Zerschlagung von BlackRock gefordert

Gerhard Schick, Geschäftsführer der Organisation Finanzwende und ehemals finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, stellte Anfang Juni in einem Gastkommentar für das Handelsblatt fest, dass der weltweit mächtigste Finanzdienstleister in mehrere Einzelteile aufgeteilt werden solle, um nicht noch mehr Einfluss zu erhalten. Wie Schick anmerkt, verwaltet BlackRock derzeit etwa neun Billionen US-Dollar – mehr als das Doppelte des jährlichen Bruttoinlandsprodukts Deutschlands. Sein starkes Wachstum verdankt der Konzern besonders seinem Geschäft mit passiven Exchange Traded Funds (ETF)*, aber auch den aktiv gemanagten Fonds in Höhe von fast zwei Billionen US-Dollar. Daneben ist BlackRock der größte Anteilseigner zahlreicher Aktiengesellschaften. Als Hauptaktionär übt er weltweit einen entscheidenden Einfluss auf deren Geschäftspolitik aus.

„An die Stelle der Marktwirtschaft tritt Machtwirtschaft“, bringt es Schick auf den Punkt. Das zeige sich darin, dass bei gleichzeitigem Besitz von Anteilen eigentlich konkurrierender Unternehmen der Wettbewerb leide, wie es seit langem von Wissenschaftler*innen und Kartellbehörden kritisieren würde. Aber es komme noch schlimmer: „Nehmen wir beispielsweise Blackrocks Datenanalysesystem Aladdin. Das System kommt bei zahlreichen Unternehmen und Zentralbanken zum Einsatz; es hilft bei der Verwaltung von gut zehn Prozent der globalen Vermögenswerte, das sind mehr als 20 Billionen Dollar. Hier trifft also ein relevanter Anteil der weltweiten Investoren seine Entscheidungen mithilfe eines gemeinsamen Systems. Tendenziell begünstigt diese Verflechtung riskantes Herdenverhalten – und erhöht damit Risiken, die die Finanzstabilität gefährden. Außerdem steigert Aladdin nach dem Motto ‚Wissen ist Macht‘ Blackrocks Position in der weltweiten Finanzwirtschaft.“

Auch erwähnt Schick BlackRocks enge Kontakte in die Politik. So beabsichtige etwa Friedrich Merz (CDU), „langjähriger Deutschland-Statthalter des Konzerns“, in der nächsten Bundesregierung „Superminister für Wirtschaft und Finanzen“ zu werden. Obwohl BlackRock eine Marktmacht erzeuge, die kein Staat mehr kontrollieren könne, werde, so Schick, selten von dem Konzern gesprochen, wenn im politischen Raum von der Macht der US-Konzerne die Rede sei.

Was soll seiner Meinung nach „zur Stärkung der Marktwirtschaft und zur Schwächung der Machtwirtschaft“ geschehen? „Es geht nicht ohne eine Aufteilung, sprich Zerschlagung des Konzerns in mehrere Teilbereiche. Nur so können Interessenkonflikte vermieden und Macht beschränkt werden. (…) Außerdem braucht es mehr Transparenz bei der Ausübung von Stimmrechten und der Einflussnahme bei Unternehmen. Generell benötigen wir bei Schattenbanken, zu denen Blackrock zählt, endlich eine der Bankenregulierung vergleichbare Begrenzung der Kreditfinanzierung (Leverage), Mindestvorgaben für die Liquidität und einen von den Unternehmen zu finanzierenden Notfallfonds, damit nicht wieder der Staat mit Milliardenspritzen als Retter einspringen muss.“

Überdies sollten Interessenkonflikte unterbunden werden: Die öffentliche Hand dürfe nicht länger BlackRock als Berater bei Aufträgen engagieren, an denen der Konzern wie im Fall Griechenland eigene Interessen habe. Bei den Großbanken hätte man gesehen, zu welchen Kosten es für die Gesellschaft kommt, wenn Marktmacht und Erpressungspotenzial erst in einer Finanzkrise zum Thema werden. Denn für Bankenrettungen mussten in der Weltfinanzkrise Milliarden an Steuergeldern ausgegeben werden, weil versäumt worden sei, den Aufstieg von Lehman Brothers und Co. zu systemrelevanten Megainstituten mit Bilanzsummen in Billionenhöhe rechtzeitig zu verhindern. „Daraus“, so Schick, „müssen wir beim Aufstieg von Blackrock Konsequenzen ziehen – und die wirtschaftliche Macht des Konzerns rechtzeitig brechen“.

Schicks Beschreibung der Bedeutung von BlackRock ist jedoch nicht ganz neu. Dass von BlackRock nur selten die Rede sei, wenn es über die Macht von US-Konzernen im politischen Bereich geht, darf bezweifelt werden. So fand im September 2020 an der Freien Universität Berlin ein „BlackRock-Tribunal“ statt, bei dem der Konzern öffentlichkeitswirksam „an den Pranger“ gestellt wurde. Folgendes symbolisches Urteil wurde gefällt: „Das Unternehmen Blackrock mit dem juristischen Sitz in der US-amerikanischen Finanzoase Wilmington/Delaware und dem operativen Hauptsitz in New York wird aufgelöst. Das betrifft auch alle Tochtergesellschaften in den USA und im Ausland.“ (vgl. „BIG-Nachricht“ vom 4. Oktober 2020)

In jüngster Vergangenheit wurde immer wieder über die Rolle der neuen, weltweit agierenden Kapitalakteure berichtet, sowohl in politisch links orientierten Medien wie auch in der bürgerlichen Presse. Deshalb folgen am Schluss einige Lektüreempfehlungen.

* Ein ETF („Exchange Traded Fund”) ist ein börsengehandelter Indexfonds, der die Wertentwicklung eines Index, zum Beispiel des Dax, abbildet.

Quelle:

Gerhard Schick: „Die Macht brechen: Blackrock muss zerschlagen werden“ (Gastkommentar), Handelsblatt (Online) vom 1. Juni 2021

https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-die-macht-brechen-blackrock-muss-zerschlagen-werden/27242516.html?nlayer=Aktuelle%20Gastbeitr%C3%A4ge_26175654

 

Empfohlene Lektüre für den Einstieg in das Thema:

Werner Rügemer: „BlackRock-Kapitalismus. Das neue transatlantische Finanzkapital“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2016, Seite 70-83

https://www.blaetter.de/ausgabe/2016/oktober/blackrock-kapitalismus

Harald Schumann/Elisa Simantke: „BlackRock – Ein Geldkonzern auf dem Weg zur globalen Weltherrschaft“, in: Tagesspiegel vom 8. Mai 2018

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/blackrock-ein-geldkonzern-auf-dem-weg-zur-globalen-vorherrschaft/21246966.html

Über den Einfluss BlackRocks auf den deutschen Wohnungsmarkt:

Arbeitsausschuss Immobilien-Aktiengesellschaften der Berliner MieterGemeinschaft (Hg.), „Den Aktionären verpflichtet. Immobilien-AGs – Umverteilungsmaschinerie und neue Macht auf den Wohnungsmärkten“, Berlin, Januar 2019 (Kapitel V: „Wem gehören eigentlich die börsennotierten Immo-AGs?“), Seite 16-19

https://www.bmgev.de/

Dr. Oetker – Stütze des NS-Staats

In einer Artikelserie widmet sich der Blog „The Lower Class Magazine“, betrieben von einem unabhängigen Medienkollektiv, traditionsreichen deutschen Familienunternehmen: „Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.“

Am 9. März schrieb die Autorin Nelli Tügel darüber, wie die Bielefelder Unternehmerfamilie Oetker, deren Firma heute als eines der größten deutschen Traditionsunternehmen gilt, vom Nationalsozialismus profitierte. August Oetker gründete das Pudding-Imperium im Jahr 1891. Auf ihn folgte sein Sohn Rudolf an der Spitze des Konzerns. Nach dessen Tod im Jahr 1916 wurde Richard Kaselowsky, den Rudolf Oetkers Witwe Ida Oetker nach dessen Tod geheiratet hatte, Geschäftsführer. Er war ein glühender Nazi, ebenso wie seine Ehefrau Mitglied der NSDAP und gehörte ab 1941 der Waffen-SS an.

Kaselowskys Stiefsohn Rudolf-August Oetker übernahm 1944 die Konzernleitung – und verhinderte fortan jede Aufklärung über die Verstrickungen des Oetker-Clans in den deutschen Faschismus. Auch er, Jahrgang 1916, war ein überzeugter Nazi, Mitglied der NSDAP und ab 1942 der Waffen-SS. Nach einer kurzzeitigen Internierung nach Kriegsende konnte er im Jahr 1947 seine Tätigkeit fortsetzen. Erst 2009, sieben Jahre nach dessen Tod, beauftragte die Oetker-Familie den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, den Historiker Andreas Wirsching, mit einer Studie zu diesem Thema. Im Jahr 2013 wurden die Ergebnisse publiziert.

In einem Interview anlässlich der Veröffentlichung der Studie stellte Wirsching fest, dass zwischen Oetker und dem NS-Regime kein Blatt Papier gepasst hätte. Es habe keinen einzigen Beleg für eine Abgrenzung gegeben. „Bemerkenswert ist dabei“, schreibt Nelli Tügel, „dass die Oetkers in der Studie als in keiner Weise außergewöhnlich beschrieben werden: Kaselowsky sei zwar kein reiner Opportunist, sondern überzeugter Nazi gewesen, doch sei er damit laut Wirsching ‚ein typisches Beispiel für den fließenden Übergang von national-liberalem Bürgertum zu den Nationalsozialisten‘. Wie viele andere habe er sich ‚von einem eher nationalliberalen Standpunkt aus nach rechts orientiert (…), die nationalsozialistische Alternative erschien als Chance‘.“

So profitierte Oetker ab 1933 mehrfach von sogenannten Arisierungen, war daneben an verschiedenen Firmen beteiligt, die Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge ausbeuteten. Im Jahr 1937 wurde Oetker als eines der ersten Unternehmen als „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet.

Wie Tügel feststellt, gab die Familie die Studie des Historikers Wirsching erst in Auftrag, als es für ernsthafte Entschädigungszahlungen längst zu spät war. Am Schluss ihres Artikels resümiert die Journalistin: „Den Oetkers geht es heute wirtschaftlich sehr gut – und ihre ‚Aufarbeitung‘ wurde in der Tat vielfach anerkennend rezipiert. In verschiedenen Rankings der reichsten Deutschen landet die Oetker-Familie mit einem Vermögen von geschätzten sieben Milliarden Euro stets auf einem der vorderen Plätze. Die Oetker-Gruppe erzielt Unternehmensangaben zufolge zudem einen Jahresumsatz von 7,4 Milliarden Euro, 34.000 Menschen arbeiten für den Konzern. Dass dieser wirtschaftliche Erfolg nicht zuletzt auf der engen Zusammenarbeit mit dem NS aufbaut, gerät vor lauter Pudding und Verklärung zum Traditionsunternehmen allzu oft in Vergessenheit.“

Anmerkung: In weiteren Teilen der Serie geht es um die Familie Quandt/Klatten, das Schaeffler-Imperium, die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG und die Unternehmerfamilie Reimann. 

 

Quelle:

Nelli Tügel: „[Deutschlands brutalste Familienclans V]: Oetker: Backpulver, Pudding, Waffen-SS und Zwangsarbeit“, The Lower Class Magazine, 9. März 2021

https://lowerclassmag.com/2021/03/09/deutschlands-brutalste-familienclans-v-oetker-backpulver-pudding-waffen-ss-und-zwangsarbeit/

„Das hässliche Gesicht des Kapitalismus“. Zwei neue Bücher über den Konzern Amazon

In der Ausgabe des Handelsblatts vom 22. Mai 2021 rezensierte Florian Kolf zwei neu erschienene Bücher über den weltweit größten Online-Versandhändler Amazon.

Nach Meinung des Wirtschaftsjournalisten hätte das vergangene Jahr für Amazon eine Zeit der „Heiligsprechung“ werden können. Denn ein großer Teil des öffentlichen Lebens war pandemiebedingt stillgelegt und der US-Konzern verfügte über die erforderlichen Warenlager und Logistik, um die Bevölkerung ausreichend versorgen zu können. Das Gegenteil sei aber eingetreten: „Mitarbeiter rebellierten gegen die Arbeitsbedingungen, Politiker forderten die Begrenzung der Macht des Konzerns, Händler auf dem Amazon Marketplace wetterten gegen die Geschäftspraktiken des Plattformbetreibers. Was war geschehen?“

Auf die Frage, warum das Unternehmen „plötzlich als hässliches Gesicht des Kapitalismus“ galt, gibt nach Auffassung des Handelsblatt-Autors das Buch „Amazon unaufhaltsam“ des amerikanischen Journalisten Brad Stone, der für das US-Wirtschaftsmagazin Bloomberg Businessweek arbeitet, die richtigen Antworten.

Kolf schreibt: „Stone liefert eine faszinierende Innenansicht des amerikanischen Tech-Konzerns, gespickt mit Details, Szenen und Anekdoten, die dem Leser ein Gefühl dafür geben, welche Kräfte dieses Erfolgsunternehmen antreiben. Er zeichnet zugleich aber auch ein schonungsloses Bild des brutalen Führungsstils von Bezos und seinen Top-Managern, die mit künstlichen Deadlines und massivem Druck Mitarbeiter regelmäßig in 80-Stunden-Wochen und häufig fast in den Wahnsinn treiben.“

Brad Stone sieht demnach den Kern des Unternehmenserfolgs im Streben nach permanenter Innovation. Konzernchef Bezos trieb offenbar in den vergangenen zehn Jahren neue Projekte mit unermüdlichem Einsatz voran – so etwa die digitale Spracherkennung Alexa.

Der zweite Teil des Buches von Stone führe aus, wie in kurzer Zeit aus einem innovativen Unternehmen einer der mächtigsten Konzerne der Welt werden konnte: „Und hier zeigt Stone, dass Konzernchef Bezos nicht nur eine kreative und technikverliebte Seite hat, sondern auch eine skrupellose, wenn es dem Erfolg dient.“ Ein Hebel für den rasanten Wachstumskurs sei das Heer von Lagerarbeitern und unterbezahlten Subunternehmern, die unter Bedingungen arbeiten, die einer an sich notwendigen Qualität kaum förderlich seien.

Das Buch des amerikanischen Autors fokussiert nach Meinung des Handelsblatt-Journalisten auf die Schattenseiten der rücksichtslosen Unternehmensexpansion. Im Verlauf der Corona-Pandemie etwa wurde Amazon vorgeworfen, Profiteur der Krise zu sein. Zugleich aber hätten sich Meldungen über unzureichende Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 – insbesondere in den Auslieferungslagern – gehäuft. Auch wenn Amazon jetzt wirtschaftlich so gut wie nie zuvor dastehe, sei das Image des Unternehmens deutlich ramponiert.

Als perfekte Ergänzung zu „Amazon unaufhaltsam“ bezeichnet Florian Kolf das jüngst auf Deutsch erschienene Buch „Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon“ von Alec MacGillis. Das Werk lege den Schwerpunkt darauf, die regionale Ungleichheit und den zunehmenden Konzentrationsprozess der US-Wirtschaft am Beispiel der Entwicklung Amazons zu analysieren.

Kolf schreibt über MacGillis‘ Buch: „Der preisgekrönte Journalist ist dafür durchs Land gereist, hat mit Bandarbeitern, Kleinunternehmern, Künstlern, Aktivisten, Politikern und Lobbyisten gesprochen. Das Buch ist in einem packenden Reportage-Stil geschrieben und zeigt an vielen Beispielen, wie sich die Gesellschaft immer stärker verändert, wie sich das Land spaltet – und welchen Anteil Amazon daran hat. Für Amazon sind die Ergebnisse seiner Recherchen wenig schmeichelhaft: Er listet genau auf, welche Steuererleichterungen der Konzern mit den Milliardengewinnen hinter verschlossenen Türen aushandeln konnte, wie er Kommunen gegeneinander ausspielte, unter welchen Bedingungen die Arbeiter in den Auslieferungszentren arbeiten, wie Einzelhändler unter dem Druck des Riesen aufgeben mussten.“

In einer Buchkritik des DeutschlandfunkKultur legt die Rezensentin Vera Linß den Schwerpunkt auf die These von MacGillis, dass der Erfolg von Amazon den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den USA bedrohe. Die Spaltung des Landes, die Trump viele Wähler gebracht habe, gehe weiter. Bis 2030 würden laut einer Analyse des McKinsey Global Institute 25 Metropolen weiter boomen, 54 US-Städte und mehr als 2.000 Landkreise hingegen wirtschaftlich abgehängt. Schuld an dieser Ungleichheit, so zitiert der DeutschlandfunkKultur den US-Investigativ-Journalisten, sei die ungebremste Konzentration von Marktmacht des Konzern Amazon. Das Fazit von MacGillis lautet: Amerika steht im Schatten des Onlineriesen. Denn dessen Dienstleistung krempelt die amerikanische Wirtschaft radikal um. 76.000 Arbeitsplätze vernichtet Amazon jährlich im Einzelhandel, doppelt so viele, wie es selbst geschaffen habe.

