt bedurft hätte‘, sprach die Anwältin.

Herr Stadler war also nicht immer und überall optimal sorgfältig? Das ist kein Geständnis. Das ist ein Allgemeinplatz. Können wir streichen.
Weiter im Text: Dass Fahrzeuge manipuliert worden seien und dadurch Käufer geschädigt worden seien, ‚habe ich zwar nicht gewusst, aber als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen‘. Der Mann, der zweieinhalb Jahre lang mit Verve behauptet hat, dass er nicht wusste, dass die Fahrzeuge illegal manipuliert waren, macht im Geständnis trotzig weiter: ‚Ich habe es nicht gewusst‘.

Aber weil Stadler ja unbedingt einer Haftstrafe entgehen will, musste doch noch etwas angefügt werden, das sich zumindest nach Geständnis anhört: Stadler hat die Manipulation ‚als möglich erkannt‘. (…)
So bleibt als wirklich einzige neue Erkenntnis nach dem Kehrtwenderl von München: Stadler gibt zu, er hätte etwas genauer hinschauen müssen, bevor er die Autos verkaufen ließ. Oder lassen Sie es mich so ausdrücken: Sogar ein so gründlicher, erfahrener und erfolgreicher Automanager wie Herr Stadler ist nicht ganz perfekt.
Das ist kein Geständnis. Aber es sieht ein wenig danach aus. So wie die Diesel von Audi im Verkaufsprospekt mal wie ein Beitrag zu Klimaschutz und Luftreinhaltung aussahen.“

Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung:

„Noch bis vor wenigen Jahren galt dies als schmutziges Geheimnis der Justiz. Nur unter Pseudonym brach ein Anwalt (…) in einem Fachaufsatz das Schweigen. In Wirtschaftsprozessen, so schrieb er, sei die unterfinanzierte Justiz oft schlicht überfordert mit jahrelanger Beweisführung. Also werde gefeilscht. Ein schnelles Geständnis gegen großzügigen Strafverzicht. (…)
Wenn jetzt der frühere Audi-Chef Rupert Stadler in seinem Betrugsprozess gesteht, nachdem er vorher haarklein eine mildere Bewährungsstrafe für sich aushandeln konnte, dann ist das ein kleiner Fortschritt für den Rechtsstaat, der mit seinen Aufklärungsbemühungen sonst vielleicht noch jahrelang festgesteckt hätte. (…) Um einen Beschuldigten zu bewegen, gegen andere auszupacken, musste der Staat ihm schon immer etwas anbieten. (…)
Aber es sollte einem klar sein: Ein Rupert Stadler weiß, dass das, was er an Informationen hat, wertvoll ist. Und er lässt sich das vom Gericht vergüten. Der Strafprozess ist dann eine weitere Transaktion. Wohl dem, der dabei mit so einer starken Verhandlungsposition gesegnet ist. Es ist ein Recht des Stärkeren.“

Quellen:

Max Hägler: „Es bleibt schmutzig“, Die Zeit (Print) vom 17. Mai 2023

Henning Peitsmeier: „Ende in Sicht“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Print) vom 17. Mai 2023

Thomas Fromm/Klaus Ott/Stephan Radomsky: „Das Geständnis“, Süddeutsche Zeitung (Print) vom 17./18. Mai 2023

René Bender: „Stadlers unglaubwürdiges Geständnis“, Handelsblatt (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-stadlers-unglaubwuerdiges-gestaendnis-/29155016.html

Kai Schöneberg: „Ein Deal, aber keine Gerechtigkeit“, taz (Online) vom 16. Mai 2023
https://taz.de/Diesel-Gestaendnis-des-Ex-Audi-Chefs/!5931938/ 

Thomas Magenheim-Hörmann: „Rupert Stadler lässt gestehen“, Frankfurter Rundschau (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.fr.de/hintergrund/rupert-stadler-laesst-gestehen-92282258.html 

Martin Seiwert: „Sogar Stadlers Geständnis ist manipuliert“, WirtschaftsWoche (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.wiwo.de/unternehmen/auto/dieselgate-sogar-stadlers-gestaendnis-ist-manipuliert/29154442.html 

Ronen Steinke: „Der Handel“, Süddeutsche Zeitung (Print) vom 17./18. Mai 2023

 

Hessens ehemaliger oberster Korruptionsbekämpfer kommt in Haft

Am 12. Mai 2023 verurteilte das Landgericht Frankfurt den ehemaligen Oberstaatsanwalt Alexander Badle wegen Steuerhinterziehung, Untreue und Bestechlichkeit in 86 besonders schweren Fällen zu sechs Jahren Haft. Als Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt genoss er bis zu seiner Festnahme im Juli 2020 höchstes Ansehen. So veröffentlichte er in Fachzeitschriften Artikel zur Korruption im Gesundheitswesen und hielt Vorträge auf Tagungen (vgl. auch BIG-„Nachricht“ vom 3. November 2020: https://big.businesscrime.de/nachrichten/bestechungsaffaere-um-frankfurter-staatsanwalt/).

