Cum-Ex und kein Ende

Olaf Scholz, Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat der SPD, gab am 9. September 2020 gegenüber dem Finanzausschuss des Bundestages zu, dass es im Jahr 2016 ein weiteres Treffen mit dem ehemaligen Miteigentümer der Hamburger Privatbank M. M. Warburg gegeben hat. Bis dahin war nur ein Treffen von Scholz – zu der Zeit Hamburgs Erster Bürgermeister ‒ mit Christian Olearius bekannt gewesen. Schon damals liefen gegen die Bank und gegen Olearius Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der schweren Steuerhinterziehung. Die Warburg Bank hatte über Jahre hinweg Cum-Ex-Deals abgewickelt und sich einmal bezahlte Steuern mehrfach zurückerstatten lassen. Das Hamburger Finanzamt ließ damals die Rückforderung von 47 Millionen Euro, die sich die Warburg Bank durch Cum-Ex-Geschäfte erschlichen hatte, verjähren. Scholz war in diesem Zusammenhang vorgeworfen worden, auf die Entscheidung der Hamburger Behörde politisch Einfluss genommen zu haben. Im Bundestag wies Scholz erneut alle derartigen Vorwürfe zurück: Er habe keine konkrete Erinnerung an diese Meetings und ihnen offensichtlich nur geringe Bedeutung beigemessen.

Eintragungen im Tagebuch des Bankers Olearius, in dem dieser mehrere Gespräche mit Scholz (SPD) dokumentiert hatte, brachten den SPD-Politiker in Erklärungsnöte. Die Tageszeitung taz kommentierte:

„Nicht verwunderlich, dass die Opposition bereits den Geruch von Korruption wahrgenommen und ‚schmutzige Deals zu Lasten der Steuerzahler‘ erkannt haben will. Einen Untersuchungsausschuss vermeiden ließe sich wohl nur noch, wenn Senat und Warburg-Bank der Aufhebung des Steuergeheimnisses zustimmen würden, wie es die Linke fordert. Das wäre aber eine Überraschung.“ (taz vom 4. September 2020)

 

http://big.businesscrime.de/nachrichten/stadt-hamburg-verzichtet-auf-rueckforderung-von-47-millionen-euro/)

https://www.sueddeutsche.de/politik/scholz-cum-ex-warburg-1.5026142

https://taz.de/Scholz-und-die-Cum-Ex-Affaere/!5709394&s=olearius/

 

Aber Cum-Ex-Geschäfte sind weiterhin möglich. Das belegt eine am 7. September veröffentlichte und von der Initiative Finanzwende bei dem Wirtschaftsanwalt und Steuerexperten Alexander Heist in Auftrag gegebene Untersuchung. Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass steuergetriebene Geschäfte über den Dividendenstichtag nach den bekannten CumEx- und CumCum-Muster weiterhin möglich scheinen“.

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/geht-der-steuerraub-mit-cumex-weiter/?L=0

„Auch heute erscheint es möglich, dass so gut wie keine Kapitalertragsteuer auf Dividendenauszahlungen beim Fiskus ankommt“, schreibt Heist auf der ersten Seite seiner Untersuchung. Und weiter: „Steuergetriebene Cum/Ex-Trades sollten mit einer Gesetzesänderung zum Jahresbeginn 2012 endgültig abgeschafft werden. (…) Lange Zeit wurde nach der öffentlichen Berichterstattung erhebliches Steuervolumen, teilweise in dreistelliger Millionenhöhe, unter anderem an ‚Briefkastenfirmen‘ ausbezahlt. Dies führte zum Aufgriff durch die Finanzverwaltung und letztlich zur Aufdeckung des Cum/Ex-Skandals. Mittlerweile hat die Finanzverwaltung mit der Auszahlung an diese Stellen und in diesem Umfang den Verlautbarungen nach aufgehört. Es besteht jedoch Anlass anzunehmen, dass die Cum/Ex-Geschäfte mit veränderter Struktur bis zum heutigen Tage weiterlaufen.“ 

https://www.finanzwende.de/fileadmin/user_upload/Kampagnen/Staatsanwaltschaft/Strategien_Aktienhandel_nach_OGAW_IV_final.pdf

Das Neue Deutschland vom 7. September 2020 zitiert Gerhard Schick von Finanzwende: „Bei organisierter Finanzkriminalität muss Deutschland endlich mit der ganzen Härte des Gesetzes durchgreifen“. Jeder Täter müsse vor Gericht landen. Doch hapere schon an der juristischen Aufarbeitung der alten Cum-Ex-Deals, die den Fiskus mindestens zehn Milliarden Euro kosteten. Nach sieben Jahren Ermittlungen wären erst zwei Täter verurteilt worden ‒ zu Bewährungsstrafen. Nur ein Bruchteil des Milliardenschadens sei bisher zurückgeholt worden, viele Taten drohten zu verjähren.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141467.steuertricks-cum-ex-ist-nicht-geschichte.html

Finanzwende fordert deshalb auch eine bessere personelle Ausstattung der Ermittlungsbehörden ‒ zum Beispiel von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) die Schaffung einer „Soko Cum-Ex“ mit mindestens 150 Ermittlern. Um Druck aufzubauen hat, hat Finanzwende eine Petition im Internet gestartet. Diese richtet sich direkt an Laschet: „Holen Sie unser Steuergeld zurück und ermöglichen Sie eine Bestrafung aller Täter!“

https://www.finanzwende.de/kampagnen/armin-laschet-holen-sie-unser-steuergeld-zurueck/?L=0

Unternehmen nutzen Gesetzeslücken bei Mitbestimmung

Der in einen Bilanzskandal verwickelte Finanzdienstleiter Wirecard verfügte bis zu seiner Insolvenz über keinerlei Mitbestimmung, weder durch einen Betriebsrat noch durch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Bis Ende 2018 hatte das Unternehmen rund 5.000 Beschäftigte, davon etwa ein Drittel in Deutschland. Für deutsche Kapitalgesellschaften mit 501 bis 2.000 inländischen Beschäftigten gilt aber die gesetzliche Regel, dass Arbeitnehmer*innen ein Drittel der Mitglieder im Aufsichtsrat stellen. Offenbar nutzte Wirecard aber eine Lücke im Drittelbeteiligungsgesetz aus, um die Arbeitnehmermitsprache in dem Kontrollgremium zu verhindern. Das belegt eine Analyse von Sebastian Sick, Experte für Unternehmensrecht und Corporate Governance am Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) der Hans-Böckler-Stiftung.

Laut Sick unterlief das Management von Wirecard die Arbeitnehmerbeteiligung mittels der so genannten „Drittelbeteiligungslücke“. Denn im Drittelbeteiligungsgesetz ist keine automatische Konzernzurechnung von Beschäftigten in Tochterunternehmen vorgesehen. Gliedert sich ein Konzern in eine Holding und verschiedene Töchter auf, die jeweils maximal 500 Beschäftigte haben und die nicht über formale „Beherrschungsverträge“ miteinander verbunden sind, kann er eine Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat vermeiden. Das gilt auch wenn die verschiedenen abhängigen Unternehmen zusammengenommen über weit mehr als 500 Mitarbeiter*innen beschäftigen. „Gewinne der Töchter können trotzdem über isolierte ‚Gewinnabführungsverträge‘ an die Holding fließen“, erläutert Sick.

Zwischen der personell kleinen Holding Wirecard AG und der relativ großen Tochter „Wirecard Technologies GmbH“ bestand ursprünglich ein Beherrschungsvertrag. Der wurde dann zum Ende des Jahres 2018 gekündigt. Sick vermutet, dass die Kündigung mitbestimmungsrechtlich motiviert war.

Aber Wirecard agiert nicht allein auf diese Weise. „Allein in Unternehmen mit mehr als 2.000 inländischen Mitarbeitern, für die grundsätzlich eine paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat vorgesehen ist, sind mindestens 2,1 Millionen Beschäftigte davon betroffen (…). Als weitere ‚Mitbestimmungsvermeider‘ (…), die in letzter Zeit für viel Aufsehen sorgten, nennt Sick mehrere der großen deutschen Schlachtkonzerne, angefangen beim Marktführer Tönnies“, heißt es weiter in der Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung.

Nach Sick sind die Schwachstellen in den deutschen Mitbestimmungsgesetzen seit langem bekannt und könnten mit nur geringem gesetzgeberischen Aufwand geschlossen werden. Beim Drittelbeteiligungsgesetz würde es etwa schon reichen, eine automatische Konzernzurechnung von Tochterunternehmen zu ergänzen, wie sie im Mitbestimmungsgesetz von 1976 längst existiere.

Quelle:

Hans-Böckler-Stiftung: „Wirecard: Mitbestimmung im Aufsichtsrat über Rechtslücke umgangen – Auch Schlachtkonzerne haben Arbeitsnehmer im Kontrollgremium verhindert“, Pressemitteilung vom 22. September 2020
https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-wirecard-mitbestimmung-im-aufsichtsrat-uber-rechtslucke-umgangen-27045.htm

Steuertricks der DAX-Konzerne

Die Linke im Bundestag veröffentlichte im Juni 2020 eine Studie, die – nach ihren eigenen Worten – darüber Aufschluss geben will, „ob auch DAX-Konzerne in Steueroasen präsent sind und wie transparent sie dabei vorgehen“. Aus dem Vorwort des finanzpolitischen Sprechers der Fraktion, Fabio de Masi:

„Steuertricks gehören zum Geschäftsmodell aller 30 DAX-Konzerne. Unsere Studie zeigt, dass die Flaggschiffe der deutschen Wirtschaft von Delaware bis Luxemburg mit tausenden Töchtern in Steuerparadiesen vertreten sind. Selbst Unternehmen mit Bundesbeteiligungen verfügen über hunderte Töchter in Steueroasen. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung bei der internationalen Steuerdiplomatie gegen Steuervermeidung von Konzernen. Es ist ein Skandal, dass bei Bahn, Post, Telekom und Commerzbank nicht einmal Einfluss auf die Geschäftspolitik genommen wird, wenn es um Steuervermeidung geht.
Auch Gewinne aus Deutschland sind in den Steueroasen geparkt. Steueroasen und Schattenfinanzplätze scheuen das Licht der Öffentlichkeit. Die Bundesregierung blockiert seit Jahren die Einführung einer Veröffentlichungspflicht von Kennzahlen wie Beschäftigte, Umsätze, Gewinne und gezahlte Steuern pro Land.“

Quelle:

Der DAX in Steueroasen. Studie für die Fraktion DIE LINKE im Bundestag, Juni 2020 (Autor: Steffen Redeker)
https://www.fabio-de-masi.de/de/article/2757.studie-der-dax-in-steueroasen.html

Wissenschaft für wen?

 Eine Meldung aus der Frankfurter Rundschau vom 22./23. August 2020: „Weltbank rechnet mit steigender Armutsquote: Durch die Corona-Pandemie könnten laut Schätzung der Weltbank 100 Millionen Menschen weltweit in extreme Armut abrutschen. Die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen werde laut neuester Schätzung der auf Entwicklungsförderung spezialisierten Organisation um 70 bis 100 Millionen zunehmen, sagte Weltbank-Chef David Malpass. ‚Die Zahl kann sogar noch weiter steigen‘, wenn sich die Pandemie weiter verschlimmere und noch lange hinziehe.“

Bei dieser Nachricht über das weltweite Anwachsen absoluter Armut fehlt ein Hinweis auf die relative Armut, die nach allem, was man weiß oder wissen könnte, ebenfalls wächst. Und vor allem wird als Ursache fälschlicherweise die Corona-Pandemie angegeben – während es doch in Wirklichkeit die Art des Umgangs mit der Pandemie ist, die Armut verursacht. Unter kapitalistischen Verhältnissen hat jeder Einzelne die Folgen unerwarteter Ereignisse zu tragen, allenfalls abgefedert durch finanzielle und andere Hilfen, sofern es eine funktionierende Sozialpolitik gibt. Statt diesen Verhältnissen die Schuld an der Verarmung zu geben, ist es einfacher und bequemer, das Virus als angebliche Naturplage dafür verantwortlich zu machen.
Große Konzerne wie Google und Amazon konnten in der Corona-Krise ihre Umsätze und Gewinne immens steigern. Andere mussten durch die staatichen Krisenprogramme unterstützt werden. Bei mittleren und kleineren Unternehmen und bei den kleinen Selbstständigen hingegen wird die drohende Pleitewelle nur dank staatlicher Hilfe noch etwas hinausgezögert. Krisen – ganz gleich, ob sie konjunkturell, strukturell oder anders begründet sind – haben unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen nun einmal die Funktion, den Markt zu „bereinigen“ und die Konzentration des Kapitals zu fördern.
Die Kluft zwischen Armut und Reichtum wird national wie international durch die Corona-Krise und die ihr gegensteuernde Wirtschaftspolitik nicht verringert – sie wird weiter anwachsen.

Wie steht es aber schon gegenwärtig mit den Verteilungsverhältnissen in einem hochindustrialisierten Land wie der Bundesrepublik Deutschland? Das geht aus einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hervor, deren Ergebnisse im Juli 2020 veröffentlicht wurden. Aus einer früheren Studie des DIW stammt die Angabe, dass weniger als 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also mehr als über 40 Millionen Menschen. Inzwischen entfallen 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Bevölkerung, 35 Prozent dieses Vermögens konzentriert sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt noch auf 20 Prozent des Vermögens.

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge schreibt in einem Bericht über diese Untersuchung, dass die Forscher des DIW „auf eine Spezialstichprobe von Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) zurückgriffen, eine Sonderbefragung von Vermögensmillionären vornahmen und die Reichenliste eines Wirtschaftsmagazins einbezogen. … Aufgrund der neuen Untersuchungsmethode beziffert das DIW den Gini-Koeffizienten auf 0,83. Dabei handelt es sich um ein Maß, das bei Gleichverteilung (alle Personen besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. Das 0,83 entspricht fast dem US-Vergleichswert, was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage zeigt.“ („Hunde, die bellen, aber nicht beißen“, Frankfurter Rundschau vom 14. August 2020)

Die Ergebnisse der DIW-Studie legen nahe, eine Rückverteilung von oben nach unten über Erbschafts- und Vermögenssteuern zu fordern und wenigstens einen Lastenausgleich zur Finanzierung der riesigen staatlichen Hilfsprogramme, die in der Corona-Krise aufgelegt wurden. Das entspräche auch dem, was sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung seit langem bei Meinungsumfragen zum Thema Vermögensverteilung wünscht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DIW lehnen aber eben dies ab. Ihre Argumente sind die altbekannten: Die Fähigkeit der Vermögenden, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, werde durch jede Art von höheren Abgaben eingeschränkt.
Das in spekulativen Kreisläufen weltweit zirkulierende überschüssige Kapital, das keine produktive Anlage mehr findet und längst keine mehr nötig hat, spricht einer solchen Argumentation Hohn.
Christoph Butterwegge meint dazu: „Wenn es um die Verhinderung einer höheren Besteuerung von Reichen und Hyperreichen geht, ist diesen wie ihren publizistischen und wissenschaftlichen Steigbügelhaltern kein Vorwand zu fadenscheinig.“ Schere im Kopf oder vorauseilender Gehorsam, um Aufträge und Reputation im Mainstream nicht zu gefährden?

Einer der Autoren der DIW-Studie, Markus Grabka, war 2017 Referent auf einer Fachtagung von Business Crime Control zum Thema „Soziale Ungleichheit und Kapitalkriminalität“. Dort stellte Grabka empirisch exakte Daten zum Auseinanderdriften sowohl von Einkommen wie auch von Vermögen in der Bundesrepublik vor. Während die mittleren Einkommen in den Jahren von 1991 bis 2014 um mehr als acht Prozent stiegen, legten die höchsten Einkommen zeitgleich um bis zu 26 Prozent zu. Die unteren Einkommen gingen dagegen real zurück. Folglich hatte die Einkommensungleichheit insgesamt zugenommen. Auch das Risiko, arm zu sein, war zuletzt wieder gestiegen. Grabka betonte, wie unvollständig die Daten bei der Vermögensverteilung seien. Über die Superreichen sei wenig bekannt. Die gut erfassten unteren 50 Prozent der Bevölkerung hätten einen verschwindend geringen Anteil am Gesamtvermögen. Ganz unten gebe es kein Vermögen, sondern nur Schulden. Die Bundesrepublik schneide auch im internationalen Vergleich schlecht ab, was die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die ungleiche Verteilung der Steuerlast zwischen Lohn- und Gewinneinkommen betrifft.
Es ist immer wieder erstaunlich, welche geringe Rolle gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse in der politischen Auseinandersetzung spielen und wie wenig praktische Konsequenzen aus ihnen selbst diejenigen ziehen, die sie erarbeitet haben.

Bei den sich abzeichnenden Konflikten darum, wer die Kosten der Corona-Krise zu tragen hat, könnten und sollten die Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zur Aufklärung genutzt werden. Wenn der Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat der SPD Olaf Scholz neuerdings davon spricht, dass die Besserverdienenden und Vermögenden stärker zur Kasse gebeten werden müssten, so ist das ein kleines Zeichen der Einsicht, das aber nicht ausreicht. Ohne eine breite Mobilisierung für mehr Steuergerechtigkeit und gegen die legale oder illegale „Steuerverkürzung“ der Reichen und Superreichen wird sich kaum etwas ändern.

Ungleichheit in Coronazeiten

Vorab: Vom Titel des kürzlich erschienenen schmalen Bändchens „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ sollte man sich nicht irritieren lassen – bekanntlich setzt schon der Begriff „Klassengesellschaft“ die Existenz sozialer Ungleichheit voraus.

Der Kölner Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge gilt als erbitterter Kritiker des modernen Kapitalismus und als Analytiker von dessen sozialen Abgründen. Seine kürzlich beim PapyRossa Verlag erschienene Studie ist insofern besonders lesenswert, als sie sich auch schon mit den bisher absehbaren Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die soziale Ungleichverteilung auseinandersetzt.

Der Autor untersucht in der ersten Hälfte des Bandes die gesellschaftlichen Ursachen von Ungleichheit. Als wesentliche Triebkraft der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich macht er – unter Berufung auf Karl Marx – die Klassenstruktur einer Gesellschaft aus. Allein eine an Marx angelehnte Gesellschaftsanalyse sei in der Lage, nicht nur Herrschaftsverhältnisse offenzulegen, sondern auch deren Wurzeln in den jeweiligen Produktionsverhältnissen aufzuzeigen. Nur so könnten „Armut oder sozialer Abstieg als kollektives Schicksal begriffen (werden), das strukturelle Ursachen hat, und nicht als individuelles Versagen der Betroffenen missdeutet“.

Butterwegge benennt in der Folge weitere Ansätze namhafter Theoretiker, die sich gleichfalls an einer Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft versucht haben. Sehr lesenswert ist ein längerer Abschnitt, der sich mit der Fundamentalkritik des Psychologen Rainer Mausfeld an der kapitalistischen Elitendemokratie beschäftigt. Laut Mausfeld beruhe diese nämlich auf einer mittels umfänglicher Manipulationstechniken erreichten Umwandlung von ökonomischer in politische Macht. Das Resultat sei eine Verrechtlichung, durch welche die „organisierte Kriminalität der besitzenden Klasse (…) nicht nur legalisiert, sondern auch zeitlich verfestigt und gegen mögliche demokratische Eingriffe abgedichtet“ werde. Butterwegge beschränkt sich leider nur auf eine Wiedergabe dieser These.

Im folgenden Abschnitt über moderne Finanzmärkte und die Entwicklung der sozialen Klassen beschreibt Butterwegge die letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik als einen „Wandel vom ‚rheinischen‘ zum schweinischen Kapitalismus“. Letzteren charakterisiert er unter ausdrücklichem Bezug auf den im Juni/Juli 2020 aufgedeckten Skandal beim Tönnies-Fleischkonzern als System, das „brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei duldet“. Starke Worte, aber treffsicher.

Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Zusammenfassung einer – ursprünglich von Werner Rügemer vorgenommenen – Strukturanalyse des derzeit bereits sehr dichten und immer umfangreicher werdenden Beziehungsgeflechts weltweit agierender Finanzmarktakteure. Ob die von Butterwegge sehr zu Recht angeprangerten sozialen Grausamkeiten des Neoliberalismus nun auf perfiden Strategien dieser Finanzunternehmen basieren oder ob die explosionsartige Vermehrung des auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten um den Globus vagabundierenden Finanzkapitals nicht ein spätes Produkt der schon vor Jahrzehnten losgetretenen neoliberalen Welle ist – darüber lässt sich sicher streiten.

Das abschließende Kapitel des Buches untersucht die „Haupterscheinungsformen der Ungleichheit“ bei den Einkommen und Vermögen, im Gesundheitsbereich, im Bildungssektor und beim Wohnen. Butterwegge liefert hier zahlreiche Daten und Analysen zur akuten Verschlechterung der Lage der Bevölkerungsmehrheit, darunter auch viele, die im allgemeinen Nachrichtenbrei entweder untergegangen oder gar nicht vorgekommen sind.

Dass die deutsche Wiedervereinigung des Jahres 1990 eine riesige soziale Umverteilung zugunsten der großen Kapitalgruppen bewirkt hat, ist an sich bekannt. Die von Butterwegge dokumentierte Befürchtung namhafter Ökonomen, auf die Pandemie und den im März 2020 bundesweit verfügten Lockdown könne langfristig gesehen eine weitere massive Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich folgen, wird von den meisten Medien derzeit ausgeblendet.

Auch, dass das Infektionsrisiko durchaus nicht gleich verteilt ist – Arbeitslose und Arme trifft es eher. Butterwegge erinnert in diesem Zusammenhang an die Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters, bei deren Ausbruch die Reichen sich schnell auf ihre Landsitze zurückzogen und so meist einer Ansteckung entgingen. Hauptopfer einer Pandemie seien immer die Armen der jeweils heimgesuchten Gesellschaft. Der Autor bringt es an anderer Stelle noch treffender auf den Punkt: „Wer arm ist, muss eher sterben.“

Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Klassengesellschaft.
Papyrossa Verlag, Köln 2020, 183 Seiten, 14,90 Euro

 

 

 

Big Business und die Krankenhausmisere

Corona hat die Missstände im deutschen Gesundheitswesen einmal mehr offenbart. Deshalb folgt an dieser Stelle ein kurzer Abriss über die wichtigsten Problemzonen der Krankenhausökonomie.

Spätestens seit dem Beginn der Pandemie hat sich der Fokus der Diskussion um die Zukunft der medizinischen Versorgung verschoben. Noch vor wenigen Jahren wurde die Gefahr einer finanziell aus dem Ruder laufenden Krankenversicherung und damit eine angebliche „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen beschworen. „Überkapazitäten“ an Krankenhausbetten und Klinikstandorten wurden ins Zentrum der politischen und wissenschaftlichen Debatte gestellt. Mittlerweile jedoch wird daran gezweifelt, ob die Ausstattung der Krankenhäuser hierzulande überhaupt einer langanhaltenden Pandemie standhalten kann. Und seit langem erregen sich die Menschen über die dramatischen Pflegemängel in Kliniken und Altenheimen.