In der Süddeutsche Zeitung schreibt Felix Ekardt, dass in „Ausgeliefert“ von MacGillis Amazon auch als Metapher für die großen IT-Konzerne und die globalisierte Wirtschaft steht, die in der Corona-Lockdown-Gesellschaft noch mächtiger geworden sind. Das Buch reihe Beispiel an Beispiel, man erfahre von kleinen Buchhändlern, die – von Amazon Marketplace bedrängt – zwar mehr Kunden erreichen würden, während zugleich aber ihre Gewinnspannen schrumpfen.

In einer Besprechung des eingangs genannten Buches „Amazon unaufhaltsam“ von Brad Stone im MDR wird betont, dass Stone die vergangenen Jahre des Konzerns detailliert nachzeichne: „Wie entstand Amazons Sprachassistent Alexa, warum sind Amazons Smartphones ein Flop gewesen, wie geht es mit dem Konzern weiter, wenn der Chef im Juli abtritt?“ Stone wird zitiert: „Amazon reagiert allergisch auf organisierte Arbeiterschaft. Das war schon immer so. Es beginnt mit Jeff Bezos. Er will nicht, dass eine eingefahrene und verärgerte Belegschaft seine Flexibilität einschränkt. Sie versuchen darum herumzutanzen, aber sie sind gewerkschaftsfeindlich. Eine Sache, die sie tun, wenn Arbeiter sich organisieren – sie verlangsamen das Wachstum in einem Land und liefern Produkte aus anderen Ländern. Das haben wir in Deutschland schon gesehen, wo sie einige Fulfillment Centers vorübergehend geschlossen und Produkte aus Polen eingeführt haben. Sie spielen also mit harten Bandagen.“

„Und das wird sich wohl auch nicht ändern“, wie der Redakteur der Sendung abschließend bemerkt, „wenn der Amazon-Chef nicht mehr Jeff Bezos heißt.“

Quellen:

Florian Kolf: „Kreativ und rücksichtslos: Die Geheimnisse des Erfolgs von Amazon – und die Schattenseiten“, Handelsblatt (Online) vom 22. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/analyse-kreativ-und-ruecksichtslos-die-geheimnisse-des-erfolgs-von-amazon-und-die-schattenseiten/27208618.html

Vera Linß: „Wie Amazon die USA spaltet“, DeutschlandfunkKultur, Buchkritik vom 7. Mai 2021

https://www.deutschlandfunkkultur.de/alec-macgillis-ausgeliefert-wie-amazon-die-usa-spaltet.950.de.html?dram:article_id=496687

Felix Ekardt: „Supermarkt für Ungleichheit“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 13. April 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/amazon-macgillis-1.5260717

MDR aktuell: Buchkritik zu „Amazon unaufhaltsam“ von Brad Stone vom 29. Mai 2020

https://www.mdr.de/mdr-aktuell-nachrichtenradio/audio/audio-1750114.html

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam. Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft.
Ariston, München 2021, 544 Seiten, 26 Euro

Alec MacGillis: Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon.
S. Fischer, Frankfurt 2021, 448 Seiten, 26 Euro

 

Aggressive Steuerparadiese mitten in Deutschland

Das ARD-Magazin „Panorama“ berichtete am 20. Mai 2021 über einen ganz legalen Steuerwettbewerb zwischen deutschen Kommunen. Denn die können die Höhe der Gewerbesteuer frei festlegen. In Deutschland gibt es mindestens elf Kommunen, die Firmen mit besonders niedrigen Steuersätzen anlocken. Die Reportage verdeutlicht das am Beispiel der Kleinstadt Zossen in Brandenburg. Während in Berlin rund 14 Prozent Gewerbesteuern auf Gewinne fällig werden, fordert Zossen nur rund 9 Prozent. Bis Anfang des Jahres galt dort sogar nur der gesetzliche Mindestsatz von 7 Prozent. Firmen nutzen das Steuergefälle offenbar im großen Stil aus. Christoph Trautvetter vom „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ bezeichnet den etwa 20 Kilometer südlich der Berliner Stadtgrenze gelegenen Ort als eine „typische und aggressive Gewerbesteueroase“. Unternehmen, die von der Geschäftstätigkeit eher nach Berlin gehörten, würden in Zossen ihre Gewerbesteuer zahlen.

Laut Panorama haben etwa 2.500 Firmen in der Kleinstadt ihren Firmensitz angemeldet. Andere Kommunen klagen dagegen über sinkende Einnahmen und den Wegzug von Firmen. Vor allem wenn die nicht wirklich weg sind, sondern weiterhin die öffentliche Infrastruktur nutzen, Steuern aber eben woanders zahlen.

Die zuständigen Finanzämter scheinen jedoch kein Interesse daran zu haben, gegen dieses Modell vorzugehen. So zeigen die Recherchen des Fernsehteams in Zossen, dass bisher offensichtlich keine Prüfung des Finanzamts vor Ort stattgefunden hat. Weil ansonsten wohl der Kommune und dem Land Steuereinnahmen verloren gehen würden. Auf Nachfrage von Panorama sieht das Bundesfinanzministerium keinen Handlungsbedarf, denn Kommunen könnten mit Gewerbesteuer Standortnachteile ausgleichen. Ein Steuerrechtsexperte erklärte dagegen gegenüber dem TV-Magazin, dass die Vorspiegelung einer Betriebsstätte, die es tatsächlich nicht gibt, in den Bereich der Steuerhinterziehung führt.

Quellen:

Annette Kammerer/Caroline Walter: „Steueroasen in Deutschland: Scheinbüros fürs Finanzamt“, ARD-Magazin „Panorama“ vom 20. Mai 2021

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/Panorama-vom-20-Mai-2021,panorama11584.html

Bernd Müller: „Im Offshoreparadies“, junge Welt vom 25. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/402963.spekulantenparadies-brd-im-offshoreparadies.html

 

Die Krisengewinner und ihr Geld

Dass die Covid-19-Pandemie von einer ungewöhnlich heftigen Wirtschaftskrise flankiert wird, deren Höhepunkt noch längst nicht erreich ist, pfeifen mittlerweile sämtliche Spatzen von den Dächern. Und bekanntlich gibt es in jeder Krise Gewinner und Verlierer.

Das in den USA ansässige Wirtschaftsmagazin Forbes erstellt regelmäßig Listen der reichsten Menschen der Welt. Mit knapp 190 Milliarden US-Dollar reichster Mensch ist nach der aktuellen Liste derzeit wieder Jeff Bezos, Gründer und Inhaber des Internetkonzerns Amazon. Wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Politik, wegen Lohndumpings und miserabler Arbeitsbedingungen in seinen Unternehmen steht Bezos seit Jahren heftig in der Kritik. Im Verlauf der Krise konnte er sein Vermögen deutlich vergrößern, allein seit Januar dieses Jahres um 10 Milliarden USA-Dollar.

Das nicht gerade als linkes Kampfblatt bekannte Manager Magazin hat kürzlich den Krisengewinnern einen Artikel gewidmet. Insgesamt hätten, schreibt die Zeitschrift, „die Vermögen in Milliardärskreisen rund um den Globus“ ungeachtet der Krise „tendenziell sogar noch zugelegt, und zwar enorm“. Zuletzt seien „weltweit insgesamt 2755 Milliardäre“ gezählt worden, „660 mehr als noch vor einem Jahr“. Das Gesamtvermögen dieser Superreichen belaufe sich „inzwischen auf 13,1 Billionen Dollar. Ein Jahr zuvor waren es noch acht Billionen Dollar.“

Was aber macht diese Kaste der Superreichen mit ihrem Geld? Wie die Zeitschrift meint, boome gegenwärtig der Markt für Luxus-Jachten. Was sogar eine Logik hat: Ist man als Milliardär doch auf hoher See erstens vor dem Virus geschützt und muss sich zweitens nicht mit lästigen Anti-Pandemie-Verordnungen staatlicher Behörden herumärgern. Die größte Jacht der Welt, so heißt es im Manager Magazin weiter, lasse jetzt ausgerechnet Jeff Bezos bauen, geschätzter Kostenpunkt 500 Millionen US-Dollar.

Quellen:

Imöhl, Sören: „Forbes-Liste: Die zehn reichsten Menschen der Welt“ vom 21.05.2021, abgerufen am 25.05.2021, 12.00 Uhr

https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/forbes-liste-die-zehn-reichsten-menschen-der-welt/ar-BB1gUrNu

„Superreiche im Yachten-Kaufrausch“, Manager Magazin vom 20.05.2021, abgerufen am 20.05.2021, 17.20 Uhr

https://www.manager-magazin.de/lifestyle/yachten-fuer-superreiche-jeff-bezos-und-co-im-kaufrausch-a-84d41891-5cc6-47c5-a540-7f1ab3b6c74c

Krisengewinnler: Neues von Amazon und Vonovia

Wie die aktuellen Quartalszahlen belegen, gehören zu den Gewinnern der Coronakrise Tech-Unternehmen und Wohnimmobilienkonzerne.

Vonovia als Klimaretter

Am 4. Mai 2021 stellte Deutschlands größter Wohnungskonzern Vonovia in Bochum seinen neuesten Quartalsbericht vor. Die junge Welt kommentierte diesen am Tag darauf:

„Gute Nachrichten für Aktionäre: Der Gesamtumsatz stieg im Vorjahresvergleich um fast 15 Prozent auf 1,15 Milliarden Euro. Kurzum: Der Konzern bleibt Krisengewinnler und kassiert weiter bei Mietern ab. Die politisch Verantwortlichen hierzulande haben bisher wenig unternommen, Mieterrechte zu stärken. Was soll da auch schiefgehen? Um den Profit bei Vonovia zu maximieren, braucht es wenig Talent, selbst schlechte Manager schaffen das. Oder wie es der Konzernchef Rolf Buch am Dienstag ausdrückte: Man verfüge über ein ‚stabiles, langweiliges Geschäftsmodell‘“.

Das Handelsblatt unterstreicht, dass Vonovia seine Bemühungen zum Klimaschutz vorantreiben würde. Im vergangenen Jahr habe der Konzern verkündet, bis 2050 einen klimaneutralen Gebäudebestand anzustreben. Dafür sollen unter anderem durchschnittlich rund drei Prozent des Bestandes pro Jahr energetisch saniert werden. Der Titel des Quartalsberichts lautet denn auch „Klimastrategie und soziale Verantwortung“.

Die junge Welt dazu:

„(..) ‚sozial‘ war Vonovia zuletzt nie: Mieterhöhungen, falsche Abrechnungen, Union Busting – das volle Programm. Auch der ‚Klimaschutz‘ ist pure Augenwischerei. Es geht darum, mit Modernisierungen Mieten zu erhöhen. Wenn diese als Klimaschutz ausgewiesen werden, können staatliche Fördertöpfe angezapft werden. Unterm Strich geht es um das Wohl der Aktionäre, nicht um Klima- oder Gerechtigkeitsfragen.“

Quellen:

Philipp Metzger: „„Wohnkonzern als PR-Abteilung“, junge Welt vom 5. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/401820.immobilienwirtschaft-wohnkonzern-als-pr-abteilung.html

Kerstin Leitel: „Vonovia startet mit Gewinnplus ins Jahr – Kein Ende des Booms am Immobilienmarkt in Sicht“, Handelsblatt vom 4. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/quartalszahlen-vonovia-startet-mit-gewinnplus-ins-jahr-kein-ende-des-booms-am-immobilienmarkt-in-sicht/27156590.html

 

Amazon – hohe Umsätze, keine Körperschaftssteuern

Auch im ersten Quartal 2021 profitierte der weltweit größte Versandhändler davon, dass die Konsumenten in der Corona-Pandemie so viel wie nie zuvor auf der Plattform des Versandhändlers einkaufen. Zwischen Januar und März konnte deshalb Amazon seinen Umsatz um 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 108,5 Milliarden Dollar steigern. Der Gewinn kletterte in dieser Zeit auf 8,1 Milliarden Dollar – um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. (vgl. Handelsblatt vom 29. April 2021)

Inzwischen beschäftigt das Unternehmen weltweit etwa 1,3 Millionen Mitarbeiter*innen. Seine Personalpolitik steht dabei immer wieder in der Kritik. Die Gewerkschaft Verdi fordert etwa in Deutschland seit Jahren die Einführung eines Tarifvertrags – „Amazon hält dagegen und rechnet vor, mit Stundenlöhnen von mindestens 11,30 Euro und Zusatzleistungen ohnehin branchenüblich zu zahlen“ (Börsenblatt vom 30. April 2021).

Amazon erzielt also Rekordumsätze, zahlt aber an seinem europäischen Sitz in Luxemburg keine Körperschaftssteuer. Simon Zeise bemerkte dazu in der jungen Welt vom 5. Mai 2021 sarkastisch:

„In der EU hat der Onlineriese im vergangenen Jahr einen Rekordumsatz in Höhe von 44 Milliarden Euro erzielt – und dafür am Firmensitz in Luxemburg nicht einen Cent Steuern abdrücken müssen. (…) Weil das arme Unternehmen 2020 einen Verlust in der Luxemburger Filiale von 1,2 Milliarden Euro ausgewiesen hat, stellt ihm das Herzogtum eine Steuergutschrift von 56 Millionen Euro zur Verfügung. Die kann Amazon verrechnen, wenn mal wieder bessere Zeiten kommen und auch in Luxemburg Profite erzielt werden.“

Diese Informationen beruhen auf einem Bericht der britischen Tageszeitung The Guardian. Danach betonte ein Sprecher von Amazon, dass der Konzern „alle verlangten Steuern in allen Ländern, in denen wir agieren“ bezahle. Die Körperschaftsteuer basiere nicht auf Umsätzen sondern auf Gewinnen, und die seien aufgrund großer Investitionen und niedriger Gewinnspannen im Einzelhandel gering ausgefallen.

Das Bundeskabinett beschloss übrigens Ende März den Entwurf eines sogenanntes „Steueroasen-Abwehrgesetz“. Dieses soll nicht kooperative Staaten dazu anhalten, gezielten Abwehrmaßnahmen gegen Steuervermeidung treffen und dadurch internationale Standards im Steuerbereich umzusetzen. Grundlage für das Gesetzesvorhaben ist die Schwarze Liste der EU zu Steueroasen. Auf eine entscheidende Schwachstelle weist ein Kommentar des Neuen Deutschland hin:

„Zwölf Länder stehen drauf, doch bis auf Panama ist keins davon eine relevante Steueroase. Stattdessen fehlen wichtige Standorte für Briefkastenfirmen und Schwarzgeld, etwa die britischen Überseegebiete. So wird das Gesetz kaum einen Steuersünder kratzen, weil er sein Geld nicht im falschen Land parkt. Schon gar nicht tauchen auf der Liste innereuropäische Steueroasen wie Luxemburg oder Irland auf. Solche Länder spielen aber eine entscheidende Rolle bei der Steuervermeidung durch große Konzerne. Sonderlich viel wird der Vorstoß von Scholz also nicht bringen, vielmehr wird er sich als sozialdemokratischer Papiertiger erweisen.“

Das Vermögen von Amazon-Gründer Jeff Bezos konnte derweil die Marke von 200 Milliarden Dollar knacken. Vor rund einem Jahr waren es noch etwa 140 Milliarden Dollar (Manager-Magazin vom 3. Mai 2021).

Quellen:

Simon Zeise: „Gewinneverschieber des Tages: Amazon“, junge Welt vom 5. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/401834.gewinneverschieber-des-tages-amazon.html

Marie-Astrid Langer: „Amazon wächst dank Online-Shopping und Cloud-Computing“, Handelsblatt vom 29. April 2021 (Online)

https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/quartalszahlen-amazon-waechst-dank-online-shopping-und-cloud-computing-/27146416.html?ticket=ST-240727-aQrOQ7FDCp4kbAn7z0W0-ap6

„Corona sorgt für Rekorde bei Amazon“, Börsenblatt vom 30. April 2020 (Online)

https://www.boersenblatt.net/news/corona-sorgt-fuer-rekorde-bei-amazon-175381

„Milliardäre und Großverdiener: Das sind die (Tech-)Gewinner der Corona-Krise“, Manager-Magazin vom 3. Mai 2021 (Online)

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/tech/jeff-bezos-colin-huang-ma-huateng-das-sind-die-tech-gewinner-der-corona-krise-a-7b24049b-b6e9-43c1-b676-49cc56366f77

Rupert Neate: „Amazon had sales income of €44bn in Europe in 2020 but paid no corporation tax“, The Guardian vom 4. Mai 2021 (Online)

https://www.theguardian.com/technology/2021/may/04/amazon-sales-income-europe-corporation-tax-luxembourg

Simon Poelchau: „Sozialdemokratischer Papiertiger“, Neues Deutschland vom 31. März 2021

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150305.steueroasen-sozialdemokratischer-papiertiger.html

Wie die Europäische Union extreme Ausbeutung organisiert

Politische Vertreter*innen in der EU pochen offiziell gerne und mit Nachdruck auf die Einhaltung der Menschenrechte für erwerbsarbeitende Menschen in anderen Regionen der Welt. Ausgeblendet wird dabei, dass Arbeitnehmer*innen auch innerhalb der EU millionenfach und weitgehend unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle in extremer Form ausgebeutet und gedemütigt werden.