Das Handelsblatt schreibt in seiner Onlineausgabe vom 12. Mai:

„Badle, der als oberster Korruptionsbekämpfer Hessens als Koryphäe auf dem Feld galt, hatte im Prozess gestanden, mehr als ein Jahrzehnt lang selbst Schmiergelder kassiert zu haben. Angeklagt waren aber nur die Taten aus dem nicht verjährten Zeitraum zwischen 2015 und 2020. Der Anklage zufolge kassierte Badle in dieser Zeit Bestechungsgelder von rund 350.000 Euro. Die Gelder in Höhe von insgesamt mehreren Hunderttausenden Euro flossen für die Vergabe von Gutachteraufträgen an externe Dienstleister – vor allem an die Firma eines ehemaligen Schulfreundes. Diese existierte fast ausschließlich von Aufträgen der Staatsanwaltschaft: 90 Prozent ihres Umsatzes erwirtschaftete sie laut Anklage mit staatlichen Aufträgen.“

Die Staatsanwaltschaft attestierte Badle ein „hohes Maß an krimineller Energie“. In seiner Position als Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen habe er seine Position „vorsätzlich missbraucht“ und „dem Land Hessen erheblichen Schaden zugefügt“.

Badle hatte in der Generalstaatsanwaltschaft die „Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten im Gesundheitswesen“ offensichtlich unter unprofessionellen Bedingungen geleitet. „Vor Gericht“, schreibt die Süddeutsche Zeitung, „sagte der Angeklagte B., wie wenig Hilfe er bei den Ermittlungsverfahren gehabt habe. Als er 2002 als Korruptionsbekämpfer anfing, hätten ihn noch die Beamtinnen und Beamte des LKA unterstützt, aber die seien bald abgezogen worden. Ihm blieben die Sachverständigen, meist ehemalige Arzthelferinnen. Die prüften die Rezeptabrechungen, Patientenakten, Stundenprotokolle, die schrieben die Gutachten – aber sie arbeiteten auf Honorarbasis“.

Der ehemalige Leiter der Generalstaatsanwaltschaft und damit damalige Vorgesetzte von Badle sollte vor Gericht erläutern, warum niemandem aufgefallen sei, dass Badle an den Aufträgen mitverdiente, „und was er sagt, ist dann doch beschämend: Es habe in all den Jahren keine Kontrolle gegeben, nur 2013 eine ‚kleine Innenrevision‘. Und nein, es habe auch kein Vier-Augen-Prinzip gegeben, deswegen konnte B. die Rechnungen allein abzeichnen, auch er, der Behördenleiter, habe deren Höhe nie geprüft. Die Kosten trug meistens das Land Hessen, Kontrollen seien unüblich“. (Süddeutsche Zeitung)

Der Hessische Landesrechnungshof stellte in einem Prüfbericht 2022 ebenfalls fest, dass damals Kontrollmechanismen fehlten. In einer Pressemitteilung der Behörde vom 16. Dezember 2021 heißt es anlässlich der Korruptionsvorwürfe:

„Die Ergebnisse der Prüfung zeigen, wie einfach Korruption entstehen kann: Das Justizministerium und die Generalstaatsanwaltschaft nahmen ihre Fach- und Dienstaufsicht nicht ausreichend wahr. Zudem führte die Generalstaatsanwaltschaft trotz verbindlicher Vorgaben seit 2013 keine Innenrevisionen durch. Dies trug dazu bei, dass über die Jahre hinweg unbeaufsichtigte Vergaben und Abrechnungen von Gutachten im Medizinstrafrecht möglich waren.

Auch in den Staatsanwaltschaften zeigte sich vor Bekanntwerden der Verdachtsfälle eine bedenkliche Situation: Bei der Beauftragung von Sachverständigen war ein Vier-Augen-Prinzip nicht verpflichtend vorgegeben und auch weitgehend nicht vorhanden. Zudem gab es keine nachträglichen Kontrollen durch die Innenrevision. In der Folge konnten Staatsanwälte ohne interne Kontrolle und ungestört von Aufsicht und Revision des Ministeriums Aufträge allein vergeben und abrechnen.“

Mittlerweile, stellt der Rechnungshof fest, seien die Prozesse nach den Vorfällen vom Sommer 2020 „deutlich optimiert“ worden. Die Generalstaatsanwaltschaft habe im Juni 2021 die Einhaltung und Dokumentation des Vier-Augen-Prinzips bei der Sachverständigenbeauftragung verbindlich vorgegeben und lasse dessen Einhaltung seither flächendeckend kontrollieren. Damit sei bei der Vergabe das Vier-Augen-Prinzip gesichert und eine wesentliche Grundlage für die Revision geschaffen worden.

 

Quellen:

Gianna Niewel: „War ja sein Spezialgebiet“, Süddeutsche Zeitung vom 12. Mai 2023 (Printausgabe)

René Bender: „Sechs Jahre Haft für korrupten Oberstaatsanwalt aus Hessen“, Handelsblatt (Online) vom 12. Mai 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/steuern-recht/recht/justizskandal-sechs-jahre-haft-fuer-korrupten-oberstaatsanwalt-aus-hessen/29149748.html

Hessischer Rechnungshof: „Fehlende Kontrollen führen zu Korruption und Vermögensschäden“, Pressemitteilung vom 16. Dezember 2021

https://rechnungshof.hessen.de/presse/fehlende-kontrollen-fuehren-zu-korruption-und-vermoegensschaeden