1. Die „Kostenexplosion“ als politischer Kampfbegriff

Schon Mitte der 1970er Jahre wurde politisch über eine „Kostenexplosion“ gestritten, die sich zu einem „Mythos in der Gesundheitspolitik“ (Reiners, S. 8) verfestigt hat. Bei den steigenden Gesundheitsausgaben handelt es sich aber keineswegs um ein Krisensymptom. Dahinter steht vielmehr „eine Mischung aus wachsendem Lebensstandard, medizinischem Fortschritt, wirtschaftlichem Strukturwandel und ökonomischen Besonderheiten des Gesundheitswesens“ (ebd.). Richtig ist, dass es nie eine „Kostenexplosion“ gegeben hat. Seit Jahrzehnten belaufen sich die Aufwendungen für den gesamten Gesundheitssektor auf zehn bis elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Trotz steigender Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung liegen deren Ausgaben seit über 20 Jahren konstant bei 6,5 Prozent des BIP. Das Problem besteht nicht in den steigenden Ausgaben, sondern in der Einnahmeentwicklung der Kassen (sinkende Lohnquote, wachsende Einkommensungleichheit).

2. Das System der Fallpauschalen

Für das Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“ (KstF) bildet die Finanzierung nach so genannten Fallpauschalen den Kern der deutschen Krankenhausmisere. (1) Danach erhalten deutsche Krankenhäuser nur ein Minimum ihres Budgets, um Kapazitäten vorzuhalten. Da sie nach der Anzahl behandelter Patienten bezahlt werden, wäre es betriebswirtschaftlich unverantwortlich, die eigenen Kapazitäten nicht so weit wie möglich auszulasten. Leere Betten für den Krisenfall sind aus der Sicht eines einzelnen Krankenhauses schlicht Erlösausfälle. „Es wäre, wie wenn die Feuerwehr nur für jeden gelöschten Brand bezahlt werden würde“, kommentiert der Gewerkschafter Kalle Kunkel bissig (Kunkel, 13. März 2020).

Bis zur Einführung der Fallpauschalen im Jahr 2003 galt das Selbstkostendeckungsprinzip, so dass diese Aufwendungen vollständig refinanziert wurden. Mit den Fallpauschalen wurden die Behandlungen, das heißt die einzelnen „Fälle“, pauschaliert entgolten. Können die Kosten unter die Pauschalen gedrückt werden, lassen sich dabei Gewinne erzielen. „Vor allem kommerzielle Klinikbetreiber erreichen das, indem sie sich auf besonders lukrative Fälle spezialisieren, aus Tarifverträgen aussteigen, Personal abbauen und die Arbeit verdichten. Auf der anderen Seite stehen die Verlierer: zumeist kommunale und freigemeinnützige Kliniken, die im Preiswettbewerb nicht mithalten können und Pleite gehen (oder privatisiert werden)“, schreibt dazu der Journalist Daniel Behruzi.

3. Krankenhausschließungen

Genau darauf zielte die Einführung des Fallpauschalen-Systems ab. Der Krankenhaus-„Markt“ sollte „bereinigt“ werden, um angebliche Überkapazitäten abzubauen. 1991 gab es noch 2.411 Krankenhäuser mit insgesamt 665.565 Betten, 2017 dagegen nur noch 1.942 Krankenhäuser mit 497.200 Betten. Der Abbau von Betten erfolgte vor allem in öffentlichen und freigemeinnützigen Einrichtungen. Seit 1991 hat sich dagegen die Anzahl der privaten Krankenhäuser mehr als verdoppelt: von 358 auf 720 (vgl. KstF, Seite 104).

Die Bertelsmann-Stiftung empfahl jedoch in einer Mitte 2019 erschienenen Studie einen weiteren Schritt beim rigorosen Umbau der Krankenhauslandschaft: Die Anzahl der deutschen Kliniken sei auf etwa ein Drittel zu reduzieren und die Versorgung auf größere und leistungsfähigere Krankenhäuser zu konzentrieren. Begründet wurde dies wie folgt: Würde die Zahl der Kliniken auf weniger als 600 sinken, könnten die Patienten deutlich besser versorgt werden. Die verbleibenden Häuser verfügten dann über mehr Personal und eine bessere Ausstattung.

Die Studie stellte die wohnortnahe Versorgung im Namen einer gesteigerten wirtschaftlichen Effizienz radikal infrage. Kritiker*innen aus den Reihen der Gewerkschaft ver.di wiesen darauf hin, dass die Entscheidungen über Klinikstandorte und die notwendigen Kapazitäten nicht dem „Markt“ überlassen werden dürften, sondern im Rahmen einer regionalen Krankenhausplanung mit den Akteuren vor Ort festzulegen wären. Nur wenige Monate nach Veröffentlichung der Studie scheint der Ausbruch der Pandemie diese Pläne vorerst vereitelt zu haben.

4. Personalabbau bei den Pflegekräften

Während seit Einführung des dualen Finanzierungssystems Anfang der 1970er Jahre die Bundesländer für die Investitionskosten zuständig sind, müssen die laufenden Betriebskosten, wozu auch die Personalaufwendungen gehören, mit den Einnahmen pro Patient, das heißt den Vergütungen durch die Krankenkassen, bestritten werden. (2) Der Gesundheitsökonom Hartmut Reiners weist darauf hin, dass dieses Modell jedoch schon lange nicht mehr funktioniert, da die Länder ihre Fördermittel für die Krankenhäuser in den vergangenen 20 Jahren halbiert hätten. Die Lücken bei den Investitionen würden aus den Zahlungen der Krankenversicherungen gestopft. Mit der Folge eines weiter steigenden Drucks auf die Personalkosten, die etwa zwei Drittel der laufenden Kosten ausmachten. (Reiners, Seite 35)

Die Sprecherin des Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen bei der ver.di-Bundesverwaltung, Astrid Sauermann, teilte der BIG-Redaktion auf Anfrage mit, dass schon vor einigen Jahren bundesweit 162.000 Stellen über die Berufsgruppen hinweg fehlten. Das habe ein Personalcheck in Krankenhäusern ergeben. Inzwischen seien es noch mehr. Ver.di geht allein von etwa 80.000 bis 100.000 zusätzlichen Pflegekräften aus, die für eine sichere Patientenversorgung notwendig sind. Der Personalmangel, so die ver.di-Sprecherin, würde unter anderem zum Weglassen von notwendigen Leistungen, dem Verzicht auf Pausen und einem laschen Umgang mit Hygienevorschriften führen. (3)

5. Defizite in der medizinischen Versorgung

Das herrschende Finanzierungssystem, das maßgeblich von den erlösorientierten Fallpauschelen geprägt ist, führt jedoch nicht einfach zu einer medizinisch mangelhaften Versorgung, sondern, wie seit Jahren regelmäßig wissenschaftlich belegt wird, zu einer Mischung aus Unter-, Über- und Fehlversorgung. Leistungen werden in den Bereichen reduziert, die keinen Erlös bringen, wie bei der Pflege. So verlangt etwa die „neue Volkskrankheit“ Diabetes eine lange Wundbehandlung, die sich im Gegensatz zu einer möglichen Fuß-Amputation für die Häuser aber nicht rechnet. Wo Gewinne zu machen sind, werden Leistungen dagegen ausgeweitet (zum Beispiel bei den profitablen Kniegelenksoperationen, Kaiserschnitten oder Herzkatheter-Behandlungen).

Zu den Versorgungsmängeln lässt sich auch der gesteigerte bürokratischer Effekt zählen, der dann entsteht, wenn Gewinnmöglichkeiten mit Versichertengeldern möglich sind. Denn diese machen Kontrollen notwendig: Das Fallpauschalen-System „hat in den letzten Jahren geradezu zu einem Abrechnungskrieg zwischen Kassen und Krankenhäusern geführt. Würde nur ein Teil der Ressourcen, die dieser Kleinkrieg verschlingt, in die gesellschaftliche Planung der Krankenhauslandschaft investiert, wäre für die Gesellschaft viel gewonnen.“ (Kunkel, 24. März 2020) Es ließe sich ergänzen: Mehr Mittel in die patientennahe Pflege zu lenken, wäre dann auch einfacher.

6. Privatisierungen

Der Gedanke hinter der Einführung des Fallpauschalen-Systems war, über die Schließung zahlreicher Krankenhäuser Bettenzahlen zu reduzieren und eine „Stabilisierung“ der Kosten zu erreichen. Gewinner sollten die Häuser sein, die die Durchschnittskosten unterschreiten, Verlierer diejenigen, die diese Kosten überschreiten. Im Fokus stand, die Zentralisierung und Privatisierung der Kliniken voranzutreiben (vgl KstF, S. 56).

Auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten haben internationale Finanzinvestoren deshalb seit Jahren sämtliche Versorgungbereiche des Gesundheitswesens in den Blick genommen, auch den Krankenhaussektor. Ein eher wenig bekanntes Beispiel bildet der niederländische Private-Equity-Investor Waterland, der seit 2011 Kliniken verschiedener Träger kauft und sie unter dem Namen „Median“ in einer Kette bündelt (vgl. die Darstellung bei Rügemer, Seite 94ff.). Da die Einführung der Fallpauschalen häufig zu möglichst frühen Entlassungen aus den stationären Krankenhäusern führt, steigt der Bedarf an nachstationären Reha-Plätzen. Letzteres spielt dem Investor in die Hände. Denn Waterland brüstet sich damit, einen der fünf bedeutendsten Krankenhauskonzerne und den größten Reha-Konzern in Deutschland geschaffen zu haben. Der Immobilienverkauf hat an den geschäftlichen Aktivitäten einen großen Anteil. 2014 übernahm der US-Immobilienfonds Medical Properties Trust (MPT) für etwa 700 Millionen Euro 40 Median-Rehakliniken von Waterland ‒ unter Umgehung der Grunderwerbssteuer, die nicht anfällt, wenn weniger als 95 Prozent der Unternehmensanteile erworben werden. Median musste zudem die Gebäude von MPT für eine jährliche Miete zwischen 8 und 11 Prozent des Kaufpreises plus Inflationsaufschlag zurückmieten: „Neben dem Gewinn für Median und dessen Kapitalgeber müssen auch die überhöhten Mieten für MPT nun von den Median-Kliniken ‒ also vor allem von den angestellten und outgesourcten Mitarbeitern und Rententrägern – zusätzlich aufgebracht werden.“ (Rügemer, S. 96)

7. Krankenhäuser im Konkurrenzverhältnis

Die Fallpauschalen als das wichtigste Instrument zur Verstärkung der Marktorientierung der Krankenhäuser fördern aber nicht nur Geschäfte rund um die Privatisierungen, sondern auch die Konkurrenz der Krankenhäuser untereinander. Auch bei der Personalbeschaffung. Denn der gestiegene Arbeitsdruck äußert sich in Fehlzeiten wegen Burnout, Flucht in die Teilzeit und Abwanderung von Arbeitskräften. Die Kliniken jagen sich gegenseitig das Personal ab und verschärfen damit die Arbeitsbedingungen derjenigen weiter, die bleiben. So verließen im vergangenen Februar 40 Fachkräfte den Berliner Klinikkonzern Vivantes und ließen sich von einem katholischen Träger im gleichen Stadtteil anwerben. Zuerst kündigte der Chefarzt, dann erfolgte eine Massenkündigung des Teams (11 Ärzte und 27 Pflegekräfte). 2019 wechselte das Personal einer Kinderklinik von Asklepios in Sankt Augustin zur nahe gelegenen Uni-Klinik nach Bonn (vgl. Lühring). Über ähnliche Erfahrungen wird in Sachsen-Anhalt berichtet. Dort betreibt der Konzern Ameos, mehrheitlich im Besitz des Private-Equity-Fonds Carlyle, an mehreren Standorten Kliniken, deren Beschäftigte zuletzt nach vielen Monaten des Tarifkonflikts erste substanzielle Lohnerhöhungen durchsetzen konnten. Das Unternehmen war nach Angaben der Gewerkschaft ver.di zuvor immer wieder durch ruppiges Vorgehen gegen Beschäftigtenrechte aufgefallen. Wegen schlechter Bezahlung und hoher Arbeitsbelastung waren auch dort Beschäftigte an tarifgebundene Kliniken abgewandert.

8. Wirtschaftskriminelles Handeln

Seit vielen Jahren berichten Pflegekräfte vom „Tatort“ Krankenhaus, das heißt von einem System, das die so genannte gefährliche Pflege auslöst. Darunter ist in Fachkreisen die Pflege gemeint, die nicht einmal dem Minimalstandard genügt und den Patienten vermeidbare Schäden zufügt. Im Jahr 2015 erstellte die Gewerkschaft ver.di einen „Nachtdienstreport“, der auf einer Befragung von Pflegekräften zu ihren Nachtschichten basierte. Ein Ergebnis war, dass fast zwei Drittel der Pflegefachkräfte nachts vollkommen allein viele Patientinnen und Patienten betreuen mussten. Nach Angaben von ver.di ist diese Personalsituation völlig legal, da es offensichtlich keine Vorschriften für den Einsatz von Pflegefachkräften in Krankenhäusern gibt. Allein das Management entscheidet darüber, wie viele Personen mit welcher Qualifikation für die Pflege eingesetzt werden (ggf. auch ganz ohne Fachkräfte).

Entsprechend vorsichtig äußern sich Gewerkschaftsvertreter*innen über die juristischen Konsequenzen aus dieser Konstellation im Graubereich zwischen Legalität und Kriminalität. Wenn auch für einen Laien die Nähe zu § 223 StGB augenscheinlich ist. Dort heißt es: „Wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ So bewertet auch ver.di-Vertreterin Astrid Sauermann gegenüber BIG Business Crime den Pflegenotstand im strafrechtlichen Sinne zurückhaltend. Beschäftigte würden beispielsweise unterhalb des (Pflege)Mindestlohns vergütet und müssten unbezahlte Überstunden leisten. Ebenfalls sei es auch nicht erlaubt, Auszubildende als volle Arbeitskräfte einzusetzen. „Das würde ich in meinem Werteraster als kriminell bezeichnen, im strafrechtlichen Sinne ist es das aber nicht“, so Sauermann.

Am Rande der Legalität bewegen sich auch Steuertricks von Gesundheitskonzernen und die Behinderung von Betriebsratsarbeit („Union Busting“). Von einem Gesetzesbruch geht die Initiative „Krankenhaus statt Fabrik“ bei der zweigeteilten Finanzierung der Kliniken aus. Wegen der abschmelzenden öffentlichen Förderung werden 44,3 Prozent der Investitionsmittel, etwa 2,8 Milliarden Euro, aus den laufenden Einnahmen finanziert (Eigenmittel und Kredite), „die eigentlich für die Patientenversorgung und für Personal vorgesehen sind. Umgerechnet auf Beschäftigte bedeutet das über 51.000 Stellen, die diesem Gesetzesbruch geopfert wurden. Baustellen werden mit Personalstellen finanziert.“ (KstF, Seite 43)

 

Anmerkungen:

1) Die Arbeitskosten der Pflegekräfte wurden aktuell (2020) aus den Fallpauschalen herausgenommen und werden seitdem separat über das so genannte Pflegebudget in ihrer tatsächlichen Höhe finanziert. Für die Gewerkschaft ver.di stellt dies den ersten Ansatz eines Bruchs mit der markförmigen Steuerung der Krankenhäuser dar ‒ nicht zuletzt ermöglicht durch Streiks und andere Proteste für mehr Personal in den Krankenhäusern in den letzten Jahren. Daneben wurden Personaluntergrenzen für bestimmte Bereiche eingeführt, die von gewerkschaftlicher Seite, aber auch von Berufs- und Patientenverbänden, als völlig unzureichend kritisiert werden.

2) Tatsächlich sinken die öffentlichen Fördermittel seit vielen Jahren fast kontinuierlich. Nach Michael Wendl betrugen sie 1990 noch knapp 10 Prozent, 2017 nur noch 3,2 Prozent der Klinikumsätze. Notwendig seien sieben bis acht Prozent. Damit, so Wendl, lebten die öffentlichen Krankenhäuser von der Substanz. (vgl. Michael Wendl, „Wie kapitalistisch sind Kliniken?“, Oxi Nr, 6/2020, Seite 9)

3) Die gefährliche Unterbesetzung in Krankenhäusern wird anschaulich belegt durch den ver.di-Nachtdienstcheck – vgl. www.nachtdienstreport.verdi.de
Erst in den letzten Jahren wurden wieder mehr Pflegekräfte eingestellt. Ver.di verbucht dies als ein Erfolg der Streiks von Pflegekräften in mehreren Bundesländern.

 

Literatur:

Daniel Behruzi: „Covid-19. Geschwächtes System“, Text vom 27. April 2020, Webseite „Lernen im Kampf“

COVID-19: Geschwächtes System

„Krankenhaus statt Fabrik“: Das Fallpauschalensystem und die Ökonomisierung der Krankenhäuser – Kritik und Alternativen, V.i.S.d.P. Dr. Nadja Rakowitz, 5., erweiterte und komplett überarbeitete Neuauflage Maintal, April 2020, Seite 9

https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de/53187

Kalle Kunkel: „Der Kern der deutschen Krankenhausmisere“, der Freitag vom 13. März 2020

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-kern-der-deutschen-krankenhausmisere

Ders.: „Ein Weckruf für die Krankenhauspolitik“, der Freitag vom 24. März 2020

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-weckruf-fuer-die-krankenhauspolitik

Marion Lühring: „Fluch(t) aus der Klinik“, in: ver.di Publik Nr. 2/2020, Seite 3

Hartmut Reiners: Gesundheit und Geld, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 4/2020

Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, Köln, 2018

Michael Wendl: „Wie kapitalistisch sind Kliniken“, Oxi Nr. 6/2020, Seite 8f.

 

Zitate

Der Arzt und Publizist Bernd Hontschik sprach sich im Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 16. August 2020 für alternative Lösungswege aus:

„Wer jetzt immer noch Krankenhausschließungen propagiert, hat nichts verstanden. Hausarztmedizin, die Allgemeinmedizin muss ins Zentrum rücken. Um diese Basis herum gruppieren sich Pflegestützpunkte, Fachärzt*innen aller Art und stationäre Einrichtungen. Niedergelassene und Krankenhausärzt*innen behandeln ihre Patient*innen gemeinsam. Integrierte Versorgungskonzepte genießen absoluten Vorrang. Krankenhäuser werden in Kategorien eingeteilt, vom kleinen 50-Betten-Haus der Grundversorgung bis hin zu universitären Einrichtungen mit allen Spezialabteilungen. Die Finanzierung baut nicht auf Fallpauschalen auf, sondern geschieht entsprechend dem Auftrag beziehungsweise der Größe des Krankenhauses mit pauschalen Budgets. Bezahlt wird die Erfüllung des gesellschaftlichen Auftrages, nicht eine konkrete medizinische Tat.“

(Stephan Hebel, „Schwere Vorwürfe gegen Jens Spahn: „Bevölkerung immer wieder in die Irre geführt‘“, Interview mit Bernd Hontschik, Frankfurter Rundschau vom 18. August 2020)

 

Hartmut Reiners richtet seinen Blick auf die Umverteilungsfrage:

„Für Prävention und Gesundheitsförderung werden nur 3 % der Gesundheitsausgaben verwendet. Gesundheitsgerechte Arbeits- und Lebensbedingungen und die Bekämpfung sozialer Ungleichheit sind mindestens ebenso wichtige gesundheitspolitische Faktoren wie die Bereitstellung einer umfassenden medizinischen Versorgung.“

(Hartmut Reiners: „Gesundheit und Geld“, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 4/2020, Seite 43f.)

 

Harald Weinberg, Gesundheitsexperte für die Fraktion Die Linke im Bundestag, kritisiert die krankmachende kapitalistische Wirtschaftsweise:

„Kritik am Gesundheitssystem im Kapitalismus sollte nicht beim Krankenhaus anfangen – das ist deutlich zu spät. Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft nur mittelbar ‚systemrelevant‘, nämlich als Bedingung einer Wirtschaftsweise, die die Gesundheit ihrer Mitglieder im Interesse der Profitproduktion systematisch schädigt und zugleich braucht. Die sogenannten Volkskrankheiten, deren Ursachen und Verlauf wesentlich von dieser Produktionsweise bestimmt werden, sind insofern der eigentliche Kern des Problems.“

(Harald Weinberg: „Das ‚Krankenhaus-Monopoly‘ greiser Patriarchen“, Neues Deutschland vom 20. Juli 2020)

Überausbeutung allerorten

Fehlender Mindestlohn in Bayern

Das Projekt „Faire Mobilität“ des DGB teilte der Tageszeitung taz im August 2020 mit, ein großer Gemüsehof im bayerischen Mamming mit etwa 500 Saisonarbeitskräften – vor allem aus Rumänien – habe den gesetzlichen Mindestlohn umgangen, den Arbeiter*innen ihre Personalausweise weggenommen und die Menschen ohne Corona-Sicherheitsabstand untergebracht. In dem Großbetrieb hatten sich 250 Erntehelfer*innen mit Corona infiziert. Der Hof gilt als einer der größten Infektionsherde in Deutschland. Die dort Beschäftigten hätten teilweise nur sechs Euro pro Stunde statt der vorgeschriebenen 9,35 Euro erhalten. Ein Teil des Lohns musste demnach noch für die Unterkunft und die Endreinigung abgegeben werden. Außerdem hätten die Menschen 200 bis 300 Euro an einen Vermittler zahlen müssen. Der Ausweis sei erst nach Bezahlung der Vermittlungsgebühr zurückgegeben worden.

Quelle:

Jost Maurin: „Vorwürfe gegen Gemüsehof in Bayern“, taz vom 13. August 2020

https://taz.de/Vorwuerfe-gegen-Gemuesehof-in-Bayern/!5707029/

 

 

Menschenrechtsverstöße in Südafrika

Die aktuelle Studie „Günstiger Wein, bitterer Nachgeschmack“, unter anderem herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Gewerkschaft ver.di, beschreibt die Lieferverbindungen von südafrikanischen Weinfarmen nach Deutschland und stellt dabei elementare Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen fest. Die Marktmacht des hiesigen Lebensmitteleinzelhandels setzt die Kellereien und Weinfarmen in Südafrika unter Preisdruck. Diese wiederum drücken als Reaktion darauf die Löhne, ersetzen Festangestellte durch Leiharbeiter*innen und vertreiben Arbeiter*innen willkürlich aus ihren Unterkünften.

Die Preismargen entlang der Zulieferkette der Supermarktkonzerne sind extrem ungleich. Ein Beispiel dafür sei für einen bestimmten Lieferkettentyp angegeben, bei dem die Kellereien (die die Trauben von den Winzerbetrieben zu Wein verarbeiten) den Wein als Tankwein weiterverkaufen. Die Weine werden erst in Deutschland von deutschen Kellereien in Flaschen abgefüllt.

Verkaufspreis für eine 0,75-Liter-Flasche Wein:                        2,49 Euro

Darin enthalten

Mehrwertsteuer:                                          19,0 Prozent             (0,47 Euro)

Discounter:                                                  24,2 Prozent             (0,60 Euro)

Kellerei in Deutschland (füllt Wein ab):   39,4 Prozent             (0,98 Euro)

Fracht und Import:                                         1,7 Prozent             (0,05 Euro)

Kellerei in Südafrika (produziert Wein):    7,6 Prozent             (0,19 Euro)

Weinfarm:                                                       6,7 Prozent             (0,17 Euro)

Farmarbeiter*in:                                            1,4 Prozent             (0,03 Euro)

(Idealtypische Berechnung für eine 0,75-Liter-Flasche Wein nach Preisen von 2017, vgl. Studie, Seite 15)

Es kann nicht überraschen, dass der Mindestlohn in der südafrikanischen Landwirtschaft aktuell nur 18,68 Rand pro Arbeitsstunde (rund 1,16 Euro) beträgt. Der Wochenlohn bei einer angenommenen 45-Stunden-Arbeitswoche liegt damit etwa ein Drittel unter dem von einer Nichtregierungsorganisation errechneten notwendigen existenzsichernden Einkommen eines Haushalts. Die Studie belegt anhand von Untersuchungen auf vier Farmen, dass grundlegende Menschenrechte verletzt werden (Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen; Recht auf Gesundheit; Recht auf soziale Sicherheit; Recht, sich zu organisieren/Recht auf Kollektivverhandlungen; Recht auf angemessene Unterkunft). Diese Farmen beliefern sowohl Einzelhandelskonzerne wie Edeka und Kaufland/Real als auch den Weinfachhandel in Deutschland (vgl. Studie, Seite 3f.).