Dieses „große Tabu“ bildet den Ausgangspunkt des bereits im Herbst 2020 erschienenen Buches „Imperium EU“ des Kölner Publizisten Werner Rügemer. Seine These lautet: Die Ausbeutung, Entrechtung, Verunsicherung und Verarmung abhängig Beschäftigter wird von den dominierenden Institutionen der EU zielgerichtet organisiert, zugleich von den herrschenden Medien „komplizenhaft“ verschwiegen und damit auch der politischen Rechtsentwicklung in Europa entscheidend Vorschub geleistet (Seite 31ff.). Genau dieser Zusammenhang, so der Autor, bleibt in der verbreiteten Kritik an der EU zumeist unberücksichtigt.

Im ersten Teil des Buches beschreibt Rügemer, wie rechtlich fixierte Arbeitsbedingungen und menschenrechtlich geforderte Normen nicht nur für Millionen von Wanderarbeiter*innen massenhaft straflos verletzt werden können – sowohl von den westeuropäischen Gründungsmitgliedern der EU als auch in den neuen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans. Der Autor verfolgt die Ursprünge des Arbeitsunrechts bis in die Vorstufen der EU in den 1950er Jahren (Montanunion, EG, EWG) zurück. So wurden etwa nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der von den USA initiierten Montanunion grenzüberschreitend europäische Kohle- und Stahlkonzerne mit billigen Arbeitskräften versorgt. Die EU trieb dann auch in der Folgezeit die Prekarisierung der Erwerbsarbeit und deren Verrechtlichung Zug um Zug voran.

Rügemer analysiert weiter die wichtigsten verantwortlichen Institutionen, die „heutige Kapital-Bürokratie“ (Seite 111). Vor allem die Europäische Kommission mit ihren 32.000 Beamten steht im Zentrum seiner Kritik. Denn hier, und nicht im weitgehend ohnmächtigen EU-Parlament, laufen die politischen Fäden zusammen. Nicht umsonst lieben die „professionellen Heuchler der Unternehmerlobby, (…) die ansonsten überall gegen ‚zu viel Bürokratie‘ polemisieren und für ‚Bürokratieabbau‘ kämpfen“, (…) die größte Bürokratie in Europa herzinnigst!“ – wie Rügemer süffisant feststellt. (Seite 114)

Er geht im Folgenden auf die Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen ein, die direkt und indirekt in die Arbeitsverhältnisse eingreifen, um sie im Sinne der Unternehmer zu gestalten. Als Instrumente führt Rügemer Privatisierungen und Subventionen (ohne jede Auflage für Arbeitsrechte) an, aber auch die EU-Richtlinien zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und des Arbeitsrechts. Vor allem der „führende ArbeitsUnrechts-Staat in der EU“ (Seite 137), die Bundesrepublik Deutschland, sei führend darin, Richtlinien zu ignorieren. Wenn sich der Europäische Gerichtshof EuGH mit arbeitsrechtlichen Konflikten befasst, fallen die Urteile nur in seltenen Fällen zugunsten der abhängig Beschäftigten aus – und auch diese werden zumeist nicht umgesetzt. (Seite 154) Einen zentralen Grund dafür nennt der Autor: „Die EU übt keine Kontrolle auf dem Gebiet der Arbeitsrechte aus. Sie überlässt die Kontrolle den nationalen Arbeits- und Gewerbeaufsichten, wohl wissend und duldend, dass diese wie Zoll, Gewerbe- und Gesundheitsaufsicht in Deutschland personell unterbesetzt sind.“ (Seite 140)

Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Autor in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Kämpfe von Betroffenen in den einzelnen Mitglieds-, Anwärter- und assoziierten Staaten der EU (unter anderem in Großbritannien, Deutschland, den Benelux-Staaten, dem Baltikum, Kroatien, Ungarn, Skandinavien, der Schweiz und Nordmazedonien). Estland, Lettland und Litauen gelten zum Beispiel als die im neoliberalen Sinne am meisten umgekrempelte Region in der EU (Seite 275ff.). Alle drei Länder befinden sich, so Rügemer, im Griff der USA und der NATO. Sie dienen als digitale Zulieferer für ausländische Investoren, zugleich florieren dort Geldwäsche und Schattenwirtschaft. Litauen bezeichnet der Autor als eine steuerbefreite Sonderwirtschaftszone, in der Unternehmer willkürlich herrschen können, da es dort praktisch keine Branchentarifverträge gibt. Als positiven Lichtblick verweist Rügemer auf Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst der drei baltischen Staaten, insbesondere bei Lehrer*innen, Ärzt*innen und Beschäftigten der Kindergärten.

In einer Besprechung des Buches in der sozialistischen Wochenzeitung UZ (Unsere Zeit) vom Dezember 2020 kritisiert der Jurist und Autor Rolf Geffken, dass Rügemers zentraler Begriff des Arbeitsunrechts „merkwürdig unklar und wenig erhellend“ sei und die Leserschaft am Ende ratlos zurückließe. [1] Er bezieht sich dabei auf verschnörkelt wirkende Formulierungen wie etwa: „EU – das bedeutet weltweit verrechtlichtes und auch außerrechtliches ArbeitsUnrecht“ (Seite 132). In seinem Buch misst Rügemer das von ihm so bezeichnete „ArbeitsUnrecht“ aber tatsächlich an der Umsetzung der universellen Menschenrechte der UNO sowie der Kriterien, die von der International Labor Organisation (ILO) vorgegeben werden. In einem früheren Text bezieht der Autor allerdings als Maßstab für Recht und Unrecht auch das geltende materielle Arbeitsrecht mit ein. [2] Insofern ist die Kritik nachvollziehbar.

Die von Geffken bemängelte fehlende scharfe Kontur des Begriffs liegt aber offensichtlich darin begründet, dass die Unterscheidung von legalen, kriminellen und lediglich moralisch zu verurteilenden Handlungen in der Arbeitswirklichkeit in der Praxis oftmals nur schwer möglich ist. Dazu ein weiteres Zitat von Rügemer:

„Kein Bereich des Rechts in der EU kennt ein solches verrechtliches Unrecht und ein solches Vollzugsdefizit und eine solche Grau- und Dunkelzone der systemischen Illegalität – außer vielleicht beim sexuellen Missbrauch in der für ein solches Unrechtssystem systemrelevanten katholischen Kirche.“ (Seite 32)

Diese von den Instanzen der EU absichtsvoll komplex und unübersichtlich konstruierte rechtliche Regulierung der abhängigen Arbeit ermöglicht es letztlich Politik und Kapital, menschenunwürdige Niedriglohnarbeit weitgehend reibungslos zu organisieren.

Rügemer hat mit seinem „Imperium EU“ ein beeindruckendes, detailliert recherchiertes Handbuch zum Klassencharakter der EU vorgelegt. Dabei handelt es sich ausdrücklich nicht um ein nüchtern verfasstes juristisches Lehrbuch – vielmehr beschreibt der Autor kämpferisch und oft polemisch zugespitzt die „Lage der arbeitenden Klasse in der EU“ und motiviert damit nicht zuletzt zum widerständigen Handeln gegen die vielfältigen Mechanismen des „ArbeitsUnrechts“ mitten in Europa.

 

Anmerkungen:

[1] Rolf Geffken: „Zerstörung des Normalen. Der Kampf ums Arbeitsrecht ist Klassenkampf“, UZ vom 24. Dezember 2020

https://www.unsere-zeit.de/trashed-6-139756/

[2] Werner Rügemer: „Unternehmer als straflose Rechtsbrecher“, BIG Business Crime Nr. 4/2017, Seite 28

Werner Rügemer: Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, Neue Gegenwehr. Köln 2020, PapyRossa, 319 Seiten, 19,90 Euro

 

 

 

Kaum Einwände bei „Entscheidern“ gegen Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen

Nach einer vom Magazin WirtschaftsWoche in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey würde sich mehr als ein Viertel der befragten 1.500 Führungskräfte (aus Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung) und Selbstständigen (mit mehr als zehn Mitarbeiter*innen) für Annalena Baerbock von der Partei Bündnis 90/Die Grünen entscheiden – wenn denn eine Kanzlerin oder ein Kanzler direkt gewählt werden könnte. Mit 26,5 Prozent der Umfragestimmen lässt sie Christian Lindner (FDP/16,2 Prozent), Armin Laschet (CDU/14,3 Prozent) und Olaf Scholz (SPD/10,5 Prozent) klar hinter sich. Ein Drittel der Befragten beantwortete die Frage mit „Weiß nicht“ (WirtschaftsWoche vom 25. April 2021).

Die WirtschaftsWoche kommentiert:

„Das Ergebnis beweist erstens, dass die Grünen zumindest nicht mehr zum Schreckgespenst derer taugen, die die ‚ökonomische Vernunft‘ jederzeit auf ihrer Seite wähnen. Das hat viel mit der empirischen Widerlegung dieses Selbstbildes, also mit Finanzkrisen und Steueroasen, Plattformmonopolen und Bonobankern, auch mit unverdientem Erbschaftsreichtum, Ungleichheit und steigenden Wohneigentums- und Mietpreisen in Großstädten, ironischerweise aber vor allem mit einer weiteren Landnahme des Kapitalismus und mit der Entgrenzung der Geldregentschaft zu tun: Investoren, Banken und Hedgefonds bewirtschaften, politisch befeuert von billionenschweren Green-New-Deals, inzwischen sehr erfolgreich das schlechte Gewissen der globalen Komfortzonenbewohner – und pumpen Billionen in E-Autos, saubere Energien, eine ‚klimaneutrale‘ Zukunft. Die vergangene Woche – Joe Biden ruft die Welt zum Klimagipfel, die EU vereinbart verbindliche Klimaziele – hat es einmal mehr gezeigt: Grüne Investitionen sind der neue Goldstandard in der Wirtschaft: green backs the economy.“

Der Journalist kann sich bei seiner Analyse auch auf das aktuelle Grundsatzprogramm der Partei berufen. Dort heißt es unter anderem:

„Den Weg zur sozialökologischen Marktwirtschaft bereitet ein Green New Deal. Er schafft den neuen Ordnungsrahmen für faires, ökologisches und nachhaltiges Wirtschaften, indem er auf ein Bündnis aus Arbeit und Umwelt baut. Er investiert mutig in die Zukunft. Er setzt neue Kräfte für Kreativität und Innovationen frei. Er sorgt für sozialen Ausgleich und fördert eine geschlechtergerechte Gesellschaft.“

Der 2018 verstorbene Politikwissenschaftler Elmar Altvater erklärte schon vor über zehn Jahren, warum sich deshalb auch die deutsche Wirtschaftselite mit Bündnis 90/Die Grünen anfreunden kann:

„Der grüne ‚New Deal‘ spiegelt eine ‚win-win‘-Situation vor, er präsentiert sich als ein sozioökonomisches Projekt, das schwarz-grüne ebenso wie rot-grüne politische Koalitionen begründen kann. Es ist also, weil politisch wenig profiliert, gewissermaßen beliebig.“ (Altvater, Seite 233)

 

Quellen:

Dieter Schnaas: „Drei Gründe, warum bei dieser Wahl noch alles offen ist“, WirtschaftsWoche (Online) vom 25. April 2021

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/tauchsieder-drei-gruende-warum-bei-dieser-wahl-noch-alles-offen-ist/27128412.html

Max Haerder: „Deutschlands Entscheider wollen Annalena Baerbock“, WirtschaftsWoche (Online) vom 22. April 2021

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/exklusive-umfrage-deutschlands-entscheider-wollen-annalena-baerbock/27120196.html

Bündnis 90/Die Grünen: Grundsatzprogramm vom 22. November 2020 („zu achten und zu schützen – Veränderung schafft Halt“)

https://cms.gruene.de/uploads/documents/20200125_Grundsatzprogramm.pdf

Elmer Altvater: Der große Krach. Oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Münster, 2010

 

Verfassungsgericht kippt Versuch sozialer Mietenpolitik

Im Mai 2020 hatten über 280 Bundestagsabgeordnete von CDU/CSU und FDP beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gegen das Berliner Mietendeckel-Gesetz eingereicht. Das BVerfG hat deshalb am 15. April 2021 den Mietendeckel für unvereinbar mit dem Grundgesetz und damit für nichtig erklärt, weil das Mietpreisrecht nur auf Bundesebene geregelt werden könne. Das „Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin“ (MietenWoG Bln) war am 23. Februar 2020 in Kraft getreten. Rückwirkend zum Juni 2019 waren damit Mieterhöhungen untersagt worden, bei Wiedervermietungen griffen Höchstwerte einer Mietentabelle. Ab November des vergangenen Jahres mussten deshalb überhöhte Mieten für etwa 340.000 Wohnungen abgesenkt werden. Unter anderem wird in dem Beschluss des Zweiten Senats des Gerichts darauf verwiesen, dass der Bund bereits im Jahr 2015 die sogenannte Mietpreisbremse beschlossen und damit „eine umfassende Abwägung aller berührten Belange“ mit dem Ziel „eines abschließenden Interessenausgleichs zwischen den Mietvertragsparteien“ vorgenommen habe. (Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2021)

Nach der Mietpreisbremse darf in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt bei einer Wiedervermietung die Miete höchstens zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Es gelten jedoch zahlreiche Ausnahmen. Tatsächlich stiegen in Berlin die Angebotsmieten zwischen 2015 und 2020 um nicht weniger als 44 Prozent – wie im Fünfjahreszeitraum davor. „Die Wirkung der Mietpreisbremse: null“, schlussfolgerte der Berliner Mieterverein. Das höchste deutsche Gericht ignorierte also völlig, dass die bundesweite Mietpreisbremse im Ergebnis den Mieter*innen keinerlei Schutz bietet. Sie „gehört aufgrund vieler Ausnahmen und mangelnder Kontrolle zu den wirkungslosesten Gesetzen dieses Landes. Geradezu zynisch mutet es da an, wenn das Gericht nun mit Hinweis auf diese Fehlleistung von einer abschließenden Regelung durch den Bund spricht“, kommentiert etwa die taz (Erik Peter in der taz vom 16. April 2021).

Die Berliner Zeitung stößt ins gleiche Horn:

„Die Mietpreisbremse (..) bleibt trotz mehrfacher Nachbesserungen noch immer eine Stotter-Bremse. Das liegt auch an fehlenden Sanktionen. Die größte Strafe, die Vermietern bei einem Gesetzesverstoß droht, ist, dass sie die zu Unrecht kassierten Mieten zurückzahlen müssen. Ein Witz. Jeder Schwarzfahrer in Bus und Bahn wird stärker bestraft, wenn er ohne Fahrschein angetroffen wird. Im schlimmsten Fall droht eine Freiheitsstrafe von einem Jahr. Hier stimmen die Verhältnisse nicht. Verstöße im Mietrecht müssen endlich strenger bestraft werden.“ (Berliner Zeitung vom 17. April 2021)

Unverantwortlich erscheint manchen kritischen Stimmen zudem, dass die Richter*innen das Gesetz nicht ab sofort, sondern auch rückwirkend für ungültig erklärt haben. Auf die betroffenen Mieter*innen warten deshalb zum Teil erhebliche Nachzahlungsforderungen der Vermieter. Jeder zehnte von ihnen, schätzt die Berliner Verwaltung, könnte nun bei der Rückzahlung auf einen Schlag in eine wirtschaftliche Notsituation oder Schuldenfalle geraten.

Die Immobilienkonzerne dagegen ließen die Sektkorken knallen. Die Aktienkurse der im Dax notierten Unternehmen Vonovia und Deutsche Wohnen (42.000 bzw. 114.000 Wohnungen in Berlin) konnten nach Bekanntwerden der Entscheidung des BVerfG deutlich anziehen. Am 16. April kündigte Vonovia-Chef Rolf Buch den Aktionären auf der Hauptversammlung eine Steigerung der Dividende um acht Prozent an. „Karlsruhe garantiert die Profite“, merkte die Tageszeitung junge Welt sarkastisch an (junge Welt vom 17. April 2021).