Der Autor der Studie fordert unter anderem, dass die deutsche Bundesregierung ein nationales Lieferkettengesetz verabschiedet, das menschenrechtliche Sorgfaltspflichten von transnational agierenden Unternehmen mit Sitz in Deutschland festschreibt. Eigentlich sollte das Gesetz Ende August im Bundeskabinett beschlossen werden. Was aber wegen der ablehnenden Haltung des Bundeswirtschaftsministers Altmaier, der das Gesetz offensichtlich mit allen Mitteln verhindern will, nicht geschah (vgl. neues deutschland vom 27. August 2020).

Quellen:

Benjamin Luig: „Günstiger Wein, bitterer Nachgeschmack. Weinexporte von Südafrika nach Deutschland, Studie der Rosa-Luxemburg-Stifung, von ver.di u.a., August 2020

https://www.rosalux.de/publikation/id/42827/guenstiger-wein-bitterer-nachgeschmack?cHash=9d47285a335b824c179f83fcd8e2bc80

Haidy Damm: „Lieferkettengesetz stockt“, neues deutschland vom 27. August 2020

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1140950.lieferkettengesetz-stockt.html?sstr=haidy|damm

 

 

Rechtlose Saisonarbeiter*innen in Süditalien

Mindestens dreitausend Menschen leben im Slum von Borgo Mezzanone, der größten illegalen Siedlung Italiens. Die hygienischen Bedingungen in dem Ort im süditalienischen Apulien kann man nur als prekär bezeichnen: Wasser muss von außerhalb des Camps beschafft werden, Strom gibt es nicht. Seit mehr als zwanzig Jahren werden hier Erntehelfer*innen für die Tomatenernte ausgebeutet, mit täglichen Arbeitszeiten von zehn bis zwölf Stunden. In den Sommermonaten halten sich rund siebentausend Menschen aus Afrika, aber auch Osteuropa in den informellen Siedlungen rund um Foggia auf. In der Zeitschrift der Freitag berichtet eine Gewerkschafterin dazu: “Die Erntehelfer*innen aus Rumänien und Bulgarien in den Orten in der Umgebung stehen immer unter Bewachung. Da sie nur als Saisonarbeiter*innen kommen, haben sie kein großes Interesse daran, ihre Rechte einzufordern. Sie akzeptieren sehr niedrige Löhne, um Geld für zu Hause zu verdienen. Gleichzeitig leben im Slum viele nigerianische Frauen, die für einen sogenannten anderen Markt vorgesehen sind.“

Eine Reporterin der Zeitung Die Welt nannte die Siedlung „den hoffnungslosesten Ort des Landes, vielleicht sogar ganz Europas“.

Quellen:

Alessia Manzi: „Apuliens Slum“, der Freitag vom 27. August 2020

Virginia Kirst: „Europas Ernte-Sklaven“, Die Welt vom 13. Juli 2020

https://www.welt.de/politik/ausland/plus211539447/Migranten-in-Italien-Europas-Ernte-Sklaven.html

„Von den Amerikanern lernen“

 

Nach AfD, FDP und Die Linke haben sich nun auch die Grünen für die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Fall Wirecard entschieden. Dabei geht es bekanntlich um Bilanzbetrug in Milliardenhöhe bei einem deutschen Vorzeigeunternehmen, das es bis in den DAX, dem wichtigsten deutschen Börsenindex, geschafft hatte.

In der Augustausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik analysiert der Frankfurter Anwalt und Bankenexperte Wieslaw Jurczenko das „Totalversagen der deutschen Finanzaufsicht“.

Wirecard unterstand elf Jahre lang der BaFin als Aufsichtsbehörde. Der Jahresabschluss des Unternehmens wurde von Ernst & Young (EY), einem der vier bedeutendsten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, bis einschließlich 2018 regelmäßig abgesegnet. 1,9 Milliarden Euro fehlen in der Bilanz. Jurczenko geht jedoch davon aus, dass sich das Loch in Wirecards Kasse noch als erheblich größer herausstellen könnte, als derzeit öffentlich bekannt geworden sei. „All das ist mehr als nur eine Unternehmenspleite. Es ist ein gewaltiger Schlag ins Kontor, ein Desaster, wie es selbst der Präsident der deutschen Finanzaufsicht BaFin, Felix Hufeld, einräumt. Ein Desaster für die Aufsicht, für die Wirtschaftsprüfer, für die Anleger, die Mitarbeiter von Wirecard und – nicht zuletzt – den gesamten Finanzplatz“, so Jurczenko.

Der Autor stellt Wirecard in eine Reihe von Skandalen der vergangenen Jahre, in denen die „Crème de la Crème des deutschen Kapitalmarkts“ im Fokus der Öffentlichkeit standen: Zum Beispiel die Hypo Real Estate, „die es mit ihrer Tochter Depfa in Irland zu bunt trieb“, die Deutsche Bank, „die bei praktisch jedem Finanzverbrechen der vergangenen zwanzig Jahre dabei war“, oder VW, „das nach dem Skandal um seine illegale Abgastechnik zehntausende Kunden entschädigen muss.

Was es dagegen nicht gegeben habe in Deutschland, sei bislang eine passende Reaktion des Gesetzgebers gewesen. Jurczenko schlägt deshalb vor, sich an den USA zu orientieren. Denn die hätten auf Krisen im Banken- und Finanzmarkt stets konsequent und bisweilen radikal reagiert.

Im Jahr 2001 wurde dort beispielsweise die Bilanzfälschung des Energiekonzerns Enron aufgedeckt. Tausende Mitarbeiter*innen verloren ihre Jobs, der Schaden ging in die Milliarden. Der Gesetzgeber reagierte schnell und verschärfte schon ein Jahr später mit dem Sarbanes-Oxley Act (SOX) massiv die rechtlichen Regelungen zur Bekämpfung von Bilanzfälschungen börsennotierter Gesellschaften. Seitdem, so der Autor, habe es in den USA keinen großen Fall von Bilanzfälschung mehr gegeben. Auch EY kenne diese Standards sehr genau und prüfe sie bei SOX-regulierten Unternehmen. Umso unverständlicher erscheint es Jurczenko, dass die EY-Prüfer mit Blick auf die Bilanzierungsmethoden von Wirecard über Jahre keinen Verdacht geschöpft haben.

In den USA reagieren die Behörden offensichtlich konsequent: mit exorbitanten Bußgeldern und schnell verhängten, in manchen Fällen langen Haftstrafen. „Im Vergleich dazu ist die deutsche BaFin ein zahnloser Tiger, kaum mehr als eine Art spezialisiertes Ordnungsamt mit geringer Bußgeldkompetenz. (…) Nicht nur ist ihr Aufsichtsbereich wesentlich beschränkter als jener der US-Aufsicht, sie verfügt darüber hinaus über vergleichsweise wenige Ermittlungskompetenzen.“ Strafverfahren mit Bezug zum Kapitalmarkt würden nahezu ewig dauern und nicht selten mit lauen Deals enden oder im Sande verlaufen. Säßen in den USA einzelne VW-Manager längst hinter Gittern, würde in Deutschland noch langwierig ermittelt – alles in allem „eine Farce ohnegleichen“.

Der Fall Wirecard könnte im Laufe der Ermittlungen zudem ergeben, dass auch Geldwäsche eine Rolle gespielt haben könnte. Bei deren Bekämpfung sehe es hierzulande aber besonders düster aus. „Schätzungen zufolge werden in Deutschland pro Jahr etwa 100 Mrd. Euro gewaschen. Die italienische Mafia ist heilfroh, ein solches Paradies vor ihrer Haustür zu haben.“

Quelle:

Wieslaw Jurczenko: „Der Wirecard-GAU. Das Totalversagen der deutschen Finanzaufsicht“, Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2020, Seite 71-77

https://www.blaetter.de/ausgabe/2020/august/der-wirecard-gau

 

Schikanierte Seeleute

 

Der Welthandel ist ohne Seefahrt nicht denkbar. Denn die Schifffahrt bildet das Rückgrat der Wirtschaft. 90 Prozent aller Waren werden letztlich per Schiff zwischen den Kontinenten transportiert. Über die unhaltbaren Folgen, die dabei insbesondere das sogenannte Ausflaggen von Schiffen für die betroffenen Seeleute haben kann, berichtete das ZDF am 11. und 12. August 2020. Viele Reedereien, auch deutsche, lassen ihre Schiffe auf den Weltmeeren unter sogenannten Billigflaggen fahren. Für die betroffenen Seeleute bedeutet dies massive Missstände bei den Arbeits- und Lebensbedingungen (keine Tariflöhne, kein Urlaubs- und Krankengeld, fehlende Arbeitsschutzbestimmungen).

So berichtet ein Seemann aus Sri Lanka über die unerträglichen Zustände auf einem Schiff einer Hamburger Reederei. Der Frachter fuhr unter der Billigflagge von Liberia. Die Verpflegung der Crew war völlig unzureichend. Lebensmittel waren zum Teil verdorben, für das Trinkwasser an Bord musste bezahlt werden und es war dennoch nicht ausreichend vorhanden. Es musste Regenwasser in Plastikplanen gesammelt werden. Ein Vertreter der Transportarbeitergewerkschaft ITF berichtet zudem von verzögerten Lohnzahlungen, verweigertem Landgang und nicht eingehaltenen Sicherheitsstandards.

Werden deutsche Schiffe ausgeflaggt, zum Beispiel nach Liberia, den Cayman Islands oder Panama, werden die deutschen Tariflöhne und Sozialstandards umgangen. Dazu wird eine Briefkastenfirma in einem Billigflaggenland gegründet, die als neuer Eigentümer auftritt. An Bord gelten deshalb die Regeln des Flaggenstaats (geringere Löhne und soziale Absicherung).

Um Kosten zu reduzieren wird häufig auch die hochgefährliche Sicherung der Ladung nicht von den dafür qualifizierten Hafenarbeitern vor Ort durchgeführt, sondern den Schiffsbesatzungen aufgezwungen. Ein weiterer Skandal: Im Jahr 2015 wurden den deutschen Reedern vom Staat massive Steuererleichterungen gewährt. Das Ziel war, sie zu animieren, ihre Schiffe wieder unter deutscher Flagge fahren zu lassen – ohne jeden Erfolg. Der deutsche Staat fördert die hiesigen Reeder also jährlich mit einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag. Die ausgeflaggten Schiffe aber „kommen nicht mehr zurück“, wie es in der Reportage heißt.

Im schlimmsten Fall werden Schiffe, die unter Billigflaggen fahren, aufgegeben. Geht eine Reederei aus einem Billigflaggenstaat pleite, werden die Seeleute zurückgelassen und sind auf sich gestellt. Weil eine russische Reederei wegen Zahlungsunfähigkeit einen Frachter aufgab, leben derzeit zwei Seeleute seit mittlerweile fast zwei Jahren im bulgarischen Schwarzmeerhafen Varna auf ihrem Schiff. Denn sie hoffen, dass sie ihre ausstehenden Gehälter erhalten, wenn das Schiffes eventuell verkauft wird. Laut internationalem Recht ist der Inselstaat Palau für Crew verantwortlich. Aber der ließ bislang so gut wie nichts von sich hören.

Quellen:

ZDF zoom: „Die Sklaven der Weltmeere. Wie Seeleute schikaniert werden“. Ein Film von Arndt Ginzel, gesendet am 12.8.2020 (22:45 Uhr)

https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom

Frontal 21 (ZDF): „Sklaven der Weltmeere: Seeleute auf Geisterschiffen“, Reportage von Arndt Ginzel am 11.8.2020 (21 Uhr)

https://www.zdf.de/politik/frontal-21/seeleute-auf-geisterschiffen-100.html

Vgl. zum Thema auch:

Gerd Bedszent: Von der Billigflagge zum neoliberalen Utopia, in: BIG Business Crime Nr. 2/2015

Burkhard Ilschner: Big Business Crime – an, auf und in den Meeren, in: BIG Business Crime Nr. 2/2015 (1. Teil), Nr. 4/2015 (2. Teil) und Nr. 4/2016 (3. Teil) – zu lesen auch auf der Homepage der Zeitschrift WATERKANT

https//www.waterkant.info

 

Perfides System Fleischindustrie

Die erbärmlichen Arbeits- und Lebensbedingungen osteuropäischer Arbeiter*innen in der deutschen Fleischindustrie sind im Grunde genommen schon seit vielen Jahren bekannt. Sie führten jedoch erst ab Mai 2020 zu einer öffentlichen Entrüstung – vor allem weil vermutet wurde, dass sie die Ausbreitung des Corona-Virus unter den dort Beschäftigten forciert und damit auch die weitere Bevölkerung gefährdet hätten. Um die Wogen zu glätten, legte Bundesarbeitsminister Heil Ende Juli einen Gesetzentwurf vor, der unter anderem ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit ab 2021 in der Branche vorsieht. Scharfe Kritik daran kam erwartungsgemäß von der betroffenen Fleischindustrie und aus wirtschaftsliberalen Kreisen, während das gewerkschaftliche Spektrum, Linke und auch Grüne die Pläne unterstützen.

Weitgehend ausgeblendet in der Diskussion wird jedoch, dass die aktuell breite Kritik an der Ausbeutung der Arbeitenden (und der Quälerei von Tieren) auch einen langen Vorlauf hat. Darauf weist ein neues, vom kleinen Berliner Verlag Die Buchmacherei veröffentlichtes Buch hin. Denn so stark die Machenschaften von „Tönnies und Co.“ derzeit auch im medialen Fokus stehen – die politische und soziale Arbeit von Initiativen, Vereinen und Einzelpersonen, die sich aufgrund der Untätigkeit des Staates seit Jahren gegen die Verhältnisse in der Fleischindustrie wehren, ist überwiegend unbekannt. Der vorliegende Sammelband bietet deshalb auf vergleichsweise wenigen Seiten einen eindrucksvollen Einblick in die verschiedenen Perspektiven engagierter Aktivisten, die eben nicht erst seit den massiv auftretenden Corona-Fällen in den Großschlachtereien gegen die oft als „sklavenähnlich“ beschriebene Situation der Werkvertragsbeschäftigten Position beziehen.

Bei den insgesamt 14 Beiträgen des Bandes handelt es sich meist um Auszüge aus zuvor andernorts veröffentlichten Interviews, Artikeln und Reden, aber auch um einzelne Originalbeiträge. So berichtet beispielsweise Inge Bultschnieder aus Rheda-Wiedenbrück, einem Zentrum der deutschen Fleischindustrie, über ihre Begegnung mit einer „total heruntergewirtschafteten“ bulgarischen Werkvertragsarbeiterin, die sie im Jahr 2012 in einem Krankenhaus kennenlernte (Seite 19). Deren Erfahrungsberichte motivierten sie zu ihrem Engagement in der IG WerkFAIRträge, die sich seit mittlerweile mehreren Jahren für die praktische Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Betroffenen einsetzt.

Christin Bernhold und John Lütten vom Bündnis Marxismus und Tierbefreiung reflektieren in ihrem Beitrag ein Gespräch mit zwei ehemaligen Werkvertragsarbeitern bei Tönnies. Die hatten ihnen berichtet, dass sie wie Sklaven behandelt wurden, über gewalttätige Vorarbeiter und davon, wie insbesondere der extreme psychische Stress den Arbeitenden zusetzte.

Der mittlerweile bundesweit bekannte Lengericher Pfarrer Peter Kossen spricht mit Blick auf die osteuropäischen Arbeitskräfte von „Verschleißmaterial“, „Wegwerfmenschen“ und einer „Geisterarmee“: „Sie leben unter uns und sind doch Bürger in einer dunklen Parallelwelt (…).“ (Seite 50). Um Lohnkosten zu drücken werde „ein Sumpf von kriminellen Subunternehmern und dubiosen Leiharbeitsfirmen“ genutzt. Wer aber mit Kriminellen Geschäfte mache, so Kossen, sei selbst kriminell (ebd.).

Abgedruckt wurde auch die Rede von Werner Rügemer, die er als Vorsitzender der Aktion gegen Arbeitsunrecht bei einer Kundgebung am 13. September 2019 am Schlachtstandort von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück hielt. Rügemers Beitrag schlägt dabei einen großen Bogen. Er fordert das Ende des „System Tönnies“. Denn dieses, so der Kölner Publizist, „hat sich nicht nur in die Arbeitsverhältnisse eingefressen, sondern auch in die Natur, in die Lebensgrundlage Wasser, in die Tierwelt und nicht zuletzt in die politischen Verhältnisse in Deutschland und in der Europäischen Union, auch in die Kommunen, die mit Tönnies-Standorten gesegnet beziehungsweise belastet sind.“ (Seite 63)

Guido Grüner, seit vielen Jahren für die ALSO (Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg) in der Erwerbslosenbewegung aktiv, verweist in seinem – zuerst in der Sozialistischen Zeitung (SoZ) erschienenen – Artikel auf die positiven Effekte der hartnäckigen Arbeit unterschiedlicher Organisationen, Initiativen und Projekte zur Verbesserung der Situation in der Fleischindustrie. So habe etwa die Durchsetzung des Mindestlohns in den Aktionen dort ihren Ausgang genommen. „Zum Verbot der Werkverträge hat es bislang nie etwas gegeben, aber allein die Tatsache, dass es dazu jetzt so schnell einen Kabinettsbeschluss gibt [vom 20. Mai; Anmerkung des Verfassers], zeigt, dass die jahrelange Arbeit Spuren hinterlassen hat.“ (Seite 97) 

Peter Birke, Experte für die Geschichte der Arbeitskämpfe und gewerkschaftlicher Politik, thematisiert in seinem Beitrag unter anderem die Verknüpfung von Aufenthaltsrecht, Sozialrecht und Arbeitszwang, die in den letzten Jahren enorm verschärft worden sei. Die Empörung vieler Politiker*innen über die untragbaren Verhältnisse in der Fleischindustrie habe bislang immer das „peinliche“ Thema des Migrationsregimes umschifft, das dem System der Arbeitsausbeutung ebenso zugrunde liege wie die Abgabe von Verantwortung und Kontrolle an Subunternehmen. „Denn jene Ausbeutung“, schreibt Birke, „über die er in seiner Arbeitspolitik die Nase rümpft, bringt der Staat durch seine Migrationspolitik regelmäßig und systematisch selbst mit hervor.“ (Seite 101) Auch er hält das Verbot von Werkverträgen für einen wichtigen Schritt mit dem Potenzial, in weitere Bereiche auszustrahlen.

Nach der gesetzgeberischen Initiative des Bundesarbeitsministers kann tatsächlich eine anhaltende kontroverse parlamentarische und öffentliche Auseinandersetzung erwartet werden. Das vorliegende Buch bietet dafür auch jenseits der Ebene der reinen Empörung über die unzumutbaren Verhältnisse sachliche Analysen und politisch relevantes Hintergrundwissen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und inhaltlichen Schwerpunkte politisch aktiver Gruppen und Menschen werden verdeutlicht. Und nicht zuletzt werden auch die Stimmen der betroffenen Arbeitenden als Hauptleidtragende des Systems wahrnehmbar.

Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg (Hg.):
Das „System Tönnies“ – organisierte Kriminalität und moderne Sklaverei“

Die Buchmacherei, Berlin 2020 (2. Auflage)
124 Seiten, 10 Euro
ISBN 978-3-9822036-3-8 

Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in der Fleischindustrie

Ein Gesetzentwurf des Bundeskabinetts vom 29. Juli 2020 sieht vor, vom kommenden Jahr an Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischindustrie zu verbieten. Mit dem Beschluss reagiert die Bundesregierung allerdings weniger auf die seit Jahren bekannten „unterirdischen“ (Bundesarbeitsminister Hubertus Heil) Arbeitsbedingungen in der Branche. Vielmehr veranlasste die Verbreitung des Coronavirus in der Umgebung mehrerer deutscher Schlachthöfe die Politik zu ihrer gesetzgeberischen Initiative.

Arbeitsminister Heil zur Begründung des Gesetzentwurfs:
„16-Stunden-Tage und beengtes Wohnen in Gemeinschaftsunterkünften akzeptieren wir nicht länger. Gezielte Kontrolle und klare Verhältnisse sind das Gebot der Stunde. Deshalb werden wir den Missbrauch von Werkverträgen beenden, mehr Kontrollen und höhere Bußgelder einführen, Arbeitszeit elektronisch erfassen lassen und auch branchenübergreifend Standards für die Unterkünfte festlegen.“

https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/bundeskabinett-verabschiedet-arbeitsschutzkontrollgesetz.html

Die Tageszeitung taz zitiert den Minister zudem mit den Worten: „Wir wollen, dass Menschen festangestellt werden und dass Gesundheitsschutz, Arbeitsschutz und faire Arbeitsbedingungen auch gewährleistet sind.“ In den vergangenen Jahren, so der Minister nach Angaben der taz, habe sich gezeigt, dass durch das „Sub-Sub-Sub-Unternehmertum“ keine Verantwortung übernommen worden ist. Schon vor Corona sei das eine Katastrophe“ gewesen, aber nun zum allgemeinen Pandemierisiko geworden.

https://taz.de/Verbot-von-Werkvertraegen-beschlossen/!5704767/ 

Die Gewerkschaft NGG schreibt dem beabsichtigten Gesetz eine „historische“ Bedeutung zu. Allerdings hält sie es zugleich für nicht nachvollziehbar, dass es „erst in Betrieben ab 50 Beschäftigte greifen soll und dass Werkverträge in der Branche bis Jahresende 2020, Leiharbeit aber noch drei Monate länger, bis Ende März 2021, erlaubt bleiben sollen“, wie es in einer Pressemitteilung vom 29. Juli heißt.

https://www.ngg.net/presse/pressemitteilungen/2020/ngg-fordert-arbeitgeber-der-fleischindustrie-zu-tarifverhandlungen-auf/

Übermäßiger Optimismus ist tatsächlich nicht angebracht. Denn es liegt bisher nur ein Regierungsbeschluss vor, der noch den Weg durch das Parlament gehen muss. „Und nach dem, was aus den Reihen der Union zu hören ist, ist sie gewillt, aus dem Entwurf des SPD-Ministers Hackfleisch zu machen. Denn der will der Leiharbeit generell an den Kragen, und vor allem der Wirtschaftsflügel der Union will das schon im Ansatz unterbinden“, kommentiert die taz.

https://taz.de/Tonnies-und-das-Verbot-von-Werkvertraegen/!5699464/

So fordert etwa der Wirtschaftsrat der CDU laut Pressemitteilung vom 29. Juli „Entlastungen für Betriebe statt immer neuer Eingriffe in die unternehmerische Freiheit“. Der Gesetzesentwurf zum Verbot von Zeitarbeit und Werkverträgen in der Fleischindustrie sei, so der Generalsekretär des Wirtschaftsrates, gerade für mittelständische Betriebe nach Datenschutzgrundverordnung, Mindestlohn-Dokumentation und Entgeltgleichheitsgesetz „ein weiterer regulatorischer Mühlstein um den Hals“. Zeitarbeit und Werkverträge bildeten für Unternehmer in Deutschland „ein zentrales Element, um durch arbeitsteilige Beschäftigung Flexibilität zu erhalten und Spitzen abzufedern“.

https://www.wirtschaftsrat.de/wirtschaftsrat.nsf/id/entlastungen-statt-eingriffe-in-unternehmerische-freiheit-de

Bei so viel Gegenwind aus marktliberalen Kreisen muss sich die Fleischindustrie wohl nicht allzu viele Sorgen machen. Noch einmal der Kommentar der taz:

„Die Politik muss deshalb dafür sorgen, dass ihre Regelungen auch effektiv überprüft werden. Und zwar, was Umwelt, Tierwohl und Arbeitsbedingungen angeht. Ein Blick in den Heil’schen Entwurf offenbart, was der Fleischwirtschaft da blüht. Er sieht Kontrollen erst ab 2026 vor und dann in nur 5 Prozent der Betriebe jährlich, also durchschnittlich einmal alle 20 Jahre pro Schlachthof.“

Die im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen im Detail unter:

https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/bundeskabinett-verabschiedet-arbeitsschutzkontrollgesetz.html

„Überausbeutung und Rechtsnihilismus“ ‒ Eine Medienschau zu den Arbeitsbedingungen in deutschen Schlachthöfen

Seit vielen Jahren schon prangern kritische Journalisten, Gewerkschaftsvertreter*innen und auch viele ehrenamtlich arbeitende Initiativen die skandalösen Arbeits- und Wohnbedingungen von Werkvertragsbeschäftigten in der Fleischindustrie an. Aber erst die Ausbreitung des Coronavirus und die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens – vor allem im Umfeld einiger Schlachtbetriebe – rückten in den vergangenen Wochen die dort herrschenden menschenunwürdigen Zustände in den medialen Fokus. Nachfolgend bringen wir eine Zusammenstellung von Beiträgen aus Presse, Radio- und TV-Sendungen zum Thema (in eigenen Zusammenfassungen mit ausgewählten Zitaten). Die ethische Frage der Tötung und Ausbeutung von Tieren bleibt in der Medienschau unberücksichtigt.

Jens Berger von den NachDenkSeiten empfiehlt drei Beiträge des Kölner Publizisten Werner Rügemer, die „eigentlich alles bieten, was man zum Thema wissen muss“. (https://www.nachdenkseiten.de/?p=62164) Die Ankündigung macht neugierig. Daher folgt zunächst eine Zusammenfassung wesentlicher Aussagen aus Rügemers Rede, die er bereits im September 2019 anlässlich der Kampagne „Schwarzer Freitag, der 13.“ der „Aktion gegen Arbeitsunrecht“ in Rheda-Wiedenbrück, dem Hauptsitz des Tönnies-Konzerns, hielt. Die Rede wurde vorab veröffentlicht.

Das „System Tönnies“: Grundstruktur der deutschen Schlachtindustrie

Rügemer geht davon aus, dass es sich beim Unternehmen Tönnies, dem europäischen Marktführer bei der Schweineschlachtung, um ein umfassendes „System“ handelt, das sich „nicht nur in die Arbeitsverhältnisse eingefressen [hat], sondern auch in die Natur, in die Lebensgrundlage Wasser, in die Tierwelt und nicht zuletzt in die politischen Verhältnisse in Deutschland und in der Europäischen Union, auch in die Kommunen, die mit Tönnies-Standorten gesegnet beziehungsweise belastet sind“. Der Konzern würde „systematischen Lohnraub“ betreiben, vor allem, weil die Arbeiter nicht beim Unternehmen selbst, sondern bei Werkvertragsfirmen angestellt sind. Selbst Leiharbeiter seien für Tönnies zu teuer und hätten zu viele Rechte. Denn immerhin müssten diese nach neun Monaten Arbeit den regulär Beschäftigten gleichgestellt werden. Werksvertragler könnten keinen Betriebsrat wählen. Der Mindestlohn bestünde nur auf dem Papier, denn er werde vielfach unterlaufen (Überstunden würden weder dokumentiert noch bezahlt, Umkleide- und Wegezeiten nicht berücksichtigt). Das Kündigungsschutzgesetz gelte nicht. Es gebe kein tariflich vereinbartes Recht auf Kranken-, Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Tönnies würde sich weigern, mit der zuständigen Gewerkschaft NGG überhaupt zu verhandeln.

Einen weiteren Baustein für den „Lohnraub“ sieht Rügemer in den überteuerten Mieten bei der Unterbringung der osteuropäischen Beschäftigten. Dabei bezieht er sich auf Aussagen des Chefs der CDU-Mittelstandsvereinigung (MIT) in Paderborn, Friedhelm Koch. Dieser habe Clemens Tönnies im August 2019 gegenüber der Neuen Westfälischen indirekt als Sklavenhalter bezeichnet. In Deutschland gebe es noch zwei Branchen, „die Sklaverei haben“, wurde der christdemokratische Politiker in der Zeitung zitiert: „Die eine ist die Prostitution, die andere die Fleischzerlegung.“ So würden Beschäftigten „schon einmal 200 Euro vom Lohn abgezogen für ein Bett in einer überfüllten Wohnung“. (Sigrun Müller-Gerbes: CDU-Mittelstandspolitiker: Tönnies macht Profit mit ‚Sklaverei‘“, Neue Westfälische, 16. August 2019; https://www.nw.de/nachrichten/wirtschaft/22536149_CDU-Mittelstandspolitiker-Toennies-macht-Profit-mit-Sklaverei.html) Außerdem führt Rügemer die „Gebühren“ an, welche die Arbeiter schon in ihren Heimatländern an ihre Werkvertragsfirmen bezahlen: „Sie müssen dieses teure Eintrittsticket kaufen, um überhaupt zu Tönnies zugelassen zu werden.“

Verantwortlich für die „Niedriglohnwüste Deutschland“ sind nach Auffassung des Publizisten die Bundesregierungen mit den jeweiligen Regierungsparteien CDU, CSU, SPD und Grüne. Auch dafür, dass rechtsverletzende Unternehmen nicht bestraft würden. Schlachtereien aus anderen EU-Staaten wie Dänemark und den Niederlanden hätten deshalb Produktionsbetriebe nach Deutschland verlegt: „So wurde der führende Niedriglohnstaat Deutschland zum führenden Schlachtzentrum Europas und Tönnies dessen Marktführer.“

Rügemer verweist auch darauf, dass das Bundeskartellamt im Jahr 2014 gegen 21 Wursthersteller wegen Preisabsprachen Bußgelder von insgesamt 338 Millionen Euro verhängt hat. Der größte Anteil davon (128 Millionen Euro) entfiel dabei auf den „Haupttäter Tönnies“. Doch dieser „trickste und löste die betroffenen Tochterfirmen Böklunder Plumrose und Könecke schnell auf. Das Kartellamt resignierte. Tönnies brauchte nicht zu zahlen.“

https://www.nachdenkseiten.de/?p=54770

Das zentrale Instrument bei der Ausbeutung in der Fleischindustrie ist für Rügemer der Werkvertrag. Damit würden „zusätzlich gezielt weitere flächendeckende, hunderttausendfache Rechtsbrüche ermöglicht“ und der Gewinn bei Vion, Westfleisch, Müller Fleisch, Anhalter Fleischwaren, Danish Crown, Tönnies & Co. ließe sich entsprechend steigern. Der Autor fasst die Merkmale von Werkverträgen wie folgt zusammen: Sie bedeuteten den in Deutschland niedrigsten arbeitsrechtlichen Status, noch unterhalb der Leiharbeit. Die Arbeitenden sind weder in dem Betrieb angestellt, in dem sie tätig sind, noch bei einer Leiharbeitsfirma, sondern „bei einer Werkvertragsfirma, die mit Vermittlungsgebühr, Abzügen für Fahrservice, Schutzausrüstung und Unterkunftsvermietung ihre Angestellten in Mehrfach-Abhängigkeit hält“. Werkvertragsfirmen seien „prinzipielle Feinde von Gewerkschaften, von Betriebsräten und von sonstigen Formen der gemeinschaftlichen Vertretung der Interessen der Beschäftigten“.

Rügemer schlussfolgert: „Es sieht ganz so aus, dass die Konstruktion der Werkverträge betrügerisch ist“. Die Werkvertragsfirmen seien in Wirklichkeit gar keine solchen, sondern sie vermittelten Leiharbeiter, denen jedoch ein ihnen an sich zustehender besserer arbeitsrechtlichen Status vorenthalten würde. Da die angeblichen Werkvertragsfirmen keine Lizenz für Leiharbeit hätten, würden sie sich seit Jahrzehnten strafbar machen. Bei den sie beauftragenden Fleischkonzernen könne man von deren Beihilfe zu einer Straftat ausgehen. Die staatliche Aufsicht sei zudem weitgehend untätig geblieben. „Aber auch bei seinen bisher erstmaligen Ermittlungen in der Fleischindustrie 2019 hat das Arbeitsministerium von NRW die (Un)Rechtmäßgkeit der Werkverträge gar nicht als Frage verfolgt“, schreibt der Autor und spricht darum von einem „dauerhaften Unrechts-Zustand“.

(Werner Rügemer: „Hoch-Risikogruppe: Fleischarbeiter“, NachDenkSeiten – Die kritische Website, 13. Mai 2020). https://www.nachdenkseiten.de/?p=60935

In einem dritten Beitrag resümiert der Vorsitzende von „Aktion Arbeitsunrecht e. V.“: Die Bundesregierung, alle Aufsichtsbehörden und auch der direkt zuständige Zoll hätten dauerhaft und flächendeckend Werkverträge geduldet, und zwar gesetzwidrig. Unter allen bisherigen Regierungen wäre bisher ein dauerhafter, flächendeckender Rechtsbruch festzustellen gewesen, „durch die Parteien CDU, CSU, Grüne, FDP, durch Bundesregierungen und Landesregierungen und Aufsichtsbehörden, durch die BundesarbeitsministerInnen Riester, Müntefering, Clement, von der Leyen, Scholz, Nahles, Barley, Heil“.

(Werner Rügemer: „Werkverträge in der Fleischindustrie abschaffen? Das vordergründige Skandal-Management der Bundesregierung – Lügen inbegriffen“, NachDenkSeiten – Die kritische Website, 5. Juni 2020) https://www.nachdenkseiten.de/?p=61638

Politik als Teil des Systems

Das betrügerische Geschäftsgebaren vieler Unternehmen thematisiert auch der sozialpolitische Blog von Stefan Sell. Der Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften verweist auf „eine der traurigen Täuschungsmanöver in der Fleischindustrie“. Im Jahr 2015 beschlossen die sechs größten deutschen Fleischkonzerne unter Federführung des damaligen Wirtschaftsministers Gabriel (SPD) und von Clemens Tönnies eine freiwillige Selbstverpflichtung zur Einhaltung sozialer Standards in der Fleischwirtschaft. Danach sollten in Zukunft auch alle Werkvertragsarbeitnehmer nach deutschem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht beschäftigt, die Zahl der Werkverträge reduziert und in eine Verbesserung der Unterkunftssituation investiert werden. „Herausgekommen ist bekanntlich nicht viel mehr als heiße Luft“, so Sell. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nutzte im vergangenen Mai „die Gunst der mediengeschwängerten Stunden und konnte gegen erhebliche Widerstände im Bundeskabinett die Absichtserklärung durchsetzen, jetzt aber wirklich aufzuräumen in dieser Branche“. Sell zitiert aus dem Papier des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit dem Titel „Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft“ vom 20. Mai 2020:

„Ab dem 1. Januar 2021 soll das Schlachten und die Verarbeitung von Fleisch in Betrieben der Fleischwirtschaft im Sinne des § 6 Absatz 10 Arbeitnehmer-Entsendegesetzes nur noch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des eigenen Betriebes zulässig sein. Damit wären Werkvertragsgestaltungen und Arbeitnehmerüberlassungen nicht mehr möglich. Bei der Ausgestaltung ist auf eine rechtssichere Branchenabgrenzung zu achten, die sicherstellt, dass eine gesetzliche Regelung nur Unternehmen trifft, deren Kerngeschäft Schlachten und Fleischverarbeitung ist.“

Sell zweifelt an der tatsächlichen Realisierung dieser gesetzlichen Regulierung: „Man sollte bei aller berechtigten Freude über den nun gefassten Beschluss aber mit der zugleich vor allen Gesetzgebungsverfahren angezeigten Skepsis hinsichtlich dessen, was am Ende hinten rauskommt, darauf hinweisen, dass 1.) es ein Verbot geben soll, 2.) das Verbot erst ab dem 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft treten soll 3.) und dass bei der Ausgestaltung auf eine ‘rechtssichere’ Branchenabgrenzung geachtet werden soll.“ Und er verweist auf ein grundsätzliches Problem: „Auf welcher Rechtsgrundlage und mit welcher expliziten Begründung entzieht man den Unternehmen der hier im Mittelpunkt stehenden Branche an sich rechtlich zulässige Instrumente wie den Werkvertrag und die Arbeitnehmerüberlassung, die aber in anderen Branchen weiterhin in Gebrauch sein dürfen und werden?“

Sell ist nicht davon überzeugt, selektiv nur auf die großen Schlachthöfe verändernd einzuwirken und dämpft implizit die Erwartung, die Politik würde sich gegen die Überausbeutung in der Fleischindustrie durchsetzen wollen und können. „Wenn man insgesamt eine Bilanz ziehen muss“, schreibt er, „dann müsste die ganze Kette in den Blick genommen und bearbeitet werden. Also von der Produktion der Tiere bei den Landwirten über die Organisation des Schlachtens, Zerlegens und der Weiterverarbeitung bis auf die Absatzseite, hier also vor allem bei den großen Vier, die den Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland beherrschen“. Letztere seien die „Quelle der betriebswirtschaftlich zwangsläufigen Effizienzsteigerungsmaßnahmen und Konzentrationsprozesse bei den Produzenten sowie der Marktmacht der großen Ketten, die sich untereinander in einem harten oligopolistischen Wettbewerb befinden und einen enormen Preisdruck auf ihre Lieferanten ausüben“.

(Stefan Sell: „Wenn Tönnies & Co. ihre Arbeiter nicht mehr über Subunternehmen und Werkverträge ausbeuten würden, dann kostet das eine Handvoll Cent. Zugleich aber ist die Engführung auf Werkverträge problematisch“, 5. Juli 2020, Aktuelle Sozialpolitik – Informationen, Analysen und Kommentare aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik)

(Ders.: „Werkverträge soll es in der Fleischindustrie nicht mehr geben. Ab dem kommenden Jahr. Vorhang wieder runter vor der Schlachthausszenerie. Aber Fragezeichen bleiben“, 21. Mai 2020, ebd.) https://aktuelle-sozialpolitik.de/2020/07/05/werkvertraege-in-der-fleischindustrie-und-mehr/

„Systemrelevanz“ von Tönnies und Co.

Ob die deutsche Politik und die EU angesichts der ökonomischen Macht, der außenwirtschaftlichen Bedeutung und damit des politischen Einflusses der Fleischindustrie tatsächlich umfassend regulierend tätig werden, scheint eher unwahrscheinlich. Das Magazin Der Spiegel beleuchtet die regionale Bedeutung der Branche: Vom nördlichen Nordrhein-Westfalen über das westliche Niedersachsen erstrecke sich eine Region, von manchen „Schweinegürtel“ genannt. Die Nähe zu den Seehäfen gelte als wichtig, um billig Futter importieren zu können. Es sei die wohl deutscheste aller denkbaren Kopien des amerikanischen Belt-Konzepts entstanden: Allein in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg lebten rund sechsmal so viele Schweine wie Menschen, jeder dritte Job hänge an der Tierhaltung. Doch während in der Fleischbranche die Anzahl der geschlachteten Tiere hoch bleibe, sinke die Zahl der Betriebe, unter Mästern wie unter Schlachtern. Die großen Konzerne bauten ihre Macht immer mehr aus. „Laut Interessengemeinschaft der Schweinehalter werden bereits fast 80 Prozent aller Schweine von den zehn größten Konzernen geschlachtet. Allein Tönnies kommt demnach auf einen Marktanteil von einem Drittel.“

(Alexander Preker: „So funktioniert die Schlachtbank Europas“, Der Spiegel vom 28. Juni 2020)

https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/deutsche-fleischfabriken-in-der-corona-krise-schlachtbank-europas-a-bc67c942-27ce-4668-8908-ecde4af86619)

Seitdem kürzlich bekannt wurde, dass es Clemens Tönnies gelungen war, den ehemaligen Wirtschaftsminister Gabriel (SPD) als Berater zu engagieren, wurden auch die Asiengeschäfte des Unternehmens stärker thematisiert. Denn Gabriel, so berichteten die Medien, sollte als Berater für den chinesischen Markt fungieren und u. a. neue Transportmöglichkeiten mit der Eisenbahn nach China ausloten. Auch das Handelsblatt analysiert die Exportoffensive der Firma Tönnies. Danach beeinträchtigt die coronabedingte Stilllegung des Stammwerks lukrative Exporte. „Ein Drittel des aus Deutschland exportierten Schweinefleischs ging im April 2020 nach China. Tönnies als mit Abstand größter deutscher Schweineschlachter profitierte davon besonders. Die Gruppe fuhr 2019 einen Rekordumsatz von 7,3 Milliarden Euro ein – ein Plus von fast zehn Prozent bei fast gleichbleibender Schlachtmenge. Der Umsatz war getrieben vom Exportboom nach China.“

(Dana Heide, Katrin Terpitz: Tönnies‘ große Pläne in China, Handelsblatt [Printausgabe] vom 3./4./5. Juli 2020)

Die junge Welt bestätigt diese Feststellung: Der Fleischkonsum scheine ungebrochen, trotz Coronakrise und Infektionswellen unter Beschäftigten in Schlachthöfen. Die Produktion hierzulande laufe nach Angaben des Statistischen Bundesamts auf Hochtouren. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sei danach der Umsatz des Gewerbes um 14,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Grund dafür sei unter anderem die hohe Nachfrage aus der Volksrepublik China gewesen, die ihren Import von Fleischprodukten mehr als verdoppelt hätte.

(Oliver Rast: „Mafiöse Strukturen“, junge Welt vom 2. Juli 2020)

https://www.jungewelt.de/artikel/381366.nahrungsmittelbranche-in-der-brd-mafiöse-strukturen.html

Die linke politische Wochenzeitung Jungle World beschrieb die Situation schon im letzten Jahr ähnlich: „Und die Zeichen stehen auf Expansion. Zwar sank der durchschnittliche Fleischkonsum der Deutschen zuletzt leicht, doch Tönnies geht es um andere Absatzmärkte. ‚Der Weltmarkt hat eine sehr, sehr intensive Mengensteigerung im Bedarf für Fleisch‘, sagte er bereits 2012.“ Tatsächlich, so die Zeitung, sei der Umfang der deutschen Fleischexporte in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen. Deutschland verfüge über den fünftgrößten Bestand an Schweinen weltweit. Seit Jahren würde hierzulande mehr Fleisch hergestellt als verbraucht. Vor allem China sei zuletzt als Abnehmer immer wichtiger geworden. Seit einem Jahr würde dort das Afrikanische Schweinefieber wüten. „In normalen Jahren wurden zuletzt rund 300.000 Tonnen Schweinefleisch nach China exportiert. Wir gehen davon aus, dass sich diese Zahl in diesem Jahr annähernd verdoppeln dürfte“, sagte ein Branchenvertreter im Mai der „Tagesschau“, wie der Autor berichtet.

(Paul Simon, „Der Fleischkonzern Tönnies geht juristisch gegen seine Kritiker vor“, Jungle World vom 19. September 2029)

https://jungle.world/artikel/2019/38/protest-gegen-die-knochenarbeit?page=all)

Die Verfilzung von Politik und Wirtschaft wird in folgendem Zitat deutlich: „Firmenpatriarch Clemens Tönnies, der es dank rücksichtsloser Ausbeutungsmethoden vom Metzgerssohn zum Milliardär gebracht hat, ist bestens in der Politik vernetzt. Er ist seit 19 Jahren Aufsichtsratsvorsitzender des Erstligaclubs FC Schalke 04 [Anm. BIG-Red.: bis 30. Juni 2020] und verfügt damit über ein dichtes Beziehungsgeflecht. Der CDU, die mit Armin Laschet in NRW den Ministerpräsidenten stellt, hat seine Firma insgesamt 147.000 Euro gespendet. Prominentestes Mitglied im Beirat der Tönnies Holding ist Siegfried Russwurm, amtierender Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp und Voith, sowie früheres Vorstandsmitglied von Siemens. Russwurm wurde vergangene Woche als neuer Präsident des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) vorgeschlagen.“ Obwohl gegen Tönnies selbst und seine Firma zahlreiche Ermittlungsverfahren gelaufen seien – u. a. wegen Betrugs, Steuerhinterziehung, Preisabsprachen, Bestechung, Falschetikettierung und Videoüberwachung von Mitarbeitern –, sie auch mehrmals zu hohen Geldstrafen verurteilt worden seien und die skandalösen Zustände in den Betrieben immer wieder für Schlagzeilen gesorgt hätten, „schadete das ihrem Aufstieg nicht“.