Der Triumph der reinen Marktwirtschaft spiegelt sich auch in einem Kommentar des Spitzenverbands der Immobilienwirtschaft, des Zentralen Immobilien Ausschusses (ZIA), wider. Der konnte seinen Spott über die von überhöhten Mieten drangsalierten Menschen kaum verbergen. In einer Pressemitteilung des Lobbyverbands wird Stefanie Frensch, ehemals Chefin der landeseigenen Berliner Wohnungsbaugesellschaft Howoge (!) und Vorsitzende der Region Ost des ZIA, wie folgt zitiert:

„Die Bilanz des Mietendeckels ist negativ: Das Angebot an Mietwohnungen ist stark eingebrochen und es war selten so schwer, in Berlin eine Wohnung zu finden. Investoren sind verunsichert worden und Sanierungen wurden zulasten des Klimaschutzes und des Berliner Handwerks ausgesetzt. Besonders schlimm: Der Deckel hat nicht für günstige Mieten für einkommensschwache Mieterinnen und Mieter gesorgt. Gerade vermögende Mieter in guten Berliner Lagen mussten weniger zahlen. Für die anderen Fälle bedarf es jetzt einer Härtefallregelung. Auch wenn der Berliner Senat sehenden Auges dieses Problem geschaffen hat, bittet der ZIA seine Mitglieder soziale Lösungen zu finden und hat daher mit dem Deutschen Mieterbund eine Erweiterung des gemeinsamen Wohnungskodex vereinbart. Die Mieterinnen und Mieter dürfen nicht die Leidtragenden dieses verfassungswidrigen Gesetzes werden.“

 

Quellen:

„Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (‚Berliner Mietendeckel‘) nichtig“, Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 28/2021 vom 15. April 2021

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-028.html

Gareth Joswig: „Deckel-Kater in Berlin“, taz vom 16. April 2021

https://taz.de/Die-Abwicklung-des-Mietendeckels/!5763089/

Stephan Kaufmann: „Die Börse feiert“, Neues Deutschland vom 17. April 2021

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150886.mietendeckel-die-boerse-feiert.html

Ulrich Paul/Marcus Pfeil: „Der Berliner Mietmarkt blutet wieder am offenen Herzen“, Berliner Zeitung vom 17. April 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/der-berliner-mietmarkt-blutet-wieder-am-offenen-herzen-li.153096

Erik Peter: „Der Deckel ist weg“, taz vom 15. April 2021

https://taz.de/Mietendeckel-Gesetz-in-Berlin/!5766576/

ders.: „Klassenkampf von oben“, taz vom 16. April 2021

https://taz.de/Berliner-Mietendeckel-gekippt/!5763152&s=mietendeckel/

Jens Sethmann: „Null Wirkung“, MieterMagazin, September/2020, Seite 9

https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0920/bilanz-nach-fuenf-jahren-mietpreisbremse-zeigt-null-wirkung-092009b.htm

„Mietendeckel gekippt – Mieter dürfen nicht die Leidtragenden sein“, Pressemitteilung des Zentralen Immobilien Ausschuss e.V. (ZIA) vom 15. April 2021

https://www.zia-deutschland.de/presse-aktuelles/presse-detail/news-single-pfad/mietendeckel-gekippt-mieter-duerfen-nicht-die-leidtragenden-sein/

Der Kaiser ist nackt! Oder: Ein Versuch der Aufarbeitung des Wirecard-Skandals

Firmenzusammenbrüche sind im Kapitalismus durchaus nichts Besonderes. Und dass in diesem Zusammenhang ausgesprochen kriminelle Aktivitäten von ins Schleudern geratenen Unternehmen ans Licht der Öffentlichkeit kommen, geschieht auch nicht gerade selten. Der plötzliche Absturz und die nachfolgende Insolvenz des Finanzdienstleisters Wirecard gestaltete sich aber doch schon ungewöhnlich. Hatte das aus der halbkriminellen Schmuddelbranche stammende Unternehmen doch gerade zwei Jahre vorher den Aufstieg in die obersten Gefilde der börsennotierten Großunternehmen geschafft.

Es ist daher verdienstlich, dass zwei Journalist*innen die bisher bekannten Fakten zu einem der bekanntesten Betrugsskandale der jüngeren Vergangenheit in Buchform herausgebracht haben – Teile des Buches sind allerdings zuvor schon in verschiedenen Ausgaben der „Wirtschaftswoche“ erschienen. Dass die Darstellung – vor endgültigem Abschluss der Ermittlungen und juristischer Aufarbeitung – nicht vollständig sein kann, liegt in der Natur der Sache und kann den Autor*innen nicht angelastet werden. Eher schon, dass die systemischen Ursachen, die diesen Skandal überhaupt erst ermöglichten, im Buch eher flüchtig Erwähnung finden.

Der Fall „Wirecard“ erscheint bei oberflächlicher Lektüre des Werkes lediglich als ungewöhnlich dreistes Bubenstück, begünstigt durch ein permanentes Wegschauen von Institutionen, die dem kriminellen Unternehmensmanagement schon in der Anfangsphase das Handwerk hätten legen müssen. Und durch die Verantwortungslosigkeit von Mitarbeitern, die angesichts der vielen Merkwürdigkeiten des Unternehmens ihre Augen schlossen, solange jeden Monat regelmäßig das Geld aufs Konto kam.

Aber schon diese angebliche Verantwortungslosigkeit war strukturell bedingt, wie man verschiedenen Kapiteln entnehmen kann: „Einen Betriebsrat? Braucht Wirecard nicht. Tarifverträge? Gibt es nicht. Wirecard zahlt gut. Alle sind Gewinner.“ (Seite 155) An anderer Stelle zitieren die Autor*innen einen der Hauptaktionäre aus der Frühphase des Unternehmens: „Erotik und Glücksspiel waren nun mal die Bereiche, wo es die höchsten Margen gab, mit 3,4 Prozent von der Abrechnungssumme (…) Nein, das hat uns überhaupt nicht gestört. Irgendeiner macht das eben. Wir haben die Zahlen gesehen und gesagt: ‚Boah, toll, passt.‘“ (Seite 42)

Auch enthält das Buch eine ausführliche Chronologie der Entwicklung des Unternehmens Wirecard AG sowie biographische Angaben leitender Mitarbeiter*innen. Und man findet nicht wenige Fakten, die in der medialen Berichterstattung kaum vorkommen. So zum Beispiel, dass Wirecard schon sehr früh begonnen hatte, besonders brisante Geschäftszweige aus dem Unternehmen auszugliedern und in dubiose Steuerparadiese mit laxer Gesetzgebung zu verlagern. Schon im Jahre 2017 wurde laut offizieller Bilanz des Unternehmens der größte Teil der Gewinne im Ausland erzielt.

Faktisch wurde bei der geschilderten Auslagerung von Unternehmensteilen die juristische Verantwortlichkeit zur Handelsware. Nicht wenige Leute, die gegen Bezahlung ihren Namen als Firmeninhaber eintragen ließen, hatten mit den in ihrem Namen getätigten Geschäften dann gar nichts zu tun. Oder sie behaupteten wenigstens hinterher, von nichts gewusst zu haben. Über solche in Dubai, Singapur und auf den Philippinen ansässige Ausgründungen und deren bilanziertes, aber nicht vorhandenes Milliardenvermögen sollte Wirecard schließlich ins Stolpern geraten.

Aber wer stand in dem stellenweise recht spannend geschriebenen Wirtschaftskrimi eigentlich auf der Gegenseite? Die Autor*innen nennen einen einsamen Analysten und Wirtschaftsprüfer, der schon früh auf die Unstimmigkeit des von der Firma Wircard offiziell angegebenen Zahlenwerkes stieß, einfach, indem er die Angaben des Bilanzprogramms in eine simple Excel-Tabelle übertrug. Der gute Mann erntete dann Hohn und nicht wenige Anfeindungen. Kaum jemand konnte sich damals vorstellen, dass der allseits gefeierte Kaiser in Wirklichkeit nackt war.

Bei anderen Gegnern von Wirecard handelte es sich allerdings um dubiose Hedgefonds, die gewerbsmäßig auf den Börsenabsturz dieser und anderer Unternehmensgruppen wetteten. Deren Aktivitäten machten es dem Management von Wirecard leicht, jeden Kritiker erst einmal als angeblich betrügerischen Manipulator von Börsenkursen zu verklagen – manchmal sogar mit Erfolg.

Die Schlusskapitel des Buches sind eine Beschreibung des Unterganges im Stundentakt. Zitiert wird schließlich der Insolvenzverwalter Michael Jaffé: „Mit einem normalen DAX-Konzern hat Wirecard nicht viel gemeinsam. Die Strukturen der Firma? ‚Völlig intransparent‘“ (Seite 249) Das Buch endet mit den Worten „Game over“. Dem muss man allerdings widersprechen. Das nächste kriminelle Bubenstück kommt ganz bestimmt. Die Frage ist nur, wann es passiert und welche Größenordnung es annimmt.

 

Volker ter Haseborg und Melanie Bergermann: „Die Wirecard Story. Die Geschichte einer Milliarden-Lüge“,
FinanzBuch Verlag, München 2020, 272 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-95972-415-9

Der Fall Wirecard – Banden und Komplizen im digitalen Kapitalismus

Der Fall Wirecard bietet genügend Stoff für nicht nur einen Krimi. Die meisten Medienberichte fokussieren sich deshalb auf das betrügerische Verhalten der beiden Spitzenmanager Markus Braun und Jan Marsalek. Der eine sitzt seit Monaten in Untersuchungshaft, der andere steht als einer der meistgesuchten Verbrecher Europas auf internationalen Fahndungslisten.

Diese dominierende individualisierende Perspektive lenkt jedoch von strukturellen Faktoren ab, die überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schufen, dass der Konzern mutmaßlich über viele Jahre seine Bilanzen in gigantischem Ausmaß frisieren konnte, um sich gegenüber Banken und Investoren finanzstärker und attraktiver präsentieren zu können, als er es jemals war.

Es muss aber vor allem das gesellschaftliche und politische Umfeld untersucht werden, um kriminelles Verhalten in der Wirtschaft analysieren zu können. Wie verhalten sich Staat, Politik, Kapital und gesellschaftliche Gruppen zueinander? Wie ist es letztlich möglich, dass die Staatsanwaltschaft München I erst im Sommer 2020, fünf Jahre nachdem die Londoner Financial Times bereits Betrugsvorwürfe gegen Wirecard vorgebracht hatte, im Vorstandsvorsitzenden Markus Braun den „Kopf einer hierarchisch organisierten Bande“ erkannte, dem inzwischen „gewerbsmäßiger Betrug“ zur Last gelegt wird? (FAZ vom 13. Dezember 2020

„Wir haben es mit einem klaren Fall von Markt- und Staatsversagen zu tun.“ So lautet eine beliebte Antwort auf diese Frage. Das „Versagen“ eines Staates muss sich aber an dem messen lassen, was als „normal“ oder „erfolgreich“ gilt. Nach der statistischen Norm sind illegale Aktionen aufseiten von Unternehmen durchaus an der Tagesordnung. [1] Wann also beginnt das „Staatsversagen“? Offensichtlich erst dann, wenn der Öffentlichkeit klar wird, welch gigantischen Ausmaß der Betrug eines Unternehmens angenommen hat. Bis dahin verläuft alles ganz „normal“ unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. Wesentliche Faktoren dieser die Wirtschaftskriminalität ermöglichende oder begünstigende Normalität lassen sich am Beispiel Wirecard benennen.

 

Fehlende externe und interne Kontrolle

Auf rein legalem Weg wäre der Wachstumskurs von Wirecard nicht möglich gewesen. Bereits als Start-up setzte das Unternehmen ab den 2000er Jahren auf die Zahlungsabwicklung im Pornogeschäft und beim Online-Glücksspiel, bewegte sich damit schon früh im Umfeld krimineller Milieus. Dennoch schauten die staatlichen Behörden in den folgenden Jahren weitgehend weg. Dem zunehmend global agierenden deutschen FinTech-Unternehmen sollten offensichtlich auf seiner Erfolgsspur keine Steine in den Weg gelegt werden. Mit wichtigen Kontrollmaßnahmen betraute öffentliche Institutionen spielten darum im Fall Wirecard eine schlicht erbärmliche Rolle: vor allem die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und die Abschlussprüferaufsichtsstelle (APAS).

So soll etwa die dem Bundesfinanzminister unterstehende BaFin überwachen, ob sich Unternehmen gesetzeskonform verhalten, damit Geldwäsche, Anlagebetrug, Insiderhandel und Marktmanipulation verhindert werden können. Die Behörde war auch für Wirecard zuständig, allerdings nur für die hauseigene Bank. Sie versagte nach einhelliger Meinung der meisten Analysten vollständig. Denn zum einen blieb der weitaus größte Teil des Unternehmens außerhalb des Radars der externen Prüfer. Zum anderen sprach die BaFin Anfang 2019 ein Verbot für alle Leerverkäufe von Wirecard-Aktien aus. Sie stoppte damit Wetten auf Kursverluste – was von „den Märkten“ als Vertrauensbeweis für den Konzern gewertet wurde – und täuschte so potenzielle Anleger. Zudem stellte sich die BaFin vor den Skandal-Konzern, indem sie Strafanzeigen gegen kritische Journalisten stellte und damit den Eindruck erweckte, deren Enthüllungen seien haltlos. Als besonders pikant erwies sich die Meldung, dass BaFin-Mitarbeiter, die mit der Prüfung des Dax-Unternehmens betraut waren, offenbar ihr Insiderwissen nutzten, um privat mit deren Aktien zu handeln.

Auch die Wirtschaftsprüferaufsicht APAS geriet in die Kritik, weil ihr Leiter im Frühjahr 2020, als die APAS bereits im Fall Wirecard ermittelte, privat mit Wirecard-Aktien spekuliert hatte. Dies musste er später vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages einräumen. Erst im Sommer 2020 leitete die Behörde ein förmliches Verfahren gegen die Wirtschaftsprüfergesellschaft EY ein, lange nachdem EY selbst im öffentlichen Kreuzfeuer der Kritik stand.

Das Wirtschaftsprüferunternehmen EY, einer der „Big Four“ der Branche, prüfte von 2009 bis 2020 die Jahresabschlüsse und Bilanzen. Es bestand also eine große Nähe zum Konzern. Dass die Prüfer selbst 2019, als die kritischen Stimmen zu Unregelmäßigkeiten bei Wirecard nicht mehr zu überhören waren, das gewünschte Testat ohne Bedenken ausstellten, wundert daher nicht. Die Wirtschaftsprüfung ist zudem „oft nur die Eintrittskarte zu den lukrativen Geschäftsfeldern: Managementberatung, Steuerstrategien, Anlagemöglichkeiten“, wie es in einer ZDF-Reportage heißt. Der Beratungsanteil habe sich bei den großen Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaften in den letzten zehn Jahren stetig erhöht. Da bislang eine strikte Trennung von Beratung und Prüfung fehlt und die Unternehmen die privaten Prüfungsunternehmen als Auftraggeber bezahlen, scheint wegen der Interessenkollision eine objektive Prüfung der Bilanzen kaum möglich.

Der Aufsichtsrat bildete ebenfalls einen Teil des „Kontrollversagens“. Für die Überwachung des operativen Geschäfts des Dax-Unternehmens war er mit sechs Personen zu klein und der Vorsitzende Wulf Matthias viel zu lang im Amt, um unabhängig sein zu können. Er leitete das Kontrollgremium von 2008 bis Januar 2020. Kritische Stimmen verweisen auf die engen freundschaftlichen Verbindungen aller Mitglieder des Aufsichtsrats mit dem Management. Einige verfügten offensichtlich über keinerlei Erfahrung mit der Beaufsichtigung eines großen Unternehmens. Einen im Rahmen des Aufsichtsrats arbeitenden Prüfungsausschuss, in Dax-Konzernen eigentlich Standard, gab es nicht. Ein solcher hätte, mit Bilanzexpertise ausgestattet, eng mit den Wirtschaftsprüfern zusammenarbeiten müssen.

 

Opportunistische Wirtschaftspresse

Besonders fatal war, dass auch der größte Teil der deutschen Wirtschaftspresse darauf verzichtete, den von britischen Reportern und Börsenprofis aufgedeckten Betrügereien nachzugehen. So wurde Wirecard-Chef Braun noch Ende 2018 vom Handelsblatt als „Aufsteiger des Jahres“ gefeiert. Im Herbst desselben Jahres kommentierte die FAZ ehrfurchtsvoll die positive Geschäftsentwicklung unter dem Titel „Wirecard – eine Ermutigung“ (FAZ vom 31. August 2018). Eine Ausnahme im medialen Mainstream bildete die Redaktion des Magazins WirtschaftsWoche, welches sich, nachdem die Londoner Financial Times bereits umfängliche Aufklärung betrieben hatte, ebenfalls mit kritischen Beiträgen profilieren konnte. „Das ist definitiv ein Image-GAU für die deutsche Wirtschaftspresse“, stellte Beat Balzli, Chefredakteur der Zeitschrift, gegenüber ZDF-Redakteuren gelassen fest. Er erkannte „eine Art Paktieren der Wirtschaftspresse mit der Wirecard“, denn einen Börsenstar „runterzuschreiben“ sei offenbar vielen zu riskant gewesen. [2]

 

Unternehmenskultur

Nach Aussagen von Mitarbeitenden wurde das Unternehmen von Markus Braun, seit 2002 Boss von Wirecard, sowie den drei anderen Vorständen streng hierarchisch geführt. Corpsgeist und Treueschwüre gegenüber ihm als Führungsperson seien offenbar wichtig gewesen, wie die Münchner Staatsanwaltschaft feststellte. Nach Recherchen des Handelsblatts wussten im Unternehmen offensichtlich viele Angestellte von den betrügerischen Machenschaften oder ahnten zumindest davon. Kaum überraschend – es gab weder einen Betriebsrat noch eine Mitbestimmung auf Unternehmensebene.