(Marianne Arens und Peter Schwarz, „Corona-Hotspot Tönnies: Profit vor Gesundheit und Leben“, trend onlinezeitung, 07/2020)

http://www.trend.infopartisan.net/trd0720/t210720.html

Warum die Politik nicht grundsätzlich gegen die Ausbeutungsverhältnisse in der Fleischindustrie vorgeht, zeigt auch eine Rezension des Buches „Das Schweinesystem“, das von der „Jour Fixe – Gewerkschaftslinke Hamburg“ herausgegeben wurde und kürzlich im Verlag „Die Buchmacherei“ in Berlin erschien. Dort heißt es: „Dieter Wegner, Aktivist bei der Hamburger Gewerkschaftslinken, ergänzt in seinem Aufsatz, dass maßgeblich die deutschen Bundesregierungen und die Europäische Union diese Arbeits- und Lebensverhältnisse in den letzten Dekaden geschaffen hätten. Daher sei der aktuelle Wirbel des Politikestablishments wegen der Coronainfektionswelle in der Fleischindustrie schlicht ein ‚Schauspiel im Bundestag‘. Angesichts der bisherigen Geschichte des ‚System Tönnies‘ überrascht es auch nicht, dass in vollem Wissen um die die Ansteckungszahlen hochtreibenden Arbeits- und Lebensverhältnisse die Fleischherstellung als ‚systemrelevant‘ eingestuft wurde, als der SARS-CoV- 2-­Erreger sich hierzulande ausbreitete. Profite über alles.“

(Christian Stache: „Moderner Klassenkampf“, junge welt vom 6. Juli 2020)

https://www.jungewelt.de/artikel/381616.ausbeutung-moderner-klassenkampf.html)

Das Geschäftsmodell der Werkverträge und der Subunternehmen

Matthias Brümmer von der Gewerkschaft NGG referierte Ende Januar 2020 in Oldenburg bei einer Veranstaltung zu den Missständen in der Fleischindustrie. Das Thema Werkverträge sei seit fast 40 Jahren in Deutschland ein Problem. Dies begann in der Bauindustrie und sei zunächst in verschiedene andere Bereiche „rübergschwappt“, dann innerhalb der Fleischwirtschaft „zur absoluten perversen Qualität“ geführt worden. In den letzten 30 bis 40 Jahren seien in der deutschen Schlachtindustrie rundweg bis zu 90 Prozent der Arbeitsplätze eines jeden Betriebes ausgegliedert und in Werkverträge umgemünzt worden. Mit der Folge, dass sich teilweise bis zu 30, 40 Firmen an einem Standort befinden. Dies habe zu einer Entsolidarisierung der Beschäftigten geführt. Es könne davon ausgegangen werden, dass von den 200.000 in der Fleischwirtschaft in Deutschland arbeitenden Menschen mittlerweile 80.000 nicht mehr in normalen Arbeitsverhältnissen beschäftigt seien. Das habe zu einem massiven Druck auf die Festbeschäftigung geführt (Löhne, Arbeitszeit, Nachtschicht- und Mehrarbeitszuschläge, Samstags- und Sonntagsarbeit). Auch Brümmer spricht vom „System Tönnies“: „Dieser Mann ist dabei, nicht nur die gesamte Fleischbranche, sondern mittlerweile auch viele andere Branchen umzukrempeln in der Frage der grundsätzlichen Beschäftigung. Und das hat massive Auswirkungen.“ Die Folgen zeigt der Abschlussbericht einer Untersuchung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales in NRW vom Dezember 2019 auf. Dort werden „gravierende Verstöße“ bei 85 Prozent der insgesamt 30 untersuchten Fleischbetriebe festgestellt. In seinem Vortrag geht der Gewerkschafter eingehend darauf ein. Weiteres dazu im Anschluss an die Medienschau.**

Brümmer stellt abschließend fest: Es fehlten gesetzliche Bestimmungen darüber, was ein Werkvertrag wirklich sei (die Bestimmungen des BGB reichten nicht). Firmen müssten daran gehindert werde, ihre Kernkompetenzen an fremde Unternehmen auszugliedern. Grundsätzlich fehle es an einer wirtschaftlichen Mitbestimmung in diesem Land.

(Vortrag von Mathias Brümmer bei der Veranstaltung „Sprengt die Fleischindustrie jegliche Menschenrechte?“, organsisiert von Attac und ALSO [Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg e.V.] am 31. Januar 2020) https://youtu.be/sUbvi6xUFOI

Den Trend der Informalisierung der Arbeitsbeziehungen thematisiert auch Stefan Dietl, Autor der Wochenzeitung Jungle World. Er legt den Schwerpunkt allerdings auf das Verhältnis der industriellen Peripherie und der klassischen Industrieländer. Zunächst stellt er fest, dass nur darüber spekuliert werden könne, wie viele Menschen in solchen prekären Werkvertragsverhältnissen stecken würden. Genaue Zahlen habe selbst das Bundesarbeitsministerium nicht. Denn da diese Arbeitskräfte nicht den Status von Arbeitnehmern hätten, würden sie in der Buchhaltung der Unternehmen auch nicht im Personalkostenbudget, sondern unter Sachkosten – „wie der Gabelstapler im Lager oder das Kopierpapier im Büro“ – geführt.

Dietl führt weiter aus, dass das Subunternehmertum aus der Ökonomie des postmodernen Kapitalismus kaum noch wegzudenken sei und am deutlichsten aufzeigen würde, wie sich in den industriellen Zentren die Arbeitsbeziehungen immer weiter informalisieren. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, wie sie seit langem die Ökonomie der ehemaligen industriellen Peripherie prägten, würden seit Jahren auch in die klassischen Industrieländer einziehen. „Kurz gesagt: In den Branchen – zum Beispiel der Nahrungsmittelindustrie oder der Bauwirtschaft –, die nicht nach Asien oder Osteuropa ausgelagert wurden, findet eine Übertragung der dortigen Lohnbedingungen und Arbeitsbeziehungen nach Deutschland statt.“ Prekäre, informelle Arbeitsverhältnisse wie die Scheinselbständigkeit mittels Werkvertrag rückten immer weiter in die verbliebenen Kernbereiche der Produktion vor. So steige die Zahl der Werkvertragsnehmer an den Bändern der deutschen Automobilindustrie ebenso an wie bei deren Zulieferern oder im Maschinenbau. Alle denen jedoch würde das jüngste Vorhaben des Arbeitsministers nicht helfen.

(Stefan Dietl, „Schöne neue Arbeitswelt“, Jungle World vom 25. Juni 2020)

https://jungle.world/artikel/2020/26/schoene-neue-arbeitswelt

Gemeint ist ein Gesetzentwurf, den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil noch im Juli 2020 vorlegen will. Danach sollen ab 1. Januar 2021 in Fleischfabriken keine Werkvertragler, sondern nur eigene Mitarbeiter Tiere schlachten und Fleisch verarbeiten dürfen. Kommentatoren bleiben skeptisch:

„Nach anfänglichem Widerstand hat sogar der Verband der Fleischwirtschaft dem von der Bundesregierung geplanten Verbot der Werkverträge in den Kernbereichen von Schlachthöfen zugestimmt. Plötzlich behauptet die Lobbyorganisation nicht mehr, dass viele Betriebe ohne Subunternehmer ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren und Teile der Branche ins Ausland abwandern würden“, schreibt etwa die taz. Dass diese Kehrtwende ehrlich gemeint sei, dürfe allerdings bezweifelt werden. Denn Anfang Juli habe der maßgeblich von der Firma Wiesenhof beeinflusste Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft vorgeschlagen, die Werkverträge nicht per Gesetz, sondern durch einen Tarifvertrag aus seiner Branche zu verbannen. Mit der Begründung, es wäre verfassungswidrig, Werkverträge nur in einer Branche gesetzlich zu untersagen. Die NGG spreche von einer „Nebelkerze“ einer Industrie, die schon mehrmals aufgefallen sei, weil sie Versprechen nicht gehalten hätte.

(Jost Maurin: „Für eine Handvoll Cent“, taz vom 4. Juli 2020)

https://taz.de/Arbeit-in-der-Fleischindustrie/!5693754&s=fleischindustrie/

Auch für Stefan Dietl von der Jungle World scheint die Hoffnung wenig realistisch, dass das Vorgehen gegen das Subunternehmertum in der Fleischbranche eine allgemeine Zurückdrängung von Werkverträgen einläuten könnte: „Denn der Grund für die staatliche Intervention bei in den Schlachthöfen sind nicht primär die bereits seit Jahren bekannten katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der Betroffenen, sondern es ist die Angst davor, dass die Infektionen in den Schlachthöfen in manchen Regionen zu einer neuerlichen Beschränkung der Kontaktmöglichkeiten mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft führen konnten.“ Unklar sei auch, wie die gesetzliche Neuregelung genau aussehen soll und wie wirksam sie sein würde. CDU-Politiker und Industrieverbände würden bereits öffentlich auf die Verschiebung und Verwässerung der Gesetzesinitiative hinarbeiten.

(Stefan Dietl, „Schöne neue Arbeitswelt“, Jungle World vom 25. Juni 2020)

https://jungle.world/artikel/2020/26/schoene-neue-arbeitswelt

Katastrophale Unterkünfte für osteuropäische Arbeiter*innen

Nach Angabe von Adrian Peter, Leiter der SWR-Rechercheredaktion und Buchautor zum Thema, bilden an osteuropäische Fleischarbeiter vermietete Schrottimmobilien „mittlerweile ein zweites Standbein für viele Subunternehmer“ in der Branche. Sie würden Schrottimmobilien kaufen und dann „wahnsinnig hohe Mieten für Schlafplätze nehmen“. Auch er stellt fest, dass auf dem Papier der richtige Mindestlohn bezahlt würde, aber das Geld wieder über überzogene Mieten von den Arbeitern zurückgeholt würde. Theoretisch sei das ein „total legales“ Geschäft. Und auch er bestätigt, dass die Politik seit vielen Jahren davon gewusst habe.

(WDR 5 Morgenecho-Interview mit Adrian Peter vom 9. Juli 2020: „Das wusste die Politik seit etlichen Jahren“)

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-morgenecho-interview/audio-fleischindustrie-das-wusste-die-politik-seit-etlichen-jahren-100.html

Inge Bultschnieder, die in Rheda-Wiedenbrück – dem Stammsitz von Tönnies – lebt, gründete 2013 die „Interessengemeinschaft WerkFAIRträge“, eine lokale Initiative für die Rechte von Fleischarbeitern. In einem Interview mit der „sozialistischen Wochenzeitung“ UZ Unsere Zeit beschreibt sie die Wohnungsmisere. Besonders im Falle von Entlassungen stünden die Menschen vor einem großen Problem. Denn die Wohnung sei an den Arbeitsplatz gebunden. Auf die Frage, ob sich die Arbeiter aus dem Fleischwerk nicht selbst aussuchen könnten, wo sie wohnen, antwortet sie: „Das hier ist eine Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern – hier gibt es keinen freien Wohnraum. Natürlich können sie es sich nicht aussuchen, dazu müsste erst mal ein sozialer Wohnungsbau geschaffen werden. Wenn ich ein Geschäft aufmache, muss ich nachweisen, dass ich ausreichend Parkplätze habe. Wenn ich 5.000 Leute einstelle, sollte ich auch nachweisen müssen, dass ich die unterbringen kann.“

(Olaf Matthes, „Deutschland ist schrecklich“, Interview mit Inge Bultschnieder, UZ–Unsere Zeit vom 3. Juli 2020)

https://www.unsere-zeit.de/deutschland-ist-schrecklich-131828/)

Am 8. Juli 2020 berichteten auch überregionale Zeitungen über eine Untersuchung für den Landtag in NRW, der die desaströsen Bedingungen der Unterbringung von Arbeitern in der Fleischindustrie aufzeigt. Die FAZ nennt die Details des Berichts, den der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister vorlegte, „abermals schockierend“. Bei der Kontrolle von 650 Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften oder Werkswohnungen in Nordrhein-Westfalen, in denen insgesamt 5.300 Personen lebten, wurden bis Ende Mai rund 1.900 „mittlere und gravierende“ Mängel festgestellt. In extremen Fällen seien Schimmelpilzbefall, Einsturzgefahr, undichte Dächer, katastrophale Sanitäreinrichtungen, Ungezieferbefall und Brandschutzmängel festgestellt worden. Vier Wohnungen an verschiedenen Orten hätten wegen erheblicher Baumängel sowie Gesundheitsgefahren geräumt werden müssen. Auch 250 Unterkünfte mit 5.800 dort untergebrachten Erntehelfern wurden kontrolliert. Hier kam es hingegen nur zu 170 Beanstandungen.

(Reiner Burger: „Schlimmste Befürchtungen werden bestätigt“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Juli 2020)

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/laumanns-bericht-zur-schlimmen-lage-in-der-fleischindustrie-16851683.html#void

Umgehung der Mitbestimmung

Ein Baustein des Geschäftsmodells von „Tönnies & Co.“ besteht in der systematisch betriebenen Umgehung der unternehmensbezogenen und betrieblichen Mitbestimmung. In einer Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung heißt es: „Ein verbreitetes Vehikel, um Mitbestimmungsrechte über eine juristische Lücke legal zu unterlaufen, sind nach der I.M.U.-Analyse [Anm. BIG-Red.: Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung] gesellschaftsrechtliche Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise die B.V. & Co. KG oder die Ltd. & Co. KG. Hintergrund: Die deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, als die weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht absehbar war. Deshalb beziehen sie sich in ihrem Wortlaut auf Unternehmen in deutscher Rechtsform.“

Kombinierten Firmen deutsche und ausländische Rechtsformen, fielen sie nach herrschender juristischer Meinung nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das sei nach europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihren Sitz und den Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben. So firmierten im Februar 2020 insgesamt 62 Unternehmen mit jeweils mehr als 2.000 inländischen Beschäftigten in einer hybriden Rechtsform, was ein Zuwachs um 9 Prozent gegenüber 2015 bedeutet. „Mindestens rund 432.000 dort Beschäftigten blieb dadurch die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat versagt. Als Beispiele nennt der Report etwa den Entsorger ALBA, die Meyer Werft oder den Fleischfabrikanten Tönnies.“

(Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 29. April 2020: „Mindestens 2,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland wird paritätische Mitbestimmung vorenthalten – starker Anstieg seit 2015“)

https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-23239.htm

Nach Ansicht von Werner Rügemer stehen die Fleischkonzerne an der Spitze beim Vermeiden der gesetzlichen Mitbestimmung. Rügemer holt etwas weiter aus: „Das paritätische Mitbestimmungsgesetz von 1976 (Regierung Brandt) verpflichtet Unternehmen ab 2.000 Beschäftigten zur Bildung eines Aufsichtsrats, in dem die Beschäftigten die Hälfte der Mitglieder stellen (allerdings hat der Vorsitzende, der geheimnisvoller Weise von der Unternehmerseite kommt, die ausschlaggebende Stimme). Das Drittelbeteiligungsgesetz von 2004 (Regierung Schröder) legt für Unternehmen ab 500 Beschäftigten einen Aufsichtsrat fest, in dem die Beschäftigten zumindest ein Drittel der Mitglieder stellen. Das sind bekanntlich eher Abnicker-Gremien. Aber selbst das ist hunderten Unternehmen zu viel.“

Entweder würden sie in die Societas Europaea (SE), eine von der Europäischen Union geschaffene Aktiengesellschaft, flüchten, die zu keiner Mitbestimmung verpflichtet. Oder die Unternehmen verlegten ihre Zentrale rechtlich in eine europäische Finanzoase wie die Niederlande oder Luxemburg. „Oder die Unternehmen ignorieren die Gesetze einfach: Im ‚Rechtsstaat Deutschland‘ dürfen insbesondere Arbeitsgesetze nachhaltig und flächendeckend und straflos gebrochen werden.“ Alle Fleischkonzerne in Deutschland würden die Mitbestimmung umgehen. So habe Tönnies, obwohl die meisten Betriebe des Unternehmens sich in Deutschland befinden würden, seine zentrale Holding in die Briefkastenfirma Tönnies Holding Verwaltungs ApS ins dänische Städtchen Brorup verlegt.

(Werner Rügemer, „Hoch-Risikogruppe: Fleischarbeiter“, NachDenkSeiten – Die kritische Website, 13. Mai 2020). https://www.nachdenkseiten.de/?p=60935

Mafiöse Strukturen

Das gesamte System der Wohnungs- und Arbeitsvermittlung ist mit organisierter Kriminalität verstrickt“, schreibt die syndikalistische orientierte Zeitschrift wildcat. „ArbeiterInnen werden im Betrieb und außerhalb eingeschüchtert – auch mit physischer Gewalt. Sie sind abhängig vom Subunternehmer, weil sie in einer Art Schuldknechtschaft Abzahlungen leisten müssen. Und weil durchaus nicht feststeht, dass sie im Streitfall ihren Lohn kriegen. Vielleicht haben sie auch selbst mal schwarz gearbeitet und fühlen sich erpressbar. In den Fängen dieses Milieus wird es schwieriger, sich Informationen und Hilfe zu holen, sich zusammenzutun und kämpferisch aufzutreten.“

(„Stachel im Fleisch“, Wildcat 106, Sommer 2020). https://www.wildcat-www.de/wildcat/106/w106_fleisch.html

Dass Beschäftigte auch körperlich massiv unter Druck gesetzt werden, berichten auch frühere Beschäftigte aus der Fleischindustrie. Gegenüber der ARD-Sendung „Report Mainz“ erhebt ein ehemaliger Mitarbeiter bei Tönnies schwere Vorwürfe gegen den Subunternehmer: „Konntest du nicht zur Arbeit gehen, weil du Schmerzen hattest oder krank warst, wurdest du trotzdem gezwungen. Sonst hätte es eine Ohrfeige oder einen Tritt gegeben. Oder noch schlimmer.“ Aus einer Krankenakte eines anderen Arbeiters aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass er von seinen Vorarbeitern mit einer Eisenstange zusammengeschlagen wurde. Auch die Gewerkschaft NGG wird häufig über solche Fälle mutmaßlicher Gewalt in der Fleischbranche informiert. Für den NGG-Vertreter Matthias Brümmert ist das „auch das klare Zeichen, dass wir hier über mafiöse Strukturen reden.“ Report Mainz: „Wir konfrontieren zunächst das Subunternehmen und dann auch den Tönnies-Konzern mit den Vorwürfen. Eine Antwort erhalten wir nicht.“

(ARD, Report Mainz: „Alles Wurst? Warum Schweinebaron Tönnies kritische Berichterstattung jahrelang nichts anhaben konnte“, Sendung vom 7. Juli 2020). https://www.swr.de/report/alles-wurst-warum-schweinebaron-toennies-kritische-berichterstattung-jahrelang-nichts-anhaben-konnte/-/id=233454/did=25301338/nid=233454/1494g1i/index.html

Peter Kossen, katholischer Pfarrer im münsterländischen Lengerich und wegen seiner Protestaktionen gegen die desaströsen Zustände in der Fleischindustrie mittlerweile bundesweit bekannt, äußerte sich gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er spricht von einer Grauzone, die durch Werkverträge, Leiharbeit und Subunternehmer in Großschlachtereien entstanden und von politischer Seite zugelassen worden sei. Dadurch habe man kriminellen und mafiösen Strukturen, die in der Arbeitnehmerüberlassung Züge von Menschenhandel hätten, Tür und Tor geöffnet. In der ARD -Sendung „Hart aber fair“ am 22. Juni sprach Kossen in diesem Kontext von „organisierter Kriminalität“ und auf die Frage des Moderators, was er von der Ankündigung Tönnies‘ halte, selber die Branche zu verändern: „Man kann mit der Mafia nicht die Mafia bekämpfen.“ Mit Kriminellen könne auch kein Vertrag für mehr Rechtssicherheit gemacht werden.

(Markus Decker: „Pfarrer Kossen zur Fleischindustrie: ‚Das ist moderne Sklaverei‘“, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 22.5.20)

https://www.rnd.de/politik/pfarrer-kossen-zur-fleischindustrie-das-ist-moderne-sklaverei-KXA5XJ3SRZF2DA6U7SZEEFHXGY.html

(ARD, „Hart aber fair“, „Massenerkrankung in der Fleischfabrik: Gefahr fürs ganze Land?“, Sendung vom 22. Juni 2020)

https://www1.wdr.de/daserste/hartaberfair/videos/video-massenerkrankung-in-der-fleischfabrik-gefahr-fuers-ganze-land-100.html

Ähnlich äußert sich Adrian Peter vom SWR. Bei den Subunternehmern habe man es mit einem zum Teil hochkriminellen Milieu zu tun. Er hält wenig von Kontrollen und schärferen Auflagen, die schon in der Vergangenheit schlicht nichts gebracht hätten. In den vergangenen Jahren haben es immer wieder Selbstverpflichtungen gegeben, der Mindestlohn sei eingeführt worden. „Wenn Sie es mit einem Milieu zu tun haben“, meint Peter, „dass sich zum Teil aus ehemaligen Zuhältern, Rockern oder Drogenkriminellen rekrutiert, dann bringen Selbstverpflichtungen oder schärfere Kontrollen überhaupt nichts. Die Leute können damit umgehen, die zu umgehen.“ Der einzig gangbare Weg sei, die Leute, die das Fleisch produzieren, dort anzustellen, wo das Fleisch auch verkauft würde.

(„Milieu aus ehemaligen Zuhältern, Rockern oder Drogenkriminellen“, Interview von Michael Lueg mit Adrian Peter, SWR 1, 20. Mai 2020)

https://www.swr.de/swr1/rp/fleischmafia-100.html

Institutioneller Rassismus

Im Folgenden sei auf zwei Artikel in der klassenkämpferisch ausgerichteten Monatszeitung ak – analyse & kritik verwiesen, in der grundsätzlich auf die Situation der Arbeitsmigranten und die polit-ökonomischen Rahmenbedingung ihrer Überausbeutung eingegangen wird.

Nach Auffassung von Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann werden Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie eingesetzt, „um erstens massiv die Lohn- und damit Produktionskosten zu senken, zweitens Lohndruck auf die sozialversicherungspflichtig angestellte Rumpfbelegschaft auszuüben, drittens die Arbeitskraft strategisch und politisch durch eine Vielzahl prekärer Arbeitsverhältnisse zu fragmentieren und viertens soziale Verhältnisse zu produzieren, die durch rassistische Diskurse kapitalistische Ausbeutung legitimieren. Alle vier genannten Dimensionen bilden die Grundlage des exportbasierten Akkumulationsmodells der hiesigen Fleischindustrie“.

Sebastian Friedrich, Jens Zimmermann: „Empörung reicht nicht“, ak – analyse & kritik vom 20. Januar 2015)

https://www.akweb.de/ak_s/ak601/27.htm

Elmar Wiegand, Pressesprecher der „Aktion gegen Arbeitsunrecht e.V.“, fasst in der Ausgabe vom 16. Juni 2020 thesenartig seine Schlussfolgerungen aus der Ausbeutung osteuropäischer Wanderarbeiter zusammen.

„Erstens: In Deutschland existiert eine Schattenarmee, die wesentliche Teile der Produktion stemmt. Arbeiter*innen aus Osteuropa sind anzutreffen in den Bereichen Landwirtschaft, Fleisch-Industrie, Schiffbau (Meyer-Werft), Reinigung, häusliche Pflege, Bau-Industrie. (…) Der industrielle Rassismus besteht vor allem in systematischer Ungleichbehandlung, Ausbeutung, Rechtsnihilismus und Vertuschung.

Zweitens: Wir dürften uns nicht durch liberale Multi-Kulti-PR täuschen lassen, die für Ausbeuter*innen wie den Schweine-Baron Clemens Tönnies und viele andere inzwischen zum guten Ton gehört. Der industrielle Rassismus hat nichts gegen Ausländer*innen, solange sie brav den Platz einnehmen, der für sie vorgesehen ist. (…)

Drittens: Diese industrielle Schattenarmee und das verschämte Verschweigen ihrer Existenz (…) hat ihren direkten Vorläufer in der Zwangsarbeit, die im 1. Weltkrieg begann und im 2. Weltkrieg perfektioniert wurde. Danach kamen die ‚Fremdarbeiter‘, die zu ‚Gastarbeitern‘ wurden. Heute: Werkverträge, Leiharbeit, sachgrundlose Befristung. Das Verschweigen, Verdrängen, Ignorieren ist eine überlieferte Verhaltensweise.

Viertens: Die Grundlage des industriellen Rassismus ist die Zerstörung vormals intakter Regionen: de-industrialisierte, bankrotte, privatisierte und von Land-Grabbing betroffene EU-Regionen vor allem Bulgariens und Rumäniens. Viele Obdachlose und Bettler*innen in deutschen Städten dürften eine Vorgeschichte als Wanderarbeiter*innen haben (…) Da sie als EU-Staatsbürger*innen Freizügigkeit genießen, haben sie zwar einerseits ein Recht hier zu bleiben, genießen aber andererseits viel weniger Aufmerksamkeit und Sympathie als Geflüchtete.

Fünftens: Die Behörden greifen nicht ein. Sie sehen zu, auch wenn offensichtlich rechtswidriges Verhalten, Straftaten und sogar organisierte Kriminalität selbst für Laien schon erkennbar sind. Zudem sind wichtige Kontrollinstanzen systematisch unterversorgt mit Personal und Ressourcen. Die Folge sind Rechtsnihilismus, Straflosigkeit bis hin zu mafiösen Strukturen. (…)“

(Elmar Wigand, „Verschweigen, verdrängen, ignorieren“, ak – analyse & kritik vom 16. Juni.2020). https://www.akweb.de/ak_s/ak661/07.htm

Wirtschaftsdemokratie

In der Süddeutschen Zeitung vom 5. Juli erinnert Oliver Nachtwey, der als Professor an der Universität Basel zum digitalen Kapitalismus, neuen Autoritarismus und zum Wandel der Arbeitsgesellschaft forscht, an die alte und zugleich aktuelle Idee der Wirtschaftsdemokratie.

Der mangelnde Arbeits- und Gesundheitsschutz habe seine Ursache weniger in der Liberalisierung des Arbeitsmarkts in den letzten 30 Jahren, sondern in der Unternehmensverfassung selbst. Im Innern seien Unternehmen so etwas wie eine „private Regierung“, wie es die US-Philosophin Elizabeth Anderson genannt habe. „Die Beschäftigten treten zwar freiwillig (dies allerdings nur halb, denn sie brauchen ja einen Job) in das Unternehmen ein, aber mit Abschluss des Arbeitsvertrages unterliegen sie dem Direktionsrecht des Arbeitgebers. Die Unternehmen verfügen, wie man sich auf der Arbeit zu kleiden hat, durchsuchen den Mailverkehr ihrer Mitarbeiter und bestimmen, wie mit Gefahren am Arbeitsplatz umgegangen wird. Bei Amazon wird fast jede Bewegung der Beschäftigten überwacht.“

Arbeit sei in einer modernen Gesellschaft jedoch keine rein private Angelegenheit mehr. Anderson fordere deshalb, die private Regierung durch eine öffentliche zu ersetzen. Solch eine öffentliche Regierung gebe es eigentlich schon, sie sei jedoch durch den Neoliberalismus unter die Räder gekommen: Die gesetzlichen Regelungen für Arbeits- und Gesundheitsschutz seien auf dem Papier recht gut, würden jedoch zu wenig umgesetzt. Und die Gewerbeaufsicht habe wegen der Sparpolitik der vergangenen Jahre ihre Kontrollen massiv zurückgefahren. Gewerkschaften und Betriebsräte bewirkten nur wenig und seien im Niedriglohnsektor zu schwach.

Nachtwey schließt mi den Worten: „Im Niedriglohnsektor ist Wasser in den Keller gelaufen, die Fundamente werden unterspült. Vor allem dort brauchen wir einen neuen Anlauf für wirtschaftliche Bürgerrechte. Und diese müssen für alle Menschen gelten, die hier arbeiten. Bürgerrechte, die man an die Staatsbürgerschaft bindet (…), würden nur neue Ausschlüsse produzieren. (…) Demokratie darf nicht mehr am Betriebstor haltmachen, egal, ob dieses der Eingang zu einem Schlachthof oder virtuell der Algorithmus eines Plattformunternehmens ist.“

(Oliver Nachtwey: „Die Demokratie darf nicht am Betriebstor enden“, Süddeutsche Zeitung vom 5. Juli 2020)

https://www.sueddeutsche.de/politik/toennies-fleischindustrie-niedriglohnsektor-buergerrechte-nachtwey-gastkommentar-1.4955863)

* Im Sinne besserer Lesbarkeit haben wir in unseren Ausführungen die männliche Geschlechtsform verwendet, die selbstverständlich gleichberechtigt alle Geschlechter umfassen soll.

** Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.):

Überwachungsaktion. „Faire Arbeit in der Fleischindustrie“. Abschlussbericht, Dezember 2019

Auszüge aus dem Abschlussbericht (von den Seiten 5 bis 9):

„Im Aktionszeitraum Juli bis September 2019 sind von der Arbeitsschutzverwaltung Nordrhein-Westfalen 30 Betriebe der Fleischindustrie und die in der Produktion eingesetzten Werkvertragsfirmen überprüft worden.

  • Es wurden 30 Großbetriebe überprüft.
  • In den 30 Großbetrieben wurde 90 Mal Werkvertragnehmer eingesetzt.
  • Im Rahmen der Prüfung wurden die Arbeitsplätze von ca. 17.000 Beschäftigten überprüft.
  • Bei den Werkvertragnehmern werden vorwiegend Arbeitnehmer aus Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Polen beschäftigt.
  • Anzahl der Verstöße gesamt: 8.752.
  • 5.863 Einzelverstöße im Bereich des Arbeitszeitrechts.
  • 2.481 Mal fehlten arbeitsmedizinische Vorsorgen.
  • 296 technische Arbeitsschutzmängel.
  • 112 Mängel in der Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes.

Die Bilanz:

In 85 Prozent der überprüften Betriebe wurde von den Aufsichtsbeamtinnen und -beamten eine hohe Anzahl teils gravierender Arbeitsschutzmängel ermittelt.(…) Die Werkvertragsnehmer haben mit den Schlachthofbetreibern Werkverträge geschlossen, die beispielsweise die Anzahl der zu schlachtenden Tiere oder Gewichtstonnen an zu zerlegenden Tieren zu einem bestimmten Preis vertraglich regeln. Damit verbleibt die Verantwortung für das Personal und für die Umsetzung des Arbeitsschutzes beim Werkvertragsnehmer, der Schlachthofbetreiber übernimmt rechtlich keine Verantwortung. Der Großteil der Beschäftigten der Werkvertragsnehmer stammt nach den Erkenntnissen aus der Aktion aus Osteuropa (insbesondere Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn).

Bei nur vier Betrieben wurden wenige relevante Arbeitsschutzmängeln festgestellt.

Folgende Verstöße wurden festgestellt:

  • mehr als 5.800 Arbeitszeitverstöße (dabei wurden unter anderem gravierende Verstöße gegen die werktägliche Arbeitszeit ermittelt, z. B., dass Beschäftigte über 16 Stunden an einem Arbeitstag gearbeitet haben, die Ruhezeit von 11 Stunden nicht eingehalten worden ist oder keine Pausen gemacht wurden). Diese Verstöße ergaben sich bereits aufgrund der handschriftlichen oder selbst in Dateiform erfassten Stundenbelege. Eine elektronische Zeiterfassung gab es nur in ganz wenigen Einzelfällen.
  • in mehr als 2.400 Fällen wurde keine arbeitsmedizinische Vorsorge durchgeführt (z. B. Untersuchungen im Zusammenhang mit sogenannter Feuchtarbeit, damit dauerhafte Schädigungen der Haut durch das ständig feuchte Arbeitsumfeld bei der Fleischverarbeitung verhindert werden oder bei Tätigkeiten in Lärmbereichen, damit lärmbedingten irreversiblen Hörschäden vorgebeugt wird)
  • fast 300 technische Arbeitsschutzmängel mit teilweise hohem Gefährdungspotenzial (z. B. entfernte Schutzeinrichtungen, gefährlicher Umgang mit Gefahrstoffen, abgeschlossene Notausgänge, zugestellte Fluchtwege, gefährlich abgenutzte und nicht geprüfte Arbeitswerkzeuge, fehlende persönliche Schutzausrüstung).
  • über 100 Mängel in der Arbeitsschutzorganisation (z.B. fehlende Gefährdungsbeurteilung, Unterweisung, Betriebsanweisungen in der Sprache der Beschäftigten, keinen Betriebsarzt oder keine Fachkraft für Arbeitssicherheit). Die Schlachthofbetreiber sind in der Regel für die technischen Mängel verantwortlich. Durch direkte mündliche Anordnungen der Aufsichtsbeamtinnen und -beamten ist die sofortige Beseitigung der gefährlichen technischen Mängel durch die Schlachthofbetreiber veranlasst worden. Die Werkvertragsnehmer haben grundsätzlich die Verstöße gegen die Arbeitszeitvorschriften und die fehlenden arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen zu verantworten.

Mit Stand von Anfang Dezember 2019, sind 86 Bußgeldverfahren eingeleitet worden und erste Bußgeldbescheide sind inzwischen rechtskräftig geworden. Hinsichtlich der Einhaltung des Mindestlohns sind Verdachtsmomente bzgl. der Nichteinhaltung des Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch) und des Mindestlohns im Zusammenhang mit folgenden Umständen erhoben worden:

  • Lohneinbehalt für persönliche Schutzausrüstung,
  • Lohneinbehalt für Miete,
  • Lohneinbehalt für Fahrservice,
  • Lohneinbehalt für die Einarbeitung, wenn der Arbeitnehmer vorzeitig sein Arbeitsverhältnis beenden möchte und • Kürzung des Lohns wegen Fehlverhaltens.“

https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/191220_abschlussbericht_fleischindustrie_druckdatei.pdf

Wirtschaft läuft Sturm gegen Lieferkettengesetz

Die Bundesregierung erwartet offiziell von deutschen Unternehmen, dass sie Menschenrechts- und Sozialstandards auch bei ihren Zulieferern im Ausland in den Blick nehmen. Einmal mehr zeigt sich jedoch: Das Prinzip der Freiwilligkeit funktioniert nicht.

Im Dezember 2016 hatte die Bundesregierung dazu ihren „Nationalen Aktionsplan“ (NAP) verabschiedet. Dieser soll die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte aus dem Jahr 2011 umsetzen. Unter anderem wird dort die unternehmerische Verantwortung für Menschenrechte in globalen Lieferketten definiert. Das Ziel des geplanten Gesetzes ist, deutsche Unternehmen dafür in die Pflicht nehmen, dass ihre Lieferanten im Ausland soziale und ökologische Mindeststandards einhalten. Ausgelöst wurde die Initiative durch die Brandkatastrophe in der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch im Jahr 2013, bei der über 1.100 Arbeiter*innen ums Leben kamen. Hungerlöhne, Kinderarbeit und fehlende Sicherheitsstandards in Fabriken entlang der Lieferketten sollen so unterbunden werden.

Der NAP sieht vor, dass „weitergehende Schritte bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen“ durchgeführt werden, wenn weniger als die Hälfte der großen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten bis 2020 der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nachkommen. Die deutsche Regierung hat bislang auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen gesetzt und zur Überprüfung ein Monitoring eingerichtet.  Nach dpa-Informationen, so schreibt das Magazin Wirtschaftswoche, erfüllen die deutschen Unternehmen die an sie gesetzten Anforderungen aber nach wie vor nicht. Das sei das Ergebnis einer am 14. Juli veröffentlichten zweiten Fragerunde, die die Regierung unter großen Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten organisiert hatte. 2.250 Unternehmen waren demnach befragt worden. Davon antworteten nur 455. Die Gruppe der „Erfüller“ hat sich im Vergleich zu 2019 in ihrer Größenordnung offensichtlich nicht maßgeblich verändert. Im vergangenen Jahr hatten nur etwa 20 Prozent der Unternehmen die Vorgaben erfüllt, das heißt Vorkehrungen dafür getroffen, dass ihre Geschäftspartner die jeweils geltenden Umwelt- und Sozialstandards einhalten.

Da das geplante Lieferkettengesetz nun wahrscheinlicher wird, laufen die Spitzenverbände der Wirtschaft gegen das Vorhaben „Sturm“, wie die Wirtschaftswoche mit Bezug auf die dpa schreibt. Die Lobbyvertreter befürchten, das Gesetz gehe zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Firmen. Auch unter Verweis auf die Coronakrise müssten „nationale Sonderwege mit nationalen Belastungen“ vermieden werden. Nach einem Statement Steffen Kampeters von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) verhalte sich die deutsche Wirtschaft bei ihren Aktivitäten im Ausland vorbildlich und fühle sich auch dort den Menschenrechten verpflichtet. Problematisch sei aber, wenn Unternehmen für Missstände aufkommen müssten, die auf Dritte zurückzuführen seien und nicht in ihrem eigenen Verschulden lägen.

Unterstützung erhält die Kapitallobby von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Auf dessen Betreiben hin wurde offenbar schon der Fragebogen entschärft. In einer Pressemitteilung der von zahlreichen NGOs getragenen „Initiative Lieferkettengesetz“ vom 14. Juli 2020 heißt es:

„Die Wirtschaftsverbände haben durch massive Lobbyarbeit in Wirtschaftsministerium und Kanzleramt die Methodik der Befragung schon im Vorfeld völlig verwässert. Trotz der niedrigen Anforderungen der Befragung schaffen es nur 22 Prozent der Unternehmen, diese zu erfüllen. Dieses Ergebnis ist ein Offenbarungseid und zeigt den Stellenwert, den Menschenrechte bei den meisten deutschen Unternehmen haben. Die Bundesregierung muss nun ihrem Versprechen aus dem Koalitionsvertrag nachkommen und noch in dieser Legislaturperiode für ein nationales Lieferkettengesetz sorgen.“

Die Initiative hat im Juli 2020 ein „Briefing“ zum Thema veröffentlicht:

„Verwässern – Verzögern – Verhindern: Wirtschaftslobby gegen Menschenrechte und Umweltstandards“

(https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/2020/07/Initiative-Lieferkettengesetz-Briefing-Wirtschaftslobby-gegen-Menschenrechte.pdf)

 

 

 

Quellen:

 

 

„Sorgfalt in Lieferketten: Deutsche Unternehmen erfüllen Anforderungen nicht“, Wirtschaftswoche vom 14. Juli 2020 (Online)

 

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/menschenrechte-sorgfalt-in-lieferketten-deutsche-unternehmen-erfuellen-anforderungen-nicht/26002886.html

 

 

Ralf Wurzbacher: „Freiheit für Ausbeuter“, junge welt vom 14. Juli 2020

 

https://www.jungewelt.de/artikel/382168.wrtschaft-gegen-menschenrechte-freiheit-f%C3%BCr-ausbeuter.html

 

 

„Initiative Lieferkettengesetz“: „‚Ergebnis ist ein Offenbarungseid‘: Stellungnahme der Initiative Lieferkettengesetz zur Menschenrechts-Befragung deutscher Unternehmen“, Pressestatement vom 14. Juli 2020

 

Presse

 

Die staatliche Finanzaufsicht unter Beschuss. Eine Medienschau zum Wirecard-Skandal

Der Name Wirecard steht für den größten Bilanzskandal der jüngeren deutschen Geschichte. Denn bei dem Dax-Unternehmen fehlen 1,9 Milliarden Euro, die in der Bilanz ausgewiesen sind. Immerhin 25 Prozent der Bilanzsumme sind damit entweder verschwunden oder aber haben nie existiert. Über Unregelmäßigkeiten bei dem Zahlungsdienstleister berichteten Medien allerdings schon seit Jahren. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)* blieb jedoch lange Zeit untätig. Mittlerweile hat Wirecard als erster DAX-Konzern Insolvenz anmelden müssen. Das Unternehmen war im Herbst 2018 in den wichtigsten deutschen Aktienindex aufgenommen worden – sein Wert betrug damals mehr als 20 Milliarden Euro.

Das offensichtliche Versagen der staatlichen Finanzaufsicht, die den mutmaßlich gigantischen Schwindel und damit den auf Betrug basierenden Aufstieg von Wirecard nicht verhinderte, wird in der Presse ausführlich kommentiert.

Marc Beise zeigt in der Süddeutschen Zeitung ein gewisses Verständnis für die Defizite der Finanzaufsicht. Es gelte genau zu ergründen, warum der große Wirecard-Betrug soweit getragen habe, ehe er aufgedeckt werden konnte. Auch bei den Zockereien der Banken, die zur Finanzkrise 2008 führten, sei diese Frage nachträglich gestellt worden. Die Antwort lautete damals: Behörden, Politik und Öffentlichkeit hätten angesichts eines komplizierten, aber zunächst erfolgreichen Geschäftsmodells nicht alles verstanden und deshalb nicht genau genug hingesehen. Dieses Muster würde sich nun wiederholen: Dass die Wirtschaftsprüfer über Jahre Bilanzen durchwinkten, die Finanzaufsicht sich zurückhielt und die sogenannte Bilanzpolizei mit nur kleinstem Aufwand prüfte. All das sei nicht zu entschuldigen, wohl aber zu erklären. Und zwar damit, dass man das Geschäftsmodell nur erahnte und sich die sich potenzierende kriminelle Energie nicht vorzustellen vermochte. (Marc Beise: „Wie konnte das passieren?“, Süddeutsche Zeitung vom 3. Juli 2020)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kommentar-wie-konnte-das-passieren-1.4955909

Ähnlich sieht es sein Kollege Klaus Ott, ebenfalls von der Süddeutschen Zeitung. Dieser verweist auf fehlendes Verständnisvermögen der Behörden. Es sei bezeichnend, dass zuerst Ermittler Firmen durchsuchten und Haftbefehle erwirkten ‒ und dann erst die Politik „daher hinkt“. Das sei bei anderen Skandalen auch so gewesen. Beispielsweise bei den Abgasmanipulationen von VW, die nicht vom Kraftfahrt-Bundesamt, sondern von US-Behörden entdeckt worden seien. Oder beim Cum-Ex-Steuerskandal. Ott verweist in diesem Zusammenhang auf die Finanzkrise 2007/8, als zahlreiche Großbanken sich verspekuliert hatten und vom deutschen Staat gerettet werden mussten, um noch größeren Schaden für das Finanzsystem und die Gesellschaft abzuwenden: „Staatsanwaltschaft und Justiz werden notgedrungen zum Reparaturbetrieb der Politik“. Wie Ott weiter schreibt, hätte der wissenschaftliche Dienst des Bundestags im Jahr 2009 als eine Ursache für die Bankenkrise die „mangelnde Übersicht der Behörden“ über das Zusammenspiel von Finanzakteuren ausgemacht. Spekulanten in Großbanken konnten dadurch solange auf einen unendlichen Immobilienboom und steigende Preise setzen, bis die Blase geplatzt war. „Aufsichtsbehörden, die keinen Durchblick haben, was windige Finanzakrobaten treiben ‒ das ist die Linie von der Bankenkrise über Cum-Ex bis Wirecard. Und es gibt eine Linie bei den politischen Verantwortlichen ‒ von Peer Steinbrück über Wolfgang Schäuble bis Olaf Scholz.“ (Klaus Ott: „Der Wirecard-Skandal ist eine Pleite für alle“, Süddeutsche Zeitung vom 25. Juni 2020)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirecard-insolvenz-kommentar-1.4947377www.sz.de/1.4947377

Fabio de Masi, Finanzexperte der Linksfraktion im Bundestag, vermutet hingegen, dass die BaFin im Interesse des Standortes Deutschland agierte. In einem Interview im Neuen Deutschland geht der Politiker davon aus, dass die Bafin neben der Aufsicht über die Finanzunternehmen auch den Finanzplatz Deutschland pflegen will. Man sei ja stolz darauf gewesen, dass Wirecard als ein ehemaliges Schmuddelkind der Branche, das in der Zahlungsabwicklung für die Porno- und Onlinewetten-Industrie groß geworden sei, auf einmal weltweit in der ersten Liga der Fintechs mitspielen konnte. Solche Firmen werteten zum Beispiel große Mengen an Finanzdaten aus, um mittels Künstlicher Intelligenz Ausfallrisiken zu ermitteln. Je größer die Datenmacht und die Umsätze seien, desto besser würden sich Zahlungsausfälle verkraften lassen. Das Ziel von Wirecard sei daher gewesen, um jeden Preis zu wachsen. In dem Zusammenhang habe man wohl auch Umsätze vorgetäuscht. Vielleicht hätte die Bafin nicht zu viel Staub aufwirbeln wollen, um den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens nicht zu gefährden. Auch dass die Bafin ein Aufsichtsproblem habe, sei schon lange bekannt und müsse den Minister interessieren. Das habe auch der Cum-Ex-Skandal gezeigt, wo es um die Erstattung nicht gezahlter Kapitalertragsteuern ging. Die Finanzaufsicht habe immer wieder beim Schutz der Verbraucher vor betrügerischen Anlageprodukten versagt. (Kurt Stenger: „Wenn der Finanzpolizist schläft“, Neues Deutschland vom 29. Juni 2020)

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138453.wirecard-wenn-der-finanzpolizist-schlaeft.html?sstr=bafin

Auch Jörg Kronauer von der jungen Welt setzt voraus, dass die Aufsichtsbehörde Wirecard schützen und daher nicht gegen sie vorgehen wollte. Die Bafin habe inzwischen eingeräumt, dass sie schon im Januar 2019 von einem Insider über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard informiert worden sei – genau zu der Zeit, zu der auch die Financial Times detailliert über die Geschäftspraktiken des Konzerns berichtete. Die Bafin sei tatsächlich auch eingeschritten: Sie hätte Wirecard mit dem Verbot von sogenannten Leerverkäufen geschützt und Anzeige gegen einen Journalisten der Financial Times erstattet. Zu Schritten gegen die deutsche Firma dagegen hätte sie sich nicht veranlasst gesehen. Kronauer stellt fest, dass Wirecard bis vor kurzem nicht nur als eine der erfolgreichsten hiesigen Unternehmensgründungen galt, sondern zudem neben der in die Jahre gekommenen SAP die einzige Aktiengesellschaft in Deutschland gewesen sei, die sich Hoffnungen hätte machen können, in der immer wichtigeren Sparte der Internet- und IT-Konzerne in die Weltspitze vorzustoßen. „Sie gab dem Ansehen des Finanzplatzes Deutschland Auftrieb, dessen Traditionsfirmen – Deutsche Bank, Commerzbank – international nicht eben glänzen. Am Lack von Wirecard zu kratzen, das hätte dem Finanzplatzimage natürlich geschadet. Jetzt ist es ruiniert.“ (Jörg Kronauer: „Der Lack ist ab“, junge Welt vom 29. Juni 2020)

https://www.jungewelt.de/artikel/381130.crash-der-lack-ist-ab.html?sstr=lack

Die gleiche Stoßrichtung verfolgt die Internetzeitung German Foreign Policy, indem sie betont, dass die Aufsichtsbehörde eine umfassende Untersuchung der Wirecard-Praktiken unterließ, um die Position des Finanzplatzes Deutschland nicht zu gefährden. Wirecard Deutschland schien sich die Chance zu bieten, im Schnittfeld der Finanz- und der Digitalbranche zur Weltspitze aufzuschließen. Nachdem Journalisten Anfang 2019 Unregelmäßigkeiten im Südostasiengeschäft des Unternehmens aufdeckten, hätten zwar die Behörden in Singapur, dem Regionalstandort der Firma, umfassende Ermittlungen aufgenommen, nicht jedoch die zuständigen deutschen Stellen. Vielmehr sei ein recherchierender Journalist von der Finanzaufsicht BaFin angezeigt und Wirecard mit dem raschen Verbot von „Leerverkäufen“ unter die Arme gegriffen worden. Wirecard würde zwar nur über eine eher kleine Bank verfügen, dafür aber dem Anschein nach alle sonstigen Voraussetzungen haben, mit der Abwicklung von Kartenzahlungen auf dem Fintech-Sektor in die Weltspitze vorzustoßen.