Auch Aktionäre wandten sich auf Hauptversammlungen zumeist vehement gegen kritische Stimmen. Sie störten sich weniger an der fehlenden Transparenz des Geschäftsmodells, sondern ließen sich von der Bilderbuchgeschichte des kometenhaften Aufstiegs eines ehemaligen Start-up-Unternehmens blenden. Kritiker galten dagegen als Nestbeschmutzer. Die Vizepräsidentin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, Daniela Bergdolt, hatte etwa im Mai 2019 auf der Hauptversammlung des Konzerns ihre Skepsis am Geschäftsmodell (nicht nachvollziehbare hohe Gewinne) geäußert – und als Reaktion wütende Aktionäre erlebt, die ihr vorwarfen, das angeblich tolle Unternehmen schlechtzureden. [3]

Anleger investierten bei Wirecard noch bis kurz vor dessen Absturz. Der US-amerikanische Finanzinvestor Apollo bot Wirecard noch am 17. Juni 2020 an, bis zu einer Milliarde Euro zu investieren – nur acht Tage vor dessen Insolvenz (Der Spiegel vom 23. Januar 2021). Auch der sportlich ruhmreiche FC Bayern München entging nach einer Recherche von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR offenbar nur knapp einem Debakel. Im vergangenen Jahr stand das Management des Vereins kurz davor, eine Partnerschaft mit Wirecard einzugehen. Das Unternehmen sollte ab Juli 2020 jährlich einen Sponsoringbetrag von sieben Millionen Euro an den Münchener Klub zahlen. Noch am 10. Juni 2020 schrieb das verantwortliche Vorstandsmitglied des Fußballklubs per E-Mail an die Firmenzentrale des Finanzdienstleisters, dass sich der Verein auf die „Partnerschaft mit Wirecard“ freue (Die Welt vom 9. Februar 2021). Dabei hatten die Wirtschaftsprüfer der Firma KPMG bereits Ende April 2020 in einem Sondergutachten eine vernichtende Bewertung der Geschäftspolitik von Wirecard vorgelegt.

 

Nähe zur geheimdienstlichen Halbwelt…

Nach ZDF-Informationen könnte Marsalek als Zahlungskurier für verschiedene Geheimdienste im Einsatz gewesen sein und ihnen Kreditkarten zur Verfügung gestellt haben. Auch geostrategische Aspekte spielen eine Rolle: „In der Tat ist eine Firma wie Wirecard für Geheimdienste interessant: Laufen doch über Zahlungsabwickler Geldströme in alle Teile der Welt: Israelis wollen wissen, wohin der Iran seine Gelder lenkt. Amerikaner wollen wissen, wohin die Russen und die Chinesen Geld überweisen.“ [4]

Fabio de Masi, für die Partei Die Linke Mitglied des Wirecard-Untersuchungsauschusses, kann sich sogar vorstellen, dass Geheimdienste Marsalek frühzeitig in das Unternehmen gesetzt haben könnten, um an „spannende Informationen“ zu kommen und Aktivitäten der Nachrichtendienste zu verschleiern. Im Gegenzug hätte sich das Unternehmen „die Taschen vollmachen“ können. [5]

Geheimdienste, so berichteten Medien, hätten sicher Interesse an Informationen des Finanzdienstleisters gehabt, um personalisierte Geldbewegungen zur Aufdeckung von Geldwäsche-Aktivitäten krimineller Gruppierungen oder Einzelpersonen auswerten zu können. Wirecard – selber als Dienstleister entsprechender Milieus agierend und direkt an deren Aktivitäten beteiligt – könnte demnach staatlichen Behörden bei der Bekämpfung von Geldwäsche geholfen haben. Paradox ist dabei, dass das Unternehmen im Zuge seiner Geschäfte in der Porno- und Glücksspielbranche verbotene Zahlungen abwickelte, die vermutlich selbst dem Delikt der Geldwäsche entsprechen.

 

…und zur organisierten Kriminalität

Missliebige Kritiker wurden zum Teil mit Mafia-Methoden unter Druck gesetzt. Der britische Börsenexperte und Shortseller Fraser Perring hatte bereits im Jahr 2016 betrügerische Machenschaften von Wirecard enthüllt. Er warf deshalb Marsalek vor, kriminelle Aktionen gegen ihn und andere gesteuert zu haben. Bei Perring wurde beispielsweise eingebrochen, seine Krankenakte gehackt und ins Internet gestellt. Er fühlte sich massiv verfolgt und bedroht. [6] Ähnlich erging es dem Reporter von Financial Times, Dan McCrum. Wirecard warf kritischen Journalisten regelmäßig Betrug und Lüge vor. Sie würden gemeinsame Sache mit Shortsellern machen, mit ihren kritischen Berichten den Börsenwert des Unternehmens „nach unten schreiben“ und damit den Aktienpreis manipulieren. 

Erhärten sich die derzeit von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Anschuldigungen gegen die Manager von Wirecard, kann das Unternehmen ohne weiteres als Teil der organisierten Kriminalität  betrachtet werden. Denn nach der offiziellen deutschen Definition handelt sich bei organisierter Kriminalität (oK) um „die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, (…) wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Zeit arbeitsteilig a) unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder c) unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentlicher Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken“. [7]

 

„Privilegierte Komplizenschaft“ das politische Netzwerk

Tatsächlich verfügten die beiden Spitzenleute von Wirecard, Markus Braun und Jan Marsalek, über ausgezeichnete informelle und formelle Kontakte in die Politik Österreichs und Deutschlands. Es wurden von Beginn an aber auch intensive Beziehungen zur „Halbwelt“, gepflegt. Durch seinen Sitz im Beirat der „Denkfabrik“ des Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) hatte CEO Braun einen unmittelbaren Zugang zur österreichischen Regierung. Auch Marsalek stammt aus Wien, gilt als undurchsichtige Figur mit guten Kontakten in die rechte Szene Österreichs (z. B. zur FPÖ) und stand mutmaßlich mit mehreren Geheimdiensten in Verbindung. [8]

Im August 2019 setzte sich der ehemalige deutsche Verteidigungsminister und heutige Unternehmensberater Karl-Theodor zu Guttenberg bei Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür ein, das China-Geschäft des Unternehmens zu unterstützen. Merkel warb tatsächlich bei einer Chinareise für Wirecard, betonte später aber, dass sie damals keine Kenntnis von möglichen Betrügereien des Unternehmens gehabt habe. Zu diesem Zeitpunkt waren die Vorwürfe gegen den Konzern allerdings bereits seit vielen Monaten öffentlich bekannt.

Einen persönlichen Kontakt gab es auch zu Staatssekretär Jörg Kukies, Leiter des Verwaltungsrats der BaFin und enger Mitarbeiter von Finanzminister Scholz. Am 5. November 2019 trafen sich Kukies und Markus Braun zu einem Gespräch am Firmensitz von Wirecard, „ohne Zeugen, ohne Protokoll. In einer Phase, in der Prüfer der KPMG bereits Unregelmäßigkeiten festgestellt haben“, wie es in der ZDF-Doku vom 14. Januar 2021 hieß. 

Formelle und informelle Verbindungen von Großunternehmen und herrschender Politik und die intensive Verflechtung von staatlichen, wirtschaftlichen, legalen und illegalen Strukturen werden deshalb gern als „privilegierte Komplizenschaft“ (Theodor W. Adorno) bezeichnet.

 

Fehlende Unterscheidbarkeit

Der Fall Wirecard zeigt anschaulich, wie die Grenzen zwischen legalen und illegalen Praktiken – vor allem bei global tätigen Konzernen – zerfließen. Dauerhaft kriminell agierende Wirtschaftsunternehmen lassen sich von Mafia-Organisationen kaum mehr unterscheiden. Wirecard verfolgte ein nach außen sichtbares legales Kerngeschäft und kombinierte es mit illegalen bzw. rein erfundenen Geschäften. [9] Auch Mafia-Gruppen verknüpfen illegale und legale Geschäftsaktivitäten, indem sie kriminell erwirtschaftete Gewinne in den legalen Wirtschaftskreislauf einschleusen (Geldwäsche). Gewinn und Beute werden so ununterscheidbar. Eine Ironie der Geschichte ist, dass neben der Berichterstattung der Financial Times ausgerechnet die Analysen britischer und US-amerikanischer Shortseller das kriminelle Vorgehen von Wirecard erst publik machten. In Deutschland sind die Shortseller, die auf sinkende Aktienkurse wetten, dennoch weithin verrufen. So wurden sie auch von der staatlichen Aufsichtsbehörde BaFin unter Beschuss genommen, um den digitalen Champion aus Aschheim bei München zu schützen.

 

Fazit

Der Rechts- und Staatswissenschaftler Wolfgang Hetzer stellte schon vor einigen Jahren die Frage, ob sich die oK nicht als „Wirtschaftsform“ und „politisches Prinzip“ längst etabliert habe. [10] Das Konstrukt Wirecard spricht dafür. Es hielt so lange, wie unterschiedliche Interessengruppen glaubten, davon profitieren zu können. Die ehemalige Konzernspitze konnte sich deshalb als Gangsterbande aufführen, setzte sich offensichtlich ohne große Widerstände und über viele Jahre gegen alle rechtsstaatlichen Mechanismen durch und steht unter Verdacht, sogar Gewalt gegen ihre Kritiker eingesetzt zu haben.

Die Hoffnung, dass die Politik dem Bandenwesen im digitalen Kapitalismus entschieden entgegentritt, ist dagegen gering. Aus industriepolitischen Gründen stellten sich die zuständigen Behörden vor das Unternehmen. Denn das Bekanntwerden des „bandenmäßigen Betrugs“ hätte schon frühzeitig einen Vertrauensverlust für den Finanzplatz Deutschland bedeutet. Und von politischen Vertretern wie Finanzminister Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, sollte ohnehin nicht allzu viel erwartet werden. Schließlich spielte er selber als Erster Bürgermeister Hamburgs im Cum-Ex-Skandal eine unrühmliche Rolle. Kritiker werfen ihm vor, mitverantwortlich dafür zu sein, dass sich eine stadtbekannte Bank Millionenbeträge auf Kosten der Steuerzahler erschleichen konnte.

Anmerkungen:

[1] So wurden zum Beispiel Schmiergeldzahlungen an Entscheidungsträger im Ausland bis 1999 vom deutschen Staat gedeckt. Da ihnen ein volkswirtschaftlicher Nutzen zugesprochen wurde, konnten sie von der Steuer abgesetzt werden. (vgl. BIG-Beilage in „Stichwort Bayer“ 1/2021)

[2] ZDFinfo Doku „Wirecard – Game Over, Geldgier, Größenwahn und dunkle Geheimnisse“ von Volker Wasmuth und Patrick Zeilhofer, 14. Januar 2021

[3] „Podcast Handelsblatt Crime: Der Fall Wirecard – Folge 4: Kritik wurde im Keim erstickt“ von Ina Karabasz und Felix Holtermann, 16. September 2020

[4] Volker ter Haseborg/Melanie Bergermann: Die Wirecard-Story. Die Geschichte einer Milliarden-Lüge, München, 2021, Seite 185

 [5] ZDFinfo Doku, 14. Januar 2021

 [6] ebd.

 [7] Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2019, hrsg. vom Bundeskriminalamt (BKA), Seite 11

[8] „Podcast Handelsblatt Crime: Der Fall Wirecard – Folge 2: Die Männer hinter Wirecard – Markus Braun und Jan Marsalek“ von Ina Karabasz und Felix Holtermann, 2. September 2020 

[9] So betrug der Teil des Umsatzes, der auf fiktiven Kundenbeziehungen basierte, im Jahr 2019 etwa 1,07 Milliarden Euro ‒ der offizielle Gesamtumsatz lag bei rund 2,77 Milliarden Euro. (vgl. Handelsblatt vom 2. Dezember 2020)

[10] Wolfgang Hetzer: „Finanzindustrie oder Organisierte Kriminalität?“, ApuZ, 38-39/2013, Seite 27

Kapital und Verbrechen

Man kann heute kaum mehr eine Tageszeitung aufschlagen, ohne nicht wenigstens im Wirtschaftsteil einen Artikel oder eine Nachricht über einen Fall von Wirtschaftskriminalität zu finden. Ab einer gewissen Skandalgröße schaffen sie es auf die vorderen Seiten, und wenn es um Verstrickungen mit politischen oder staatlichen Sphären geht, auch schon mal auf die Titelseite. Woran liegt es, dass die Zahl und Schwere der Fälle von Wirtschaftskriminalität – national wie international gesehen – zuzunehmen scheint? Oder ist das nur ein Ergebnis der wachsenden Berichtsdichte in Zeiten von Internet und globaler Vernetzung?

Psychologische Erklärungen wie etwa die in der „Finanzkrise“ 2008 ff. beliebt gewordene These, die unersättliche Gier der Unternehmer und Banker sei schuld an allem – neuerdings zum Beispiel an den betrügerischen Cum/Ex-Geschäften – tragen nicht sehr weit. Denn was ist mit der Psyche der Betreffenden passiert, dass sie jetzt plötzlich mehr hinter dem Geld her sein sollen als früher, und dabei zu unlauteren Praktiken greifen? Realistischer erscheint da schon die alte Spruchweisheit: Gelegenheit macht Diebe.

Um welche Gelegenheiten geht es dabei? Da ist einmal die seit der Dominanz des Neoliberalismus schwächer gewordene staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens samt ihren juristischen Normen. Wenn der Markt es richten soll, wird nicht nur, meist vergeblich, auf dessen vielbeschworene „Selbstheilungskräfte“ vertraut, sondern es kann auch veritabler Wildwuchs entstehen. Im Dschungel der härter werdenden Konkurrenz aller gegen alle gedeiht dann das, was „Raubtierkapitalismus“ genannt wird, um vom Kapitalismus als System nicht sprechen zu müssen. Das Darwinsche Prinzip des „survival of the fittest“ wird nun als Überleben des Brutalsten verstanden, der sich an möglichst wenig Regeln hält, um siegen zu können.

Eine andere Bedingung für das Aufblühen krimineller Ökonomie ist die immer größere Rolle, welche die Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft spielt. Mit Begriffen wie „Finanzialisierung“ oder „finanzmarktgetriebener Kapitalismus“ wird diese Entwicklung zu erfassen versucht. Scheinbar ist die Finanzsphäre inzwischen von der Produktionssphäre abgekoppelt. In ihr wird Kapital nicht mehr in erster Linie durch die Ausbeutung von Arbeitskraft und das Herstellen realer Produkte verwertet, sondern durch Geldverleih gegen Zinsen, Aktienkäufe, bestimmte Dienstleistungen und spekulative Geschäfte aller Art. Von jeher ist damit ein Odium des unehrlich bloß „Raffenden“ gegenüber dem ehrlich „Schaffenden“ verbunden. Hier setzt die Lehre von „zweierlei Kapital“ an, die Unterscheidung des guten Produktivkapitals vom bösen Finanzkapital, auf die sich auch Verschwörungslegenden wie die antisemitische beziehen.

Es ist dies die Sphäre, in der nach Marx die „Kapitalmystifikation in ihrer grellsten Form“ erscheint, weil Geld sich hier scheinbar aus sich selbst bzw. wie von selbst generiert und vermehrt. Eine gute Gelegenheit also für das Vorspiegeln falscher Tatsachen, für das Täuschen und Zocken, das Übervorteilen und Betrügen. Marx beschreibt das wie folgt: Es entstehe „eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektemachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel“ 1).

Wie ausgedehnt und mächtig die Finanzwirtschaft inzwischen geworden ist, hätte sich Marx allerdings nicht denken können oder träumen lassen. Eine Voraussetzung dafür ist die Überakkumulation von Kapital, das keine produktiven Anlagemöglichkeiten mehr findet und auch nicht mittels höherer Besteuerung einer sinnvollen Verwendung für das Gemeinwohl zugeführt wird.