Andernorts sei dagegen etwas gegen Wirecard unternommen worden. Besonders intensiv hätte die Londoner Financial Times recherchiert und bereits Anfang 2019 mehrere kritische Berichte über die Praktiken des Unternehmens publiziert. Dabei sei es unter anderem um offenbar vorgetäuschte Umsätze im Konzerngeschäft in Singapur gegangen. Die Behörden des südostasiatischen Stadtstaats hätten daraufhin Wirecard aufs Korn genommen und im Februar vergangenen Jahres eine Hausdurchsuchung in den dortigen Räumlichkeiten der Firma durchgeführt. Die deutschen Behörden reagierten hingegen ganz anders auf die Vorwürfe gegen Wirecard. Die BaFin schaltete im Februar 2019 zunächst die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) ein, um sie mit einer umfassenden Überprüfung der Konzernbilanz zu beauftragen. Die Überprüfung sei bis heute nicht abgeschlossen. Nicht weiter überraschend, denn die DPR, so die Internetzeitung, habe dafür ‒ wie bei ihr üblich ‒ nur einen einzigen Mitarbeiter abgestellt. Und dies, obwohl die Wirecard-Bilanz unter Experten als extrem undurchsichtig gelte. Demgegenüber habe die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG später für eine Sonderprüfung bei Wirecard 40 Mitarbeiter eingesetzt. Wirecard selbst sei in Deutschland also ‒ anders als in Singapur ‒ ohne ernsthafte behördliche Ermittlungen davongekommen. („Der Fall Wirecard“, Foreign German Policy, 2. Juli 2020)

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8322/

Die Behauptung, der – auch betrügerische – Erfolg eines Unternehmens wie Wirecard läge durchaus im Interesse des Staates und seiner Aufsichtsbehörden selbst, erscheint plausibel angesichts der umfangreichen Steuerzahlungen des Konzerns. Christian Schnell beschreibt im Handelsblatt, wie der Fiskus bisher von Wirecard profitiert habe. Das Unternehmen sei über viele Jahre ein willkommener Steuerzahler gewesen.  297,2 Millionen Euro habe der Konzern nach Berechnungen des Handelsblatts seit dem Jahre 2001 an die Steuerbehörden überwiesen. Das Geld sei in Gestalt von Lohn- und Einkommensteuern, Kapitalertrags-, Körperschafts- und Gewerbesteuern an den Bund, den Freistaat Bayern und die Gemeinde Aschheim, wo sich die Firmenzentrale befindet, geflossen. Die Ausgangslage dafür sei eindeutig: Laut Gesetz bilde das wirtschaftliche Ergebnis die Grundlage jeder Unternehmensbesteuerung. Wenn das wirtschaftliche Ergebnis viel zu hoch in der Steuererklärung angesetzt war, seien Steuern für Gewinne gezahlt worden, die es gar nicht gab. „Und der Staat wäre womöglich Profiteur einer Scheinwelt“, so Schnell, „die so nur auf dem Papier existiert hat.“ Dass Steuereinnahmen, auch wenn sie auf falschen Gewinnannahmen basierten, jemals zurückerstattet würden, sei unwahrscheinlich. (Christian Schnell: „Fiskus profitierte von Wirecard – Anleger bleiben wohl auf Verlusten sitzen“, Handelsblatt vom 2. Juli 2020)

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/trotz-insolvenz-fiskus-profitierte-von-wirecard-anleger-bleiben-wohl-auf-verlusten-sitzen/25970110.html?ticket=ST-9776811-Rdzrkaeugt6A9bifwmgJ-ap4

Die Taz-Autorin Anja Krüger erkennt in der Verfilzung der verschiedenen Branchen und in der beruflichen Biografie des BaFin-Chefs Hufeld einen Grund für das passive Verhalten der Behörde. Hufeld verkörpere das Problem der deutschen Finanzaufsicht, da er zu wenig Distanz zu den Branchen habe, die er überwachen solle. Das habe Folgen für die Kontrolle, denn die Unternehmen bekämen von der Aufsicht einen Vertrauensvorschuss, den sie nicht verdient hätten. Die Autorin beschreibt die berufliche Laufbahn des BaFin-Chefs: „Hufeld begann seine Karriere bei einem Unternehmensberater. Später war er Deutschland-Chef bei Marsh, einem der größten Versicherungsmakler der Welt. In dieser Funktion hatte er geschäftlich viel mit den wichtigsten Managern der deutschen Assekuranz zu tun – die er später kontrollieren sollte. Denn nach einer kurzen Episode bei Finanzunternehmen wurde der Vater zweier Kinder Exekutivdirektor der Versicherungsaufsicht bei der BaFin. Seit März 2015 ist er Präsident der BaFin.“ (Anja Krüger: „BaFin-Chef kämpft um seinen Job“, Taz vom 1. Juli 2020)

https://taz.de/Versagen-der-Finanzaufsicht-bei-Wirecard/!5693367/

Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende e.V., verweist in der Frankfurter Rundschau auf einen grundsätzlichen Interessenkonflikt in der Branche der Wirtschaftsprüfer. Die Bafin habe bereits bei früheren Skandalen gezeigt, dass sie zu mutlos, langsam und formal agiere und für eine Bekämpfung von Finanzkriminalität völlig falsch aufgestellt sei. Als ein Beispiel führt Schick die kriminellen Cum-ex-Geschäfte an, an denen eine Vielzahl von Banken und Fonds in Deutschland beteiligt gewesen sind. Die Finanzaufsicht hätte sich nicht zuständig gefühlt. Auch bei der Pleite der Firma P&R, die Anlagen in Schiffscontainer vermittelte, die teilweise gar nicht vorhanden waren, hätte die Aufsicht trotz vorliegender Hinweise nicht durchgegriffen. Schon bei der Bankenkrise 2008 seien die Wirtschaftsprüfer in die Kritik geraten. Die von der EU-Kommission anschließend geplante Reform des Prüferwesens sei jedoch insbesondere von den vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften fast komplett ausgebremst worden. Der Autor wundert sich nicht darüber, dass dieselben schon vor zwölf Jahren thematisierten Probleme bei Wirecard wieder sichtbar würden. Zentral sei etwa der Interessenkonflikt, der daraus resultiert, dass Prüfungsunternehmen auch Beratungsleistungen anbieten dürfen: „Wer legt sich schon gern mit potenziellen Kunden an? Die verhinderte Reform muss deshalb schleunigst nachgeholt werden.“ (Gerhard Schick: „Wirecard: Das Versagen der Aufsicht“, Frankfurter Rundschau vom 2. Juli 2020)

https://www.fr.de/wirtschaft/gastwirtschaft/versagen-aufsicht-13819427.html

Hendrik Zörner vom Deutschen Journalistenverband (DJV) spekuliert im Deutschlandfunk über die Gründe, die die BaFin bewogen haben, juristisch gegen die Financial Times vorzugehen. Nachdem diese zuvor massive Unregelmäßigkeiten bei dem Finanzdienstleister aufgedeckt hatte, stand Wirecard vor dem Aus. Nach Zörner habe das Blatt seine Kompetenzen dabei jedoch nicht überschritten. Dass die Financial Times sich bei ihrer Berichterstattung hätte Fehler zu Schulden kommen lassen, kann Hendrik Zörner nicht erkennen. Die Zeitung habe sehr sorgfältig und sehr lange recherchiert. Zörner vermutet gegenüber dem Deutschlandfunk, dass die Bafin gegenüber dem Journalisten, der alles ins Rollen gebracht hat „den dicken Maxen“ zu machen versuche. Er könne sich allerdings nicht vorstellen, dass es wirklich zu einem Verfahren komme, an dessen Ende die Financial Times verurteilt würde.

(„Von der Presse in den Ruin geschrieben? Hendrik Zörner im Gespräch mit Ute Welty“, Interview im Deutschlandfunk Kultur vom 1. Juli 2020)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/wirecard-von-der-presse-in-den-ruin-geschrieben.1008.de.html?dram:article_id=479649

Thomas Magenheim-Hörmann erläutert in der Frankfurter Rundschau, wie das „Systemversagen“ der Finanzaufsicht offenbar zielgerichtet organisiert wurde. Gegen die Wirecard-Wirtschaftsprüfer EY (Ernst & Young) sowie die Ratingagentur Moody’s seien Schadenersatzklagen auf den Weg gebracht worden oder in Vorbereitung. Aber auch der Bafin drohe Ärger, obwohl sie gesetzlich eigentlich von Haftung ausgenommen sei.

Dies könne europarechtswidrig sein, wie der Berliner Anlegeranwalt Marc Liebscher zitiert wird: „Wir sind von internationalen Investoren beauftragt worden, Staatshaftungsklage zu prüfen“, erklärt der Anwalt. Wenn man diese dann vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bringe, könne dort der Haftungsausschluss kippen. Liebscher meinte gegenüber der Frankfurter Rundschau: „Die Aufsicht wurde so organisiert, dass sie scheitern musste.“ Magenheim-Hörmann meint, dass man das so sehen könne. Bei Gründung der Bafin im Jahr 2002 sei etwa die Digitalisierung der Finanzwirtschaft kaum berücksichtigt worden. Die Bafin sei nur für die Prüfung der Wirecard Bank und nicht des Gesamtkonzerns zuständig, habe sich Bafin-Chef Felix Hufeld vor dem Finanzausschuss des Bundestags verteidigt. Im Einvernehmen mit Bundesbank und Europäischer Zentralbank (EZB) sei Wirecard als technologiegetriebenen Konzern und nicht als Finanzholding eingestuft worden. Bei Letzterem hätten volle Kontrollmöglichkeiten bestanden, bei Ersterem nur solche über die Wirecard-Bank. Die mutmaßlich kriminellen Machenschaften aber hätte es abseits der Bank gegeben. Somit wäre die Deutsche Prüfungsstelle für Rechnungslegung (DPR), der die Bafin Anfang 2019 einen Prüfauftrag zu Wirecard erteilt hatte, aufsichtsrechtlich für die Konzernbilanzen zuständig gewesen. „Die DPR“, so der Autor, „gilt als chronisch unterbesetzt. Ihre Mittel und Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Gut ein Jahr nach Prüfauftrag an die DPR liegt noch kein Ergebnis vor.“ Nach Angaben des BaFin-Chefs Hufeld würde die DPR im Schnitt 13,5 Monate für eine Prüfung benötigen. (Thomas Magenheim-Hörmann: „Der Totalausfall der Bafin muss Konsequenzen haben“, Frankfurter Rundschau vom 3. Juli 2020)

https://www.fr.de/wirtschaft/totalausfall-bafin-muss-konsequenzen-haben-13821027.html

Antonia Mannweiler verweist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ebenfalls auf das Problem der Zuständigkeit bei Unternehmen, die sowohl als Finanz- als auch als Technologieunternnehmen firmieren. „Wenn es sogar einem Dax-Konzern wie Wirecard gelingt, die Behörden hinters Licht zu führen, wie steht es dann um die Regulierung der vielen anderen jungen, aufstrebenden Finanz-Start-ups?“, fragt die Autorin. Vor drei Jahren habe die Europäische Bankenaufsicht (EBA) die Regulierung des Fintech**-Marktes untersucht und sei zu dem Schluss gekommen, dass 31 Prozent aller Fintechs weder einer EU-weiten noch einer nationalen Regulierung unterliegen, das heißt gar nicht reguliert würden. Nach Christina Bannier, Professorin für Banking and Finance an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, bestehe ein Problem der Kontrolle von Fintechs darin, dass nur ein kleiner Teil ‚Fin‘, der größere aber ‚Tech‘ sei, weil das Finanzgeschäft letztlich eine untergeordnete Rolle spiele. Sally Sfeir Tait, Chefin des Reg-Techs Regulaition in London, ginge davon aus, dass sich viele Fintechs eher als Tech-Unternehmen sähen denn als Finanzinstitute. „Viel wichtiger sind aus Banniers Sicht aber die Dienstleistungen, die die Fintechs anbieten. Die Schwierigkeit bei der Regulierung der jungen Unternehmen liege daher in der Fragestellung, wer eigentlich für sie zuständig sei.“

(Antonia Mannweiler: „Der blinde Fleck der Bafin“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Juli 2020)

https://www.faz.net/aktuell/finanzen/warum-die-bafin-bei-wirecard-einen-blinden-fleck-hatte-16840091.html

Michael Findeisen von der Bürgerbewegung Finanzwende e. V. unterstreicht in einer ausführlichen Analyse, dass die bisherige Arbeitsweise der Aufsichtsbehörde der komplexen Firmenstruktur von Wirecard nicht gerecht wurde und deshalb viele „blinde Flecken“ aufgewiesen habe. Die Unternehmensstruktur von Wirecard sei keiner laufenden Aufsicht durch die BaFin unterworfen. Diese gelte nur bei der Wirecard Bank AG, einer Tochter der Wirecard AG. Eine Gesamtschau der Aufsicht auf das Unternehmen und eine Gruppenaufsicht existiere aufgrund dieses Konstrukts nicht.

„Die BaFin blickt also schon wegen dieser Firmenstruktur durch eine Art Strohhalm auf die Wirecard Bank AG. Die viel größere Wirecard AG hingegen mit ihren (erlaubnisfreien) Teilakten, die sie in der Zahlungsverkehrsabwicklung erbringt, unterliegt lediglich der Wertpapieraufsicht der BaFin und damit qualitativ anderen Regeln.“ Erschwerend komme hinzu, dass auch die Geschäftsaktivitäten der Wirecard Bank AG in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union nicht der Aufsicht unterworfen seien. „Die Aufsicht durch die BaFin war von vielen blinden Flecken geprägt.“ (Michael Findeisen, Bürgerbewegung Finanzwende e. V.: „Der Fall (von) Wirecard – und seine Lehren für die Finanzaufsicht“, 24. Juni 2020)

https://www.finanzwende.de/blog/der-fall-von-wirecard-und-seine-lehren-fuer-die-finanzaufsicht/?L=0

Rolf Nonnenmacher, Vorsitzender der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex – ein Instrument zur Selbstregulierung der Wirtschaft – zieht im Handelsblatt-Interview seine rein marktapologetischen Schlüsse aus dem Fall Wirecard. Die interne Überwachung durch den Aufsichtsrat und die externe Überwachung durch den Markt habe im Fall Wirecard nicht funktioniert. Daher solle nicht eine Behörde oder Institution überwachen, dass die Regeln des Deutschen Corporate Governance Kodex eingehalten würden, sondern der Kapitalmarkt selbst solle es richten. Nonnenmacher: „Wir brauchen eine auf Transparenz beruhende und wirksame Überwachung der Corporate Governance durch den Markt, aber keine Behördenlösung.“ (Dieter Fockenbrock, Tanja Tewes: „Rolf Nonnenmacher: Der Fall Wirecard ist wie ein Brennglas“, Handelsblatt vom 3./4./5. Juli 2020)

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/deutscher-corporate-governance-kodex-rolf-nonnenmacher-der-fall-wirecard-ist-wie-ein-brennglas/25966450.html?ticket=ST-9810355-JgiBcwfegb9EvJsz190o-ap4

* „Die BaFin „ist eine rechtsfähige deutsche Anstalt des öffentlichen Rechts des Bundes mit Sitz in Frankfurt am Main und Bonn. Sie untersteht der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen.

Die BaFin beaufsichtigt und kontrolliert als Finanzmarktaufsichtsbehörde im Rahmen der Finanzaufsicht alle Bereiche des Finanzwesens in Deutschland.“ (Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesanstalt_f%C3%BCr_Finanzdienstleistungsaufsicht)

„Es geht um eine Superbehörde mit 2700 Mitarbeitern, die hierzulande mehr als 1500 Kreditinstitute, 6100 inländische Fonds, 400 Kapitalverwaltungsgesellschaften und rund 550 Versicherer beaufsichtigt. Damit spielt die BaFin eine wichtige Rolle im Leben fast aller Bürger, die schließlich auch Bankkundinnen, Anleger oder Versicherte sind.“ (Bürgerbewegung Finanzwende e.V., https://www.finanzwende.de/themen/finanzaufsicht-bafin/finanzwende-report-die-akte-bafin/?L=0

** „Der Begriff Fintech setzt sich aus den Anfangssilben von Finanzdienstleistungen und Technologie zusammen. Mit Fintech wird die Branche bezeichnet, in der Finanzdienstleistungen mit Technologie verändert werden. Fintechs sind die Unternehmen, die das tun. Fintechs sind häufig Start-ups, aber nicht immer.“

https://finletter.de/fintech-definition/

Alle wollen mehr Transparenz

Wer als Bürger*in wissen will, wer in wessen Auftrag Einfluss auf seine oder ihre Abgeordneten und damit auf die Gesetzgebung oder andere politische Entscheidungen nimmt, ist bislang auf die investigative Recherche von Journalisten oder die aufklärende Arbeit von NGOs angewiesen. Denn bislang weist kein Lobbyregister nach, welche Lobbyisten wann und wie oft Kontakte zur Politik gesucht und gefunden haben. Die Affäre um den CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor hat die schon seit vielen Jahren diskutierte Forderung nach einem Lobbyregister, welches solche Vorgänge nachvollziehbar machen soll, wieder einmal auf die politische Agenda gesetzt.

Amthor hatte für die New Yorker Firma „Augustus Intelligence“ welche nach eigenen Angaben „sichere Lösungen für Künstliche Intelligenz“ an ihre Kunden verkauft, Lobbyarbeit betrieben. In diesem Zusammenhang schrieb er im Herbst 2018 einen Brief an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und bat um politische Unterstützung für das Unternehmen. Im Gegenzug erhielt der Politiker Aktienoptionen sowie einen Direktorenposten in dem Unternehmen.

Nach Pressemeldungen erarbeitet die Große Koalition unter dem Eindruck der vom Magazin Spiegel aufgedeckten Affäre derzeit einen Gesetzentwurf, der nach der Sommerpause vorliegen soll. Vermutlich wird erst Ende September oder Anfang Oktober über diesen Entwurf weiter beraten. Die parlamentarische Opposition wirft den Koalitionsfraktionen deshalb vor, den Gesetzgebungsprozess verzögern zu wollen. Marco Bülow, seit seinem Austritt aus der SPD im November 2018 fraktionsloser Abgeordneter im Bundestag, sieht in der Ankündigung eines Lobbyregisters in erster Linie politisches Kalkül: „Union und SPD wollen die Amthor-Debatte jetzt offensichtlich mit dem Hinweis auf das Lobbyregister schnell runterkochen.“ Timo Lange, Campaigner bei LobbyControl, warnt vor einem „Schmalspur-Lobbyregister“, mit dem man sich aber nicht zufriedengeben werde (taz vom 25. Juni 2020). Er liegt auf gleicher Linie mit Bülow, der meint: „Ich wette übrigens, dass das Lobbyregister eine Lightform sein wird.“ (Neues Deutschland vom 24.  Juni 2020)

Der Abgeordnete Bülow antwortet auf die Frage des taz-Autors Georg Sturm, ob wir angesichts der Tatsache, dass der Bundestag systematisch im Sinne einflussreicher Interessengruppen und Vermögender entscheidet, überhaupt in einer Demokratie leben und wie es um die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Wirtschaft stehe:

„Natürlich leben wir de facto in einer Demokratie. Ich glaube jedoch, dass es immer mehr eine Fassadendemokratie ist. Es gibt Wahlen und Gewaltenteilung. Hinter den Kulissen findet jedoch eine Aushöhlung der Demokratie statt. Die Menschen dürfen alle vier, fünf Jahre wählen. Das halte ich nicht für einen großen demokratischen Akt, vor allem in einem Staat, in dem so viel Lobbying betrieben wird und die Menschen sonst von politischer Teilhabe ausgeschlossen sind. (…) Die Wirtschaft muss ein Instrument dafür sein, dass es den Menschen gut geht, dass sie in einer intakten Umwelt leben und eine zu große Ungleichheit verhindert wird. Eine Demokratisierung der Wirtschaft, aber auch aller Lebensverhältnisse wäre daher unglaublich wichtig. Wir erleben jedoch das Gegenteil, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Nur wenn das umgekehrt wird, kann es eine wirkliche Demokratie geben.“ (ebd.)

Taz-Autor Sturm resümiert die aktuelle Transparenz-Debatte wie folgt: „Auch wenn die Einführung eines Lobbyregisters durch den Amthor-Skandal nun erstmals realistisch erscheint, zeigt der Fall doch auch die sich schon jetzt abzeichnenden Grenzen eines solchen Gesetzes. Amthors Verstrickungen mit der Wirtschaft wäre nämlich auch in einem solchen Lobbyregister nicht angabepflichtig gewesen. Transparenzorganisationen fordern daher weitere Maßnahmen wie die Einführung eines legislativen Fußabdrucks, Einschränkungen und Veröffentlichungspflichten bei Nebentätigkeiten sowie eine Karenzzeitregelung für Abgeordnete und Regierungsmitglieder nach dem Ausscheiden aus der Politik.“

Kritische Stimmen zum Thema wie die angeführten erscheinen mehr als notwendig, da aktuell selbst Superlobbyisten wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sich für die schnelle Einführung eines Lobbyregisters in Deutschland ausgesprochen hat und „maximale Transparenz in der Vertretung von Interessen und Weitergabe von Informationen aus der Wirtschaft an die Politik“ fordert. Es dürfe, so der BDI-Präsident, „kein Eindruck unsauberen Verhaltens entstehen“. (Der Spiegel vom 22. Juni 2020) Der Spiegel berichtet zudem über eine – auf den ersten Blick – überraschende Konstellation, in der sich kürzlich sechs Verbände zu einer Allianz für Lobbytransparenz zusammengeschlossen haben, um einen Appell an die Fraktionen des Bundestags zu richten. Zu den Initiatoren gehören neben Transparency International auch Unternehmensverbände wie der BDI und der Verband der Chemischen Industrie (VCI), aber auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) und der Naturschutzbund Nabu. Danach sorgen sie sich um den Vertrauensverlust in die „Politik“ im Allgemeinen und die Politiker*innen im Besonderen und streben mittels eines Eckpunktepapiers „Transparenz und Chancengleichheit im politischen Interessenwettstreit“ an.

Auch wenn ein Lobbyregister vermutlich nur ein wenig mehr Klarheit über die Verfilzung der Interessen von Wirtschaft und Politik schaffen kann, hilft weichgespülte politische Rhetorik solcher Art sicher nicht weiter. Ganz praktisch fordert deshalb der Verein LobbyControl ein verpflichtendes Lobbyregister mit schärferen Regeln und Offenlegungspflichten.

Wer möchte, kann einen offenen Brief an die Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung, in dem ein „umfassendes Lobbyregister ohne Schlupflöcher“ gefordert wird, unterschreiben:

https://www.lobbycontrol.de/2020/01/lobbyregister-aktion/

 

Quellen:

Georg Sturm: „Mehr Transparenz wagen“, taz vom 25. Juni 2020

https://taz.de/Lobbyregister-fuer-Abgeordnete/!5697092&s=amthor/

Ders.: „In der Fassadendemokratie“, Neues Deutschland vom 24. Juni 2020

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138286.marco-buelow-in-der-fassadendemokratie.html?sstr=amthor

„Industrie fordert schnelle Einführung eines Lobbyregisters“, Der Spiegel vom 22. Juni 2020

https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/industrie-fordert-schnelle-einfuehrung-eines-lobbyregisters-a-3045292f-ca85-490c-aab9-2ffceada8e9f

Gerald Trautvetter: „Jetzt fordern Lobbyisten das Lobbyregister“, Der Spiegel vom 29. Juni 2020

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/folgen-der-affaere-amthor-lobbyisten-fordern-lobbyregister-a-fface995-61c8-4c3c-83db-dfceaae915fb

Annette Sawatzki (LobbyControl): „Amthor: Ein segensreicher Skandal?“, 29. Juni 2020

https://www.lobbycontrol.de/2020/06/amthor-ein-segensreicher-skandal/

 

 

Deutsche Vermögen in Steueroasen

 Die Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke offenbart, welch unfassbaren Geldsummen von deutschen Vermögenden bzw. Superreichen legal und illegal in die wichtigsten Steueroasen der Welt verschoben werden. Darüber berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 24. Juni 2020. Danach haben im Jahr 2018 Bundesbürger*innen insgesamt 180,8 Milliarden Euro auf Konten der britischen Kanalinsel Jersey geparkt. Die Schweiz hat ebenfalls für das Jahr 2018 Kontoeinlagen von Deutschen in Höhe von 133,1 Milliarden Euro gemeldet; Luxemburg meldete 125,8 Milliarden Euro. Insgesamt hatten deutsche Firmen oder Privatpersonen in den vom Finanzministerium aufgelisteten Steueroasen mindestens 591,3 Milliarden Euro auf entsprechenden Konten deponiert.