Warum geschieht letzteres nicht oder warum wäre das so schwer zu machen? Dazu hat der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer 1996 vor Staatsmännern aus aller Welt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt: „Ich habe bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden.“ 2)

Inzwischen kommt im Finanzbereich noch die Digitalisierung hinzu, die alle Prozesse beschleunigt, zum Beispiel die Spekulation im „Sekundentrading“. Sie erleichtert auch den Betrug –  siehe den Fall Wirecard. Die mit der Digitalisierung verbundene weitergehende Abstraktion vom Konkreten bringt es mit sich, dass ein fingiertes Milliarden-Guthaben auf einem philippinischen Konto bei laxer Überprüfung jahrelang als existent durchzugehen vermag.

Auch wenn es immer um das reale Handeln realer Menschen geht, die dafür verantwortlich gemacht werden können und müssen: Stark bestimmt wird ihr Handeln durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Erwartungen ihres Umfelds, den Verwertungsdrang und Wachstumszwang des Kapitals, dem sie als Unternehmer gerecht werden müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Statt den „absoluten Bereicherungstrieb“ von Unternehmern zur Erklärung von Normverstößen heranzuziehen, den er einfach voraussetzt, spricht Marx lieber vom „Trieb der kapitalistischen Produktion“, alle Grenzen zu überschreiten, wenn sie ihr nicht mit genügend Macht und Nachdruck aufgeherrscht werden. Im „Kapital“ bringt er dazu – in griffiger Übersetzung – eine Passage aus einem Buch des englischen Gewerkschaftsfunktionärs J.T. Dunning von 1860, der sich seinerseits auf eine Zeitschrift bezieht, in der die noch heute gern angeführte These vertreten wird, das Kapital sei ein scheues Reh, das man nicht verschrecken solle: „Kapital, sagt der Quarterly Reviewer, flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“ 3)

Diese oft zitierte Stelle bedeutet einerseits, dass die Kapitalverwertung, die Profitmacherei zunächst nicht per se kriminell ist. Sie folgt dem Prinzip des gleichen und zugleich ungleichen Tauschs Arbeitskraft gegen Lohn, aus dem sich der Mehrwert als Differenz zwischen dem Wert der Arbeitsleistung und dem Wert der Arbeitskraft (= Lohn) ergibt. Bei der Aneignung des Mehrwerts oder Gewinns durch Unternehmer und Aktionäre handelt es sich also nicht um einen Betrug, sondern um eine Folge der strukturellen Ungleichheit von Kapital und Arbeit und des Widerspruchs zwischen beiden.

Die weiteren Mechanismen der Kapitalverwertung, das Streben nach Höchstprofit „bei Strafe des Untergangs“ 4), das Verdrängen anderer aus dem Markt und ihre feindliche Übernahme, bringen eine heftigere Versuchung mit sich, sich dabei auch illegaler Methoden zu bedienen, wenn nicht hingeschaut wird. Die Abgasmanipulationen der deutschen Automobilindustrie sind dafür das beste Beispiel. Von Machenschaften, die im ethischen oder moralischen Sinn illegitim, also verwerflich sind, aber (noch) nicht gesetzlich verboten, ganz zu schweigen.

Wirtschaftskriminalität als gesondertes Delikt zu skandalisieren und zu verfolgen ist deshalb möglich und notwendig. Wenn dabei jedoch nicht über ihre systemischen Hintergründe aufgeklärt wird, bleibt es beim nicht sehr nachhaltigen Personalisieren und Moralisieren von Schuld oder bei der Suche nach Sündenböcken und Bauernopfern. Der Fall Wirecard und seine Verarbeitung in den Medien als spannende Kriminalstory und „größter Bilanzskandal in der Geschichte der Bundesrepublik“ bietet dafür wieder einmal Anschauungsmaterial. Aber eins sollte klar sein: Wer „bandenmäßigen Betrug“ begangen hat, wie laut Staatsanwaltschaft die Chefs von Wirecard, wer damit „eine moderne Version der Mafia“ begründet hat, wie der „Spiegel“ 5) titelte, hat das Gefängnis verdient.

 

Anmerkungen:

1) Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 4

2) Zit. nach Heinz-J. Bontrup: „Wirtschafts-Macht“, in Ossietzky Nr. 3/2021, Seite 80

3) Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, Seite 788

4) Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 255

5) „Inside Wirecard – ‚Eine moderne Version der Mafia‘“. Titelblatt des „Spiegel“ Nr. 6/2021

Reiner Diederich
war bis 2006 Professor für Soziologie und Politische Ökonomie an der FH Frankfurt am Main. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2021 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

 

Keine Gewerkschaftsvertretung bei Amazon in den USA

Beschäftigte des Online-Versandhändlers Amazon haben sich in einer mit Spannung erwarteten Abstimmung mehrheitlich gegen die Einführung einer Gewerkschaftsvertretung ausgesprochen. Abgestimmt wurde unter den Angestellten eines Logistikzentrums in Bessemer im US-Bundesstaat Alabama. Es hätte die erste Arbeitnehmervertretung in der mittlerweile 26-jährigen Unternehmensgeschichte werden können. Die Handelsgewerkschaft RWDSU (Retail, Wholesale and Department Store Union) kündigte an, das Ergebnis anzufechten. Amazon ist weltweit wegen schlechter Arbeitsbedingungen und der Verhinderung der gewerkschaftlichen Organisierung von Mitarbeiter*innen in der Kritik. In den USA beschäftigt der Konzern etwa 950.000 Menschen, weltweit fast 1,3 Millionen Voll- und Teilzeitkräfte. Nach Medienberichten sprachen sich 738 Beschäftigte für die Gewerkschaftsvertretung aus, 1.798 stimmten dagegen. Etwas mehr als 55 Prozent der rund 6.000 Angestellten des Logistikzentrums hatten sich an der Briefwahl beteiligt. (Neues Deutschland vom 11. April 2021)

Das Neue Deutschland kritisiert die Gewerkschaftsstrategie:

„Der Kampf der mit 100.000 Mitgliedern vergleichsweise kleinen Handelsgewerkschaft RWDSU für das Recht auf gewerkschaftliche Vertretung beim zweitgrößten Arbeitgeber der USA hatte nicht nur ein enormes landesweites Medieninteresse ausgelöst. Er hat auch Hoffnungen befeuert, die über 25 Jahre andauernde gewerkschaftliche Bedeutungslosigkeit bei Amazon beenden zu können. (…) Dass Amazon Millionen in eine Anti-Gewerkschaftskampagne investiert hat, steht außer Frage. Ebenso bekannt ist, dass Beschäftigte mit allerlei Methoden direkt und indirekt unter Druck gesetzt wurden. Doch mit dem alleinigen Verweis auf das sogenannte Union-Busting macht es sich die Gewerkschaft zu einfach. Nicht nur, weil viele von Amazons Maßnahmen in den USA weder verboten sind noch unerwartet waren. Vor allem verstellt die Kritik den Blick auf die strategischen Fehler der Gewerkschaft.“

Die RWDSU, so setzt das Neue Deutschland fort, hätte von Beginn an auf eine klassische Top-down-Kampagne gesetzt. Die Kommunikation mit den Beschäftigten sei vor allem vor dem Logistikzentrum oder über die Medien gelaufen. Entschieden worden sei die Angelegenheit aber unmittelbar im Logistikzentrum, wo Amazon das Kommando habe. Amazon zahle derzeit einen Stundenlohn von 15,30 US-Dollar – mehr als das Doppelte des in Alabama gültigen nationalen Mindestlohns von 7,25 US-Dollar. „Natürlich ist die Arbeit bei Amazon anstrengend, es fehlen Pausenzeiten, um auf die Toilette zu gehen und der Druck, die durch Algorithmen kontrollierten Leistungsvorgaben zu erfüllen, ist enorm. Doch dass die Stimme für die Gewerkschaft daran etwas ändert, ist zunächst nur ein Versprechen. Gerade um Beschäftigte ohne Bezug zu Gewerkschaften zu überzeugen, reicht es nicht, sie am Autofenster vor oder nach der Arbeit anzusprechen. (…) Dass sich lediglich 16 Prozent der 6000 Beschäftigten in Bessemer für die Gewerkschaft ausgesprochen haben, sollte anregen, die Bedeutung von PR-Kampagnen und gewerkschaftsfreundlicher Medienberichterstattung nicht zu überschätzen. Gewerkschaften müssen wieder stärker in die Lebensrealität jener Menschen eintauchen, die sie vertreten wollen.“ (Neues Deutschland vom 11. April 2021)

Die Kritik wird in einem weiteren Kommentar der Zeitung fortgesetzt:

„Die Gewerkschaft selbst hat Fehler gemacht. Man versuchte die anfängliche Empörung über fehlenden Arbeitsschutz in der Corona-Pandemie zu nutzen, um innerhalb nur eines Jahres ‚schnell‘ die Gewerkschaft zu etablieren. Das Abstimmungsergebnis zeigt: Die Gewerkschaft ist vor Ort und bei den Beschäftigten nicht genug sozial verankert, ihr wurde nicht vertraut oder zugetraut, Verbesserungen zu bringen. Sie hat zudem handwerkliche Fehler gemacht, etwa den Verzicht auf persönliche Haustürbesuche bei Arbeitern trotz Pandemie – die sind möglich und nötig. Vertrauen lässt sich nicht mit einem kurzen Flyer-Zustecken von hauptamtlichen Gewerkschaftsmitarbeitern vor dem Werkstor unter den Augen der Überwachungskameras von Amazon oder hastig in Autofenster hinein gesprochene Kurzansprachen aufbauen.“ (Neues Deutschland vom 12. April 2021)

Das wirtschaftsliberale Handelsblatt nimmt das Vorgehen Amazons aufs Korn:

„Die Gewerkschaft beschuldigte Amazon bereits, ‚illegal‘ Einfluss auf die Abstimmung genommen zu haben und kündigte energischen Widerstand an. Beobachter halten ein langwieriges rechtliches Nachspiel für möglich. Amazon hatte schon vor der Wahl mit aller Kraft versucht, das Votum zu verzögern, war jedoch mit einem Einspruch bei der Arbeitnehmerschutzbehörde NLRB gescheitert. (…) Auch wenn Amazon sich gegen die RWDSU zunächst durchsetzen konnte, verlief der Wahlkampf in vielerlei Hinsicht peinlich für den Konzern. So musste Amazon nach einer hitzigen Twitter-Auseinandersetzung mit einem US-Abgeordneten zugeben, dass Lieferfahrer mitunter keine Toiletten fänden und somit erstmals Berichte bestätigen, wonach Mitarbeiter unter hohem Zeitdruck und Arbeitsstress in Flaschen urinieren. Dass dies zunächst über einen offiziellen Twitter-Account abgestritten wurde, sei ein ‚Eigentor‘ gewesen, räumte Amazon ein.“

Quellen:

Jörn Böwe/Johannes Schulten: „Amazon in den USA: Promi-Beifall reicht nicht“, Neues Deutschland (Online vom 11. April 2021)

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150608.bessemer-in-alabama-amazon-in-den-usa-promi-beifall-reicht-nicht.html

Moritz Wichmann: „Eine Schlacht verloren“, Neues Deutschland vom 12. April 2021 (Online vom 10. April 2021)

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150599.amazon-eine-schlacht-verloren.html?sstr=Schlacht

„Amazon-Mitarbeiter in den USA stimmen gegen Gewerkschaftsgründung“, Handelsblatt vom 9. April 2021

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/arbeitsbedingungen-amazon-mitarbeiter-in-den-usa-stimmen-gegen-gewerkschaftsgruendung/27082670.html&ticket=ST-278989-ezonPMgSiTG2JN4vIhOy-ap1?ticket=ST-279082-YbHFqDefdwtXWAKzfgkX-ap1

 

Jens Spahn und die Amigo-Wirtschaft

„Die Corona-Krise ist ein Eldorado für die klassische Klüngel- oder Amigo-Wirtschaft“, stellte jüngst der Journalist Wolfgang Michal in der Wochenzeitung der Freitag fest. Eine wichtige Voraussetzung dafür sieht er darin, dass die Erteilung von öffentlichen Aufträgen bei Ereignissen, die der Staat nicht voraussehen kann, laut Vergabeverordnung völlig intransparent ablaufen darf – etwa bei einer pandemiebedingten Beschaffung von Masken, Schutzkleidung und Beatmungsgeräten. „Mit diesem Freibrief genehmigt sich der Staat die Erlaubnis, alle bis dahin hochgehaltenen Wettbewerbsregeln außer Kraft zu setzen und Leistungen völlig unkontrolliert zu jeder Bedingung und zu jedem Preis einkaufen zu können.“ (Freitag vom 4. März 2021)

In den letzten Wochen geriet vor allem Jens Spahn (CDU) in die öffentliche Kritik – zum einen, weil er in seiner Funktion als Gesundheitsminister die Notlage der Pandemie zu umstrittenen Deals genutzt hat. Und zum anderen wurden private Immobiliengeschäfte bekannt, die den Verdacht nahelegten, er könne Berufliches und Privates vermischt haben. So soll der Medienkonzern Burda einen Direktauftrag zur Lieferung von Masken erhalten haben. Bemerkenswert ist dabei, dass der Ehemann von Spahn, Daniel Funke, als Lobbyist für Burda in Berlin arbeitet. Der Schauspieler Marcus Mittermeier frotzelte auf Twitter:„Deutschland hat einfach Pech, dass Spahn nicht jemand von Biontech* geheiratet hat.“ (Frankfurter Rundschau vom 23. März 2021)

Der Leitartikler der Frankfurter Rundschau nimmt die „Wirtschaftsnähe“ von Unionspolitikern generell aufs Korn:

„Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war vielfach überfordert damit, die Maßnahmen in der Corona-Pandemie aus eigener Kraft zu organisieren. In der Not gibt sich der Charakter eine Blöße. Heißt bei Jens Spahn: Er vertraute nicht seinem Ministerium oder den zugeordneten Instituten und ihren Fachleuten. Er dachte zuerst an die Kumpels in Konzernen. Automatisch fließt damit auch Geld in die freie Wirtschaft und nicht in bundeseigene Institutionen. (…) Diese Vorgehensweise selbst ist das Problem, und sie hat leider System bei Unionspolitikern – sie verhindert Kontrolle und lädt zur Korruption ein. Schon bei der Corona-App hat Jens Spahn nach langem Zögern sehr viele Millionen aufgewendet und führende deutsche IT-Unternehmen damit beauftragt. Nie zu sehen war ein oberster IT-Experte des Gesundheitsministeriums – weil es ihn schlicht nicht gibt, weil es bis heute versäumt wird, eine von der Wirtschaft unabhängige, vielleicht sogar unangenehm widersprechende Kompetenz analog zum Robert-Koch-Institut aufzubauen. (…) Apropos Unabhängigkeit. Wer wurde Chef des Unternehmens, das für die Sicherheit aller Patientendaten zuständig ist? Jener Manager, der Jens Spahn zwei Jahre zuvor eine Wohnung in Berlin verkauft hat.“

Jens Spahn soll tatsächlich im Jahre 2017 von dem Pharmamanager Markus Leyck Dieken eine Wohnung in Berlin Schöneberg für rund eine Million Euro gekauft haben. Im Sommer 2019 übernahm dann Leyck Dieken die Aufgabe eines Chef-Digitalisierers im deutschen Gesundheitswesen und damit die Geschäftsführung der mehrheitlich bundeseigenen Gematik GmbH bei einem deutlich höheren Gehalt als sein Vorgänger. Öffentlich kritisiert wurde, dass Spahn damit „einen alten Freund in einen Top-Job holte“, wie der Berliner Tagesspiegel schrieb. (Tagesspiegel vom 22. Dezember 2020)

* Seit März 2020 entwickelt das Biotechnologie-Unternehmen Biontech in Kooperation mit dem US-amerikanischen Pharmakonzern Pfizer einen Covid-19 Impfstoff.

Detaillierte Informationen über den Aufstieg von Jens Spahn und den Verbindungen zwischen seinen privaten Geschäften und seiner politischen Karriere finden sich unter anderem im Nachrichtenportal t-online und bei Lobbypedia:

Jonas Mueller-Töwe: „Politisches Kapital: Wie Jens Spahn mit Politik Millionen machte“, t-online vom 29. März 2021

https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_89687398/wie-gesundheitsminister-jens-spahn-mit-politik-millionen-machte.html

https://lobbypedia.de/wiki/Jens_Spahn

 

Weitere Quellen:

Thomas Kaspar: „Union in der Corona-Krise: Überforderte Egomanen statt Expertenmeinungen“, Frankfurter Rundschau vom 22. März 2021

https://www.fr.de/meinung/kommentare/cdu-csu-andreas-scheuer-jens-spahn-corona-krise-impfstab-skandale-masken-90256889.html

Wolfgang Michal: „Jens Spahn genießt das“, der Freitag vom 4. März 2021

https://www.freitag.de/autoren/wolfgang-michal/jens-spahn-geniesst-das

Jost Mülller-Neuhof: „Wie Jens Spahn einen alten Freund in einen Top-Job holte“, Tagesspiegel vom 22. Dezember 2020

https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-wohnungskauf-fuer-980-000-euro-wie-jens-spahn-einen-alten-freund-in-einen-top-job-holte/26737118.html

Mirko Schmid: „Jens Spahn: Gesundheitsministerium soll Masken bei Firma gekauft haben, bei der sein Ehemann angestellt ist“, Frankfurter Rundschau vom 23. März 2021

https://www.fr.de/politik/jens-spahn-ehemann-daniel-funke-masken-gesundheitsministerium-burda-nuesslein-loebel-sauter-cdu-csu-90255762.html

Cum-Ex-Prozess in Wiesbaden hat begonnen

Die Verfolgung der organisierten Finanzmarktkriminalität ist weiter in Bewegung. Am 25. März 2021 wurde vor dem Landgericht Wiesbaden der Strafprozess gegen einen Steueranwalt und vier ehemalige Banker der Hypo-Vereinsbank eröffnet. Dabei wird über einen der größten Steuerskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte verhandelt. Die mutmaßlichen Täter sind angeklagt, zwischen 2006 und 2008 für einen Berliner Immobilieninvestor ein Cum-Ex-Produkt entwickelt und umgesetzt zu haben. Der Schaden für den Steuerzahler beträgt 113 Millionen Euro. Diese Summe hatte sich die Firma des Investors in Form der Kapitalertragsteuer vom Staat „erstatten“ lassen (ohne sie zuvor gezahlt zu haben). Der angeklagte Rechtsanwalt Hanno Berger war zu Prozessbeginn jedoch abwesend – hatte sich bereits vor Jahren in die Schweiz abgesetzt, im Vertrauen darauf, nicht ausgeliefert zu werden. Der Hauptangeklagte wird in der Anklageschrift als „Spiritus Rector“ der betrügerischen Geschäfte bezeichnet.

Die Taten der Angeklagten werden nicht mehr nur als Steuerhinterziehung, sondern auch als gewerbsmäßiger Bandenbetrug gewertet. Dadurch drohen bis zu zehn Jahren Haft. Auch ist jetzt eine Auslieferung von Hanno Berger durch die Schweizer Behörden möglich. Der Angeklagte steht auch in Bonn vor einem Strafprozess. Dort wird er sich wegen seines Vorgehens im Zusammenhang mit den Cum-Ex-Geschäften der Hamburger Bank M.M. Warburg verantworten müssen.

Der Cum-Ex-Skandal wird seit Jahren von mehreren Staatsanwaltschaften und Gerichten aufgearbeitet. So wurden zwei britische Aktienhändler bereits im März 2020 vom Landgericht Bonn zu Bewährungsstrafen verurteilt – damals wurden zum ersten Mal Cum-Ex-Deals als Straftat gewertet. Die Ermittlungen zu Cum-Ex werden fortgesetzt. Am 25. März 2021 ließ beispielsweise die Staatsanwaltschaft Frankfurt bei einer Razzia mehrere Wohnungen und Geschäftsräume durchsuchen.

Quellen:

René Bender/Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Cum-Ex-Prozessauftakt ohne Hauptangeklagten: ‚Hanno Berger kann und wird nicht erscheinen‘“, Handelsblatt vom 25. März 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-cum-ex-prozessauftakt-ohne-hauptangeklagten-hanno-berger-kann-und-wird-nicht-erscheinen/27039416.html

Dies.: „Oberlandesgericht Frankfurt macht Weg für Hanno Bergers Auslieferung frei“, Handelsblatt vom 12. März 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-oberlandesgericht-frankfurt-macht-weg-fuer-hanno-bergers-auslieferung-frei/27000838.html

„Prozess um Cum-Ex-Deals: Schlüsselfigur Berger bleibt fern“, Süddeutsche Zeitung vom 25. März 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanzen-wiesbaden-prozess-um-cum-ex-deals-schluesselfigur-berger-bleibt-fern-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210324-99-956068

Bernd Müller: „Bandenmäßiger Betrug“, junge Welt vom 16. März 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/398685.kapitalverbrechen-bandenm%C3%A4%C3%9Figer-betrug.html?sstr=cum%7Cex

Wie funktionieren Cum-Ex-Geschäfte? Der Deutschlandfunk und der Verein „Bürgerbewegung Finanzwende“ bieten jeweils einen kleinen Überblick:

https://www.deutschlandfunk.de/cum-ex-geschaefte-wie-das-verwirrspiel-mit-aktien.2897.de.html?dram:article_id=494671

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/

Eine Chronik zu Cum-Ex findet sich auf der Webseite der „Bürgerbewegung Finanzwende“:

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/chronik-von-cumex/

 

Die Schattenwelt der extremen Ausbeutung

„Die Ökonomie der Werkverträge und Subunternehmen spielt im postmodernen Kapitalismus eine zentrale Rolle.“ (Die modernen Wanderarbeiter*innen. Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte, Seite 83)

So sehr die deutsche Wirtschaft auf die innereuropäischen Wanderarbeiter*innen angewiesen ist, so wenig sind deren prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen öffentlich sichtbar. Anliegen der beiden Autor*innen Kathrin Birner und Stefan Dietl ist es, über die extreme Ausbeutung der Menschen aufzuklären, die vorübergehend ihre Heimatländer verlassen, um in Deutschland zu arbeiten. Das gelingt ihnen sehr gut – sie bieten auf nur 139 Seiten in konzentrierter Form einen gründlichen Einblick in die prekären Arbeitsverhältnisse der wichtigsten Branchen: der Landwirtschaft, des Pflegebereichs, der Bauwirtschaft, des Transport- und Logistiksektors, der (jüngst in den medialen Fokus gerückten) Fleischindustrie und des Sektors der industriellen Produktion.

Zunächst wird im Buch die Entwicklung der Arbeitsmigration der letzten Jahre innerhalb der EU im Kontext der EU-Osterweiterung beleuchtet. Deutlich wird, dass die Unternehmen dabei vor allem zwei Modelle prekärer Arbeit extensiv nutzen: die Entsendung, bei der die Beschäftigten offiziell bei Agenturen oder Subunternehmen eines anderen Land angestellt sind, und die Scheinselbständigkeit. Danach beschreiben die Autor*innen auf Basis empirischen Materials die katastrophale Situation der migrantischen Beschäftigten in den einzelnen Wirtschaftssektoren. Sie gehen auf die unterschiedlichen europarechtlichen Regelungen ein und gehen der Anschaulichkeit halber detailliert auf mehrere Beispiele ein.

Kein Zweifel wird daran gelassen, dass die staatlichen Kontrollinstanzen, wie die dem Zoll angegliederte „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“, kaum als Bündnispartner im Kampf für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen der mobilen Beschäftigten gelten können. So ist die Behörde zum einen aufgrund fehlender materieller und personeller Ausstattung kaum in der Lage, effektive Kontrollen durchzuführen. Zum anderen sind die meisten Machenschaften der deutschen Unternehmen zur Ausbeutung der Arbeitsmigrant*innen keineswegs illegal, sondern politisch gewollt. Verdeutlicht wird das am Beispiel der europäischen Entsenderichtlinie, die nicht mit dem Ziel geschaffen wurde, gleiche Arbeitsbedingungen zu fördern, sondern für den Nachschub billiger Arbeitskräfte aus Osteuropa in die industriellen Zentren der EU zu sorgen.

Dass angesichts der im Buch beschriebenen empörenden Zustände öffentlich wahrnehmbare Proteste weitgehend fehlen, erklären Birner und Dietl mit der Verbindung von Rassismus und Ausbeutung bei der Beschäftigung der Wanderarbeiter*innen. Tief in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verankerte rassistische Ressentiments und Stereotype würden dafür sorgen, dass Diskriminierungen als „normal“ gelten und damit akzeptiert werden. Erst wenn auch die Mehrheitsgesellschaft – wie in Folge der Ausbreitung des Coronavirus in deutschen Schlachthöfen – betroffen ist, sei eine erkennbare Skandalisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Migrant*innen zu erwarten.

Unter der Überschrift „Die Peripherisierung der Zentren“ beschreiben die Autor*innen abschließend, wie informelle Beschäftigungsverhältnisse zunehmend auch in Kernbereiche des industriellen Sektors vordringen. Als Beleg gilt hier das Ansteigen von Leiharbeit und Werkverträgen in den Schlüsselbereichen Maschinenbau und Automobilproduktion. Das einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung entnommene Beispiel eines deutschen Automobilzulieferers illustriert laut Birner und Dietl, wie die prekär Beschäftigten im industriellen Produktionssektor ausgebeutet werden. Mehr als hundert kroatische Wanderarbeiter*innen, die auf Basis eines Werkvertrags bei einer kroatischen Firma beschäftigt waren, polierten, schliffen und montierten Aluminiumteile für führende deutsche Autohersteller. Formell mit Stundenlohn bezahlt, mussten sie faktisch im Akkord arbeiten. Aus den Vorgaben resultierten extrem lange Arbeitszeiten – aus diesen wieder eine ganze Reihe von Arbeitsunfällen. Eine zuverlässige elektronische Zeiterfassung fehlte, Krankheitsausfälle wurden vom Lohn abgezogen. Und von dem geringen Lohn müssen dann noch Kosten für die Unterkünfte beglichen werden. Das Vorgehen der Firma war offensichtlich größtenteils legal, da es den gesetzlichen Rahmen in Deutschland und der EU nicht überschritt. Aber: „Faktisch sind die innereuropäischen Wanderarbeiter*innen weitgehend rechtlos“ – so bringen es die beiden Autor*innen treffend auf den Punkt (Seite 70).

Das Buch beschränkt sich jedoch nicht nur auf die bei aller Anschaulichkeit komprimiert präsentierte Darstellung der Fakten zur europäischen Arbeitsmigration. So stehen im Schlusskapitel die in der Regel öffentlich kaum beachteten kollektiven Kämpfe der Wanderarbeiter*innen im Mittelpunkt. Birner und Dietl, selbst gewerkschaftlich aktiv, knüpfen sich das paternalistische Denken der Gewerkschaften vor, die die von extremer Ausbeutung Betroffenen zwar schützen wollen, sie aber nicht ausreichend als selbständig handelnde politische Subjekte anerkennen. Es reiche eben nicht, sich nur für die Interessen von Wanderarbeiter*innen einzusetzen, sondern es müsse auch möglich sein, sich gemeinsam mit ihnen für ihre Rechte zu engagieren und ihre gesellschaftliche Isolation zu durchbrechen. Im abschließenden Teil des Buches werden deshalb konkrete Arbeitskämpfe aus den verschiedenen Branchen vorgestellt, die zumindest teilweise erfolgreich verliefen und in denen wichtige Forderungen durchgesetzt werden konnten.

Vier Kernaussagen der beiden Autor*innen lassen sich zusammenfassend benennen. Erstens: Die prekär beschäftigten Menschen erleben sich selbst als rechtlos, während die Methoden der profitierenden Unternehmen sich oft in legalem Rahmen bewegen. Zweitens: Es handelt sich letztlich um politische Entscheidungen, die die Voraussetzungen für die systematische Ausbeutung der Wanderarbeiter*innen schaffen. Drittens: Nicht nur in Schlachthöfen oder im Pflegebereich werden Wanderarbeiter*innen ausgebeutet. Deutsche Unternehmen sind in zahlreichen Sektoren der Wirtschaft für die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen hunderttausender Menschen aus ost- und südeuropäischen Ländern verantwortlich, um den Status des Landes als „Exportweltmeister“ aufrechterhalten zu können. Viertens: Die deutschen Gewerkschaften sollten ihr ambivalentes Verhältnis zur Arbeitsmigration klären (Interesse an restriktiver Zuwanderungspolitik bei gleichzeitiger Unterstützung der migrantischen Arbeiter*innen) und in kollektiven Kämpfen einen partizipatorischen Ansatz vertreten, bei dem der Wille der Betroffenen im Zentrum steht.

Kathrin Birner/Stefan Dietl: Die modernen Wanderarbeiter*innen. Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte, Unrast-Verlag, Münster, 2021, 139 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-89771-299-7

Schattenbanken im Finanzsystem: Der Kollaps der Greensill Bank

Die Pleite der Greensill Bank ist nach Wirecard der nächste große Fintech-Skandal in Deutschland. Ebenso wie vordem Wirecard hatte das Finanzinstitut aus Bremen bislang als ein Vorzeigeunternehmen gegolten. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) stoppte jedoch im März dieses Jahres den Geschäftsbetrieb der Tochter des britisch-australischen Finanzkonglomerats Greensill Capital wegen drohender Überschuldung und stellte beim Amtsgericht Bremen einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Seit einer Strafanzeige der Bafin wegen mutmaßlicher Bilanzmanipulation ermittelt nun auch noch die Staatsanwaltschaft.

Das Geschäftsmodell des Unternehmens bestand darin, Lieferantenrechnungen für Unternehmen zu bezahlen. Für die sofortige Zahlung erhielt Greensill vom jeweiligen Lieferanten einen Rabatt. Die Gesellschaft forderte dann später den vollen Rechnungsbetrag vom Kunden zurück und kassierte den Gewinn. Zur Vorfinanzierung seiner riskanten Geschäfte benötigte Greensill aber selbst verlässliche Geldquellen. Zum einen wurden erworbene Forderungen zu weltweit handelbaren Wertpapieren verpackt – also zu genau solchen Instrumenten, die auch die Finanzkrise 2008 auslösten. Zum anderen sammelte die Schattenbank* im Umfeld der Nullzinspolitik gegen einen kleinen Zins Einlagen von deutschen Sparern und Kommunen.

Auffällig erscheint Experten das Tempo von Greensills Aufstieg und Fall. Noch im Jahr 2017 war die Bank in Sachen Bilanzsumme „kleiner als die kleinste Sparkasse“ (Finanzszene, 7. März 2021). Dann aber verzehnfachte sich die Bilanzsumme binnen zwei Jahre auf 3,8 Milliarden Euro im Jahre 2019. Offensichtlich kam es zu hohen Konzentrationsrisiken bei den Forderungen (Fokussierung auf bestimmte Kunden, Branchen und Länder). Im Sommer 2020 verlor Greensill daher den Warenkreditversicherungsschutz eines wichtigen japanischen Versicherers, der bis dahin das Finanzinstitut gegen mögliche Ausfälle abgesichert und eine hohe Bedeutung für dessen Bonität hatte (ohne Versicherungsschutz versiegen die Finanzierungsquellen).

 Von der Bankenpleite sind neben Kleinanlegern auch etwa 50 Städte, Gemeinden und Bundesländer in Deutschland betroffen. So sind zum Beispiel beim Land Thüringen 50 Millionen Euro gefährdet, die Stadt Monheim (NRW) kann gegebenenfalls 38 Millionen Euro abschreiben. Insgesamt stehen Einlagen von rund 500 Millionen Euro auf dem Spiel. Anders als die Privatanleger sind die öffentlichen Investoren jedoch nicht durch die Einlagensicherung der Banken geschützt.

Der Deutschlandfunk kommentierte:

„Jeder Gemeinderat muss sich also fragen, warum die Verwaltung trotzdem zum Teil Millionen Euro als Festgeld bei der Bremer Greensill Bank deponiert hat, einer so kleinen Bank, dass deren Namen bis vor kurzem nur wenigen Finanzspezialisten geläufig gewesen sein dürfte. Eine Unvorsichtigkeit, die ihre Einwohner viel Geld kosten wird. Nur mit Glück werden sie einen Teil wiedersehen, wenn denn nach einer wahrscheinlichen Insolvenz der Bank noch etwas übrigbleiben sollte. Die Kämmerer müssen sich nun fragen lassen, warum sie ein solches Risiko eingegangen sind – für 0,3 Prozent Zins, die sie dafür einstrichen? Denn es ist ein veritables Risiko in Zeiten, in denen man für Einlagen in Millionenhöhe bei seriösen Banken auf jeden Fall Negativzinsen zahlen muss.“ (Deutschlandfunk vom 13. März 2021)

Kritiker*innen sehen in den Schattenbanken, die unter dem Radar der Aufsichtsbehörden agieren, das eigentliche Großrisko des Finanzsystems. Deshalb wird nach dem Fall Wirecard einmal mehr die Finanzaufsicht in Deutschland attackiert (vgl. u. a. die Pressemitteilung der Bürgerbewegung Finanzwende e. V. vom 16. März 2021).

* „Schattenbanken“ gewannen seit Ausbruch der Finanzkrise 2007 stetig an Bedeutung. Es handelt sich um Unternehmen, die ähnliche Geschäfte wie die klassischen Banken abwickeln, ohne aber den gleichen strengen Vorgaben und Kontrollen zu unterliegen. Dazu gehören Hedgefonds, Vermögensverwalter, Verbriefungsgesellschaften, zunehmend auch Technologiefirmen.