Die Statistik des Finanzministeriums sagt auch nichts darüber aus, ob das ins Ausland geschaffte Geld legal oder illegal ist. Die zuständigen Finanzämter überprüfen dies erst nach Eingang und Auswertung der Daten.

Die Informationen basieren auf einem sogenannten automatischen Informationsaustausch. Zur Erschwerung der Steuerhinterziehung informieren sich dabei Staaten gegenseitig über Konten, die ausländische Steuerpflichtige bei ihnen unterhalten. Allerdings fehlen laut SZ in der zugänglichen Liste wichtige Steueroasen. Die Cayman Islands und die Bahamas etwa halten die betreffenden statistischen Angaben zu ihren Ländern geheim.

Quellen:

Bastian Brinkmann: „Deutsches Geld liebt Jersey“, Süddeutsche Zeitung vom 24. Juni 2020

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/steueroasen-jersey-schweiz-luxemburg-1.4945206?reduced=true

Simon Zeise: „Geld ins Ausland verschoben“, junge Welt vom 25. Juni 2020

https://www.jungewelt.de/artikel/380917.steuerdeals-geld-ins-ausland-verschoben.html

ders.: „Steuerbetrug mit System“, Junge Welt vom 25. Juni 2020

https://www.jungewelt.de/artikel/380914.steuerbetrug-mit-system.html?sstr=steuerbetrug

„Mehr deutsches Geld in Jersey als in Schweiz oder Liechtenstein“, FAZ vom 24. Juni 2020

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/mehr-deutsches-geld-in-steueroase-jersey-als-in-schweiz-16829786.html#void

Wuchermieten für prekäre Unterkünfte

Gemeinsame Recherchen der Nordwest-Zeitung (NWZ) und des NDR zeigen am Beispiel Oldenburgs, wie Städte und Gemeinden einen sogenannten Grauen Wohnungsmarkt finanzieren, um zu verhindern, dass Menschen auf der Straße landen. Für einkommensarme Menschen wird es bekanntermaßen immer schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deshalb, so der NDR in einer Reportage am 16. Juni 2020, habe sich eine Vermieterszene etabliert, die mit denjenigen ihr Geld verdient, die sonst kaum eine Chance auf dem freien Wohnungsmarkt haben: Drogenabhängige, Menschen mit Mietschulden und vormals Obdachlose.

„Sie werden in nicht selten winzigen Zimmern untergebracht, die überhöhten Mieten zahlt das Sozialamt direkt an die Vermieter. Gleichzeitig fehlt es offenbar an Kontrollen: Manche der Mieter wohnen in menschenunwürdigen Verhältnissen“, heißt es dort. Vermieter bieten danach einzelne Zimmer in Gebäuden an, die sich in einem hygienisch oder baulich unzumutbaren Zustand befinden. Die NWZ ergänzt:

„In vielen Fällen entsprechen die in den Verträgen angegebenen Zimmergrößen nicht der tatsächlichen Größe der Wohnräume, die selten 15 Quadratmeter überschreiten. Kostenpunkt: Zwischen 300 und 580 Euro pro Monat.“ Der Trick der Vermieter: Sie lassen sich sogenannte Beherbergungsverträge unterschreiben, die Mieter*innen ihrer Rechte berauben. Diese gelten nur als „Gäste“ und können jederzeit vor die Tür gesetzt werden.

Das Problem ist seit Jahren Politik und Behörden bekannt. Neu ist aber, dass sich der Graue Wohnungsmarkt auch in einer Stadt wie Oldenburg mit knapp 170.000 Einwohnern von einer Randerscheinung hin zu einem nicht mehr übersehbaren Problem entwickelt hat. Mittlerweile werden dort nicht weniger als etwa 20 prekäre Häuser mit 150 bis 300 Bewohnern angeboten.

„In einigen prekären Gemeinschaftsunterkünften leben bis zu 20 Personen Tür an Tür. Sie müssen sich Bad und Küche in fragwürdigem Zustand teilen. Das ist nicht ihr einziges Problem, denn die Vermieter lassen sich juristisch fragwürdige Verträge unterschreiben, die eher von Hotels und Pensionen genutzt werden. Mieterrechte wie Kündigungsschutz bleiben dabei häufig außen vor. Das System bewegt sich im Graubereich der Legalität, so Experten. Daher sei es schwierig, juristisch gegen die Vermieter vorzugehen. Der Verwaltung der Stadt Oldenburg sind die Probleme schon lange bekannt. Sie versucht nun mit einer Deckelung der Quadratmeter-Preise auf 13,50 Euro, der Lage Herr zu werden.“ (NWZ, 16. Juni 2020)

Mittels der Beherbergungsverträge sollen, so eine Vertreterin des Deutschen Mieterbundes gegenüber dem NDR, rechtliche Regelungen wie die Mietpreisbremse ausgehebelt werden. Das sei rechtlich fragwürdig, so die Juristin betont zurückhaltend.

Quellen:

Christian Ahlers, Wolfgang Alexander Meyer: „Grauer Wohnungsmarkt: Mietabzocke in Oldenburg“, NWZonline, 16. Juni 2020

https://www.nwzonline.de/wirtschaft/oldenburg-grauer-wohnungsmarkt-mietabzocke-in-oldenburg_a_50,8,2765115217.html

 

Lea Busch, Peter Hornung, Tobias Zwior: „Oldenburg: Geschäft mit Wohnungsnot der Verzweifelten“, Panorama 3, 16. Juni 2020

https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Oldenburg-Geschaeft-mit-Wohnungsnot-der-Verzweifelten,oldenburg1734.html

Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitswirtschaft

Die Corona-Pandemie hat ins Bewusstsein gerückt, welche Folgen die zunehmende Ökonomisierung und Privatisierung im Gesundheitswesen mit sich bringt. Das fing schon bei den fehlenden Vorräten von Masken, Schutzkleidung und anderen Hilfsmitteln an. Der Normalbetrieb in den Krankenhäusern musste unterbrochen werden, weil es an genügend Reserven beim Personal und bei der intensivmedizinischen Ausrüstung mangelte. Die unter dem Diktat einer Kostensenkung getätigten Sparmaßnahmen machten sich so schlagend bemerkbar.

Ein guter Grund also, um gegen die Verwandlung des eigentlich auf das Gemeinwohl und die bestmögliche Versorgung von Kranken verpflichteten Gesundheitswesens in eine gewinnorientierte Gesundheitswirtschaft Einspruch zu erheben, die Rücknahme der Privatisierung von Krankenhäusern zu fordern, sich für eine bessere Bezahlung und erträglichere Arbeitsverhältnisse für Pflegekräfte einzusetzen. Das geschah und geschieht auch.

Dabei könnten die schon seit Jahren veröffentlichten kritischen Berichte und Streitschriften zur Misere im Gesundheitssystem und zu den Praktiken der Pharmakonzerne für die Aufklärung nützlich sein und reale Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Zwei von ihnen sollen hier vorgestellt werden.

Peter Christian Gøtzsche ist ein dänischer Facharzt für Innere Medizin, der viele Jahre klinische Studien für Pharmaunternehmen erstellte. Seit 2010 hat er eine Professur für klinisches Forschungsdesign und Analyse an der Universität Kopenhagen. In seinem 2019 neu aufgelegten Buch „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert“ rechnet er schonungslos mit Fehlentwicklungen und wirtschaftskriminellen Verflechtungen bei der Herstellung von Heilmitteln ab.

Gøtzsche zitiert einen ehemaligen Marketingdirektor der Firma Pfizer, der die Pharmaindustrie mit der Mafia vergleicht. In den USA übertreffe sie, was die Zahl der Straftaten betrifft, alle anderen Branchen. Sie begehe mehr als dreimal so viele schwere oder mittelschwere Gesetzesverstöße wie andere Unternehmen. Auch wenn es um Bestechung und Korruption oder gefährliche Fahrlässigkeit bei der Produktion von Medikamenten geht, seien die Pharmakonzerne Rekordhalter. Alle, die für ihren Verkaufserfolg wichtig sind, würden mit Vorteilen bedacht: Ärzte, Krankenhausverwalter, Beamte in den einschlägigen Behörden, Hochschullehrer, Minister, politische Parteien.

Im Unterschied zu anderen Waren ist der Gebrauchswert, der Nutzen von Medikamenten für diejenigen, die sie konsumieren, weil sie ihnen verordnet wurden, in den meisten Fällen nur unzureichend zu beurteilen. Das gilt besonders auch für die Nebenwirkungen. Die Patienten müssen sich hier auf ihre Ärzte verlassen – und die müssen sich letzten Endes auf die Fachleute verlassen, die diese Medikamente entwickelt, in klinischen Studien erprobt und schließlich zugelassen haben. Das wäre alles kein Problem, wenn nicht mit Medikamenten hohe Gewinne gemacht werden könnten, weil die Firmen, die sie produzieren, ein Patent und Vermarktungsmonopol für sie haben.

Das verführt Unternehmen dazu, wie Gøtzsche an vielen Beispielen belegt, Medizin auf den Markt zu bringen, deren Nutzen fragwürdig ist, die kaum einen Neuigkeitswert besitzt oder für den Patienten sogar Risiken birgt. Mit Hilfe von bezahlten Gutachtern wird dies dann häufig zu vertuschen versucht. Um mehr Produkte absetzen zu können, schöpfen die Pharmakonzerne alle Beeinflussungsmöglichkeiten aus, um neue Krankheiten zu definieren oder bestehende Grenzwerte für das, was als behandlungsbedürftig gilt, herunterzuschrauben. Bei den Blutdruck- und Cholesterinwerten ist das mit Erfolg geschehen. Auf der anderen Seite werden sinnvolle und notwendige Medikamente erst gar nicht entwickelt, wenn sie keinen Profit abzuwerfen versprechen.

Ein Kapitel gegen Ende des Buches betitelt der Autor mit dem Aufruf: „Den Pharmakonzernen Paroli bieten“. Darin macht Gøtzsche eine Reihe von Vorschlägen. Neue Medikamente sollten in staatlichen Betrieben entwickelt – oder mit öffentlichen Mitteln honoriert, statt privat patentiert zu werden. Bei ihrer Erprobung und Zulassung müsse Transparenz oberstes Gebot sein. Es sollte in allen Ländern öffentlich zugängliche Register über die Zusammenarbeit von Ärzten mit der Industrie geben. Und den Pharmaunternehmen solle man kein Wort mehr glauben, jedenfalls solange nicht, wie sie sich in privater Hand befinden.

Das zweite hier vorzustellende Buch ist ebenfalls im letzten Jahr erschienen: „Erkranken schadet Ihrer Gesundheit“ von Bernd Hontschik. So ironisch und locker der Titel klingt sind auch manche der in ihm  versammelten Glossen und Skizzen zum Gesundheitswesen verfasst – bei aller Ernsthaftigkeit der Kritik an dessen neoliberaler Umformung.

Hontschik war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und dann bis 2015 in eigener Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers „Körper, Seele, Mensch“ und Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag. Regelmäßig schreibt er Kolumnen in der Frankfurter Rundschau und der taz. Sie bilden das Ausgangsmaterial für sein neues Buch.

Hontschiks Blick auf die Probleme könnte man im besten Sinne als den eines Sozialmediziners charakterisieren. Schon am Anfang des Buches berichtet er über die Schwierigkeit, Todesursachen zu definieren – was ja gerade wieder bei der Corona-Pandemie aktuell geworden ist. Er verweist dabei auf die entscheidende Frage, den Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit mit den sozialen Verhältnissen: „Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Menschen, die in Armut leben, eine mindestens zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben als ökonomisch sorgenfreie Menschen, ist dann Armut die Todesursache?“

Unter dem Titel „Arme Viren“ benennt Hontschik eine Reihe von Infektionskrankheiten, die viele Millionen Menschen in den Ländern des Südens befallen haben und immer noch befallen: die Chagas-Krankheit, das Denguefieber, die Chikungunya-Krankheit, das Zika-Fieber und Ebola. Für all diese epidemischen Infektionen gibt es keine Medikamente und keine Impfstoffe – außer neuerdings gegen das Denguefieber, wo die Impfung aber unbezahlbar teuer ist. Hontschiks Fazit: „Für Erkrankungen armer Menschen in armen Ländern hat die Medizin nichts zu bieten. Es gibt keine Behandlung, es gibt keine Impfung, es wird gar nicht erst geforscht, wenn keine Profite am Horizont winken. Gäbe es keine Slums, gäbe es keine katastrophalen sanitären Verhältnisse, dann wären all diese Krankheiten kein wirkliches Problem.“

Auch bei uns spielt das Geld inzwischen eine Hauptrolle im Gesundheitswesen. Mit dem Märchen von der „Kostenexplosion“ wurde seit den 1970er Jahren die Politik der Einsparung, des Stellenabbaus und der Privatisierung begründet. Heute steht Deutschland bei der Zahl der privatisierten Krankenhausbetten weltweit an der Spitze, noch vor den USA. Es geht nun um Rendite und Wettbewerb. Da passt es gut, dass mit dem System der „Fallpauschalen“ die Krankenhausfinanzierung von Tagessätzen auf Operationszahlen umgestellt wurde. Seitdem gibt es immer mehr entsprechende Indikationen, werden immer mehr Wirbelsäulen versteift, Knie ersetzt und Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht.

„Mit guter Medizin hat das nichts zu tun“, stellt Hontschik fest. Wohl aber mit der Erzielung hoher Dividenden, wie sie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig erreichbar sind. Dieses Geld stammt letztlich aus den Beiträgen der Versicherten und wird dem Gesundheitswesen entzogen. Hontschik nennt das „einen – wenn auch legalisierten – Diebstahl öffentlichen Eigentums“.

Es versteht sich, dass der Autor für eine solidarische Bürgerversicherung eintritt, in die alle, auch die Beamten und Selbständigen einzahlen sollen – also auch die Besserverdienenden mit dem geringeren Krankheitsrisiko.

 

Peter C. Gøtzsche:
Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität.
Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert

Riva Verlag, München 2019
512 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-7423-1161-0

 

Bernd Hontschik:
Erkranken schadet Ihrer Gesundheit

Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2019
160 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-86489-265-3

 

 

Steuervermeidung zur Gewinnoptimierung: Der Fall Fresenius

Vor allem Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus wie Google, Apple, Facebook oder Amazon standen bislang im Fokus der Kritik, wenn es um die systematische Vermeidung von Steuerzahlungen ging. In den letzten Monaten gerieten jedoch auch in Deutschland ansässige Firmen in die Diskussion. Es wurde darüber gestritten, ob es legitim sei, dass Unternehmen staatliche Corona-Hilfen kassieren, während sie gleichzeitig in Steueroasen aktiv sind.

So wird auch Fresenius als einer der führenden, weltweit tätigen Gesundheitskonzerne für seine aggressive Steuergestaltung gerügt. Das Netzwerk Steuergerechtigkeit veröffentlichte im Januar 2020 eine wegweisende Studie zu dem Unternehmen aus Bad Homburg, das seine Umsätze und Gewinne größtenteils im Rahmen des staatlich regulierten Gesundheitswesens erwirtschaftet. Obwohl die Einnahmen überwiegend durch Steuern und Versicherungsbeiträge finanziert werden, verschiebt das Unternehmen Gewinne in fast alle bekannten Steueroasen der Welt – und vermeidet damit höhere Unternehmenssteuern in den Ländern, in denen es seine Umsatzerlöse vorrangig erzielt hat. Gewinne werden dort künstlich kleingerechnet, wo Unternehmenssteuern vergleichsweise hoch sind, dagegen hohe Gewinne an Standorten ausgewiesen, an denen niedrige Steuersätze gelten.

Laut dieser Studie entfallen 23 Prozent des weltweiten erwirtschafteten Umsatzes und 32 Prozent der Konzernbelegschaft auf Deutschland – aber nur 10 Prozent der ausgewiesenen Gewinne. Fresenius zahlte danach in den letzten zehn Jahren durchschnittlich nur 25,2 Prozent Steuern, obwohl die Steuersätze in den wichtigsten Märkten – Deutschland und den USA – bei 30 bzw. 35 Prozent lagen. Hätte Fresenius in diesem Zeitraum seine Gewinne regulär versteuert, wären bis zu 2,9 Milliarden Euro an zusätzlichen Steuern fällig geworden.

Eine auch von Fresenius favorisierte Methode zur „Steueroptimierung“ besteht darin, konzerninterne Kredite zu vergeben. Auf diese Weise, so die Autoren der Studie, konnten beispielsweise die beiden irischen Tochtergesellschaften im Jahr 2017 einen Gewinn von 47 Millionen Euro erzielen – ganz ohne Mitarbeiter*innen und allein durch die Vergabe von Darlehen an Konzerngesellschaften in Spanien und den USA. Der Konzern nahm über Finanzierungsgesellschaften in Luxemburg, Irland, den Niederlanden und dem US-Bundesstaat Delaware neun Milliarden Euro an Fremdkapital auf und reichte die Darlehen innerhalb der Gruppe weiter. „Dabei kommt ihnen (den multinationalen Konzernen, d. Verf.) das gegenwärtige Steuerrecht entgegen, demzufolge Gewinne und Steuern für jede einzelne Einheit, Tochtergesellschaft oder Gruppe von Tochtergesellschaften innerhalb eines Konzerns auszuweisen sind. Die Tochtergesellschaften stellen sich also gegenseitig Rechnungen über Darlehen, Warenlieferungen, Dienstleistungen oder die Nutzung von Patenten, Technologien und Markennamen. (…) Die Konzerne betonen, die Transaktionen würden zu ‚marktüblichen Konditionen‘ abgewickelt, ganz so, als seien die Vertragsparteien nicht wirtschaftlich miteinander verflochten. Für die Steuerbehörden ist es oft schwierig, solche Behauptungen anzufechten.“ (Fresenius-Studie, Seite 7)

Dieses Vorgehen scheint legal zu sein: Das Netzwerk Steuergerechtigkeit spricht deshalb bei der Vorgehensweise von Fresenius lediglich von angewandten „Steuertricks“ und von „Steuervermeidung“. Diese sind zwar ebenso wie das kriminelle Delikt der Steuerhinterziehung darauf ausgerichtet, Gewinne zu verschieben und Steuerzahlungen zum Teil drastisch zu senken, erfolgen aber auf rechtmäßige und nicht strafbare Weise. Jedoch kollidiert dieses Geschäftsgebaren zumindest mit dem konzerneigenen „Bekenntnis zu rechtlicher und ethischer Verantwortung als Unternehmen“, das Fresenius auf seiner Website als eine „strategische Priorität“ angibt. 

Da bislang als Regel gilt, dass Geldflüsse von und zu Tochterfirmen in Steueroasen nicht veröffentlicht werden müssen, drängen die Autoren der Studie als Schlussfolgerung ihrer Analyse darauf, dass der Konzern seine Steuerpraktiken transparent machen sollte und die Tochtergesellschaften in Steueroasen auflöst. Die Bundesregierung solle auf eine echte Reform des Systems der internationalen Unternehmensbesteuerung hinwirken statt ausschließlich Interessen der deutschen Konzerne zu vertreten und einen destruktiven Steuersenkungswettbewerb zu fördern.

„Da viele der Steuervermeidungstricks legal sind, sind letztlich globale Steuerreformen erforderlich. Die internationalen Fresenius-Tochtergesellschaften agieren nicht unabhängig, sondern als Teil einer globalen Konzernstruktur. Sie sollten entsprechend behandelt werden, auch steuerlich. Anstatt jedes Unternehmen separat zu besteuern und die Verrechnungspreise für den innerbetrieblichen grenzüberschreitenden Handel festzulegen, sollte derjenige Anteil am globalen Konzerngewinn, der der tatsächlichen Geschäftstätigkeit im Land entspricht, Grundlage der einzelstaatlichen Besteuerung sein. Dies würde eine Änderung des derzeitigen internationalen Steuersystems erfordern.“ (Fresenius-Studie, Seite 18)

Die Ergebnisse der Fresenius-Studie lassen sich verallgemeinern: Alle 30 im deutschen Aktienindex Dax gelisteten und damit führenden Unternehmen im Land sind über Tochterfirmen in Niedrigsteuerländern vertreten, von denen manche als Steueroasen genutzt werden dürften (Stand 2. Juni 2020).

Quellen:

Pressemitteilung des Netzwerk Steuergerechtigkeit vom 21. Januar 2020:

„Fresenius und Steuervermeidung. Beim Steuertricksen gehören deutsche Unternehmen zur Weltspitze“

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/pressemitteilung-fresenius-und-steuervermeidung-21-1-2020/

CICTAR & Netzwerk Steuergerechtigkeit – Deutschland: Fresenius. Ungesunde Geschäftspraktiken. Globale Steuervermeidung eines multinationalen Gesundheitskonzerns aus Deutschland, Januar 2020

https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/wp-content/uploads/2020/02/fresenius_ungesunde-geschc3a4ftspraktiken_deu200120.pdf 

Joachim Maiworm lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime

 

 

Fakten zu Fresenius

 „Fresenius ist ein weltweit tätiger Gesundheitskonzern mit Produkten und Dienstleistungen für die Dialyse, das Krankenhaus und die ambulante Versorgung. Mit über 290.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in mehr als 100 Ländern und einem Jahresumsatz von über 35 Milliarden Euro ist Fresenius heute eines der führenden Unternehmen im Gesundheitsbereich weltweit.

 Zur Fresenius-Gruppe gehören vier eigenständig agierende Unternehmensbereiche, die Marktführer in Wachstumsbereichen des Gesundheitssektors sind: Fresenius Medical Care ist weltweit führend bei der Behandlung von chronischem Nierenversagen. Fresenius Helios ist Europas größte private Kliniken-Gruppe. Fresenius Kabi bietet lebensnotwendige Medikamente, Medizinprodukte und Dienstleistungen für kritisch und chronisch Kranke. Fresenius Vamed ist spezialisiert auf das Projekt- und Managementgeschäft von Gesundheitseinrichtungen.“

(Selbstdarstellung Fresenius, Webseite des Konzerns)

 Der größte Anteilseigner von Fresenius ist die gemeinnützige Else Kröner-Fresenius-Stiftung mit 26,6%. Vermögensverwalter wie BlackRock und Allianz Global Investors halten 4,74% bzw. 4,98% der Anteile.

(vgl. boerse.de, 31. Mai 2020)

 Fresenius startete trotz der Corona-Krise mit Zuwächsen bei Umsatz und Gewinn ins Jahr 2020. Im ersten Quartal 2020 stieg der Umsatz um acht Prozent auf 9,1 Milliarden Euro. Der auf die Aktionäre entfallende Gewinn kletterte um etwa 1,3 Prozent auf 459 Millionen Euro. Alle Unternehmensbereiche trugen zum Umsatzwachstum bei.

(Fresenius: Quartalsfinanzbericht Q1/2020, erschienen am 7. Mai 2020)