 

Quellen:

Jakob Blume/Andreas Kröner/Carsten Volkery: „Greensill-Rettung ist gescheitert – Aufstieg und Fall eines Fintech-Stars“, Handelsblatt Online vom 14. März 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/finanzskandal-greensill-rettung-ist-gescheitert-aufstieg-und-fall-eines-fintech-stars/27002790.html

„Greensill-Pleite trifft Arbeitnehmer und Steuerzahler“, ein Kommentar von Brigitte Scholtes im Deutschlandfunk vom 13. März 2021

https://www.deutschlandfunk.de/schattenbanken-im-finanzsystem-greensill-pleite-trifft.720.de.html?dram:article_id=494034

„Statement zur Einleitung des Insolvenzverfahrens bei der Greensill Bank“: Pressemitteilung von Finanzwende e. V. vom 16. März 2021

https://www.finanzwende.de/presse/statement-zur-einleitung-des-insolvenzverfahrens-bei-der-greensill-bank/

Detaillierte Informationen zum Fall Greensill finden sich hier:

Christian Kirchner: „Vom Untergang einer deutschen Bank. Das Greensill-Protokoll“, finanzszene.de, 18. März 2021

https://finanz-szene.de/banking/vom-untergang-einer-deutschen-bank-das-greensill-protokoll/

Finanz-Szene – Der Podcast. Zu Gast: Thomas Borgwerth (vom 7. März 2021)

https://finanz-szene-podcast.podigee.io/8-neue-episode

 

 

Gigantischer Anlagebetrug mit Immobilien

Die im niedersächsischen Langenhagen ansässige German Property Group (GPG), die früher unter den Namen Dolphin Trust und Dolphin Capital auftrat, versprach Anlegern in Großbritannien, Irland, Südkorea, Singapur, Israel und Russland ungewöhnlich hohe Renditen von 10 bis 15 Prozent für Anlagen auf zwei bis fünf Jahre. Das Geschäftsmodell bestand darin, denkmalgeschützte Gebäude in Deutschland zu sanieren und zu vermieten:

„Die im Jahr 2008 gegründete GPG war auf Geschäfte mit den Ersparnissen von Rentnern spezialisiert. Das funktionierte ungefähr so: Der Immobilienmarkt gilt vielen Menschen als sichere Anlagemöglichkeit. Im Ausland kommt noch hinzu, dass der Bundesrepublik das Vorurteil vorauseilt, besonders stabil und vertrauenswürdig zu sein. Die GPG schnürte daraus ein attraktiv erscheinendes Anlagekonzept. Den Kunden versprach die GPG: ‚Leihe uns für fünf Jahre einen Teil deiner Rente, dafür sanieren wir von uns erstandene Häuser in Deutschland und beteiligen dich am Gewinn der Vermietung.‘“ (junge Welt vom 13. März 2021)

In den ersten Jahren schienen die Geschäfte auch gut zu laufen: Die Anleger kassierten die versprochenen hohen Zinsen und einige Liegenschaften wurden tatsächlich entwickelt. Dann wurde aber klar, dass es viel zu wenige Projekte gab und in zahlreichen Immobilien nicht investiert wurde. Im 2018 fielen dann die Zahlungen an die Anleger aus. Im Juli 2020 erfolgte die Insolvenz des Unternehmens. Der entstandene Schaden wird auf über eine Milliarde Euro geschätzt, wobei der aktuelle Wert der zumeist nicht sanierten und zum Teil verfallenen Immobilien nur etwa 150 Millionen Euro beträgt. Offensichtlich handelt es sich bei der Betrugsmasche um ein Schneeballsystem. Um die Renditeversprechen der ersten Investoren einzulösen, wurden die Einlagen neuer Anleger genutzt, bis das System letztlich kollabierte (vgl. Handelsblatt vom 17. September 2020).

Da die GPG keine deutschen Kunden hatte und auch die Investoren im Ausland angeworben wurden, gibt es somit keine Kläger in Deutschland selbst, was die rechtliche Aufarbeitung erschwert. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft Hannover aber gegen den Geschäftsführer von GPG und weitere Akteuren wegen des Verdachts auf Anlagebetrug, Untreue und des illegalen Betreibens eines Bankengeschäfts (vgl. Business Insider vom 26. Januar 2021).

Etwa 2.000 britische Anleger schlossen sich zusammen und fordern nun von der Bundesregierung in einem Brief, als Opfer eines Anlagebetrugs entschädigt zu werden, sofern sie ihr Geld vom insolventen Unternehmen nicht mehr zurückbekommen. Politiker und Justiz hätten bislang nur spärlich reagiert, heißt es in dem Brief, aber langsam würde einigen deutschen Behörden klar werden, dass dieser massive Betrug sich zu einem der größten Finanzskandale Deutschlands entwickelt habe. Wobei auch die deutschen Aufsichtsbehörden völlig gescheitert seien. Der Rechtsstaat Deutschland sei offenbar mit wenigen Kniffen ausgehebelt worden. Um die Aufsichtsbehörde loszuwerden, habe das Unternehmen einfach nur im Ausland Geld einzusammeln brauchen (vgl. Business Insider vom 14. März 2021).

Die internationalen Investoren (darunter viele Kleinanleger) setzten also auf das attraktive Geschäftsmodell, das auf der Wohnungsnot und dem hohen Wert des Denkmalschutzes in Deutschland basierte – und ließen sich von den unseriös hohen Zinsversprechen locken. Jetzt erwarten viele der über den Tisch gezogenen Anleger, dass der deutsche Staat ihre fehlgeschlagene Renditeerwartung kompensiert.

 

Quellen:

 

Marta Orosz: „Milliardenbetrug German Property Group: 2.000 britische Rentner fordern in Brief Entschädigung von Kanzlerin Merkel“, Business Insider (Nachrichten-Webseite) vom 14. März 2021

https://www.businessinsider.de/wirtschaft/milliardenbetrug-german-property-group-2-000-betrogene-britische-rentner-fordern-in-einem-brief-entschaedigung-von-kanzlerin-merkel-a/

dies./Kayhan Özgenc: „Betrug in Milliardenhöhe: Chef der German Property Group räumt erstmals ein, Anleger getäuscht zu haben“, Business Insider (Nachrichten-Webseite) vom 26. Januar 2021

https://www.businessinsider.de/wirtschaft/betrug-in-milliardenhoehe-chef-von-immobilienfirma-raeumt-erstmals-ein-anleger-getaeuscht-zu-haben-a/

Christian Bunke: „Renten verzockt“, junge Welt Online vom 13. März 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/398351.finanzskandal-renten-verzockt.html

Volker Votsmeier: „Anlagebetrug-Ermittlungen: Neue Abgründe im Milliardenskandal mit Immobilien“, Handelsblatt vom 17. September 2020

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/german-property-group-anlagebetrug-ermittlungen-neue-abgruende-im-milliardenskandal-mit-immobilien/26195012.html

 

Politik auf privatrechtlicher Grundlage: Unternehmen regieren in „Innovationszonen“

Der demokratische Gouverneur des US-Bundesstaats Nevada hat nach Presseberichten einen Gesetzentwurf ausarbeiten lassen, der Firmen aus Zukunftsbranchen (Robotik, künstliche Intelligenz, Biometrie) erlauben soll, ganze Städte in sogenannten Innovationszonen neu aufzubauen. Dort sollen anstelle der öffentlichen Verwaltungen und Bürgermeister die investierenden Unternehmen staatliche Hoheitsbefugnisse übernehmen. Diese könnten dann etwa Steuern erheben und wären für Justiz, Polizei, Schulen, Gerichtsbarkeit, Arbeitsämter und Kindergärten zuständig.

Voraussetzung für die Schaffung einer solche Innovationszone ist, dass die Unternehmen mindestens 200 Quadratkilometer von noch nicht erschlossenem und unbewohntem Land außerhalb bestehender Städte kaufen. Die Interessenten müssen außerdem mindestens 250 Millionen US-Dollar besitzen und sind verpflichtet, innerhalb von zehn Jahren eine Milliarde Dollar in das Projekt zu investieren. Die Staatsgewalt würde dann nach einer gewissen Zeit von der bestehenden Gebietskörperschaft (County) auf die Unternehmen übergehen. Im Bundestaat Nevada würden so kleine staatliche Enklaven ohne jede demokratische Legitimation entstehen.

Begründet wird das Vorhaben damit, dass die bisherigen kommunalen Verwaltungen und die üblichen Anreizsysteme aus Steuererleichterungen und Subventionen es nicht mehr schaffen würden, wichtige Zukunftstechnologien nach Nevada zu holen. Deshalb sollen „alternative Regierungsformen“ das traditionelle Modell der Kommunalverwaltung ersetzen. So kaufte der Chef des Konzerns Blockchains, Jeffrey Berns, bereits im Jahr 2028 eine 270 große unbewohnte Landfläche im Westen Nevadas. Dort soll eine unternehmenseigene „Smart City“ entstehen, die vollständig auf Blockchain-Datenspeichertechnologie basiert.

Der Berliner Tagesspiegel kommentiert dies Vorhaben wie folgt:

„Zur Idee, vielmehr Ideologie, der Smart City gehört die Verschmelzung des Bürgers mit dem Kunden und Nutzer ausgeklügelter Dienstleistungen. Der Bürger, wie man ihn hierzulande noch kennt, ist in der Hightech-Stadt von morgen, in Berns‘ privater Kommune, eine Figur von gestern. Wenn seine Umgebung sensorüberwacht ist, dann sind bloß noch des Bürgers Gedanken frei; denn seine Bewegungen, seine Tätigkeiten, die Benutzung seiner Waschmaschine und seiner Klimaanlage bedienen den gigantischen Datenhunger einer hochintelligenten Stadtmaschine, die alles optimiert: Verkehrsmittelnutzung, Energieversorgung, Müllentsorgung, die polizeiliche Bestreifung des öffentlich-privaten Raums.“ (Tagesspiegel vom 14. Februar 2021)

Die Berichte aus den USA erinnern an Pläne des US-Ökonomen Paul Romer, der schon vor Jahren „mit Retortenstädten die Entwicklungshilfe revolutionieren“ wollte (Handelsblatt vom 12. Mai 2010). Unbesiedelte Gebiete in Entwicklungsländern sollten in staatenlose Sonderzonen, sogenannten „Charter Cities“, umgewandelt werden. Für Rechtssicherheit und Verwaltung hätten westliche Partnerländer sorgen sollen. Nach Romer wären dies ausreichende Bedingungen, um Investoren und Menschen in die „Charter Cities“ zu locken und eine ungeahnte Wachstumsdynamik auszulösen. Für den Vorschlag, westliche Partnerstaaten in den Sonderzonen über Gesetze und Regeln wachen zu lassen, wurde der Ökonom von politischen Gegnern als Neokolonialist bezeichnet.

Thomas Wagner beschrieb im Jahr 2010 Romers Grundidee in der jungen Welt:

„Ein finanzschwacher Staat des Südens stellt westlichen Staaten aus freien Stücken eine nicht besiedelte Fläche seines Territoriums für die Neugründung einer Stadt zur Verfügung und tritt die Souveränitätsrechte an diesem Gebiet für eine vertraglich festgelegte Zeitdauer an diese Staaten ab. Diese steuern Gelder und administrative Leistungen bei. Eine Entwicklungsbehörde wird vereinbart, die für die Gesetzgebung und die Einhaltung der Ordnung zuständig ist. Sobald auf diese Weise für Rechtssicherheit und den Schutz des Eigentums gesorgt ist, können Privatleute in Handelsniederlassungen und industrielle Produktionsstätten investieren und Arbeiter aus den Armutsregionen des Gastgeberstaates in die neue Stadt zuwandern. Die dort tätigen westlichen Unternehmen profitieren von den Niedriglöhnen in der Region. Viele Bewohner von Charter Cities sollen dort ihren ersten regulären Job finden können. Worauf sie freilich verzichten müssen, sind elementare politische Rechte und Freiheiten. ‚Demokratisch soll es in den Reißbrettmetropolen nicht zugehen‘, berichtete die Zeitschrift Capital, freilich ohne sich allzu sehr daran zu stören: ‚Die Bewohner dürfen nur mit den Füßen abstimmen. Und die Lokalpolitiker vor Ort sollen einen ähnlichen Spielraum erhalten, wie etwa Notenbanker ihn genießen.‘“ (junge Welt vom 27. April 2010)

Paul Romer erhielt im Jahr 2018 für seine „Innovationsforschung“ den Wirtschaftsnobelpreis. Sebastian Gerhardt kommentierte die Auszeichnung damals mit folgenden Worten:

„Was Paul Romer alles dem kapitalistischen Fortschritt zu opfern bereit ist, das ist angesichts der aktuellen Würdigung kein Thema. Deshalb eine kleine Erinnerung. (…) Paul Romer, Professor der Wirtschaftswissenschaften in New York, hatte sich vor Jahren mit seinen Modellen zur Entstehung von Innovationen im Kapitalismus einen großen Namen gemacht. Der technische Fortschritt sollte nicht mehr ‚wie Manna vom Himmel‘ fallen, sondern sich aus Investitionen in Humankapital und dem freien Markt ergeben. So entwickeln sich die Ideen, die die Welt besser machen. Leider musste der Professor feststellen, dass die wirkliche Welt seinen fortschrittlichen Ideen nicht ganz entspricht. Weitverbreitete Armut führte ihn aber nicht dazu, den Glauben an seine Modelle und an den Markt aufzugeben. Sondern er stellte fest, dass leider in der Welt zu wenig von der Ordnung herrscht, in der sich der Wettbewerb gut entwickeln kann. So entwarf er einen neuen Gesellschaftsvertrag, ein Modell einer gänzlich frei und privat entwickelten Stadt: die Charter City (…). Vor allem für die Dritte Welt, in der noch immer Kriminalität und Korruption herrschen, sollten sich ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. (…)

Wie die meisten Utopisten hatte auch Paul Romer ein großes Vorbild: die Stadt Hongkong. Aus ein paar Inseln mit Fischern wurde in den Jahren der britischen Herrschaft ein prosperierendes Zentrum, weil die Briten die richtige Verwaltung und gute Regeln eingeführt haben. Und auf die kommt es an, nicht auf die falschen Lehren von Selbstverwaltung und Demokratie. Sondern auf den Rechtsstaat, der alle gleich behandelt und ihnen damit ihre Chance gibt. Die Autorität des Rechts, die Achtung vor der Person und dem Eigentum des anderen, ist entscheidend. Investoren würden sich ansiedeln und Arbeitsplätze bieten, auf denen sich auch schlecht ausgebildete Personen in einfacher Arbeit bewähren, ihr Einkommen sichern und ihr Humankapital mehren können: Learning by doing. Und irgendwann, wenn sich alle eingewöhnt haben, darf auch gewählt werden.

Eine Eingewöhnungsphase ist aber nötig, immerhin soll die neue Idealstadt vor allem eines sein: neu. Ohne Rücksichten, ohne irgendwelche überkommenen Strukturen! Wie jede echte Utopie lebt auch die Charter City von der Illusion, man könnte einfach mal ganz von vorne anfangen und diesmal alles richtig machen. Nur eine Struktur soll selbstverständlich aus der Vergangenheit übernommen werden: das Eigentum. (…) Eine Arbeitslosenversicherung sieht der Professor nicht vor – in Anbetracht der guten Investitionsbedingungen sieht er hier wohl keine Schwierigkeiten. Wer trotz der tollen Möglichkeiten scheitert, hat ein privates Problem.“ (Sebastian Gerhardt, 9. Oktober 2018)

 

Quellen:

Daniel AJ Sokolov: „Nevada will lokale Regierungsmacht an Tech-Firmen abtreten – samt Gericht“, Heise Online, 8. Februar 2021 

https://www.heise.de/news/Nevada-will-lokale-Regierungsmacht-an-Tech-Firmen-abtreten-samt-Gericht-5048204.html

Claus Hulverscheidt: „Meine Firma, meine Stadt“, Süddeutsche Zeitung Online, 8. Februar 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/usa-technologie-libertarismus-1.5199920

Werner van Bebber: „Hätte die Blockchain-City ein Corona-Problem?“, Tagesspiegel Online, 14. Februar 2021 

https://www.tagesspiegel.de/politik/intelligente-staedte-haette-die-blockchain-city-ein-corona-problem/26914456.html

Johannes Pennekamp: „Der Stadtplaner als Welt-Retter“, Handelsblatt Online, 12. Mai 2010

https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/oekonomie/nachrichten/entwicklungsoekonomie-der-stadtplaner-als-welt-retter/v_detail_tab_print/3434790.html

Thomas Wagner: „Dreiste Landnahme“, junge Welt Online, 27. April 2010

https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/143514.dreiste-landnahme.html

Sebastian Gerhardt: „Nobelpreiswürdig? Mahagonny reloaded“, 9. Oktober 2018

https://planwirtschaft.works/2018/10/09/nobelpreiswurdig-mahagonny-reloaded/